Читать книгу Mythos Mensch - Frank Lisson - Страница 8
Wesen, Wille, Werden
ОглавлениеVon neuen Nöten. – Jede echte und ernsthafte Philosophie, die heute, nach mehr als zweitausendfünfhundert Jahren des ernsthaften Weltbedenkens, mit dem Anspruch auftritt, nicht überflüssig zu sein, kann nur in dem Versuch einer Totaldurchdringung aller Lebensverhältnisse, in der buchstäblichen Haltlosigkeit eines exorbitanten Standpunktes bestehen; also in der Position des radikalen Außerhalb, die von sich selber verlangen muss, in allen Fragen immer noch einen Schritt weiter zu gehen, als vor ihr gegangen worden ist. Eine psychologisch untermauerte Überschreitungsphilosophie, die alles hinter sich zurücklässt, was bisher daran hinderte, den Menschen und das Leben in seiner ganzen, erst heute sichtbaren Ungeheuerlichkeit begreifen zu wollen. Und obwohl wir wissen, einer solchen Aufgabe nicht gewachsen zu sein, weil das, was an Rätsellösungsnöten jetzt noch kommen kann und kommen muss, weit über das allgemein Fassbare und Verträgliche menschlicher Selbstbetrachtungsweisen hinausgehen wird, dürfen wir vor der Größe dieser Aufgabe dennoch nicht erschrecken, sondern sollten uns den neuen Problemen wenigstens stellen und tapfer daran zu arbeiten beginnen! Ja, selbst auf die Gefahr hin, dass wir es hier mit einer Not zu tun haben, die vielleicht keines Anderen Not ist, und wir fürchten müssen, dass einer solchen, gleichsam nachgeborenen Philosophie niemand zuhören wird, weil die nötigen Organe dazu fehlen, da sie entweder bereits abgestorben oder noch nicht gewachsen sind, dürfen wir vor dieser Not, und sei sie, wie letztlich alle echte Philosophie, aus einer bloßen Idiosynkrasie heraus geboren, dennoch nicht kapitulieren. Wer das Naturprinzip Mensch in der übersteigerten Welt des postkulturellen Zeitalters verstehen will, muss noch geduldiger wühlen und noch tiefer graben als alle Wühler und Archäologen des Geistes zuvor. Folglich wird die Einsamkeit derjenigen, die ihr Leben einer solchen Aufgabe opfern, noch viel erdrückender und vollständiger sein als die der Einsamsten des 19. und 20. Jahrhunderts. Und eben das macht die Sache so schwierig und so wenig verlockend, weil das, was heute noch aus den Tiefen des – wie die allgemeine Ansicht lautet – doch bereits bis auf den Grund ausgeschöpften erfahrbaren Menschseins zutage gefördert werden könnte, bedeutungslos sein müsse, da es sonst längst schon gesagt worden wäre. Damit, so heißt es, erübrige sich alles weitere philosophische Forschen über diesen anscheinend allbekannten Gegenstand; und deshalb habe man sich an die ewige Wiederholung derjenigen ethischen Kenntnisse zu gewöhnen, über die wir in der Beurteilung unserer Art einig geworden sind: so lasse man also endlich davon ab, Fragen zu stellen, auf die es keine für uns als Gattung befriedigenden Antworten geben könne… Vielmehr glaubt jeder tatsächlich bereits für sich zu wissen, was der Mensch sei – oder hat gar kein tieferes Interesse an dieser Thematik.
Das große Erzählen. – Der Mensch will und muss sich in seinen eigenen Geschichten beheimaten, weil ihm außerhalb seiner Geschichten innerhalb der Natur keine Heimat zur Verfügung steht. Er muss sich das Haus selber bauen, in das er einziehen will, denn kein Instinkt verschafft ihm eine solche Unterkunft. – Deshalb wurden Menschen Mythologen und die Geschichten ihrer kulturellen Einrichtungen zu Mythologien. Denn die Welt war für den Menschen nie etwas anderes als die Bühne seiner Selbstdarstellungen: jeder erzählt seine Geschichte, und diejenigen Geschichten, welche die meisten Anhänger finden, weil sie die menschlichsten Geschichten sind, setzen sich durch. In allem, was irgendwo gesprochen wird oder geschrieben steht, erzählt der Mensch also seine ganz persönliche Geschichte – und ist sich zugleich der einzige Zuhörer. Über den Mythos erfand er sich lauter Formen eines Alter ego, um sich selber für seinesgleichen interessanter zu machen, also um eine auch metaphysische Balz aufführen zu können, und ferner, um sich mit unerreichbar »höherer« Gesellschaft zu umgeben, der man freudig dienen könne, ohne sich dabei als Knecht fühlen zu müssen. Gott war immer Ausdruck mangelnder Selbstgenügsamkeit sowie der Freude am Fabulieren und Phantasieren eines dichtenden Tieres. So besteht die Geschichte des Menschen buchstäblich aus den Geschichten der Menschen. Schöne und große Worte machen gehört bis heute zu den prominentesten Qualitäten des Menschseins. Und nachdem die großen Erzählungen als kanonisierte Orientierungsangebote ihr Verbindliches verloren haben, erzählt wieder jeder jedem seine eigene Geschichte. Das poetologische Vakuum, das nach den Kulturen entstanden ist, bietet allerhand Raum dazu. Die alten Autoritäten, von Homer bis zur Bibel, entfalten nach einer über zweitausend Jahre zählenden Herrschaftsgeschichte in Europa endlich nur noch museale Kräfte. Von nun an ist jeder aufgefordert, sich die Welt erneut selber zu erzählen, und sei es, dass er die Exegese des bereits Gesagten ins Unendliche vermehrt. Wo sich die strukturbildenden Versuche, allgemeingültige Mythen zu erschaffen, auf Dauer als unzureichend erwiesen haben, fällt der Mensch ins Beliebige seiner ganz persönlichen Erzählweisen und Bedürfnismitteilungen zurück. Die Welt scheint wieder offen zu liegen für die Deutungsvorschläge jedes einzelnen, der phantasiebegabt genug ist, sich daran zu beteiligen. Es beginnt ein neues Rennen um die menschlichsten Geschichten: wer weiß sich selber am wirksamsten und überzeugendsten zu erzählen, so dass ihm viele oder sogar die meisten zuhören…? Wer weiß am genauesten, was die Generationen freigesetzter Ich-Erzähler hören wollen…? Wer liefert die besten Schlüsselwörter, Zustandsbeschreibungen, Modemetaphern, um sich als großer Gegenwartsmythologe zu profilieren…? Lauter Fragen, deren Beantwortung erklären würde, warum die Flut des bereits Erzählten längst über die Ufer des Fassbaren und Sinnvollen getreten ist, ohne dass im Geistesland der Überschwemmten je der Katastrophennotstand ausgerufen worden wäre. »One day baby, we’ll be old / Oh baby, we’ll be old /And think of all the stories that we could have told.«2 – Also lautet der Wunsch des letzten Perfektionisten: die eine Geschichte erzählen, die alles enthält!
Isoliert. – Jeder Mensch ist sich selber ein einziger in sich geschlossener Mythos. Und folglich ist er es auch allen anderen. Die Welt stellt sich ihm dar als eine große, alles Mögliche umfassende Erzählung, worin seine Individualität gar nicht vorkommt, weshalb er sich in das große Weltgedicht erst selber hineinerzählen muss – und die Fabeln seiner Schöpfung gleich mit. Aus diesem Grunde gelingt es kaum, jemals wieder hinter das Erzählte, das die Welt für uns abbildet, zurückzusteigen. Durch die Fähigkeit, ja durch den Willen zur Mythologie wurde der Mensch zugleich das Produkt seiner Mythen; eine Verbindung, die sich immer fester knüpfte, je mehr der Mensch in seinen Geschichten vom Menschen aufging. Denn das Erzählen der Welt fängt die Welt nicht ein, sondern bildet sie nur ab – und sieht ihr hinterher.
Wiederkehr im Unterschied. – Gibt es mit jeder neuen Generation auch wirklich neue Menschen? Oder verändert sich nicht bloß das Verhalten aufgrund veränderter Anforderungen? Der frühe Zweifel an der tatsächlichen Verschiedenheit menschlicher Einzelwesen hat vermutlich zum Glauben an Seelenwanderung geführt. Denn zu allen Zeiten reagierte das menschliche Verhalten auf die Erwartungen seiner Umgebung, spiegelte diese quasi in sich wider, um seiner Zeit ein guter Zeuge zu sein. Somit birgt die Wiederkehr des Gleichen im Unterschied vielleicht das Geheimnis der Vorstellung menschlicher Vielfalt. Was lebt oder stirbt mit einem Menschen, wenn nicht die Wiederholung in Variationen desjenigen evolutionären Musters, das die Gattung kennzeichnet und charakterisiert? Was sind die Vorgänger den Nachfahren? Was also unterscheidet im Wesentlichen die sogenannten Individuen einer Generation von denen einer anderen? – Das sogenannte Individuum ist eine Regung, Empfindung, Seins-Form, die das Vergängliche ihres Trägers begreift, ohne nach dem Tod des einzelnen Mediums als solche aus der Welt zu sein. Die Äußerung findet auch anderswo noch statt, doch das Stoffliche betrauert sein eigenes Vergehen, weil es sich im Menschen nicht als bloßes Medium versteht, sondern seine Lage in der Welt erkennt, wodurch es »mehr« wird als das, was es rein natürlich darstellt. Folglich gibt es keine Individualität, sondern nur Ausdrucksformen bestimmter Typen; jeder gehört einem dieser menschlich möglichen Modelle an, als dessen Vertreter und Darsteller er am Leben ist. Innerhalb dieses Typus mag zwar jeder bis zu einem gewissen Grad individuelle Züge ausbilden, doch reichen diese niemals so weit, dass man als Angehöriger seines Typus nicht mehr zu erkennen wäre. Man selber verkörpert einen einzelnen Menschen, nämlich sich selbst – alle anderen aber verkörpern die Menschheit. So lebt der Mensch im Schatten seiner Beginnlosigkeit, ohne Anfang, denn alles war, bei genauerer Betrachtung, immer schon da, weshalb er sich so gerne Ursprünge setzt, grundlegend »verändern« will, was doch nur abgewandelt werden kann. Jede Geburt ist ein Betrugsversuch am Leben, den erst der Tod wieder bereinigt.
Kulturelle Vortäuschung von Individualität. – Gäbe es ein rein persönliches Ich, müsste dieses mit seinem Inhaber vollkommen identisch sein. Doch wandeln sich die Urteile über unser Verhalten in uns, und stimmen unsere Handlungen mit unserem Denken oft nicht überein. – Daraus erwächst der Zweifel an der Möglichkeit individuellen Seins und entsteht die bedeutendste aller Fragen: wo wäre ich, wenn es mich nicht gäbe? Wie kann ich das Produkt nur einer einzig möglichen Verbindung sein? Wer wäre statt meiner als ein anderes Ich entstanden, wenn die Umstände meiner Zeugung andere gewesen wären? Lebt der Mensch, oder »menscht« das Leben? Was also macht mich zum Ich, das es unter Milliarden anderer Iche nur ein einziges Mal in Zeit und Raum zu geben scheint? Was passiert in mir, sobald sich die Fähigkeit in mir entwickelt, mich für ein Ich zu halten? Eine Fähigkeit, die aus der Begabung zum Denken entspringt, mithin also eine Qualität des Lebens darstellt, die gar nicht hätte entstehen müssen, da alle anderen Lebewesen auch ohne ein Ich-Bewusstsein auskommen. – Die Frage, welche Stellung das Ich innerhalb aller Lebensformen einnimmt, lässt daher sämtliche anderen Fragen nichtig erscheinen. Die Menschheitsgeschichte als Ganzes gibt Aufschluss über die vielen, aber allesamt zu kurz greifenden Versuche, diese Frage innerhalb des eigenen Programms zu verarbeiten – nicht jedoch darüber, sie wahrhaftig und umfassend zu beantworten. Kulturgeschichte ist Willensgeschichte, insofern sie den Grad der Durchsetzungsbereischaft von Überlebenseinheiten aufzeigt.
Wohin trägst du dein Ich? – In der entgrenzten Welt bildet jeder sein eigenes Ordnungssystem. Deshalb macht sie insofern asozial, als jeder in sich verschlossen bleibt, je mehr sich die Wertmaßstäbe um ihn herum relativieren. Die Welt wird dein »Eigentum«, wo es keine klaren Besitzverhältnisse mehr gibt: jedem gehört alles, wo sich die Welt zum bloßen Lebensraum und Wirtschaftsstandort aller erklärt. Das allgemeine Ich und die allgemeine Welt bilden dann die einzige verbliebene Beziehung und sinngebende Verbindung. – Denn kein Wille, kein Gefühl, kein Gedanke gehört je einem einzigen Exemplar alleine oder ist von diesem aus eigener Kraft und Freiheit erzeugt worden. Sogar der scharfsinnigste Gedanke ist der Ausdruck einer menschlich-physischen Regung, kaum anders als ein Schmerz oder Schrei, und gehört demnach niemals dem Einzelnen, der ihn hervorbrachte, sondern der gesamten Gattung, sogar den Toten. Denn woher hätte er ihn genommen haben oder gewinnen können, wenn nicht aus dem Reservoir des überhaupt Denkbaren, das alle bisherigen Menschen unsortiert zusammentrugen, und woraus jeder auf seine Weise schöpft, der denkt, fühlt und will. – Daraus ergibt sich, dass kein Mensch einen vollen Anspruch auf sich selber hat, da er stets nur mit-will, mit-fühlt, mit-denkt.
Körperwechsel. – Alles Leben enthält den Auftrag, die Welt zu verarbeiten. Daraus ergeben sich die verschiedenen Formen und der Anschein von Individualität. Dennoch haben wir es überall mit Äußerungen des Lebens selber zu tun, das über die Verarbeitung der Welt seinen eigenen Ausdruck erhält. Allein die Konstitution eines Organismus entscheidet darüber, wie die Welt wahrgenommen wird. Denn der Aufbau der Welt bleibt für alle Wahrnehmungsformen im Wesentlichen gleich, weshalb das Reagieren darauf bloß die Körper wechselt. Und doch setzt jeder spezifische Akzente, worin sich seine Eigenart verrät.
Nahrhaft. – Am Leben sein heißt, die Welt in sich aufzunehmen, ihre jeweiligen Ausdrucksformen zu registrieren, um darüber zu erfahren, was das Leben von mir verlangt. Die Welt ist das, was zur Nachahmung bereitliegt, um von uns zu Lebensmaterial verarbeitet zu werden. Der große Nahrungslieferant, der uns nicht nach unserem Geschmack fragt, sondern voraussetzt, dass wir mögen, was er bietet. – Und siehe: tatsächlich entspricht unser Geschmack dem Geschmack der Welt. Denn allein Homo sapiens hat Geschmack am Essen gefunden; alle anderen Lebewesen betreiben bloß Nährstoffverwertung, denn die Welt ist ihrem Aufbau nach ein großer Stoffwechselvorgang, ein Verschlingen und Verarbeiten des jeweils anderen, wodurch aber alles im anderen zu dessen Nährwertigkeit beiträgt, so dass nichts Stoffliches je gänzlich verlorengeht. – Diese Beobachtung hat bereits die Alten fasziniert und zum Trost verholfen, indem sie ihr ἓν ϰαὶ πᾶν vor sich her sprachen, so als würde die Welt dadurch genießbarer werden.
Re-Aktion. – Besteht doch alles Lebendige aus lauter Stoff-Wechsel-Erzeugnissen: die Stoffe der Welt (das Seiende) sind dadurch, dass sie aufeinander reagieren, einem ständigen Stoff-Wechsel unterworfen. Auch der sogenannte Geist, das Denken, ist Ausdruck eines solchen Stoff-Wechsels: etwas (ein Ereignis) wird in etwas anderes (ein Erlebnis) umgewandelt, indem eine Reaktion darauf erfolgt. Denn das, was in der Welt ist, setzt sich seiner Art und Zugehörigkeit nach stets neu zusammen, solange die jeweiligen Spezies bestehen, die dazu in der Lage sind.
Geschmacksurteil. – Wo uns etwas gefällt oder überzeugt, werden bestimmte Erfahrungen beziehungsweise Erlebnisse in uns angesprochen, deren positive Wirkung vor allem daher rührt, dass sie mit unserem präfigurierten Erkenntnismuster übereinstimmen. Dieses hat sich in unserer persönlichen Historie gebildet, welche in Analogie zur äußeren Geschichte entsteht: aus der Wechselwirkung zwischen Naturtrieb und Ereignis, woraus alles Werden seine Kraft bezieht. Wenn jemand sagt: das gefällt mir, ist damit jene Übereinstimmung zwischen Naturbedürfnis und Naturereignis ausgesprochen, die allem Leben zugrunde liegt. Was uns gefällt, das haben wir schon einmal als angenehm erlebt, es wohnt als Erinnerung oder Präexistenz in uns und verlangt danach, wiederholt zu werden. So kommt es, dass wir Bekanntem und Verwandtem zustimmen, Fremdes aber ablehnen, selbst dann, wenn Letzteres objektiv wahrhaftiger sein sollte. Wohlfühlen gehorcht keiner Logik, sondern allein dem uns Vertrauten durch Erfahrung. Dadurch, dass wir uns von etwas angezogen fühlen, helfen wir zu dessen Verbreitung. Es vermehrt sich das, was am meisten Anziehung auslöst – und sorgt wiederum für die Reproduktion desselben: so schafft sich der Mensch die »menschlichste« Welt. Deshalb also gleichen sich die Philosophien und Meinungen und Geschmäcker eines Zeitalters oder Kulturkreises so sehr und haben andere keine Chance, anerkannt, ja nicht einmal angehört zu werden. Wir verstehen und loben, was uns gefällt, weil es in unserer Weise zu uns spricht. Hier verlaufen die Grenzen unserer Freiheit zum objektiven Urteilen. Was wir sind, werden wir durch andere, die uns in uns selber bestätigen. Deshalb kann nicht jeder zu allen Zeiten alles werden, sondern nur darin reüssieren, was in ihm mit den herrschenden Strömungen seiner Zeit konform geht. – Und tatsächlich richtet sich unser Gefallen zumeist genau darauf, weil es sich bereits aus den frühesten Erfahrungen gebildet hat. Unsere Geschmäcker basieren also keineswegs auf objektiver Urteilskraft, sondern sind das Ergebnis unserer persönlichen Historie.
Geschmacksorientiert. – Ist doch der Mensch seinem allgemeinen Wesen nach ein Oberflächenbegeher, den es immer wieder an den Saum der Dinge zurückzieht; nicht hinauf und nicht herab zu den Tatsachen, die den Dingen zugrunde liegen, sondern stets hinein in den engen Zirkel des unmittelbaren Geschehens. Von hier aus blickt er auf die Welt, kriecht über sie hinweg, wie ein Kurzsichtiger, ganz nah am Boden, wo die vielen Meinungen wachsen, nahrhaften Pilzen gleich, von denen er jene zu sich nimmt, nach denen die eigene Biologie verlangt. Denn aus dieser natürlichen Verwandtschaft bilden sich seine Geschmäcker, und es war ein feinsinniger Akt sicherster Instinkte, die Gattung durch das Attribut sapiens zu charakterisieren. Der Mensch erkennt, was ihm schmeckt! Und vielleicht ist es gar nicht einmal zu weit gegriffen, den gesamten Vorgang des Denkens, Fühlens und Wollens als einen großen Verdauungsprozess jener Nahrung zu bezeichnen, welche die Natur des Menschen ihm zuführt. Doch von welcher Natur jemand ist, hat sich niemand je aussuchen können. Darin liegt das Schicksal eines jeden begründet. Und es hat sich in den ungeheuer langen Zeiträumen ziellosen Experimentierens für den Menschen als vorteilhaft erwiesen, schmeckend an der Oberfläche zu bleiben.
Schaffenseitelkeit. – Die meisten »großen Geister« und noch größeren Geschichtenerzähler, besonders die des späten 20. Jahrhunderts, waren vor allem und stets damit beschäftigt, ihre Gelehrsamkeit in Form zu bringen. Das heißt freilich schon viel und bleibt beeindrukkend. – Was aber hatten und haben sie uns darüber hinaus noch zu sagen? Es scheint, als arbeiteten sie allein um ihrer selbst willen, weil sie Vergnügen daran fanden, die Welt zu bedenken und dieser ihre Gedanken mitzuteilen. Sucht man in der deutschen Geistesgeschichte der letzten siebzig Jahre dagegen nach dem wirklich Besonderen, das unerlässlich erscheint, wird man nur sehr wenige Autoren finden, deren Werk einer solchen Forderung standhält. Alle anderen aber hinterließen uns bloß Zeugnisse ihrer Schaffenseitelkeit, die durchaus interessant und unterhaltsam zu lesen sein mögen, der Notwendigkeit ihres Entstehens jedoch entbehren.
Die Summe ihrer Teile. – Wenn das Evolutionsprodukt Menschheit das Abbild der Entwicklung von Anlagen ist, die unter verschiedenen Bedingungen verschiedene Formen hervorbrachten, erklärt dies die Entstehung ähnlicher oder sogar gleicher Seinsund Verhaltensweisen und menschlicher Erfindungen wie »Seele«, »Gott«, »Unsterblichkeitsglaube« etc. unabhängig voneinander und verweist zugleich auf das natürliche Zusammenfließen all dieser Phänomene aus verschiedenen Quellen zu einem sich als Ganzes erkennenden Organismus, dem wiederum das Schicksal seiner biologischen Programme beschieden ist. Der Einzelne fungiert dabei als Zellkörper dieses Gesamten, das sich nur über seine Gattungseigenschaften begreifen lässt, als mankind oder humankind. Diese Entwicklung trägt ihre Erbinformationen und Ausrichtungen bereits in sich wie das Genom der einzelnen Exemplare, durch die sie verkörpert wird.
Technische Verhältnisse. – In der geistesgeschichtlichen Situation postkultureller Zustände kommt es nur noch darauf an, den Menschen seiner biologischen Art nach verstehen zu lernen, um in Begleitung solcher Erkenntnisse auf das soziotypische Verhalten Einzelner und ganzer Gesellschaften schließen zu können. Wem es nicht genügt, sich bloß in Beschreibungen des Vergangenen und Gegenwärtigen zu ergehen, muss den Menschen als Abstraktionsobjekt mit dem gebührenden Abstand zu sich selber ins Zentrum all seiner Beobachtungen und Überlegungen rücken. Anders ist es gar nicht möglich, wirklich zu begreifen, wie und warum sich geschichtliche Wandlungen vollziehen und welche Rolle der spezifischen Natur des Allgemeinmenschlichen dabei zufällt. Denn die Natur der Dinge kann nichts hervorbringen, was nicht in ihr selber angelegt wäre. Alle menschlichen Handlungen sind Ausdruck von Reaktionen auf Erfahrungen innerhalb dieser Natur: sie generieren dasjenige Programm, das sich durch Reproduktions- und Kopiervorgänge stofflich in uns ergeben hat. Natur bringt sich über die Dinge, die sie erzeugt, immer nur selber zum Ausdruck. Das nennen wir Technik: die Verfahrensweise, wie etwas auf etwas anderes reagiert und dadurch weiteres erzeugt. Die »technischen Verhältnisse«, über die alle Exemplare seit jeher miteinander in Verbindung stehen, zeigen sich heute besonders deutlich im Gebrauch jener Technologien, die ohne eine solche Anlage dazu gar nicht hätten hergestellt werden oder Verwendung finden können.
Evolutionsbiologie. – Die heute erreichte Dynamik einer sich von nun an potenzierenden Zukunft ist etwas, womit der Mensch bislang noch keine Erfahrungen machen konnte, weshalb wir so schwer begreifen, was derzeit mit der Welt geschieht. Diese Dynamik hat den Menschen um seine historischen Visionen gebracht, doch die Qualität der Entwicklung verhindert, diesen Verlust überhaupt zu bemerken, weil an die Stelle der alten Visionen tausend Innovationen getreten sind, die jeden in Bewegung halten. Diese neue Form der Zukunft, die uns alle erfasst, ist erstmals eine in sich geschlossene, weil sie in noch nie dagewesener Weise auf den bereits erreichten Zustand folgt. Denn von jetzt an gestaltet sich das schon Vorhandene selber, ohne dass der Mensch noch die Möglichkeit zum Richtungswechsel, geschweige denn zur Umkehr hätte: es geschieht einfach mit uns, während wir meinen, das Geschehen zu steuern oder wir uns wenigstens das Recht auf Unvorhersehbarkeit in der Geschichte vorbehalten. Wir meinen, uns den Ereignissen gegenüber selbständig zu verhalten, obwohl unser Verhalten zumeist längst Teil des Geschehens geworden ist, das mit uns passiert, weil sich beides gar nicht mehr voneinander trennen lässt. Nur bemerken wir vor lauter Veränderungseuphorie unsere Situation nicht, zum ersten Mal in der Weltgeschichte als Mensch kein historisches Subjekt mehr zu sein, das sich noch entscheiden könnte, wohin es wolle. – Aber gerade darin erkennen nicht wenige das große Glück, worauf der gesamtmenschliche Wille doch immer hinauslief: endlich nicht mehr selber vor die Wahl gestellt zu sein, was der Mensch sein solle, sondern wieder ganz Ding der Natur zu werden, um endlich in der Illusion moderner Pseudo-Freiheit unbegrenzter Entfaltungsmöglichkeiten digitaler Vernetzung heimzukehren wie einst in die bergenden Arme der Allmacht Gottes. Deshalb ist es unmöglich und geschieht es auch nicht, dass ganze Verbände sich gegen die Triebkräfte jener Dynamik, gegen die technischen Innovationen entscheiden und sagen: wir wollen die Digitalisierung des Lebens nicht! – Und eben daran, an dieser Unfreiheit, als Gattung fundamentale Entscheidungen auch gegen die Dynamik der eigenen Natur zu treffen, kann man ablesen, was Evolution ist. Hüten wir uns also mit allen Mitteln vor dem Erwachen aus der großen, bunten Truman-Show, deren Spielleiter keine bösen Mächte sind, sondern die Funktionen unserer Evolutionsbiologie!
Echo der Gattungseigenschaften. – Der sogenannte menschliche Geist ist wegen seiner Besonderheit, seiner Fähigkeiten, die in ihm selber liegen und als Grundlage fast aller anderen, praktischen Fähigkeiten des Menschen erkannt wurden, seit jeher deutlich überschätzt worden. Deshalb hat man ihn nie zum Organischen gerechnet, nie mit den Funktionen anderer Organe verglichen, ihn aus Faszination vor sich selber gleichsam heiliggesprochen. Dabei ist das menschliche Verhalten viel mehr Ausdruck seiner Biologie, seines Überlebensinstinktes, als seiner Fähigkeit zum »reinen Denken«. Mag der Mensch als organischer Apparat auch noch so kompliziert aufgebaut sein, als Gattungsexemplar, das seiner Natur untersteht, ist er ebenso leicht zu »berechnen« wie jedes andere Tier. – Dies verinnerlicht, ließe sich beobachten, wie man vom Funktionsträger biologischer Befehle zum »reinen Bewusstsein« gelangen kann durch Verlust der Gattungseigenschaften! Also kein Bedürfnis mehr zu haben nach dem bloß Menschlichen, das aber als schöne Erinnerung immer noch nachwirkt.
Sexus sive Kultus. – Frauen sind zumeist ganz von sich aus weiblich; Männer hingegen müssen ihre Männlichkeit stets erst unter Beweis stellen: allein ihr männliches Verhalten macht sie zu Männern. Dieser Druck, einer Erwartung zu genügen, dem Männer ganz anders ausgesetzt sind als Frauen, begann bereits bei den Naturvölkern und hat sich seitdem über alle Generationen und Weltgegenden vererbt. Daraus erwuchsen schwerwiegende Folgen für die unterschiedlichen Selbstausrichtungen der Geschlechter, die bis in die Tiefenschichten sexueller Veranlagung reichen. Wo ein Mädchen schlechte Erfahrungen mit Männern macht, vielleicht misshandelt oder gar missbraucht wird, kann ein solches Erleiden in die Homosexualität treiben, sofern eine Disposition dafür besteht. Fortan sucht es sein Bedürfnis nach Liebe in den eigenen Reihen zu stillen, weil es sich vom anderen Geschlecht abgestoßen fühlt. Wird dagegen ein Junge von Frauen seelisch oder körperlich misshandelt, tritt ein solcher Effekt kaum ein. Der Betroffene wird sich daraufhin nicht von Frauen abwenden und sein Verlangen nach Zuneigung bei Männern zu befriedigen suchen. Denn seine Männlichkeit ist durch die böse Erfahrung mit Frauen nicht verletzt worden. Wird dagegen ein schwacher, eher unmännlicher Junge von einem starken, dominanten Vater dahingegen gekränkt, dass dieser ihm seine fehlende Männlichkeit vorwirft, kann das zu einer Verachtung des Weiblichen im Jungen führen, die ihn wiederum auch sinnlich oder gar sexuell zu Männern hingezogen sein lässt, da er dort findet, was ihm selber ermangelt. Wer gerne ein »echter Mann« wäre, aber zu wenig Männliches in sich vorfindet, neigt zur Verherrlichung des Männlichen und verachtet im Gegenzug alles Weibliche, weil es ihn permanent an seine »Schande« erinnert, selber viel mehr Weib als Mann zu sein. – Hier haben wir es mit dem Phänomen einer Verachtung des Eigenen zu tun, das geeignet wäre, seine Spuren im kollektiven Bewusstsein ganzer Kulturen zu hinterlassen.
Kultus sive Sexus. – Als der Physiker Albert Einstein 1914 auf die hohe Bereitschaft, ja Begeisterung blickte, mit der die meisten jungen Männer Europas in den Krieg zogen, sah er darin das Verlangen, sich gegenseitig seine Potenz zu beweisen. Eine These, die bekanntlich auch der Psychologe Sigmund Freud vertrat. Tatsächlich sind die Ursachen für den sogenannten Militarismus Europas und vielleicht besonders der des jungen Deutschen Reiches auch in diesem Bedürfnis nach demonstrativer Männlichkeit zu suchen: eine Nation, die sich zu lange von ihrem mächtigen Nachbarn hatte demütigen lassen müssen, und die nur deshalb gedemütigt werden konnte, weil sie zu schwach, zu wenig männlich gewesen war, beginnt nun das »Weiche« und »Weibliche«, das Geistig-Lyrische in sich zu verachten; also gerade diejenige Eigenschaft, worin bisher ihre einzige Stärke zu liegen schien. Man will von einer Dichternation zu einer Kriegernation werden. Hier lässt sich tatsächlich eine Linie verfolgen, die vom Preußenkönig Friedrich II. bis hin zum Nationalsozialismus führt: der weiche, musische, philosophische König, der die blutigsten Kriege entfachte, während sich sein Vater, der Soldatenkönig, mit der bloßen Präsenz des Militärs und der Freude an Paraden begnügte, bis hin zu der Partei demonstrativer Härte und Geistesverachtung, die mit dem Versprechen antrat, die Dinge wieder ins »Biologisch-Natürliche« zurechtzurücken, Jungen wieder zu echten Männern und Mädchen wieder zu echten Frauen zu machen, nachdem im Zuge der Kultur-Moderne die vermeintliche Ordnung der Dinge samt der damit verknüpften alten Erwartungen durcheinander geraten war.
Frauen, männlich betrachtet. – Das Denken, Fühlen und Wollen der meisten Frauen bleibt viel zu oft in der kleinsten geistigen Problemeinheit hängen: der zwischen Ich und Du. Infolgedessen fehlt ihnen bald jeder tiefere Sinn für das Ungeheuerliche der Welt. Warum aber reicht die Wahrnehmung von Frauen, bei allem Gefühl, das sie für die Dinge aufzubringen fähig sind, zumeist kaum über sich selber hinaus? Warum interessiert sie alles Persönliche in höherem Maße, nicht aber das Darüberhinausgehende? Wie Flechten kleben Frauen an der Erde ihrer Empfindungen, die alles Verwandte in sich schließt, alles Nahe und Direkte, aber für Großes und Gewaltiges, für Überpersönliches nur wenig Bereitschaft parat hält, weshalb das Leben so vieler Frauen ein einziges und nie enden wollendes Beziehungsproblem darstellt. Jeder Mensch bewohnt ganz eigene, verschiedenartige Räume, doch erweisen sich die weiblichen als besonders eng und dunkel, worin sich die Frau immer wieder auf die eigenen Füße tritt – und daraus ihre erhöhte Empathie und Schmerzempfindlichkeit zu schöpfen scheint, ohne jedoch jemals die Weiten männlicher Welten auch nur zu erahnen. Wer solche Beobachtungen für das Resultat maskuliner Voreingenommenheit hält, vergleiche nur die geistigen Erzeugnisse beider Geschlechter miteinander. Und je offenkundiger jene mentale Verschiedenheit im 20. Jahrhundert zutage trat, nachdem sich niemand mehr hinter der Behauptung patriarchalischer Unterdrückung verstecken konnte, desto vehementer bestritten die Weiblein beiderlei Geschlechts das Faktum natürlicher Diversität und führten umso radikaler ihren Feldzug gegen die eigene Art. Seitdem gönnt niemand mehr dem anderen dessen häufig hormonell oder geschlechtlich bedingte Qualitäten, sondern will nur noch sein, was er nicht ist und erzwingt mit aller Gewalt das zu praktizierende Recht auf Unterschiedslosigkeit. – Die Schäden dieser Verblendung haben die extra zu diesem Zweck herbeigezüchteten Heerscharen von Therapeuten in Dauerbehandlung ihrer Ich-weiß-nicht-was-ich-will-Patienten aller möglichen Geschlechter zu beheben.
Hundecharakter. – Seinen Herrn auch dann noch verteidigen, wenn man von diesem, vielleicht ohne Not, geschlagen und misshandelt worden ist; sich aber sogleich dem neuen Herrn unterordnen, sobald dieser sich als solcher zu erkennen gibt. – Das ist auch etwas Menschlich-Deutsches.
Entscheidung. – Allein dort, wo der Mensch vom Menschen spricht, wird er vom Menschen verstanden. Doch wo er über den Menschen spricht, kann er nicht mehr zu ihnen sprechen. So sagte einer: Ich suchte nach Menschen und fand überall nur – Natur.
Selbstbild. – Der Mensch bildet in allen seinen Werken stets nur den Menschen ab. Aus diesem Zirkel gibt es kein Entkommen. Deshalb bleibt der Mensch dem Menschen das größte Unglück. Die Welt an sich ist dem Menschen freilich nicht feindlich; sie lässt sich bearbeiten – nicht aber das Wesen des Menschen, dessen Lebensbegriff und Grundnatur die Zerstörung der Welt impliziert.
Menschenwerk. – Das derzeit anbrechende, neue Weltalter wird nicht zuletzt über seinen technischen Charakter zu der trivialen, aber so lange vertuschten Einsicht führen, dass alles, was das Leben mit Sinn und Bedeutung erfüllt, Menschenwerk ist: Gott, Staat, Moral, überhaupt alles Politische wie Glaube, Liebe, Hoffnung; ja, es wird nicht ausbleiben können, endlich zugeben zu müssen, dass der Mensch selber Menschenwerk ist! Diese so lange verleugnete Tatsache machte zuletzt alles möglich und entband den Menschen seit jeher von jeder Verantwortung gegenüber der außermenschlichen Welt, der übrigen Natur, die nicht von ihm geschaffen worden ist. Wo immer der Mensch nach einer Instanz suchte, die ihm Regeln auferlegte, hatte er sie sich zuvor selber geschaffen; nichts befahl ihm je irgendetwas, das nicht seiner eigenen Phantasie entsprungen wäre. – Und diese Haltung, diese Verfahrensweise geht nun auf die Maschinen über, wird an sie vererbt. Hieraus erklärt sich die Formbarkeit des Menschen, sowie die Beständigkeit des Unbeständigen: das ewige Werden durch andauernde Veränderung des Gleichen. In der frühen Leugnung jener Evidenz, dass der Mensch dem Menschen alles ist, es kein Davor und kein Danach, kein Darüber, sondern nur ein Darunter gibt, hat jeder Offenbarungsglaube seine Wurzel. Deshalb umringt sich der Mensch mit lauter Selbstgeschaffenem, das ihn in Gesellschaft setzt und ihm suggerieren soll, dass er nicht autochthon und in diesem Sinne nicht allein auf der Welt, sondern das Kind oder Werk einer höheren Ordnung ist, die schützend über ihn wacht.
Gattungsnatur. – Das Schicksal jeder Gattung liegt in ihren Eigenschaften. Und jeder Einzelne bedient sich solcher Eigenschaften, um vor den jeweiligen Anforderungen herrschender Wirklichkeiten zu bestehen. Was wir Wille zu nennen gewohnt sind, findet eben nicht als autonome Leistung im Einzelnen statt, sondern ist das Ergebnis verschiedener Begabungen, jene Eigenschaften am vorteilhaftesten zu nutzen. Der Erfolg eines Menschen, andere Menschen für sich zu gewinnen, resultiert aus der Fähigkeit zur richtigen Handhabung jener Eigenschaften, die dem Willen zur Gattung unterliegen. Und aus eben diesem Willen zur Gattung ergibt sich die große Rechtfertigung des Menschen, der zugleich die Bildung eines echten Einzelwillens verhindert. Jeder soziale Erfolg unter Menschen ist mit dem Verzicht auf den Einzelwillen erkauft. Denn die Bereitschaft, sich am Gattungswillen zu beteiligen, setzt den Willen zur Gattung voraus.
Willens-Freiheit. – Gibt es einen menschlichen Willen in der Welt, also einen Willen, der allein dem Menschen zukommt? Was unterschiede dann den »Willen in der Natur« von einem solchen menschlichen Willen? Oder ist nicht jeder Wille, den Begriff beim Wort genommen, von vornherein etwas rein Humanes? Folglich ist Willensfreiheit ein Widerspruch in sich; ein Wille kann niemals »frei« sein, denn sobald er in mir wirkt, hat er bereits Gewalt über mich. Und zu behaupten, die Freiheit bestünde darin, einen Willen über einen anderen zu erheben, schmeichelt bloß dem Verstand. Denn das Leben selber zwingt uns zur Wandlung – wodurch jede höhere Freiheit zur Selbstgestaltung aufgehoben ist. Der Einzelne kann den Zeitläuften so wenig entgehen oder sich der ihn umgebenden Welt entziehen wie dem eigenen Tod. Er bleibt Material seiner Gattungsnatur, ein Stück Wegstrecke, auf der sich die Evolution seiner Art vollzieht. Denn die Natur gewährt niemandem das Recht auf Eigenentwicklung, die nicht im Rahmen des Gattungsprogramms verliefe.
Wille zur Belastung. – Warum gründen Menschen auch dann noch Familien, wenn dies für den eigenen Schutz und das eigene Überleben nicht mehr nötig ist? Zunächst wirken hier natürlich älteste Atavismen nach; darüber hinaus scheint es aber auch ein menschliches Bedürfnis zu sein, sich über die Zeugung von Nachkommen etwas Eigenes zu schaffen: als Ergänzung und Fortführung, aber auch als Belastung des eigenen Ich. Denn erst diese Belastung schafft das nötige Schwergewicht des eigenen Lebens, ohne das vielen tatsächlich etwas fehlen würde. – Vielleicht ist der Wille zur Belastung, die Freude daran, sogar das entscheidende, wenngleich verdeckte Motiv, weshalb Menschen sich auch heute noch, also in Zeiten der Übermoderne und Zivilisation, mit dem Ziel zusammenfinden, bewusst zu zeugen, obwohl das Programm der Zeugung von seinem alten, ursprünglichen Sinn doch längst abgekoppelt ist.
Wille zur Ökumene. – Seitdem Menschen ihre Verschiedenheit bemerkten, versuchten sie, diese aufzuheben, zu überwinden, rückgängig zu machen, so als stamme die Menschheit von einem Ur-Paare ab und entwickelte sich aus einer Ur-Gesellschaft heraus, in der alle gleich gewesen seien – und in die man instinktiv zurückwolle. Nachdem der biblische Mythos, der Glaube an den universalen Gott Israels, diese offenbar urmenschliche Sehnsucht nach Einheit aller Dinge theologisch autorisiert hatte, war der Wunsch nach Verwirklichung totaler Egalisierung nicht mehr aus der Welt zu schaffen, und das Abendland hat seinen großen Anteil an der Verbreitung dieser Vorstellung einer ursprünglichen Ökumene. Zunächst versuchte man im Abendland, alle Menschen unter das gemeinsame Dach einer Kirche, der Ecclesia catholica oder Ecclesia universalis zu zwingen, dann die fremden, »niederen« Rassen, die sich vom Europäer unterschieden, sowie alle anderen »Ungläubigen« zu bekehren, zu assimilieren oder auszurotten, und schließlich begann man sogar, sämtliche Unterschiede zwischen den Menschen an sich, den Geschlechtern und Ethnien zu leugnen. Die Kontinuität im Bestreben des Europäers und seiner Kolonisten, die Menschheit zu vereinheitlichen, ist unübersehbar. Denn alle diese Maßnahmen gingen und gehen vom Abendland aus. Und doch scheint damit ein zutiefst menschliches Verlangen berührt zu sein. Denn wenn es einen Gattungsdrang gibt, der unabhängig von allen politischen Machtverhältnissen und lokalen Prägungen waltet, dann ist es offenbar der nach Vereinheitlichung. Der Mensch strebt von sich aus nach Aufhebung aller Grenzen und natürlichen Unterschiede – sobald ihn keine kulturellen Gebote mehr daran hindern. Einst war schon der andere Verband oder die andere Ortschaft das Fremde. Aus einer ursprünglich hochdifferenten Welt, die lauter verschiedene Sprachen, Sitten, Gebräuche, Maße, Gewichte, Währungen hervorgebracht hatte, wurde eine vereinheitlichte. Denn Vereinheitlichung bedeutet Vereinfachung und erlaubt eine bessere Organisation – nicht zuletzt im wirtschaftlichen Interesse. Hätte die Welt also eine gänzlich andere werden können als die heute erreichte? Wäre es möglich gewesen, dass die Menschheit einen wesentlich anderen Verlauf genommen hätte, oder liegen nicht alle Entwicklungen und Erfindungen des Menschen in seiner Art, also in seinem genetischen Programm, mithin in seiner Evolution begründet? Demnach musste das Feuer kontrolliert, mussten Erze gewonnen und verarbeitet, mussten Staaten gegründet, Finanzsysteme entworfen und das digitale Weltalter erreicht werden. Wo eine Sache entdeckt oder begonnen wird, ergeben sich beinahe zwangsläufig diejenigen Folgewirkungen, die jene Sache impliziert, und die wiederum jene Eigendynamiken auslösen, welche für den sogenannten Fortschritt sorgen. Hüten wir uns also davor, die Weltwirklichkeit allein als das Werk politischer Mächte anzunehmen in dem Glauben, die Dinge hätten bei entsprechender Konstellation auch einen ganz anderen Verlauf nehmen können. Wenn alle Menschen, die je gelebt haben, nie geboren worden wären, und stattdessen diejenigen, die verhindert worden sind, ins Leben gefunden hätten, wäre die Welt keine andere als die heutige! Darin liegt der Beweis, wie wenig es auf jeden Einzelnen ankommt, und dass Leben immer nur sich selber über die verschiedenen Arten, niemals aber echte Individuen hervorbringt. Heute wachsen weltweit Generationen heran, die ein Vermischungs- und Nivellierungswunsch antreibt, der sich vielleicht nur mit dem Willen zur Ökumene im Hellenismus vergleichen lässt, später mit dem Willen zur Weltkirche. Fast alle kulturelle Entwicklung tendiert zur Vereinheitlichung, zur Überwindung gewachsener Unterschiede. Darin scheint ein geschichtsanthropologisches Lebensprinzip zu liegen, das sich überall beobachten lässt, wo die jeweiligen Bedingungen und historischen Erfahrungen einen solchen Prozess erlaubten. – Deshalb werden schon in naher Zukunft die wirklich großen Fragen nicht mehr politischer oder soziokultureller Natur sein, die ja bereits heute bloß noch als Showgefechte stattfinden, sondern sich an die Begabung des Einzelnen zur Eigenrezeptivität und Selbstreferenz richten und dadurch eine grandiose Erweiterung in die Tiefenschichten entpersonalisierter Weltwahrnehmung erfahren, wie sie dem bisherigen Menschen kaum zu verkraften sein würden. Für die nächsten Jahrhunderte steht eine derart gründliche Selbstrevision bevor, deren Ergebnisse uns heute noch erschaudern ließen. Bald schon dürfte man dem Zeitraum vom Altertum bis zum zweiten Millennium gleich fremd und überlegen gegenüberstehen wie wir Heutigen dem prähistorischen Menschen der Eiszeit. – Der in diesem Sinne erkenntnistheoretisch erweiterte Mensch wird seiner eigenen Apparatur zunehmend ferner rücken, zu sich selber und zu allen anderen noch mehr auf Distanz gehen, sich vielleicht gar nicht mehr als Teil irgendeiner definierbaren Gruppe verstehen, sondern als das Ewige, Einzige und Ganze begreifen lernen, worin sich die Welt als solche spiegelt und erhält. Niemand gehört dann noch sich selber, ja nicht einmal einer Nation oder Kultur oder irgendeiner anderen Klassifikation an. Vielmehr ist er in der Struktur eines sich fortwährend erneuernden Netzwerkes oder Schwarmes aufgegangen, dem er überindividuell und ganz automatisch zugehört wie ein energetischer Faktor. In einem solchen Zustand der Kumpanei, mit dem Aufgehen und Heimkehren ins Gattungskollektiv, kann sich niemand mehr seiner sicher sein; und der Mensch wird vielleicht irgendwann gänzlich davon abkommen, von sich im Singular als eines klar bestimmbaren Subjekts zu sprechen. »Es könnte sein«, wie kluge Beobachter bereits am Ende des 20. Jahrhunderts bemerkten, »daß die dritte Stufe der Verarbeitung von Informationen (nach Sprache und Schrift), die wir gerade jetzt durchleben, nochmals ganz grundsätzliche Veränderungen der sozialen Interaktion bringen wird. Mit dem elektronischen Netzwerk des computerisierten Weltdorfs werden die gemeinsam zugänglichen Informationen und die entsprechenden Programme allgegenwärtig; sie lassen das Individuum definitiv hinter sich. In der Literaturwissenschaft ist der ›Verlust des Subjekts‹ oder ›des Autors‹ bereits zum Schlagwort geworden.«3 – Möglicherweise beginnt also mit dem globalen Siegeszug der Digitalisierung des Lebens sowie der One-World-Verbraucher-Ideologie eine geistig-materielle Erneuerung der Menschheit von Grund aus, wie sie zuletzt nach der epidemischen Verbreitung der christlichen Erlöserreligion stattgefunden hat.
Unterschätzte Natur. – Dass wir uns nicht vorstellen können, wie etwas so Komplexes und Kompliziertes wie menschliches Leben aus der Natur hervorgegangen sein kann, sondern eines »Schöpfers«bedurft haben müsse, liegt freilich an unserer eigenen Beschränkung, die uns unsere Art auferlegt. Jedes andere Wesen, auch das primitivste, müsste, wenn es denken könnte, ebenso reagieren. Diese Kurzsichtigkeit, sich außerhalb des Spektrums von Pflanzen, Insekten, Fischen oder Säugetieren zu wähnen und von seiner »Ebenbildlichkeit Gottes« überzeugt zu sein, wäre vielleicht noch hinnehmbar, wenn der Mensch das einzige Lebewesen auf Erden verkörperte. Doch da es so viele Stufen und Entwicklungsgrade des Lebens gibt, verwundert die Behauptung, Leben könne nicht aus der Natur selber hervorgegangen sein, obwohl sich doch überall beobachten lässt, welche verschlungenen und verzweigten Wege der Artenbildung die Natur einzuschlagen fähig ist.
Zum Irren veranlagt. – Müssten nicht all jene, die vorgeben, »selber zu denken«, zu den gleichen Ergebnissen kommen? Denn was hätte »Selberdenken« für einen Sinn, wenn darin doch bloß die Rechtfertigung zur Verteidigung der eigenen Torheiten läge? Wie bilden und entwickeln sich verschiedene Anschauungen von der Welt, da doch allen Menschen stets die gleichen Wahrheiten, bloß hinter verschiedenen Wirklichkeiten verborgen, zur Verfügung stehen? Verschiedene philosophische Modelle können nur dort zustande kommen, wo unzureichend gedacht wird. Wie hätte es je Fraktionen geben können, wenn nicht alle Anhänger der verschiedenen Schulen auf ihre Weise irrten? Ein fehlerhaftes System weist einem anderen fehlerhaften System Fehler nach. Das war die Leistung des deutschen Idealismus, der sich für oder wider Kant definierte. Und darum ähneln sich die Verläufe kultureller Entwicklungen so sehr. Jeder kann leicht an sich selber beobachten, dass er zu denjenigen Einsichten, Urteilen, Qualitäten, die ihn jetzt bestimmen, einst noch nicht fähig war. Wo das gleiche oder gleich gedacht wird – wie in den sogenannten philosophischen Schulen –, haben wir es selten mit Überzeugungen aufgrund logischer Beweisführung zu tun, sondern mit mentaler Verwandtschaft: ähnliche Voraussetzungen oder Anlagen führen zu ähnlichen Ergebnissen. – Daher ist Philosophie vor allem eine Charakterfrage.
Worauf beruht Übereinstimmung? – Man stimmt überein heißt: man hängt der gleichen Stimmung an, teilt das gleiche Wollen, ist ähnlich veranlagt, verfolgt die gleichen Ziele, trägt sich mit den gleichen Absichten. Diese entstehen infolge ähnlicher Ausrichtungen und Erfahrungen, also aus rein subjektiver Prägung, über die niemand Gewalt hat. So ist der Mensch das Abbild der Reaktion seiner Instinkte auf bestimmte Ereignisse, woraus seine Anschauungen und Gesinnungen erwachsen, die ihn fortan steuern und die Menschen verschieden sein lassen. Denn die Welt ist das, was sich ereignet. Die Verhältnisse oder Beziehungen zwischen den Ereignissen ergeben das, was jede Generation als »Zeitgeist« erfährt. – Aus solchen, unseren inneren Erfahrungen schließen wir auf die Welt, denn wir suchen überall nach Analogien zu uns selber, also zu unseren Regungen. Wir mögen und bevorzugen, womit wir uns selber identifizieren können, worin wir uns erkennen, da wir die Welt nach uns selber absuchen. Worin wir uns wiederfinden, darin stimmen wir überein – notfalls auch gegen die Tatsachen objektiver Erfahrung.
Vom Mythos zum Logarithmus. – Alle Systeme – von Platon über Schopenhauer bis Marx – unterliegen dem Grundmakel, dass sie naturgemäß Menschenwerk sind und also unter den Bedingungen menschlicher Ausrichtung gleichsam mythologisch funktionieren, nicht aber an und für sich Geltung haben können. Alle Systeme spiegeln, wie der Mythos, nur die Möglichkeiten unseres Denkens, nicht aber die Welt oder die Dinge, wie sie für sich, also unabhängig vom Menschen bestehen. Denn Mensch und Welt bilden zwei in sich geschlossene Räume, die nur über die menschliche Empfindung miteinander verbunden sind. Deshalb ist uns die Welt »an sich« nicht zugänglich; wir gehören dort nicht hinein, sondern nur in jene, die das Bild ist, das wir uns von ihr machen. Die Denkfähigkeit, Perzeption etc., die den Menschen von allen anderen Lebensformen so wesentlich unterscheidet, schließt ihn eben deshalb von jener Welt aus, die alle anderen bewohnen. Eine Ahnung davon schlich bereits durch das Altertum, als sich Philosophen wie Thales, Anaximander oder Heraklit erstmals entschieden gegen die Macht der Mythen wandten; Hekataios von Milet versuchte nachweisbar vielleicht als erster, den Mythos zu rationalisieren… – Nun nehmen allmählich Maschinen den Platz der frühen Mythen ein; Geschöpfe, die freilich den Vorteil gegenüber den alten Göttern haben, tatsächlich greifbar zu sein, wo sie gebraucht werden.
Verweigerung. – Gewisse Tatsachen sind der menschlichen Eitelkeit und Naivität so zuwider, dass sie von jeder nachwachsenden Generation neu geleugnet werden; so die längst bekannte, völlig evidente und immer wieder ausgesprochene4 Wahrheit, dass »Seele« und »Geist« nicht für sich bestehen, nicht vom Organismus losgelöst zu denken sind, sondern bloß poetische Bezeichnungen für Genfunktionen darstellen, dass sie gar nichts anderes sein können als eben dieses, folglich mit der menschlichen Natur entstehen und vergehen. – Alle politisch-religiösen Anschauungen entsprechen menschlichen Eigenschaften. Es gibt keine »Kultur«, deren Motive nicht in der Natur des Menschen lägen. Der Einzelne hat darauf keinen Einfluss; jeder ist bloß Abglanz von Motivpaletten, deren verschiedene Farbtöne nach und nach zur Geltung gelangen.
Grundnatur. – Gibt es ein intellektuales Recht auf moralischen Widerstand gegen die Grundnatur menschlicher Verhaltensweisen, oder gibt es womöglich eine biologische Pflicht zum Erdulden, ja zum Genuss, trotz allen Unbehagens, das von eben dieser Grundnatur ausgeht und deshalb auch nur diejenigen Menschen um den Verstand bringt, deren Weltwahrnehmung auf eine bestimmte Weise »fehlerhaft«, weil vom Üblichen abweichend verläuft? Ein gesunder Organismus scheint nur wenig Skepsis gegenüber der eigenen Art zu dulden. So verliert der Mensch die Scheu vor sich und seinen Programmen. Dagegen blickte man in den alten Kulturen noch entschieden misstrauischer auf die menschlichen Fähigkeiten und Bedürfnisse. Erst die Zivilisation ließ dem Menschen und seinen Möglichkeiten freien Lauf.
Homo mensura. – Zehn Jahre euphorisch betriebene Neurowissenschaften haben bei der Beantwortung der Frage: was ist das Gehirn? kaum einen Schritt über den tradierten Kenntnisstand hinausgeführt. Den Aufbau eines Organs beschreiben zu können, bedeutet noch nicht, über sein Was, Wie und Warum Klarheit zu gewinnen. Tatsächlich befinden wir uns heute, trotz zahlloser Einzeluntersuchungen in den verschiedensten Disziplinen, noch immer mehr oder weniger am gleichen Erkenntnisort, den bereits die Alten besiedelten. Und es scheint, als haben die Neurowissenschaften die Frage nach dem Wesen des Menschen wieder zurück an die Philosophie gegeben. Nun gilt es, die simple Tatsache des Protagoras, also jenen evident-hellsichtigen Homo-mensura-Satz: ἄνϑϱωπος μέτϱον ἁπάντων5 erneut zum Ausgangspunkt des Erkennens zu machen. Das besagt: es gibt für den Menschen keine Wahrheit, die er nicht selber erschaffen hätte! Die Konsequenzen daraus – so man sie denn einmal genauer besehen wollte – sind drastisch, aber sie bilden bis heute unsere Wirklichkeit subjektiver Weltverwertung; und damit die Wurzel der täglich zu erlebenden und deshalb als normal hingenommenen menschlichen Rücksichtslosigkeit.
Was denkt in uns? – Das Gehirn prüft als natürliches Frühwarnsystem die Welt auf Bekanntes, bereits Berechnetes. Denn die Menschen mussten Gefahren voraussehen können, um zu überleben, da sie über keine anderen geeigneten Fähigkeiten verfügten, sich spontan zu verteidigen. Ihr Spezifisches wurde so das Gehirn. Was bei anderen Tieren die Fluchtgeschwindigkeit, Tarnung, Panzerung oder das Totstellen war, ersetzte beim Menschen das Antizipieren von Gefahren durch Denken. Daraus wird deutlich, wie das Denken als organische Funktion entstand und nach welchen Erfordernissen es bis heute im Menschen »arbeitet«. – Denken also wir oder denkt das Denken uns? Wodurch können wir Gleiches denken wie andere – und doch von ihnen verschieden sein? Ferner: worin besteht der Unterschied zwischen Gefühlen und Gedanken? Sind doch beides Äußerungen desselben Organs, des Gehirns, sie befinden sich also in interaktiver Verbindung mit dem gesamten Körper. Wahrscheinlich ist Denken eine höhere Form des Fühlens, und aus dem Sensitiven einst hervorgegangen. Unser ganzer Körper »denkt«, sobald er etwas empfindet, denn jedes Gefühl ist ein »Gedanke« desjenigen Organs, das es hervorgerufen hat. Immerhin muss jedes Gefühl empfunden werden, um zu sein, also vom Gehirn registriert, und so gehen die Gefühle von den verschiedensten Organen aus, nämlich von allen, die dazu geeignet sind. – Fühlen, Denken, Wollen sind daher die verschiedenen Akzente ein und desselben Vorgangs. Keine dieser Regungen lässt sich von einer anderen gänzliche isolieren, und in allen Lebewesen sind alle drei angelegt, nur freilich in unterschiedlichen Graden und Qualitätsstufen.
Weltnatur. – Des Menschen Geist und Sinne haben sich der »Weltnatur« gemäß entwickelt – und nicht willkürlich oder eigenständig. Was wir vermögen, dient unserer spezifischen Natur dazu, uns in der übrigen Natur zurechtzufinden, um überleben zu können. Folglich ähnelt die eine Natur der anderen, und es stehen beide in einem engen Verwandtschaftsverhältnis zueinander, da unsere spezifische Natur aus der »Weltnatur« hervorgegangen ist. Deshalb ist alle Metaphysik höherer Unsinn, denn es kann nichts über diese beiden Naturen hinaus geben bzw. erkannt werden. Metaphysische Modelle dienen der Vereinfachung, den Menschen nicht allein aus der »Weltnatur« heraus erklären zu müssen.
Wille zur Kausalität. – Nicht ausgeschlossen, dass man in fünfzig oder hundert Jahren über die Urknalltheorie genauso schmunzeln wird wie wir Heutigen über das physikalische Weltbild der Menschen im sogenannten Mittelalter lächeln. Denn wir haben allen Grund, uns auch der modernen Physik gegenüber eine gehörige Portion Skepsis zu bewahren. Vielleicht ist das Sein der Welt mit menschlichen Maßstäben gar nicht zu erfassen, und alle Theorien und Formeln sind nur unzureichende Hilfsmittel bei dem Versuch, die Welt »menschlich« zu denken.
Mythos Menschwerdung. – Nirgendwo zeigen sich heute die Lust am Mythos und die daraus erwachsende Macht des Mythos deutlicher als in der sogenannten Out-of-Africa-Theorie, wonach die rezente Menschheit von einer einzigen Hominiden-Linie abstamme, deren Ursprung im südöstlichen Afrika liege. Nur durch die Wirkung jener beiden Kräfte, Lust und Macht, wird plausibel, wieso abermals niemand widerspricht, wo eine wissenschaftlich und logisch völlig haltlose Konstruktion für kanonisch erklärt wird, weil die gerade gültige Ideologie danach verlangt. Denn die These, dass sich »der« moderne Mensch von Afrika aus über die Welt verteilt habe und alle späteren Menschen aus diesem einen Stamm hervorgingen, erklärt anthropologisch gar nichts, fördert und stärkt aber das politische Dogma von der »One-World«, in der lauter »gleiche« Menschen »derselben Art« lebten, deren Unterschiede – und treten diese auch noch so deutlich hervor – genetisch minimal und als »kulturell erzeugte Konstrukte« zu verstehen seien, die es nunmehr, im Globalisierungszeitalter totaler Nivellierung, abzuschaffen gelte. Obwohl wir heute zu wissen meinen, dass sich etwa die Landwirtschaft eben nicht monokausal von Mesopotamien aus über die Erde verbreitet hat, wie lange angenommen worden war, sondern an mindestens sieben Orten der Welt relativ gleichzeitig und unabhängig voneinander entstanden ist, gestattet man sich bei der Frage nach dem Ursprung des Menschen keinerlei Zweifel. – Man traut der Menschwerdung eine solche »Gleichzeitigkeit« (noch) nicht zu, weil derlei Relativierungen heute, da wir alle »Afrikaner« sein sollen, moralpolitisch nicht wünschenswert wären. Obwohl viel zu wenige Funde frühmenschlicher Fossilien vorliegen, um gen-analytisch gesicherte Ergebnisse erzielen zu können, scheint dennoch niemand unter den tonangebenden Wissenschaftlern das derzeit für gültig erklärte, monokausale Entstehungsmodell zu beanstanden, und so arbeitet man – wie in allen Fragen von politisch-ideologischer Brisanz – auf das gewünschte Resultat hin. Eben dieses Resultat aber, das die »richtige Gesinnung« dem Forscher heute befiehlt, hätte sie ihm noch vor hundert Jahren verboten. Und wer wäre vor dreihundert Jahren kühn genug gewesen, den »wahren Kern« der biblischen Schöpfungsgeschichte anzuzweifeln? Im Grunde also lebt der symbolisch hochaufgeladene Mythos vom menschlichen Ur-Paar im ideologischen Zeitalter fort. – Wie aber sollten sich die verschiedenen Rassen gebildet haben, wenn alle Menschen, die wir heute unter dem Begriff Homo sapiens zusammenfassen, eines genetischen Ursprungs gewesen sind und es nicht zu Vermischungen unter den zahlreichen Hominiden gekommen ist, aus denen sich eigene Menschenarten entwickelt haben, die unabhängig voneinander an unterschiedlichen Orten aus diversen Zweigen hervorgegangen waren? Wissen wir doch bis heute nicht, woraus sich etwa Homo sapiens oder Homo neanderthalensis entwickelt haben – die plötzlich einfach »da« gewesen sein und daraufhin bestimmte Gebiete bevölkert haben sollen. Ebenso wenig wissen wir, wie viele Hominiden es überhaupt je gegeben hat; fast jährlich trägt die Archäologie irgendwo eine neue Art ans Licht. Daher zweifelt inzwischen niemand mehr daran, dass kein Stammbaum, sondern ein Stammbusch rekonstruiert werden müsste, wollte man der hochkomplexen Entwicklungsgeschichte des Menschen auf die Spur kommen. Wir blicken also auf ein Geflecht zurück, dessen arabeske Verzweigungen gesicherte Herkunftslinien gar nicht zulassen, so dass es die eine, in sich geschlossene Spezies, die wir Homo sapiens nennen, vielleicht nie gegeben hat. Vielmehr dürfte die heutige Menschheit das genetische Produkt zahlreicher Verbindungen zwischen verschiedenen Hominiden sein, die zu einer »Art« zusammengeschmolzen sind, weshalb von der »Ur-Gleichheit« aller Menschen auch ethnologisch keine Rede sein kann. – Doch wo immer Forschung und Wissenschaft von der Gunst religiöser oder politischer Auftraggeber und Meinungsmoden abhängen, das heißt: wo sich persönliche Karrieren über die »richtige Haltung« zum jeweiligen Gegenstand entscheiden, haben wir es mit den gleichen Denkbegradigungen und sophistischen Lavierungskünsten zu tun. Oder mit dem echten Glauben an das zu Meinende aus vielleicht unbewusster Gehorsamspflicht, weil ein Automatismus der Instinkte im Menschen waltet, der ihn an das Vorteilhafte bindet. Denn die Aussichten auf eine Dozentenstelle lösen ganz ähnliche Verhaltensmechanismen aus wie die Androhung des Scheiterhaufens. Und so bleibt es erstaunlich, dass selbst im 21. Jahrhundert manche Forschungszweige immer noch neue Mythen erzeugen und fortspinnen, weil den Zeitgeistgewissheiten und Gesinnungszwängen weiterhin größere Wirkungskräfte innewohnen als dem Willen zur Logik und zur Plausibilität.
Neuer Umgang mit der Wirklichkeit. – Wie haben wir uns den Realitäten und damit der menschlichen Natur gegenüber als Menschen zu verhalten? Das Wachstum der Menschheit sorgt für deren Formung und Wandlung. Wie ein Organismus, der sich seinen Lebensraum erobert und entsprechend gestaltet, indem er sich nach Maßgabe seines Wachstums dort einbringt. Kulturelle Wandlungen erklären sich nicht aus dem Bedürfnis nach Kultur – genauso wenig wie das Kind erklären könnte, warum es spielt oder spielen will. Wo die Natur des Menschen nicht mehr außerhalb der Gesamtnatur, sondern als streng von dieser abhängig, ja auf ihre Weise identisch mit ihr gedacht wird, erlischt jeder Anthropomorphismus, und Kultur muss fürderhin ganz anders betrachtet und begriffen werden als bisher. Die Genese seiner Art nennt der Mensch Kultur, die der Tiere Natur. Doch ist Kultur nur eine höhere Form von Natur für diejenigen, die ihren Werdegang, ihre Evolution selber zu gestalten meinen. In beiden aber wirken die gleichen Kräfte, nur auf verschiedenen Ebenen. – Wenn es also je einen echten Fortschritt in der Philosophie geben sollte, dann bestünde der im Abschied vom Anthropomorphismus.
Große Zeit des Menschen. – Die Welt der letzten dreitausend Jahre, die uns kulturell geformt und erfüllt hat, wird mit ihrem Vergehen verabschiedet und ins Museum gestellt. Und so lässt das 21. Jahrhundert den Menschen wenigstens drei ganz neue Erfahrungen machen: die der Digitalisierung des Lebens, also die der totalen Abhängigkeit des Einzelnen von elektronischen Geräten; daraus folgend die der technischen Vernetzung aller mit allem; und zuletzt die der praktizierten Selbstauslöschung der alten europäischen Kulturvölker unter Missachtung der Tatsache, dass Menschheitsgeschichte Verdrängungsgeschichte ist. – Die bisherige Entwicklung bestand darin, dass das Empirische eine neue Qualität bekam. Was sich dagegen im 21. Jahrhundert an Veränderungen ereignet, ist in der gesamten Weltgeschichte ohne Beispiel und trifft die aus historischen Erfahrungen erwachsene Gattung völlig unvorbereitet. Die bisher größte und schönste Idee, welche Menschen je erdacht haben, die des freien, schönen Individuums, weicht einer neuen, völlig anderen Praxis, deren Entwicklung wir nicht vorhersagen können. Wir wissen nur, dass sie von einer ganz neuen Art sein wird, die zu der alten Welt keine Verbindungen oder Übergänge mehr zulässt – außer die durch nostalgische Wunschvorstellungen imaginierten. Die Welt des bisherigen Menschen geht von nun an verloren, und zwar in vielerlei Hinsicht: der Mensch verliert sein tradiertes Selbstverständnis als Mensch, und damit den gesamten kulturgeschichtlichen Horizont, der hinter ihm liegt. Langsam beginnt er zu ahnen, dass alles, was er seine Geschichte nennt, bloß Episoden unterentwickelter Stadien waren, denen noch eine ganz andere Menschheitsgeschichte folgen wird. Vielleicht beginnt erst jetzt, mit dem postkulturellen Weltalter, die große Zeit des Menschen, der in zweihundert oder fünfhundert Jahren mit Hilfe grandioser Technik einen Entwicklungsgrad erreicht haben dürfte, welcher uns heute noch völlig phantastisch, unverständlich und fremd erscheinen muss, und ihn dazu berechtigte, mit dem gleichen geistigen Abstand auf uns Heutige herabzublicken, wie wir auf den prähistorischen Menschen sehen. – Man kann es überall beobachten und spüren, dass die bisherige Welt mit etwas schwanger geht, das zwar aus ihr entspringt, aber so wenig mit seinen Erzeugern verwandt sein wird, dass diese in ihrer bisherigen Form dort ihr Ende finden müssen.
Von kommenden Welten. – Nachdem die meisten kulturellen Gewohnheiten kraftlos und ungültig geworden sind, werden die kommenden Generationen gezwungen sein, neue Identitätsmuster zu bilden. Bislang ergaben sich Identitäten gewissermaßen automatisch aus den vorgefundenen, zumeist sehr alten gesellschaftlichen Ordnungssystemen, die wiederum deshalb zustande kommen konnten, weil die Welt für den Menschen infolge seines Mangels an Transparenz etwas durchaus Fassbares war; er fand eine klar umgrenzte Welt vor, in der alles überschaubar seinen Platz hatte. Seit etwa hundert Jahren lässt sich nun das Schauspiel beobachten, wie Menschen auf die Mutation dieser alten Weltanschauung reagieren: während die einen die Auflösung der Reste tradierter Weltbilder und Identitäten forcieren, ziehen sich die anderen dahin zurück und fordern »auf verlorenem Posten« die Wiederbelebung und Rückeroberung jener greifbaren, geordneten Welt überkommener Identitätsmuster. Die nächsten Jahrhunderte werden jedoch den fürchterlichen Beweis antreten, dass kein Wertesystem, keine kulturelle Ordnung, kein »Eigenes«, kein »nationales Wir« und kein »Das-war-aber-schon-immer-so« den Anspruch auf Unvergänglichkeit erheben darf, nichts Menschliches »gottgegeben« oder unumstößlich ist. Nie zuvor trat dem Menschen die Unbeständigkeit aller menschlichen Dinge und synthetischen Wirklichkeiten mächtiger vor Augen als heute. Das Weltalter der Entgrenzung erfordert nicht nur neue Weltverarbeitungsstrategien, sondern auch eine bislang als »unnatürlich« empfundene Flexibilität im Umgang mit Normen, da diese ebenfalls ihren allgemeingültigen Gesetzescharakter verloren haben. Auf der Suche nach neuen Identitäten werden die alten Normen also keine verlässliche Orientierung mehr bieten können, so dass vielleicht jede Generation, jede soziale Gruppe eigene Muster entwerfen wird, die auch nur für sie gültig und verbindlich sind. – Jedenfalls ziehen gewaltige Rätsel und Fragestellungen den Horizont herauf, gegen die unsere heutigen Sorgen um den Bestand der alten Ordnungen provinziell und kleinlich anmuten. Wenn der Mensch erst einmal alle seine Zugehörigkeitsansprüche verloren hat, sich weder mit Gewissheiten seiner ethnischen Herkunft noch seines Geschlechts begnügen mag, weil das alles für seinen neuen Blick auf die Gattung keine entscheidende Rolle mehr spielt, dürfte er tatsächlich eine weitere Stufe evolutionärer Entwicklung erklommen haben. Von hier aus werden sich die kommenden Generationen sehr wahrscheinlich endgültig aus dem alten Welt- und Menschheitsverständnis des kulturellen Zeitalters entlassen und sich anderen, noch nicht absehbaren Selbstdeutungen und Identitätsformen zuwenden. – Welche neuen Identitäten wird sich der im Grunde säkularisierte und entnationalisierte Weltmensch in Zukunft also geben können und wollen? Denn die Frage nach der Identität ist stets eine selber gemachte, und es gibt keine artgebundenen, durch die Natur festgesetzten, sondern nur übernommene Identitäten, die durchaus und immer wieder wechseln können. – Doch was, wenn der Mensch irgendwann gar keine Identitäten im herkömmlichen Sinne mehr nötig hätte? Wenn alle Identitäten im Zeitalter der Kulturen zurückgelassen worden wären und der Mensch wieder wie das Tier bloß seine Grundbedürfnisse lebte? Die Gattungszugehörigkeit mit ihren spezifischen Anforderungen an den Einzelnen böte dann jedem ein global gültiges Identitätsmuster an, das nicht weiter reichte als es die jeweiligen Wohlfühlmoden erforderten. Womöglich sind alle heute doch nur scheinbar aufflammenden Erneuerungsversuche religiöser oder nationaler Identität bloße Rückzugsgefechte jener Restbestände, die mental noch dem gerade vergehenden Weltalter angehören.
Automatologie. – Das Begreifen der Welt des 21. Jahrhunderts setzt bereits heute einen erweiterten Menschen voraus. Eine solche Erweiterung ist aber nur durch Automatisierung möglich. Der Mensch wird sich mehr und mehr automatisieren müssen, um in den synthetischen Wirklichkeiten des neuen Weltalters zurechtzukommen. Und so dürfte das bedeutendste Ereignis des 21. Jahrhunderts die allmähliche Auflösung der Grenzen zwischen dem Organischen und Anorganischen sein; also die Revision des bisherigen Lebensbegriffs durch das Verschmelzen von organischem und unorganischem »Leben«. Automobil und Smartphone gehören inzwischen zum Menschen wie externe Organe. Alle drei »Wesen« sind zusammengewachsen zu einem neuen Organismus, einer Einheit, Lebensform. Das Maschinenmenschenwesen nimmt darin seinen Anfang, dass heute jeder ein Auto fahren und ein Smartphone handhaben muss, um ein vollwertiger Spielteilnehmer zu sein. Hunderttausend Jahre lang kamen die Menschen ohne Kraftfahrzeuge, Mobiltelephon, Internet aus. Von nun an beginnt das Zeitalter, da all diese Dinge nicht mehr aus der Welt zu schaffen sind – und zwar nie mehr! Der Weltzustand davor ist unwiederbringlich verlorengegangen – und mit ihm die Stille, das echte Alleinsein, der bis dahin authentische Mensch. Wen aber durchzuckt ein Schrecken darüber, dass schon heute niemand mehr aktiv an der Welt teilnehmen kann, der über kein Mobiltelphon und über keinen Internetanschluss verfügt… In fünfzig oder hundert Jahren wird die virtuelle Vernetzung für jeden so selbstverständlich und verpflichtend sein, wie es heute die Kleidung ist: niemand hält sich unbekleidet unter Menschen auf oder auch nur in der eigenen Wohnung…
Totalisierte Menschheit. – Erst von da an, wo wir annehmen müssen und heimlich darum wissen, dass die Gattung kein Ziel hat, sowenig wie irgendwelche anderen Lebens- oder Seins-Formen ein Ziel haben, können wir uns mit dem ganz und gar auf Konsumpragmatismus ausgerichteten Leben abfinden. Der Mensch akzeptiert sein zweckloses Dasein als bloßen Selbstverwaltungsakt und versteht sich selber als höheren Erhaltungsapparat primitiver Genussansprüche, der alle Wirklichkeit seinem einzigen Zweck unterwirft: die Welt zu einem riesigen Versorgungsunternehmen umzugestalten, das alle Menschen mit jenen Gütern beliefert, zu denen sie sich selber animieren. Im 21. Jahrhundert angekommen, besteht das Leben des Menschen so gut wie nur noch aus Einkaufen, Autofahren, Smartphonen; und fast alle Arbeit zielt darauf ab, sich jene Tätigkeiten zu erhalten: wo Menschen gewerblich produktiv sind, dient dies zumeist allein dazu, um weiterhin und idealerweise noch besser einkaufen, autofahren, smartphonen zu können. – In den letzten zwanzig Jahren sind wir sehr weit fortgeschritten auf dem Wege zur totalen Menschheit, deren einziges Ziel und deren einziger Sinn darin bestehen, einander Konsumsicherheiten zu garantieren.
2 Asav Avidan, Reckoning Song, 2008.
3 Walter Burkert, Kulte des Altertums. Biologische Grundlagen der Religion, München 1998, S. 214.
4 Bereits im 17. Jh. haben Philosophen wie Friedrich Wilhelm Stosch erstmals wieder die Existenz von Seele und Geist als etwas Immaterielles angezweifelt: »Die Seele des Menschen besteht in der richtigen Mischung des Blutes und der Säfte, welche gehörig durch unverletzte Canäle strömen und die mannigfachen willkürlichen und unwillkürlichen Handlungen hervorbringen. (…) Es ist klar, dass die Seele oder der Geist durch sich und ihrer Natur nach nicht unsterblich ist und nicht ausserhalb des menschlichen Körpers existiert.« Zit. nach F. A. Lange, Geschichte des Materialismus, Bd. 1, Iserlohn 1876, S. 318.
5 Dt.: Der Mensch ist das Maß aller Dinge.