Читать книгу Seewölfe - Piraten der Weltmeere 310 - Frank Moorfield - Страница 4
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ОглавлениеMan schrieb den 9. März im Jahre des Herrn 1593. Der Wind, der in der beginnenden Abenddämmerung über die silbrig schimmernde Wasserfläche der Ostsee blies, war kalt und rauh. Aber daran hatte sich die Besatzung der englischen Dreimast-Galeone längst gewöhnt.
In der zweckmäßig eingerichteten Krankenkammer der „Isabella IX.“, die sich unter der Back auf der Backbordseite befand, war es zwar einigermaßen warm, dennoch standen alle Zeichen auf Sturm. Deftige Flüche wechselten mit lauten Verwünschungen und schmerzlichem Stöhnen.
Selbst der durchdringende Geruch der geräucherten Dorsche und Schollen, der aus der nebenanliegenden Kombüse drang, vermochte die Stimmung der drei Verwundeten nicht zu heben. Dort war Mac Pellew eifrig damit beschäftigt, mittels des neuerbauten Räucherofens himmlische Wohlgerüche zu verbreiten.
Der Kutscher war mit den zwölfjährigen Zwillingssöhnen des Seewolfs aufgekreuzt, um die Verletzten einer weiteren Behandlung zu unterziehen. Da mußten Verbände überprüft und erneuert, Kräutertränke verabreicht und frische Salben aufgetragen werden.
Der Kutscher hatte zu diesem Zweck eine Kiste mit geheimnisvollen Instrumenten, Töpfen und Flaschen herangeschleppt, und die Zwillinge hielten saubere Leinentücher und heißes Wasser bereit.
Ja, die drei Männer hatte es in der Tat ganz schön erwischt.
Bereits vor zwei Tagen hatte Old Donegal Daniel O’Flynn, der Alte mit dem verwitterten Gesicht und dem Holzbein, daran glauben müssen. Heftige Graupelschauer, vermischt mit Regen, hatten die Decks der „Isabella IX.“ im Nu in spiegelglatte Eisflächen verwandelt, und noch bevor man Sand ausgestreut hatte, war es passiert. Old Donegal war ausgerutscht und hatte in einer äußerst ungesunden Körperhaltung nahezu die ganze Kuhl überquert. Das Ergebnis war eine schmerzhafte Knöchelverstauchung am gesunden linken Bein und eine Platzwunde am Hinterkopf gewesen. Außerdem war das Holzbein, das ihm das fehlende rechte Bein ersetzte, durch den Sturz zu Bruch gegangen.
Als nächsten hatte es Luke Morgan erwischt, und zwar erst vor wenigen Stunden, um die Mittagszeit. Bei ihm allerdings war nicht das Glatteis die Ursache gewesen, sondern der überraschende Überfall finnischer Fischerboote, die urplötzlich aus der Deckung der zahlreichen winzigen Inseln aufgetaucht waren, die der Südwestküste Finnlands vorgelagert sind.
Der kleine, dunkelblonde Mann mit der Messernarbe über der Stirn war von einem Pfeil getroffen worden, der seine linke Schulter durchbohrt hatte.
Schon wenig später hatte Edwin Carberry einen schweren Streifschuß am Kopf abgekriegt. Er war erst vor zwei Stunden aus seiner Bewußtlosigkeit erwacht – und genau seit diesem Zeitpunkt war im Krankenraum der „Isabella“ jeglicher Friede dahin.
Gefördert wurde die gewittrige Stimmung noch durch die übelriechenden Arzneien, die der Kutscher verabreichte. Besonders die berüchtigte schwarze Salbe, die er auf die Wundränder schmierte, hatte es Edwin Carberry angetan.
„Bei allen gehörnten Nordmännern!“ schnaubte der bullige Profos. „Das Zeug brennt schlimmer als Feuer. Kannst du den Teufelskram nicht woanders hinschmieren, he? Oder willst du mir unbedingt noch den Verstand ansengen, was, wie?“
Der Kutscher, der sein Handwerk während seiner Zeit als Gehilfe bei dem Arzt Sir Anthony Freemont in Plymouth erlernt hatte, ließ sich nicht beeindrucken.
„Hör’ schon auf zu jammern, Ed“, sagte er kurz angebunden und trug eine weitere Schicht Salbe auf.
Der Profos reagierte gereizt.
„Was sagst du da? Ich und jammern? Wenn du plattnasiger Rochen es noch immer nicht begriffen hast – ich fürchte um meinen Verstand! Die ätzende Schmiere, die du mir auf den Kopf kleisterst, muß ihn ja ansengen, jawohl!“
„Na schön, dann hast du eben nicht gejammert“, sagte der Kutscher unbeirrt. „Wahrscheinlich waren es nur Freudenseufzer, die aus deiner Koje gedrungen sind. Und was deinen Verstand betrifft, da gibt es wohl nicht allzuviel anzusengen.“
Die Zwillinge stießen sich an und grinsten verhalten.
„Das stimmt nicht!“ stieß Philip junior hervor. „Im Moment ist der Verstand Mister Carberrys mächtig angeschwollen. Er hat eine prächtige Beule hinter der Kimm.“
Dem Profos blieb einen Augenblick die Luft weg. Reflexartig versuchte er, sich aufzurichten, sackte dann jedoch mit einem erneuten Stöhnen in die Koje zurück.
„Bei allen unschuldigen Meerjungfrauen!“ Er schnaufte. „Ich pfeife wirklich auf dem letzten Loch. Da kommt so ein blaukarierter Quacksalber daher und kleckert einem rechtschaffenen Christenmenschen eine stinkende und brennende Salbe aufs Haupt, ohne daß man sich dagegen wehren kann, und zwei freche Lausebengel stehen dabei und reißen noch ihre Witze darüber. Donner, Blitz und Wolkenbruch! Wartet nur ab, bis der alte Carberry den Achtersteven wieder aus der Koje hieven kann, dann wird er euch nämlich schön der Reihe nach die Haut in klitzekleinen Streifchen von den grünbetupften Affenärschen abziehen, ha!“
„Angeber!“ mischte sich der alte O’Flynn ein und zog ein grantiges Gesicht. „Heute könntest du selber nichts dagegen tun, wenn man dir die Haut vom Hinterteil abziehen würde. Wenn ich nur könnte, wie ich möchte, dann würde ich’s tun, jawohl! Und du müßtest wohl oder übel stillhalten.“
Der rauhbeinige Alte hatte zwar nichts dagegen, daß er in der Krankenkammer Gesellschaft gekriegt hatte, aber daß es ausgerechnet ihm passieren mußte, ohne jeglichen Feindkontakt mit dem Allerwertesten über die Kuhl zu schlittern und dann noch mit dem Schädel auf die Planken zu bumsen – das hatte er noch immer nicht verwunden. Entsprechend seinen zahlreichen lädierten Körperteilen war auch seine Laune.
„Das könnte dir so passen, Opa!“ fauchte Carberry. „Zuerst selber auf den Hinterkopf fallen und dann noch große Töne spucken – so was hab ich gerne! Unsereins hat sich seine Beulen und Kratzer wenigstens ehrlich im Kampf geholt. Du aber hast dich auf den Hintern gesetzt und bist schleunigst davongerutscht, weil du vor Schiß gar nicht schnell genug rennen konntest, ha! Außerdem hast du mit deinem Spitzheck noch die Decksplanken zerkratzt, jawohl!“
Der bullige Profos mit dem zernarbten Gesicht und dem gewaltigen Rammkinn wußte nur zu genau, daß dem nicht so gewesen war. Old Donegal würde es selbst im Traum nicht einfallen, sich während eines Kampfes zu verkriechen. Er war vielmehr ein Haudegen von altem Schrot und Korn, der keine Gefahr fürchtete. Aber bitte sehr – man mußte doch schließlich den eigenen Standpunkt verteidigen! Und Angriff war nun mal oft die beste Verteidigung, zumindest wenn es darum ging, das letzte Wort zu haben.
Der Alte reagierte dementsprechend rabiat.
„Sag das noch mal, du abgetakelter Gorilla, und ich ziehe dir augenblicklich mein neues Holzbein über den Scheitel! Hoffentlich fällst du beim nächsten Eisregen auch mal auf deinen Affenarsch und auf deinen ausgestopften Strohkopf!“
Dem Kutscher platzte der Kragen.
„Wenn ihr jetzt nicht beide die Luken abschottet“, sagte er scharf, „dann schmiere ich euch von Kopf bis Fuß mit der schwarzen Salbe ein, damit ihr noch kräftiger stinkt als die geräucherten Dorsche!“
Aber Old Donegal ließ sich von dieser Drohung nicht einschüchtern.
„Fang du nur auch noch an, du Salbenmischer!“ sagte er übelgelaunt. „Warum eigentlich hast du es mit deiner Schmiere nur auf mich und Ed abgesehen, he? Was ist mit Luke? Kriegt der nicht auch was ab?“
„Der ist auch noch dran“, entgegnete der Kutscher und schickte einen hilfesuchenden Blick gen Himmel. Gleich darauf wandte er sich Luke Morgan zu, der trotz seiner Schmerzen den hitzigen Debatten grinsend zugehört hatte.
„Ist doch wahr!“ fuhr Old Donegal brummend fort. „So was ist doch ein starkes Stück! Geradezu eine Unverschämtheit ist das …“
„Fängst du schon wieder an?“ unterbrach ihn der Kutscher.
„Du hinkst mit dem Verstand hinterher“, erklärte der Alte, der einen mächtigen Gedankensprung absolviert hatte. „Ich meine doch längst nicht mehr dich oder Ed, sondern einfach das Sauwetter, das hier herrscht. Das ist schließlich schuld an meinem Unglück, jawohl! Da hat unsereins sowieso nur ein Bein, und da muß das auch noch was abkriegen. Und wenn ich erst an mein gutes altes Holzbein denke, da zwickt mich gleich die Galle. Hätte nicht wenigstens das heil bleiben können?“
„Du hast doch noch Glück gehabt, O’Flynn, Sir“, sagte Hasard junior keck, während er dem Kutscher ein weißes Leinentuch reichte. „Hättest du anstelle des Holzbeins ein echtes Bein gehabt, wäre das eben gebrochen gewesen. So aber hat dir Mister Tucker rasch ein neues Holzbein geschnitzt.“
„Hört euch diesen Lausejungen an“, begehrte der Alte auf. „Was verstehst du denn schon von echten Beinen und Holzbeinen, wie? Wenn ihr beiden Schlitzohren den Sand früher ausgestreut hättet, könnte ich jetzt noch hüpfen und Reigen tanzen. So aber bin ich dem Kutscher und seiner stinkenden Salbe hilflos ausgeliefert. So hilflos wie ein Säugling.“
„Jetzt reicht es aber!“ brüllte der Kutscher. „Ich sollte euch wohl besser was mit ’nem Holzhammer auf die Köpfe geben und euch hinterher mit Scheuersand bestreuen, ihr kalfaterten Decksaffen!“
Während Old O’Flynn und Edwin Carberry für einen Augenblick in absoluter Sprachlosigkeit verharrten, begann der Kutscher, seinen Krimskrams zusammenzupacken. Dabei wandte er sich in barschem Ton an die Zwillinge.
„Und ihr beide verholt euch in die Kombüse und helft Mac beim Räuchern, hopp, hopp!“
„So ist’s richtig!“ knurrte der Profos, und seine Stimme klang plötzlich wieder friedlich. Offensichtlich hatte es ihm mächtig imponiert, auch mal vom Kutscher angebrüllt worden zu sein, der sonst Streitereien tunlichst aus dem Wege ging. „Die jungen Spunde muß man immer schön auf Trab halten“, fuhr er fort. „Also, ihr Rübenschweinchen, verzupft euch hurtig an den Räucherofen und haltet die Dorsche hübsch fest, denn bei dem beißenden Qualm müssen die immer fürchterlich husten, ho!“
Kichernd verließen die Zwillinge den Krankenraum der „Isabella“. Sie wußten sehr wohl, wie die deftigen Worte ihres Großvaters und Edwin Carberrys zu verstehen waren. Beide Männer waren trotz ihrer rauhen Schale prächtige Burschen, mit denen man durch dick und dünn gehen konnte. Nur – hilflos in der Krankenkammer zu liegen, das entsprach ganz und gar nicht ihrer Mentalität.
Die „Rübenschweinchen“ waren – wie insgeheim auch der Kutscher – froh darüber, daß sich Old Donegal und der Profos wieder ordentlich zanken konnten, denn das war der beste Beweis dafür, daß sie sich auf dem Weg der Besserung befanden. Und da sie allesamt hart im Nehmen waren, würden sie schon recht bald wieder aus den Kojen steigen.
Dan O’Flynn stand breitbeinig in der Jolle und warf unermüdlich das Lotblei aus, das an einer langen Leine befestigt war. Diese war wiederum durch verschiedene Lederstreifen in Abschnitte von je einem Faden Länge unterteilt.
Immer, wenn das Lot den Grund erreicht hatte, sang Dan lautstark die Tiefe aus. Und das tat er nicht, weil er befürchtete, die Jolle könne auf Grund laufen, o nein. Die ständigen Lotungen waren vielmehr für die „Isabella“ bestimmt, die sich vorsichtig im Kielwasser der Jolle hielt und nur vor der Blinde segelte, um nicht zu schnell zu sein.
Der Wind wehte noch immer aus Südwesten. Unter normalen Umständen hätte er sowohl die Jolle, die mit einer Lotcrew besetzt war, als auch die „Isabella IX.“ gute Fahrt laufen lassen. So aber mußten sich beide Segler mit einer elend langsamen Schleichfahrt begnügen.
Das Ziel der Seewölfe war die Hafenstadt Abo an der finnischen Südwestküste. Doch die Gewässer, die sie durchqueren mußten, hatten sich als äußerst tückisch erwiesen. Zwischen den zahlreichen kleinen und kleinsten Inseln, die der Küste vorgelagert sind, gab es viele Untiefen. Diese Erfahrung hatten die Seewölfe erst vor wenigen Stunden machen müssen, als sie in der Nähe eines winzigen Inselchens aufgelaufen waren.
Ein Runenstein auf dem kleinen Eiland, den sie als Poller benutzt hatten, um die „Isabella“ wieder flottzukriegen, war bei den Manöver umgestürzt und hatte den Seewölfen dann viel Ärger seitens der Finnen eingebracht.
Zwei Ergebnisse dieses Ärgers waren der verwundete Edwin Carberry und Luke Morgan gewesen, die dem gestürzten Old O’Flynn im Krankenraum jetzt Gesellschaft leisteten.
Diese Erfahrungen hatten den Seewolf dazu bewogen, die Jolle lotend voraussegeln zu lassen, um weiteren unangenehmen Überraschungen zu entgehen.
Das einzige, was Hasard und seine Männer jetzt noch störte, war ein kleiner Segler, der ihnen am Rande der Sichtgrenze beharrlich folgte.
„Ich möchte nur wissen, was die von uns wollen“, brummte Ben Brighton, der neben dem Seewolf auf dem Achterdeck der „Isabella“ stand.
Hasard drehte an der Optik des Spektivs.
„Meiner Meinung nach kann es sich nur um ein Fischerboot handeln. Aber du hast recht, Ben. Irgend etwas wollen die von uns, sonst würden sie uns nicht so hartnäckig auf den Hacken bleiben. Leider ist der kleine Segler zu weit von uns entfernt, sonst könnte man vielleicht erkennen, ob es sich um eins der drei Fischerboote handelt, die uns bei der Runenstein-Insel angegriffen haben.“
„Möglich ist das schon“, meinte Ben Brighton, der Erste Offizier der „Isabella“ und Stellvertreter des Seewolfs. „Aufs Fischen sind die Burschen jedenfalls nicht aus, das steht fest. Die führen was gegen uns im Schilde, und nach all dem Ärger, den wir bisher in dieser lausigen Gegend hatten, verwundert das schon nicht mehr.“
Der Seewolf spähte weiter durch den Kieker. Seine Blicke tasteten geduldig die Kimm ab.
„Die finnische Schaluppe kann es nicht sein“, sagte er, „denn der haben wir ja den Mast weggeschossen und einen Schuß in den Bug verpaßt. Die Kerle haben zunächst mal alle Hände voll zu tun, um ihren Kahn wieder zusammenzuflicken.“
Weitere Vermutungen gingen hin und her, aber das Rätsel um den geheimnisvollen Verfolger sollte vorerst ungelöst bleiben.
Jetzt, gegen Abend, war es kälter geworden, der Wind wehte schärfer als tagsüber und ließ die Männer trotz ihrer winterfesten Kleidung zuweilen frösteln. Die Dunkelheit senkte sich mehr und mehr herab, das Grau der Wolken verwandelte sich fast unmerklich in einen schwarzen, dunstigen Schleier.
Die Männer auf der Jolle waren immer noch unermüdlich mit dem Ausloten der Tiefe beschäftigt. Ständig erfolgten neue Meldungen, die dem Seewolf bestätigten, daß das mühsame Verfahren durchaus ratsam war.
Hasard warf einen prüfenden Blick in die Umgebung.
„Es wird bald dunkel sein“, sagte er zu dem stets ruhigen und besonnenen Ben Brighton. „Wir werden am besten zwischen diesen Inseln vor Anker gehen, denn es verbietet sich von selbst, in dieser Gegend bei Nacht weiterzusegeln.“
Ben Brighton nickte. Er war sich ebenfalls darüber im klaren, daß es zu gefährlich wäre, die Fahrt bei Dunkelheit fortzusetzen. Zum anderen war es auch wegen der ständigen Lotungen zu umständlich, weil man die Markierungen an der Lotleine mittels einer Laterne ablesen müßte. Da war es schon vernünftiger, den Anker zu werfen.
Die entsprechenden Befehle dröhnten über die Decks der neuen, von Hesekiel Ramsgate in Plymouth erbauten Galeone. Wenig später ging die „Isabella“ in der Nähe einer der zahlreichen kleinen Inseln vor Anker.
Die kleine Lotcrew unter dem Kommando Dan O’Flynns enterte an Bord, die Jolle wurde mit einer Vorleine ans Heck der „Isabella“ gehängt.
Der Seewolf warf einen letzten Blick durch das Spektiv, aber vergebens. So sehr er auch die Kimm absuchte – von dem merkwürdigen „Beschatter“ war nichts mehr zu sehen.
„Entweder wollen die ebenfalls den neuen Tag abwarten, oder sie planen für die Nacht irgendeine Teufelei“, sagte er zu Ben. „Jedenfalls sind sie verschwunden.“
„Dann steht uns vielleicht eine neue Überraschung bevor“, meinte der Erste Offizier. „Solange es sich nur um ein Boot handelt und nicht um ein ganzes Geschwader, haben wir kaum etwas zu befürchten. Ich nehme an, daß die Kerle ebenfalls vor Anker gegangen sind. Genug Inselchen zum Versteckspielen gibt es ja. Womöglich haben sie auch ganz die Lust daran verloren, ständig hinter uns herzuschleichen.“
Hasard zuckte mit den Schultern. „Warten wir’s ab.“
Wenig später ließ er eine dreiköpfige Ankerwache aufziehen: Roger Brighton, Bens jüngeren Bruder, für achtern, Smoky, den Decksältesten, der schon unter Francis Drake gefahren war, für mittschiffs und Jeff Bowie, den Mann mit der Hakenprothese, für die Back.
Vorsichtshalber ließ der Seewolf die drei Männer mit Musketen und Blankwaffen ausrüsten.
Die Nacht verlief ruhig. Die einzigen Geräusche, die an die Ohren der Ankerwachen drangen, waren das Plätschern des Wassers, das in gleichbleibendem Rhythmus gegen die Bordwände schlug, sowie jenes geheimnisvolle Ächzen und Stöhnen im Gebälk der Galeone, das den Seewölfen längst vertraut geworden war.
Erst der nächste Morgen bescherte der „Isabella“-Crew eine böse Überraschung.
„Keine besonderen Vorkommnisse“, meldeten die Männer der letzten Ankerwache dem Kapitän.
In diesem Augenblick zerschnitt ein wütender Schrei die Morgenstille. Er war aus der Kehle von Big Old Shane gekommen, der sich am Heck des Schiffes befand und nach unten deutete.
Als der ehemalige Schmied von Arwenack-Castle einen Augenblick später die Vorleine hochhielt, mit der man am Vorabend die Jolle an der „Isabella“ befestigt hatte, da begriff jeder, was geschehen war.
Die Leine war sauber gekappt worden.
„Und die Jolle? Wo ist die Jolle?“ fragte Paddy Rogers, der Mann mit der prächtigen Knollennase, wenig geistreich.
„Die Jolle ist weg!“ brüllte Big Old Shane mit Donnerstimme. „Fort ist sie! Einfach verschwunden! Geklaut!“
Ungläubig blickten sich die Seewölfe an, und die Männer, die in dieser Nacht Wache gegangen waren, traten nervös von einem Fuß auf den anderen.
Dazu gehörte auch Paddy, der sich nachdenklich am Hinterkopf kratzte.
„Vielleicht treibt die Jolle in der Nähe“, meinte er.
„Red keinen Blödsinn, Mann!“ fauchte Shane. „Mach lieber die Klüsen auf und sieh dir die Leine genau an. Sie ist nicht gebrochen, sondern von irgendwelchen Himmelhunden gekappt worden. Und die hatten es auf unsere Jolle abgesehen.“
Dan O’Flynn, der sofort in den Mars geentert war, hielt mit dem Kieker eine Rundum-Schau.
„Nichts zu sehen!“ meldete er.
Philip Hasard Killigrew warf den Ankerwachen fragende Blicke zu. Doch diese zuckten nur verlegen mit den Schultern. Schließlich hatten sie höllisch aufgepaßt, keiner von ihnen konnte verstehen, daß man ihnen die Jolle gewissermaßen vor der Nase weggeklaut hatte.
„Ich bin die erste Wache auf dem Achterdeck gegangen“, sagte Roger Brighton. „Aber ich habe nichts gehört und nichts gesehen. Während meiner Wache kann das unmöglich passiert sein.“
„Während meiner auch nicht“, erklärte Bill. „Ich hatte die letzte Wache achtern. Aber ich bin doch nicht verrückt! Wenn ein Boot weggepullt worden wäre, dann hätte ich das todsicher bemerkt.“
„Gar nichts hast du bemerkt!“ schnaubte der bullige Paddy. „Du mußt glatt gepennt haben! Warum habe ich Esel nur das Vorschiff bewacht? Hätte ich achtern aufgepaßt, dann hätten die verdammten Bootsdiebe wenigstens was auf die Finger gekriegt. Aber auf die grünen Jungs ist ja kein Verlaß, jawohl!“ er warf Bill einen strafenden Blick zu.
Aber das ließ sich Bill, der seine Laufbahn als Moses bei den Seewölfen begonnen hatte und mittlerweile zu einem kräftigen jungen Mann herangewachsen war, nicht gefallen. Sein Gesicht lief rot an, seine Hände ballten sich zu Fäusten.
„Sag das noch mal, du Walroß!“ stieß er wütend hervor. „Die Jolle kann genausogut vor meiner Wache geklaut worden sein, merk dir das!“
Auf Paddys Gesicht braute sich ein Gewitter zusammen.
„Oho, der junge Spund wird auch noch frech! Dir muß man wohl wieder einmal den Achtersteven versohlen, wie? Du hast jedenfalls die letzte Wache gehabt. Und hättest du auch nur ein einziges Mal über das Schanzkleid gespuckt, dann wäre dir aufgegangen, daß keine Jolle mehr da ist!“
Bill wurde noch fuchtiger. Mit erhobenen Fäusten ging er einen Schritt auf Paddy Rogers zu.
„Dieses Liedchen kenne ich bereits!“ sagte er wütend. „Den letzten beißen bekanntlich die Hunde. Aber da bist du bei mir an der falschen Adresse, Mister Knollennase. Mit mir kannst du das nicht machen. Ich werde dir …“
„Hört auf zu streiten!“ unterbrach ihn der Seewolf. „Gegenseitige Anschuldigungen bringen uns nicht weiter. Und die Jolle kehrt davon auch nicht zurück.“
„Er hat mich einen grünen Jungen genannt, Sir!“ beschwerte sich Bill.
„Und ich laß mich von dem Stint nicht Walroß und Mister Knollennase nennen“, grollte Paddy.
Hasard grinste.
„Wie ich die Lage beurteile, seid ihr jetzt quitt“, entschied er, „Ich bin davon überzeugt, daß jeder, der in dieser Nacht Ankerwache gegangen ist, aufgepaßt hat. Deshalb möchte ich auch nicht, daß jemand grundlos beschuldigt wird. Die Leine muß von einem oder mehreren Schwimmern gekappt worden sein, die sich dann rasch mit unserer Jolle verholt haben. Offensichtlich ging das Ganze sehr schnell, weil niemand etwas bemerkt hat.“
„Aber die Jolle ist weg! Einfach futsch!“ Paddy konnte sich schwerlich beruhigen.
„Wir werden den Verlust verkraften“, sagte der Seewolf. „Wir haben ja noch eine.“
„Und wenn man die auch noch klaut?“ fragte Paddy.
„Dann haben wir keine mehr“, erwiderte Hasard zur Belustigung der übrigen Männer.
Die Arwenacks konnten schon wieder lachen, auch wenn die Sache mit der geklauten Jolle noch so ärgerlich war. Im Grunde genommen ging es ihnen auch gar nicht so sehr um den Verlust des Bootes, sondern um die Tatsache, daß es neue Schwierigkeiten geben würde. Die Kerle, die die Jolle geklaut hatten, mußten damit etwas bezweckt haben. Niemand konnte sich vorstellen, daß man das Boot nur um seiner selbst willen entwendet hatte.
Doch die Seewölfe waren Schwierigkeiten gewohnt. Ihre Fahrten durch alle Weltmeere hatten sie abgeschliffen und gelehrt, wie man selbst die schwierigsten Situationen meistern konnte.
Die Stimmung an Bord normalisierte sich langsam wieder. Sir John, der bunte Aracanga-Papagei, verscheuchte auch noch den letzten Rest von Mißstimmung. Er trippelte munter auf seinem Lieblingsplatz, der Vormarsrah, hin und her und versuchte, die Mannschaft wieder auf Vordermann zu bringen.
„Hopp, hopp, ihr Lahmärsche!“ krächzte er, den Wortschatz Edwin Carberrys nachahmend, und schlug dabei mit den Flügeln. „Hievt den Anker! Wascht euch die Füße, ihr Heringe!“
Der Seewolf stimmte zumindest dem ersten Teil seiner Aufforderungen zu und ließ die zweite Jolle aussetzen. Wenig später ging die Galeone ankerauf, um ihre Fahrt nach Abo fortzusetzen.
Die Männer auf der Jolle mußten erneut mit ihrer mühsamen Lotsenarbeit beginnen.