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2.

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Die Sonne stand bereits höher am Himmel und ging nach der Kühle der vergangenen Nacht dazu über, ihre sengende Hitze über das Land auszubreiten. Die Atmosphäre stand so gut wie still, es herrschte kaum Luftbewegung, und somit waren die Voraussetzungen für einen sonnigen, heißen Tag erfüllt.

Der Seewolf und seine Männer hatten die nahe gelegene Insel Philae bald erreicht und vertäuten das Boot an einer gut zugänglichen Stelle, die von der „Isabella“ aus eingesehen werden konnte.

Die Nilinsel war nur mit niedrigem Buschwerk, Schilf und vereinzelten Palmen bewachsen. Dazwischen ragten die riesigen Tempelbauten als Zeugen vergangener Epochen gegen den Himmel. Allen voran der imposante Tempel der Göttin Isis, von dessen Schönheiten sie gestern nur sehr wenig gesehen hatten, weil sie von Baba Schah und seinen Anhängern überfallen worden waren.

Die Seewölfe waren überwältigt. Diese uralten, geheimnisumwitterten Bauwerke faszinierten immer wieder aufs neue.

Da ließ sie ein lautes Krächzen herumfahren. Reflexartig zuckten ihre Hände zu den Kolben ihrer Pistolen. Doch als sie die Ursache der plötzlichen Geräusche erkannten, zog ein Grinsen über ihre sonnengebräunten Gesichter.

Sir John, der karmesinrote Bordpapagei, den der Profos einst im Amazonasgebiet auf die Galeone gebracht hatte, war ihnen gefolgt und hatte sich flügelschlagend auf dem Dollbord des Beibootes niedergelassen. Offenbar wollte auch er die Gelegenheit zu einem Landausflug nutzen.

„Verschwinde, du Nebelkrähe!“ knurrte Edwin Carberry und schob das gewaltige Rammkinn vor. „Mußt du uns ausgerechnet jetzt stören, da wir gerade unseren Horizont erweitern wollen?“

Doch Sir John, der putzmuntere Aracanga, hatte nur wenig Verständnis für das Vorhaben der Männer.

„Bilgenratten!“ krächzte er. „Heringe! Alle Mann an Deck!“

Als der Profos eine fuchtige Handbewegung vollführte, flatterte er auf und ließ sich nur wenige Yards von den Seewölfen entfernt auf dem Kopf einer uralten Götterstatue nieder, die sich in Überlebensgröße gegen die Steinquader der Tempelmauern zu lehnen schien. Die Gottheit trug eine Krone in der Hand, dazu einen aus Stein gehauenen Papyrusstab und einen Bogen mit zwei gekreuzten Pfeilen.

„Was ist das für ein Gott, Sir?“ fragte der Profos.

Der Seewolf lächelte.

„Das ist kein Gott, sondern eine Göttin“, berichtigte er dann seinen Profos. „Du übersiehst doch sonst nicht so leicht gewisse Körperrundungen, Ed“, setzte er hinzu. „Es handelt sich offenbar um Neith, die Schöpfergöttin. Irgendwo haben wir sie schon einmal gesehen.“

Doch die Frage Carberrys schien nicht seinem Bildungsdrang entsprungen zu sein, denn ohne auf die Auskunft des Seewolfs näher einzugehen, wandte er sich erneut an Sir John, der neugierig auf die Männer hinunteräugte.

„Hast du das gehört, du blindes Suppenhuhn?“ polterte er los. „Hoffentlich bist du dir darüber im klaren, daß du auf dem Kopf einer Göttin sitzt! Wehe, du läßt etwas fallen! Jetzt kannst du mal zeigen, daß du bei Edwin Carberry Benehmen gelernt hast.“

„Backbrassen!“ war Sir Johns ungezogene Antwort. Dazu schlug er kräftig mit den Flügeln.

„Na, war das nicht eine rasche Reaktion auf deine Aufforderung?“ Ferris Tucker, der Schiffszimmermann, lachte. Er war ein großer Mann mit einem Kreuz, so breit wie ein Rahsegel.

„Das Vieh hat eben keine Bildung!“ erwiderte der Profos und wandte sich wieder den riesigen Steinfiguren, Mauern, Torbogen, Säulen und Tempelhallen zu.

Bei dem mächtigen Isistempel handelte es sich um das Hauptheiligtum dieser altägyptischen Göttergestalt. Die Seewölfe erinnerten sich an das, was der Kutscher, der früher bei Doc Freemont in Plymouth manchen Blick in die Bücher des Arztes geworfen hatte, gestern über die Göttin Isis erzählt hatte.

Isis war bei den alten Ägyptern als Muttergöttin angesehen gewesen. Sie galt als Symbol einer sich aufopfernden Mutter und treuen Gemahlin. In dieser Eigenschaft soll sie auch die Gemahlin des Gottes Osiris gewesen sein, die seinen von Seth zerstückelten Körper wieder zusammengefügt und durch den Luftzug ihrer Flügel belebt haben soll. Dargestellt wurde sie meist in menschlicher Gestalt mit Kuhhörnern auf dem Kopf, zwischen denen die Sonnenscheibe befestigt war.

Der Isistempel, der auf der Nilinsel Philae erbaut worden war, galt als das wichtigste Heiligtum der Göttin. Die alten Ägypter, die bestrebt gewesen waren, jedem Gott ein eigenes Haus zu erbauen, hatten wahrhaftig nicht an den Ausmaßen des Bauwerks gespart.

Riesige Mauern ragten vor den Seewölfen auf. Kunstvoll behauene Steine wurden von mächtigen Säulen getragen, die mit ihrer schweren Last den vergangenen Jahrhunderten getrotzt hatten.

Der Tempel der Isis bedeckte eine ziemlich große Fläche, denn er war unterteilt in Vorhöfe, Innenhöfe und das Hauptheiligtum. Überall begegneten die Männer weiteren Kultbildern der Isis, auch in Form von Reliefschmuck an den Wänden. Dem Einfluß dieser uralten Kunstwerke konnte man sich nur schwer entziehen, das merkten auch die Seewölfe, die während ihrer abenteuerlichen Fahrt nilaufwärts in den vergangenen Wochen schon viel Beeindrukkendes gesehen und erlebt hatten.

Weitere Tempel und Kultbauten schlossen sich dem Isistempel an. So der Tempel des Harensnuphis, der Aklepiostempel, der Tempel des Harendotes sowie der Kiosk des Trajan und das Tor des Hadrian. Nicht nur die Pharaonen der alten Ägypter hatten sich durch diese imposanten Bauwerke ein Denkmal gesetzt, sondern auch spätere Herrscher wie die Ptolemäer und die römischen Kaiser Augustus, Nerva und am Tor und an der Umfassungsmauer noch Domitian und Trajan.

In der Nähe des Isistempels stießen die Seewölfe auf den von Ptolemaios VIII. und Euergetes II. erbauten Tempel der Hathor-Aphrodite, der ebenfalls Zeugnis von den häufig wechselnden Beherrschern des Landes ablegte.

Die Säulen der Vorhallen zeigten Reliefs mit Flöten- und Harfenspielern, mit dem Zwerg Bes, dem Gott des Ehegemaches und der Gebärenden, der das Tamburin schlug und Harfe spielte. Ihm hatten sich leierspielende Affen zugesellt.

Letzteres erregte besonders die Aufmerksamkeit Edwin Carberrys.

„Da hätte unser Schimpanse Arwenack was lernen können“, sagte er. „Warum haben wir ihn eigentlich nicht mit hierhergenommen? Bei den alten Ägyptern spielten die Affen auf der Leier, und Arwenack versteht es noch nicht einmal, in eine Flöte zu pusten.“

„Das ist wohl auch wenig reizvoll für einen Affen“, antwortete Dan O’Flynn. „Dafür versteht es Arwenack um so besser, mit Kokosnüssen zu werfen oder irgendwelchen Schnapphähnen unsere Belegnägel über die Köpfe zu ziehen. Das ist mitunter auch was wert.“

„So gesehen hast du recht“, pflichtete ihm der Profos bei und wandte sich gleich den anderen Crew-Mitgliedern dem Sockel für die Barke der Isis zu, die sie eben entdeckt hatten.

Sie merkten kaum, wie die Zeit verging, denn immer wieder wurden sie von neuen Entdeckungen in den Bann geschlagen. Erst das Krachen von zwei Pistolenschüssen, die man in einiger Entfernung abgefeuert hatte, brachte sie in die Wirklichkeit zurück.

„Das war Ben“, sagte der Seewolf. „Wir hatten die Schüsse als Zeichen verabredet. Sicher sind die Türken inzwischen aufgetaucht, um unsere vornehmen Passagiere in Empfang zu nehmen.“

„Dann nichts wie zurück an Bord“, forderte Edwin Carberry. „Ich möchte liebend gern dabeisein, wenn die Bilgengespenster aus der Piek geholt werden. Nicht daß sie uns noch mal was kaputtschlagen. Jetzt sollen die Türken sehen, wie sie mit ihnen klarkommen.“

Wenig später nahm das Beiboot Kurs auf die ranke Galeone. Auch Sir John hatte sich von einer Tempelmauer herabgeschwungen und auf der Schulter Edwin Carberrys niedergelassen.

„Jetzt bist du auch noch zu faul zum Fliegen, was, wie?“ fragte der Profos, dann fuhr er mit seiner mächtigen Pranke beinahe liebevoll über das bunte Federkleid des Urwaldvogels.

Seewölfe - Piraten der Weltmeere 255

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