Читать книгу Keine besonderen Vorkommnisse - Frank Muller - Страница 4
FREUNDE
ОглавлениеIch habe mich dafür entschieden, keine durchgängig chronologische Biografie zu schreiben, sondern einen thematisch orientierten Aufbau zu wählen, dessen einzelne Abschnitte freilich in sich chronologische Züge tragen. In diesem Kapitel nun soll es um Freundschaften gehen, ein schwierigeres Unterfangen, als man meinen möchte, soll sich doch keiner der Menschen, die in meinem Leben wichtig waren, ungerecht oder tendenziös dargestellt finden und die hier Fehlenden sich nicht übergangen fühlen. -
Meinen Freund G. haben wir bereits kennen gelernt: mit hölzernem Dreirad auf großer Fahrt zwischen den Eingangstüren der Häuser 14 und 15 der bürgerlichen Reinickendorfer Wohnstraße. Wir blieben die besten Spielkameraden für lange Zeit (uns erschien sie wie eine Ewigkeit), bis das Schicksal in Gestalt von G's späterer Geburt (er wurde erst nach dem damals gültigen Stichtag für die Einschulung sechs Jahre alt) uns trennte. Ich glaube mich noch erinnern zu können, wie sehr ihm die Tatsache zusetzte, nicht gemeinsam mit mit in die Schule gehen zu dürfen, sondern noch ein Jahr darauf warten zu müssen. Mir selbst hatte man die Schuleignung nur recht knapp zugesprochen, da ich die Frage der Prüferin, wie viele Räder denn ein Auto habe, mit „fünf“ beantwortete (ich hatte das Reserverad mitgezählt). G. und ich blieben in gutem Kontakt, wir traten sogar gemeinsam mit sieben Jahren in einen Reinickendorfer Fußballverein ein, aber die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Klassenstufen in der Schule hat für junge Leute etwas stark Trennendes. Es bilden sich ganz andere Freundeskreise (oder Feindeskreise) heraus, die Bezüge zu Lehrkräften unterscheiden sich, kurz: Die noch frischen Lebenserfahrungen weichen voneinander ab (und hier zähle ich noch nicht einmal diejenigen in den Elternhäusern mit). Im Grunde drifteten wir (trotz noch vieler gemeinsamer Begegnungen im Spiel, vor allem auf dem Hof unserer Wohnanlage) auseinander, machten unsere sehr persönlichen Erfahrungen, über die wir uns erst viel später austauschen sollten. G's Rolle in meinem Leben wurde eigentlich erst wieder wichtig, als wir uns zum Ende unserer Oberschulzeit regelmäßig in einer Stammkneipe zu treffen begannen („das Haus“), wo die Entscheidung getroffen wurde, nicht länger Mitglied in einem etablierten Sportverein bleiben zu wollen (ich hatte mittlerweile auch Handball im Verein gespielt), sondern einen eigenen Club im Freizeitbereich ins Leben zu rufen, dessen Präsident G. (der außerordentliche organisatorische Fähigkeiten besaß und besitzt) werden sollte. Dies geschah und der Verein wurde FC Triftpark genannt (nach dem Ort, an dem wir uns zu unverbindlichem Gekicke zu treffen pflegten). Er würde im weiteren Leben der meisten seiner Mitglieder eine wichtige Rolle spielen, aber dies ist nicht der Ort, um eine Chronik unseres selbstgegründeten Fußballvereins anzufertigen. G. und ich jedenfalls blieben uns von diesem Moment an wieder eng verbunden: organisatorische Absprachen, regelmäßiges Training, Spiele innerhalb des Freizeitfußballverbands, Vereinsmeierei, Vereinspartys; aber auch Aufleben des alten (eigentlichen) freundschaftlichen Kontakts zwischen G. und mir. Letzterer fand vor allem Ausdruck in der sogenannten „Herrenrunde“, zu welcher neben uns beiden noch zwei Klassenkameraden von G. gehörten (einer der beiden war auch einmal mein Klassenkamerad gewesen, aber so etwas ist ja bei den entsprechenden schulischen Verstrickungen keine Seltenheit). Diese „Herrenrunde“ besteht seit über vierzig Jahren, trifft sich etwa sechsmal im Jahr (nach dem Modus, dass immer der Reihe nach einer von uns mit der Bewirtung betraut ist), unternimmt Ausflüge und kleine Reisen und war und ist in unserem Leben eine Kostbarkeit. Innerhalb dieser Runde habe ich mich mit G. (der ein Meisterkoch ist) so oft und intensiv ausgetauscht, dass man schon nicht mehr zu unterscheiden weiß, was erlebt, was berichtet und was vielleicht nur eingebildet ist. Was ich aber weiß: G. ist nicht nur mein erster, sondern ein treuer, verlässlicher Freund, an den man sich stets wenden kann, wenn man im Alltag Hilfe braucht. Er ist eine feste Größe in meinem Leben. In unbestimmter Weise würde mir etwas fehlen, wenn es ihn nicht gegeben hätte.-
Das Klassenfußballspiel war bereits im Gange und versprach aufregend zu werden (unsere spielstarke fünfte Klasse, die bereits zwei sechste Klassen besiegt hatte, wagte sich an eine Begegnung mit einer siebten Klasse des benachbarten Gymnasiums), als am Spielfeldrand ein blonder, schmächtiger Junge auftauchte, die Sportschuhe zusammengebunden in der Hand. Im Eifer des Gefechts fiel zunächst kaum auf, dass es sich um den Schüler handelte, der just am Vormittag dieses Tages als Neuzugang zu unserer Klasse gestoßen war (und wohl mitbekommen hatte, dass für den Nachmittag ein Fußballspiel geplant war). Seinen Namen hatte ich mir noch nicht gemerkt, aber als wir ihn erkannten, wurde ihm signalisiert, er solle gleich mitspielen, denn ein elfter Mann hatte uns noch gefehlt. Th. ließ sich nicht lange bitten, band seine Schuhe auseinander und legte auf der linken Außenbahn (er war Linksfuß) los. Es war nahezu Zauberei, mit welcher Selbstverständlichkeit er sich in das Spiel der ihm völlig unbekannten Mannschaft einfügte. Insbesondere mit mir (der ich die Rolle eines hauptsächlich im gegnerischen Strafraum herumstehenden Mittelstürmers innehatte) klappte die Abstimmung sofort. Laufwege wurden blind erahnt, kleine Doppelpässe gelangen, Th. setzte sich auf der linken Seite immer wieder wieselflink durch und bediente mich mit wunderbaren Flanken. Ein Tor oder gar Sieg gelang uns nicht, aber wir erwiesen uns für die Größeren als ebenbürtiger Gegner (ich glaube, das Spiel ging am Ende 0:1 verloren) – und ich hatte innerhalb eines Fußballspiels wortlos einen Freund für lange, lange Zeit gewonnen. Ich meine hiermit zunächst einen Zeitraum von etwa sechs Jahren, also die Zeit, die wir gemeinsam noch auf der Grundschule und anschließend dann in den Klassen 7-10 des Gymnasiums verbrachten (bis unsere Wege sich vorläufig trennten, als Th. gegen Ende der Pubertät von den „tausend Stimmen im Grund“ angesungen wurde). -
Diese frühen Jahre ließen eine Gemeinschaft und Freundschaft entstehen, wie ich sie in dieser unforciert-selbstverständlichen Weise, in dieser nie belastenden Dichte im Leben nicht mehr erfuhr. Das Gemeinsame, das mich mit Th. verband, lässt sich nicht leicht in Worte kleiden. Die Freundschaft entstand in einem Lebensalter, in dem man sich zwar der Freundeswahl bereits bewusst ist (anders als auf dem Holzdreirad), sie aber nicht umständlich begründet oder gar „ausdiskutiert“. Der Andere wird einem in gemeinsamen Gesprächen und Betätigungen vertrauter und vertrauter, bis man sich nicht mehr vorstellen kann einen Tag ohne ihn zu verbringen. So ging das mit Th. und mir. -
Es war uns sehr bald zur Gewohnheit geworden, die Nachmittage nach der Schule bei Th. zu verbringen. Er wohnte nicht allzu weit von mir entfernt, eine Viertelstunde Fußweg vielleicht. Es gibt ja die Eigentümlichkeit bei Freundschaften, dass man mit der einen Person stets bei sich zu Hause bleibt, mit der anderen hingegen (ohne offensichtlichen Grund) auswärts. Ich machte mich jedenfalls nahezu täglich nach nur kurzer Zwischenstation bei mir auf den Weg. Was genau taten wir dort eigentlich immer? Auch hier besteht ja die Gefahr, dass man nachträglich mehr hinzudichtet, als sich wirklich zugetragen hat. Th. besaß in seinem hellen Zimmer im Obergeschoss eines modernen Wohnblocks bereits Plattenspieler und Tonbandgerät und wir hatten gerade begonnen (vielleicht nicht mit 10, aber spätestens mit 12 Jahren) uns für die aktuelle Popmusik („Beat“ bzw. wie mein Vater spottete: „Kniet“) zu interessieren. Es war die Zeit der frühen Bee Gees („Massachusetts“ war eine Offenbarung) und wir stellten sehr bald fest, dass Th. hervorragend den näselnden Tonfall von Robin und ich die Stimme von Barry (nicht die Fistelstimme der späten Discohits) imitieren konnte. Allein damit konnten wir Stunden verbringen und es ergab sich, was sich bei jungen Leuten nicht selten ergibt: der Wunsch, eine eigene Band zu gründen. Die Voraussetzungen dafür waren nicht optimal, aber auch nicht ganz schlecht: Wir hatten uns beide das amateurhafte Schrammeln auf der Gitarre beigebracht (zunächst nur mit den Standardakkorden in Tonika, Subdominante und Dominante) und konnten, wie gesagt, einigermaßen tonsicher singen. Dazu kam, dass Th. ein sehr gutes Rhythmusgefühl besaß (übrigens auch beim Fußball von Vorteil), sehr gerne trommelte und sich bald von seinem Ersparten ein Schlagzeug anschaffte. Fehlte eigentlich nur noch ein richtiger Musiker, der das Ganze zusammenhalten würde. Den fanden wir in einem mürrischen, schrulligen Klassenkameraden, der prima vista vom Blatt auf der Sologitarre und sogar auch auf dem Fagott spielen konnte und der sich obendrein überreden ließ, eine richtige, bandgerechte Verstärkeranlage zu kaufen. Zu dritt gründeten wir die Band MONDAYS UNION, die sich innerhalb kurzer Zeit zu einer großen Attraktion an unserer Schule entwickelte. Auf jedem Schulfest, jeder größeren Party traten wir auf und wurden für unsere eher hölzerne, übersteuerte Darbietung bejubelt und von Mädchen wohlwollend angeblickt. Texttreffer waren eher Glückssache, denn mein Englisch als Leadsänger folgte eher dem Prinzip des weißen Negers Wumbaba. Soweit ich mich erinnere, hat sich daran nie jemand gestört. Sprache wird mitunter überbewertet. Wie sich denken lässt, verstärkte das Unternehmen meine Freundschaft zu Th. Nun hatten wir nicht nur eine undefinierte Neigung zueinander, sondern einen konkreten Handlungsrahmen, in dem sich unsere Freundschaft bewegte. Über Jahre hinweg traten wir auf wie Zwillinge und selten hörte man unsere Namen isoliert ausgesprochen, sondern meist in der Formel „F. und Th.“ -
Neben der Musik verband uns auch der Sport: weniger die weiteren Klassenfußballspiele als vielmehr der Handball. Wir waren nämlich beide in die Handballabteilung der Reinickendorfer Füchse eingetreten und spielten bis zur B-Jugend dort gemeinsam (bis mir der Sport, der dann auch nur noch auf Kleinfeld oder in der Halle ausgeübt wurde, einfach zu hart wurde – immer wieder hatte ich Prellungen, zweimal ein gebrochenes Nasenbein). Das Ende meiner Handballzeit fällt etwa zusammen mit Ths langsamem Abdriften in einen Freundeskreis, der nicht mehr der meine war und den ich hier nicht näher zu charakterisieren mir anmaße. Langsam, langsam verloren wir uns aus den Augen. Lediglich Ths spätere Mitgliedschaft in dem selbstgegründeten Fußballverein TRIFTPARK (wo er sportlich an seine hervorragenden Leistungen als Zehnjähriger anknüpfen konnte) führte uns noch manches Mal zusammen. Er erschien mir verändert, vor allem äußerlich (er hatte inzwischen seine schönen, blonden Haare völlig verloren), aber einmal blitzte die alte Verbundenheit noch auf: In einem Spiel gegen einen schwachen Gegner gelangen mir als (immer noch) Mittelstürmer zahlreiche Tore, obgleich ich mir mittlerweile einen stattlichen Bierbauch angetrunken hatte. Nach dem 7:0 etwa knuffte mich Th. (er hatte die Flanke geschlagen) in die Seite und merkte an: Na, geht doch noch trotz Wampe. Doch Ths Gastspiele im TRIFTPARK wurden seltener (auch meine) und wir haben uns späterhin nur noch in Riesenabständen gesehen und dann (wessen Schuld auch immer das gewesen sein mag) wenig zu sagen gewusst.-
Zeitsprung: etwa vierzig Jahre nach den Toren mit Wampe. Ort: Reformationsplatz in Berlin-Spandau. (Th. hatte mich unvermittelt zu meinem 63. Geburtstag angerufen, mir gratuliert und ein Treffen vorgeschlagen.) Ich überquere den Platz diagonal, laufe durch ein Gässchen, welches auf einen weiteren kleinen Platz mit Kino und Pizzeria führt. Th. kommt mir einige Schritte entgegen. Er ist alt geworden (ich für ihn gewiss auch). Er hat als Treffpunkt die Pizzeria ausgewählt. Gute Wahl, ruhiger Ort zum Reden. Wir sprechen miteinander, wir lachen miteinander, als hätte es die vierzig Jahre nicht gegeben. Als wir uns nach Stunden auf dem Platz verabschieden, umarmen wir uns zum ersten Mal im Leben. Dann geht jeder in seine Richtung, ohne sich noch einmal umzudrehen.-
Der Wechsel von der Grund- auf die Oberschule (der in Berlin traditionell nach der sechsten Klasse erfolgt, sieht man einmal von einigen grundständigen Gymnasien ab) stellt für viele Kinder ein lebensbestimmend wichtiges Ereignis dar. Dies gilt nicht nur für die genauere Ausrichtung ihrer schulischen Zukunft, sondern auch und vor allem für die Entstehung zukunftsträchtiger Freundschaften. Mitunter ergeben sich diese auf der Basis banal wirkender Zufälligkeiten. Ich habe ja selbst viele Male als Klassenlehrer von siebten Klassen deren „Begrüßung“ in der neuen Schule miterlebt und mitorganisiert. Die Schülerinnen und Schüler werden in der Aula einer alphabetischen Liste nach aufgerufen, erheben sich in dieser Folge von ihren Plätzen und begegnen im Gang zuerst dem Nachbarn im Alphabet. Haben sich alle Mitglieder der Klasse am Aula- ausgang versammelt, führt sie ihr Klassenlehrer zum neuen Klassenraum. Nun entsteht eine Situation, die für die Bildung oft lebenslanger Freundschaften von besonderer Bedeutung ist. Noch vor der Klassenraumtür versichert der Klassenlehrer in besänftigendem Ton den Herandrängenden, dass der Sitzplatz, den gleich alle erst einmal zufällig einnehmen, sehr bald wieder gewechselt werden könne, dass also kein Grund bestehe, um den vermeintlich besten Platz zu kämpfen. Dies geschieht nach Türöffnung aber dennoch – und in der Tat ist es auch so, dass die sich nun zufällig bildende Sitzordnung (mitunter) jahrelang erhalten bleibt. Hieraus entstehen Nachbarschaften (manchmal motiviert vom vorausgehenden Zusammentreffen im Gang der Aula), die zu Vertrautheit, zu Freundschaft reifen können. Sitznachbarschaft in der Schulklasse kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Für den Fall, dass befreundete Grundschüler gemeinsam in eine neue Klasse kommen (was Schulleitungen mitunter zu vermeiden suchen, um „alte Seilschaften“ auszuschließen), erkämpfen die sich in der Regel dann Plätze nebeneinander in der Schulbank (bzw. an einem Tisch). Letzteres war bei Th. und mir der Fall. Wir saßen dann lange nebeneinander und verbrachten die endlosen Jahre der gymnasialen Mittelstufe mit ihrer oft unerträglichen Langweiligkeit und Unverbindlichkeit, indem wir unsere Tischhälften absteckten, uns freundschaftlich knufften oder uns mit stumpfem Stift Wörter auf den Rücken schrieben, die zu erraten waren. - Ein anderes „Pärchen“ war mir bald aufgefallen, das ebenfalls aus ein und derselben Grundschulklasse gekommen zu sein schien, aber nicht von unserer Grundschule. M. (und sein Grundschulfreund B.) waren so ganz anders als wir in Erscheinungsbild und Verhalten. Sie saßen aufrechter, wirkten gefasster, orientierter als wir, und dies blieb ein Leben lang so. M., der später mein engster Freund und gleichzeitig mein Schwager wurde (wir würden Schwestern heiraten), zeigte mir einmal ein Foto, das den etwa zehnjährigen B. einfing, als er an Ms Wohnungstür geklingelt hatte und gekommen war, um seinem Freund zum Geburtstag zu gratulieren. Er trug eine Art Jägermantel und einen Hut, hielt einen perfekt gebundenen Blumenstrauß in der Hand und wirkte in seinen jungen Jahren wie ein klein geratener Frührentner. - Auch M. kam mir anfangs, ich suche ein passendes Wort, ein wenig kauzig vor. Er war für sein Alter schon hoch aufgeschossen, hatte eine leicht vorgebeugte Körperhaltung und vollführte mit seinem Mund ungewöhnliche Bewegungen. Er war von Anfang an ein disziplinierter, zielorientiert arbeitender guter Schüler (klingt wie ein Zeugniskopf). Es war offensichtlich, dass er aus gutbürgerlichen Verhältnissen kam. Anders als wir, kauzig vielleicht, aber irgendetwas an ihm gefiel mir sehr, sodass bald eine vorsichtige Nähe entstand, eine Sympathie, die neben jene für Th. trat und später an deren Stelle. Dabei hatte ich nie das Gefühl, von einem Freund zum anderen zu wechseln. Es schien eher so, dass in dem Maße, wie sich Th. und ich voneinander entfernten, meine Bindung an M. fester wurde. - Nach und nach entstand auch zwischen M. und mir die Gewohnheit der nachmittäglichen Treffen, erst sporadisch, dann regulärer – und auch in diesem Fall „auswärts“. Aber im Vergleich zu der älteren Freundschaft war es anders. Wenn diese begriffliche Jonglage erlaubt ist, möchte ich sagen, mit Th. verband mich eine Liebes-Freundschaft, die im Grunde wenig nach dem Naturell des Partners fragt, mit M. hingegen eher eine Freundschaft der wählenden Vernunft. Wir waren uns in unserer Mentalität fast beängstigend ähnlich und sind es trotz vieler Wirrnisse im Leben bis heute geblieben. Wir haben unser Abitur mit nahezu denselben Leistungen (im oberen Bereich) abgelegt, wir haben beide anschließend Anglistik und Germanistik studiert, bei denselben Professoren mit sehr ähnlichen Prüfungsthemen, wir haben am selben Tag sehr erfolgreich das erste Staatsexamen abgelegt und später (lediglich an verschiedenen Schulen) das zweite, sind Studienräte geworden, später Fachbereichsleiter (er in Englisch, ich in Deutsch) im Range von Studiendirektoren und das sind wir bis zu unseren Pensionierungen geblieben; auf dem Weg dorthin haben wir ein Schwesternpaar kennen gelernt (in der Tanzschule, die wir natürlich beide besuchten), wir haben sie in einem zeitlichen Abstand von lediglich einem Jahr geheiratet (ich die ältere Schwester, er die zwei Jahre jüngere), bekamen fast gleichzeitig Nachwuchs und blieben uns bis heute mit all dieser familiären Verquickung ohne größere Konflikte verbunden. Wer an die Macht der Sterne glaubt, dem sei hier der Hinweis gegeben, dass unsere Geburtstage am 18. und 19. März 1954 sich einander berührten. Ich vermag nicht zu sagen, ob das der Grund für unsere mentale Übereinstimmung war. In jedem Fall marschierten unsere Gedanken im Gleichschritt und Verständigung über Inhalte des Studiums oder des Berufs waren jederzeit schnell möglich. Auf der anderen Seite ließen wir unsere emotionalen Anliegen meist außen vor bzw. verwandelten sie in Gedanken, um so verstehend über sie reden zu können. Ein unmittelbarer affektiver Austausch war unsere Sache nicht. Ich schreibe das nicht unserer Unfähigkeit zu, sondern eher einem halbbewusst angewendeten Distanzverhalten, welches der Logik folgte, dass allzu viel Gleichklang in allem zu nichts Gutem führen würde, sondern eher zu Vergleich und Neid, wie das in vielen Gruppen zu beobachten ist. Und uns verband auch der Anstand, uns gegenseitig nicht mit Eifersucht zu betrachten. Aus eben diesem Grund lockerte sich unsere Freundschaftsbeziehung auch im Laufe der Jahre (ohne zerstört zu werden). Wir spürten und wussten, dass bei all den großen familiären und beruflichen Gemeinsamkeiten jeder von uns seinen ganz eigenen Raum benötigte, in den er keinen Eintritt gewährte, wollten wir Eifersucht und Missgunst vor der Tür lassen. Es ist das große Verdienst dieser fast lebenslangen Bindung, dass uns dies gelang, ohne die Freundschaft in ihrem Kern in Frage zu stellen. Ohne M. wäre mein Leben gewiss anders verlaufen und für seine nicht wankende freundschaftliche Einstellung mir gegenüber (dessen Kurs im Leben nicht in jeder Phase leicht zu bestimmen war) werde ich ihm immer dankbar sein.
Das Sommersemester 74 war das dritte, das ich gemeinsam mit M. an der FU-Berlin zugebracht hatte. Wir studierten Anglistik am Englischen Seminar (klein, aber fein; man lernte Sinnvolles in kluger Fokussierung) und Germanistik an der berüchtigten „Rostlaube“ (hier lagen bärtige Jünglinge und Mädchen in Latzhosen bäuchlings in den Gängen und beschrifteten Packpapier mit politischen Parolen). Für mich ergab sich die dringende Notwendigkeit, in den sommerlichen Semesterferien Geld zu verdienen. Musikalische Aktivitäten trugen mir noch nicht viel ein (davon wird später die Rede sein) und meine Eltern (es sollte das letzte Lebensjahr meines Vaters werden) konnten mir nicht viel geben, obgleich sie mich immer mit all ihren Kräften unterstützt hatten. So folgte ich der Empfehlung meiner Schwester, als Werkstudent zur BfA (Bundesversicherungsanstalt für Angestellte) zu gehen, wo sie selbst als Sachbearbeiterin berufstätig war. Die Tätigkeit würde sich fast über die ganzen Ferien erstrecken und sie war fair bezahlt. Sie bestand überwiegend aus anspruchslosen Schreib- und Ausfüllarbeiten, nur an einem Tag geschah etwas absolut Bemerkenswertes: Ich fand einen weiteren Freund für mein Leben. Der Dezernent persönlich hatte mich mit einem anderen Werkstudenten zusammengeführt und uns beauftragt in einem kleinen fensterlosen Raum, in welchen im Laufe der Jahre grüne und rote Aktenordner hineingeworfen worden waren, eine Ordnung herzustellen: Wir sollten die beiden Sorten voneinander trennen und aufstapeln. Er begleitete seinen Auftrag mit der Bemerkung, dies sei eine Tätigkeit, besonders geeignet für Jungakademiker. Also legten wir los, kamen sehr bald ins Lachen, sehr bald ins Gespräch und begannen uns sehr bald zu mögen. Wir waren gleichen Alters und tauschten uns zunächst über unsere Studieninhalte aus (denn das Stapeln nach Farben ließ noch andere gedankliche Betätigung zu). W. hatte nach einem anfänglichen Technikstudium zu Jura gewechselt (er würde ein sehr erfolgreicher Mietrechtsspezialist werden) und ich berichtete von den knospenden Kenntnissen in englischer Literatur, die sich in den drei ersten Semestern gebildet hatten. W. sog alles auf, war an allem, was ich vortrug, spürbar interessiert und noch bevor die roten und grünen Stapel vollendet waren, schlossen wir wortlos Freundschaft und hielten sie in den kommenden vierzig Jahren fest. Hierzu trug auch bei, dass wir beide gerade kurz zuvor Partnerinnen kennen gelernt hatten, die später unsere Ehefrauen werden sollten, uns insgesamt in einer recht ähnlichen Lebenssituation befanden. Meine Eltern waren in jenem Sommer zum letzten Mal gemeinsam auf Reisen, ich hatte also mithin zu Hause „sturmfreie Bude“ und organisierte eine Fete, zu der ich auch W. mit Partnerin einlud. Sie kamen beide (es war das erste Mal, das sie gemeinsam ausgingen), wie ich mich heute zu erinnern meine, ganz vorsichtig, sie, unbeschreiblich jung, blickte mit ihren wunderschönen Augen freundlich und schüchtern in die Welt. Aus dieser ersten Begegnung wurde eine wertvolle, lebenslange Verbindung zwischen zwei Paaren. W. bat ich später die Patenschaft für unseren Sohn zu übernehmen und ich wurde eines Tages der Pate des Sohnes unserer Freunde. Wir trafen uns regelmäßig, wir unternahmen gemeinsame Reisen (unvergessen: W. und ich sturzbetrunken auf dem elsässischen Col de la Schlucht – oder: wir vier auf dem Jazzfestival von Montreux am Genfer See bei Dylans lieblosem Konzert); und die beiden Frauen überboten sich jahrzehntelang mit ihren grandiosen Kochkünsten. Eine Begegnung mit W. ließ mich stets die Welt in etwas helleren Farben sehen. Eine solche Ausstrahlung besaß er und die ging aus von seiner heiteren Seele. Er lebte gerne, konnte und wollte genießen und ließ sich die Freude am Genuss von keinem Schatten irgendeiner Art verdunkeln. Er hatte die Kraft, sein Leben mit all seinen Schönheiten (aber auch Belastungen) voll und ganz zu akzeptieren, glitt nie ins Lamentieren ab (wie so viele Menschen, die im Grunde unglücklich in die Welt gestellt wirken). Er ergriff sein Leben entschlossen mit beiden Händen (weil es ja kein anderes gab) und zeigte es wie eine goldne Trophäe daher. Und wenn man von einer Begegnung mit ihm kam, war man für eine Weile geneigt zu versuchen dies ebenfalls zu tun. -