Читать книгу Der Junge mit dem Feueramulett - Die Schule der Alchemisten - Frank Pfeifer - Страница 6
Der Vampyr
ОглавлениеDer Junge musste sterben! Dieser Kard hatte einen Ogul getötet, dieses mächtige magische Wesen. Vielleicht war er wirklich ein Günstling des Schöpfergottes Branu? Diese Gefahr musste beseitigt werden! Koste es, was es wolle.
Die Oberste Priesterin Tsarr betete zu Goiba, Göttin von Tod und Kälte, und bat um ihren Beistand. Sie nahm nochmals die magische Mischung aus wilder Kirsche und Schönfrauenkraut zu sich und spürte, wie sich ihre Augen veränderten. Sie wusste, dass nun das Weiß der Augäpfel verschwand und sie mit vollkommen schwarzen Augen in die Dunkelheit blickte. Mit dem nächsten Blinzeln begannen sich Schemen abzuzeichnen. Alles war nun in dunkles Grün getaucht. Die schartige Felswand, in der Rinnen nach unten liefen, die den Eindruck erweckten, als ob sie mit schwarzem Blut gefüllt seien, wurde jetzt deutlicher. Langsam erkannte Tsarr wieder den Gang, der vor ihr lag, ihr letzter Besuch hier lag einige Zeit zurück. Sie spürte die Kälte in ihrem Nacken und begrüßte sie wie eine gute Freundin. Nach der nächsten Biegung würde sie den Goiba-Tempel der Vampyre betreten, eine gewaltige Grotte tief im Innern des Höhlengebirges von Schtalyr.
Ns’frta, die Goiba-Priesterin der Vampyre, wartete wie abgesprochen bereits auf sie. Der unterirdische Tempel war nicht wesentlich kleiner als ihr eigener, allerdings erweckten die behauenen Felswände den Eindruck, als ob man sich im Inneren eines gewaltiges Tieres befand. Ihnen fehlte die kalte Eleganz, die den Haupttempel Goibas in Conchar, der Hauptstadt des Reiches Haragor, auszeichnete. Aber in dieser schroffen Wildheit passte er gut zum Volk der Vampyre, die einerseits für ihre Kaltherzigkeit und Grausamkeit bekannt waren, die aber auch treue Gefolgsleute von Flanakan, dem Herrscher, waren.
Tsarr betrachtete die Vampyrin, die vor einem mit Blutrinnen durchsetzten Altar stand. Tsarr erschrak. Wie schön sie ist, dachte sie. Die Priesterin war jung. Hohe Wangenknochen und große, dunkle Augen unter geschwungenen Augenbrauen dominierten die ebenmäßigen Gesichtszüge. Nur ihre ledrigen Schwingen und ihre krallenförmigen Hände trübten für Menschenaugen diesen Anblick, der Tsarr verbittert an die eigene Vergänglichkeit denken ließ. Außerdem waren die Ns so wie Tsarrs Familie eine der großen, alten Goiba-Dynastien. Der Respekt, den sich die beiden Priesterinnen entgegenbrachten, war nicht nur reine Formsache, sondern entsprang alter und tiefer Überzeugung der eigenen Überlegenheit.
»Goiba über alles.«
Ihre Tradition und ihre Treue zur Göttin von Tod und Kälte hatte diese beiden Frauen zusammengeführt, hatte sie Konkurrenz und Eifersucht für diesen Moment vergessen lassen.
»Goiba für immer, werte Tsarr.« Die Stimme der Vampyrin war durch und durch menschlich. Dunkel, warm und doch irgendwie bedrohlich. »Die Ratten bestätigen es.«
Also stand es nicht nur in den Gedärmen der Katzen, die Tsarr opferte, um die Zukunft zu deuten, sondern auch im Gekröse der Ratten, die die Vampyre für die gleichen Zwecke schlachteten.
Ich habe mich also nicht geirrt, dachte Tsarr. Leider.
Aus der grünen Dunkelheit löste sich nun ein Schatten und trat an den Altar neben Ns’frta. Der Vampyr.
»Ich habe Laltan bereis von dem Auftrag erzählt.«
Tsarr spürte sofort, dass dieses Wesen genau das Richtige für die Aufgabe war, die sie ihm zugedacht hatte. Laltan, der im gesamten Reich nur als ›Der Vampyr‹ bekannt war, der Oberste Assassine des Reiches, strahlte eine Kälte aus, die selbst Tsarr beeindruckte. Dieses Wesen würde nicht versagen. Nicht wie dieser tölpelhafte Laoch.
Auf den ersten Blick unterschied das Wesen sich nicht von seinen Artgenossen. Die Haut des menschenähnlichen Gesichtes war ledrig und durchfurcht von tiefen Falten, die fast schwarzen Lippen schmal und zusammengepresst, so dass man die scharfen, spitzen Zähne nicht sehen konnte. Vampyre waren etwas größer als Menschen, aber erst wenn sie ihre Schwingen ausbreiteten wurde man dessen gewahr. Hatten sie ihre Flügel angelegt, wirkten diese wie Arme, an dessen Ende sich scharfe, lange Klauen zeigten, die in Bruchteilen eines Wimpernschlages ihren Opfern die Kehle aufschlitzen konnten. Sie waren mit leichtem, eng anliegendem Stoff bekleidet, der sie fast wie Menschen aussehen ließ. Aber jeder, der einen Blick in ihre gelben, geschlitzten Augen geworfen hatte, die an die hungrige Miene eines Reptils erinnerten, ahnte, dass diese Wesen nichts Menschliches an sich hatten.
Laltan war den anderen Wesen Haragors als der grausamste aller Vampyre bekannt, eine furchteinflössende Legende. Ein Wesen so schwarz und gnadenlos, so ganz ein Wesen Goibas, dass es von Natur aus eine abgrundtiefe Abscheu gegen alles hatte, was mit der Magie Branus daherkam. Der perfekte Killer, um den Jungen aufzuspüren und zu töten.
Der Vampyr kniete nieder vor der Obersten Goiba-Priesterin von Haragor. Da spürte sie es. Dieses Ungleichgewicht, diesen Verrat an der Natur. Angewidert trat sie einen Schritt zurück.
»Deine Mutter war ein Flughund?«
Ein Bastard, unrein, ein Wesen wider die Gesetze der Götter. Ns'frta legte ihrer Priesterschwester beruhigend die Kralle auf die Schulter.
»Daher kann er es auch lange unter den Strahlen der Sonne aushalten, ohne wie wir echten Vampyre davon nach einiger Zeit zu erblinden. Aber sonst ist er einer von uns, ein Vampyr und treuer Goiba-Diener, das verspreche ich dir.«
Tsarr nickt. Ns'frta hatte recht. Die Götter wählten ihre Werkzeuge so, wie sie sie brauchen. Trotzdem durchlief eine Welle von Ekel und Abscheu ihren Körper. Dann näherte sie sich dem Vampyr erneut und legte ihm die Hände auf das Haupt. Sie begann, unverständliche Worte zu murmeln, unverständlich für alle, die der magischen Sprache Goibas nicht mächtig waren. Alles, was sie über den Jungen wusste, pflanzte sie nun in das Gedächtnis des Vampyrs. Er atmete tief, verkrampfte sich, schüttelte sich und grunzte unkontrolliert. Eine Abwehrreaktion auf so viel Branu-Vergiftung, die er in diesem Moment aufnehmen musste. Nach wenigen Sekunden war das Ritual vorbei und der Vampyr erhob sich wieder. Im grünen Licht ihres Nachtsichtzaubers konnte Tsarr nicht wirklich erkennen, ob es Hass oder Ekel war, welche die Miene des Vampyrs verzerrte. Und sie selbst hoffte, dass sie mit der Wahl des Vampyrs keinen Fehler gemacht hatte.
»Hiermit kannst du immer Kontakt mit mir aufnehmen.«
Aus den Tiefen ihrer Robe hatte Tsarr zwei Mini-Obsidiankugeln herausgezogen, eine Erfindung, die noch von Davischi, dem letzten Bauherren der Drachenkönige, stammte und magische Fernkommunikation ermöglichte.
Die Oberste Goiba-Priesterin reichte eine der Kugeln dem Vampyr und berührte sanft ihre eigene, die bläulich zu leuchten begann. Im Dunkeln der Höhle zeigte das sanfte Licht eine ungeahnte Intensität. Geblendet wichen die beiden Vampyre zurück. Über der Kugel des Vampyrs erschien nun die blaue Aura von Tsarr, eine verkleinertes Abbild der Priesterin, das pulsierte, als ob es ein eigenes Herz hätte. Erstaunt hielt der Assassine die Kugel weit von sich.
»Um mich zu erreichen, musst du diese magischen Worte sagen, merke sie dir gut.« Tsarr beugte sich vor und flüsterte dem Vampyr die geheime Formel ins Ohr. Demütig nickte das Höhlenwesen, während sich die Worte tief in sein Inneres fraßen. Die Oberste Priesterin von Goiba betete zu ihrer Göttin, dass der Vampyr seinen Auftrag erfüllen würde. Ein nochmaliges Scheitern konnte ungeahnte Folgen haben.
*
Mit aller Macht ließ Kard den Schmiedehammer auf den Latrinenauskratzer herunterkrachen. Er riss den schweren Hammer mit einem gewaltigen Ruck über seinen Kopf, bog dabei leicht das Rückgrat nach hinten, gerade so, dass er genug Schwung bekam, um den Hammer erneut mit aller Macht auf das Werkstück auf dem Amboss vor ihm zu schmettern. Kard war wütend. Der helle Schrei, der beim Kampf der Metalle entstand, stieß wie ein Messer durch seine Ohren direkt in seine Wut und stachelte ihn nur noch an. Erneut hob er den Hammer. Und diesmal kam aus seiner Kehle ein gepresster Schrei, der sich mit dem Klang des Metalls vermischte.
»Yo, mach das Ding platt!«
Madad stand in der Tür der kleinen Schmiede in Truk und sah seinen Freund grinsend an. Kard wandte nur kurz den Kopf beiseite, presste die Lippen zusammen, nahm den Latrinenauskratzer und hievte ihn hinüber ins Abkühlbecken. Schnell stieß er das Eisen in die dunkle Flüssigkeit, als ob erneut ein Ogul zu erledigen wäre. Das Wasser zischte, eine Dampfwolke bildete sich über dem Becken und hüllte Kard in weichen Nebel. Als er das Werkzeug wieder herausholte, fiel sein Blick auf sein Spiegelbild, wie es in den Wellen des Wassers sich verzerrte und hin und her geschleudert wurde.
Kard betrachtete diese Erscheinung im Wasser, als ob etwas Fremdes, Unbekanntes ihm entgegenblicken würde. Tatsächlich erkannte er sich nicht selbst in diesem verzerrten Abbild auf der Wasseroberfläche. Ein wenig mehr Muskeln hatte er in den letzten Wochen hier in Truk bekommen. Ein schlaksiger Junge mit dunklen, lockigen Haaren, der ihn jetzt mit ausdrucksloser Miene und leerem Blick anstarrte.
Wer ist das? Wer bin ich?
Nach dem Tod von Wallas, seinem alten Lehrmeister und Ziehvater, hatte sich eine gewaltige Leere in ihm breitgemacht. Er schwamm in einem dunklen See tief in seinem Innern. Nirgendwo war ein Ufer zu sehen. Er war so müde, dass er immer wieder vergaß zu schwimmen und sich in den Abgrund saugen ließ. Hätte Madad ihn nicht ab und zu kräftig in die Waden gebissen, wer weiß, vielleicht würde er immer noch am Fuß des Branubrabat sitzen? Inzwischen wäre er nur noch ein Gerippe, umringt von unsichtbaren Chameliten, diesen Anpassungskünstlern des Dunklen Waldes.
Irgendwie hatte ihn Madad nach der Schlacht am Branubrabat bis nach Truk getrieben, der kleinen Stadt ganz im Westen der Hochebene von Asch-by-lan. Ein Ort, an dem ihn niemand kannte. Ihn, Kard, den Verräter, der das magische Schwert zerstört hatte.
Die Gefolgsleute hatten sich nach dem Sieg über Laoch und den Ogul in alle vier Winde zerstreut. Kustos, der gutmütige Magier und Baumwächter, war zu seinem gemütlichen Wohnbaum aufgebrochen. Die Credna-Priesterin Nanda, Tsarkoik, der Erzhändler, und die Reste des Widerstandes waren zurück in die Alte Stadt gegangen, um sich dort in der Unscheinbarkeit des Alltags zu verstecken. Auf Kard hatte keiner mehr geachtet. Und das war auch gut so. Alle waren so mit sich selbst beschäftigt gewesen, ihrer Angst, dass der Tee kalt wurde oder dass die Schergen umfangreiche Untersuchungen anstellen würden. Für niemand war der Jungen, den sie vor kurzem noch für einen Drachenprinzen gehalten hatten, noch ein Münze wert gewesen. Ein echter Drachenkrieger hätte sicherlich nie eine so gewaltige Waffe wie ein geweihtes Minas-Schwert weggeworfen, so wie es Kard getan hatte. Und gerade auch noch in dem Augenblick, als das Glück sich auf die Seite der Geächteten und Verfolgten zu neigen schien. Ein magisches Monster zur Strecke gebracht und den Obersten Schergen erledigt! Ein echter Drachenkrieger hätte sie nun mit der Macht des magischen Schwertes gegen Flanakan, den Unterdrücker, geführt. Dieser Junge konnte also auf keinen Fall ein echter Drachenkrieger oder gar ein Drachenprinz sein! Er war viel weniger! Ein Verräter vielleicht oder im besten Fall einfach nur ein Nichts.
Ich bin ein Nichts.
Genauso fühlte sich Kard. Eine wandelnde Leere. Ein Körper, der irgendwie atmete und aß und verdaute und schwitzte, aber im Grunde eine überflüssige Existenz.
Ohne Madad wäre Kard einfach stehengeblieben und gestorben. Er hatte keinen Grund zu leben. Wozu denn? Wer war er denn? Ein Nichts.
Der Cu an seiner Seite aber schien zu wissen, was Kard fehlte. Tagelang hatte er den strauchelnden, seelenlosen Körper seines Freundes durch den Dunklen Wald getrieben, bis sie schließlich in Truk gelandet waren. Dort kannte sie niemand. An dem Abend, als sie vor den Stadtmauern aufgetaucht waren, zu einem Zeitpunkt, als die Stadttore längst geschlossen waren, hatten sich bereits einige andere Reisende vor einem großen Feuer versammelt, das die Faols, Bestien, größer als jeder Hütehund und erbarmungslos wie der Tod selbst, von ihnen fernhalten sollte. Madad hatte seinen Freund vor die Flammen gezerrt und ihn den Blick in das Geflacker lenken lassen.
Das Feuer. Kard erinnerte sich. Und fühlte nach langer Zeit wieder, das Amulett auf seiner Brust pulsieren. Der Drachenzahn ließ ihn sich selbst spüren.
Feuer.
Anfangs waren es nur tanzende Farbflecken gewesen, die er wahrgenommen hatte. Dann das Knistern. Dann der Rauch in seiner Nase. Aber es war, als ob nicht er selbst dies wahrnehmen würde, als sei er nur Gast in seinem eigenen Körper. Ein Zuschauer, der ohne irgendein Gefühl einer Zirkusvorstellung beiwohnte. Lange hatte er so vor dem Feuer gestanden. Den Blick starr in die Flammen gerichtet.
Anfangs hatten die Reisenden ihn nach seiner Herkunft, seinem Namen, seinem Ziel gefragt. Nachdem aber der Ankömmling einfach nur schweigend und bewegungslos zwischen ihnen gestanden hatte, hatten sie begonnen, Witze über ihn zu machen. An seinen Kleidern hatten sie gezogen. Ihm in die Wange gezwickt. Nur das Knurren des gewaltigen Hütehundes an seiner Seite hatte sie schließlich dazu bewogen, von dieser seltsamen Gestalt abzulassen. So stand Kard da, die ganze Nacht, und starrte in die Flammen.
Mein Name? Den kenne ich ja selbst nicht.
Kard, so hatte man ihm im Waisenhaus genannt. Aber war das sein richtiger Name? Hatten ihn so seine Eltern genannt? Oder war das nicht einfach nur ein Maßnahme der Obersten Verwaltung, um das Waisenkind irgendwie in die Akten eintragen zu können. Waise Nummer fünfunffünfzigtausendzweihunderteins, kurz Kard.
Meine Herkunft?
Es gab schemenhafte Erinnerungen, die vielleicht nicht zum Waisenhaus gehörten, aber er konnte sie nicht zuordnen. Name, Herkunft, nach so etwas fragen die Menschen, wenn sie einen kennenlernten. Wieso eigentlich? Konnten sie einen so besser in ihre Weltsicht einordnen? Obwohl Name und Herkunft doch irgendwie gar nichts über den Menschen aussagten, oder? Aber es ist der Anfang, der Anfang des Menschseins. Und das fehlte Kard.
Ich habe keinen Anfang. Wie soll ich da ein Ziel haben?
Das einzige, was ihn verstand, war das Feuer. Kard, der schon immer eine besondere Beziehung zu diesem Element gehabt hatte, hatte an diesem ersten Abend in Truk das Gefühl, dass das Prasseln des Feuers sich direkt in seinem Kopf abspielte. Die Hitze seines Gesichts war nicht mehr zu unterscheiden von der Hitze des Feuers selbst.
Feuer.
Der Rauch stieg in seine Nase, hinab in seine Lunge und durchströmte seinen ganzen Körper.
Ich bin Feuer.
Irgendwann streckte er die Hand in die Flammen. Er verbrannte sich nicht. Ganz im Gegenteil, es war so, als ob er einen alten Freund umarmen wurde. Er zog die Hand wieder zurück und eine Flamme tanzte auf seiner Handfläche. Kard schloß die Hand zu einer Faust, öffnete sie wieder und begrüßte die Flamme, die weiterhin auf seiner Haut tanzte. Erneut schloß er die Faust, wechselte mit der Flamme einige silbenlose Worte, und öffnete erneut die Faust. Diesmal war die Handfläche leer, so wie es eigentlich sein sollte. Doch als Kard die Flamme rief, tanzte sie erneut auf seiner Haut. Zum Glück schliefen die anderen und außer Madad hatte niemand dieses Schauspiel verfolgt. Der Cu aber knurrte zufrieden, denn in die Augen seines Freundes war ein Glanz zurückgekehrt, den er dort lange vermisst hatte.
Dann schliefen sie beide ein. Ein tiefer Schlaf voll wilder Träume, an die sich aber keiner am nächsten Morgen erinnern konnte. Aber in ihnen lag ein Versprechen, eine namenlose Hoffnung.
*
Wallas war also der ehemalige Waffenschmied von Flanakan gewesen? Diese Information schmeckte dem Vampyr überhaupt nicht. Nachdem sich das Wissen, das Tsarr ihm magisch übermittelt hatte, langsam in seinem Kopf zu ordnen begonnen hatte, war es Laltan klar geworden, dass es hier nicht um gemeinen Verrat ging. Niemand hatte Geld unterschlagen, keiner hatte den Herrscher beleidigt oder die Ehre Goibas beschmutzt. Hier ging es eindeutig um Magie. Ein direkter Angriff auf die magische Quelle der Macht des Herrschers. Und dass ein einstiger Weggefährte Flanakans hier mit im Spiel war, ließ vermuten, das Wallas Informationen hatte, die dem Reich gefährlich werden konnten. War es nur dieses Minas-Schwert gewesen? Nein! Dann hätte Tsarr ihn nicht auf den Jungen angesetzt. Es musste dieser Mensch selbst sein, der sie beunruhigte. Aber warum? Laltan war sich sicher, dass Tsarr ihm nur die Informationen zur Verfügung gestellt hatte, die sie für notwendig erachtet hatte. Um aber die Spur seines Opfers aufnehmen zu können, musste er mehr wissen. Sicherlich wollte die große Tsarr nur das Reich schützen, aber das Wissen, was sie vorenthielt, war wahrscheinlich genau jenes, was er benötigte, um den Jungen ausfindig zu machen. Er würde dort ansetzen, wo alles begonnen hatte: bei der Großen Schlacht, die das Ende der Drachenkönige eingeleitet hatte und den Beginn der Herrschaft Flanakan bedeutete.
*
Abends nahm der Wind zu. Abgerissene Winxgrashalme und totes Laub wirbelte über die Dachfirste von Conchar, der Hauptstadt des Reiches Haragor. Auf den Dächern bebten die Ziegel und in den Ställen zitterte das Vieh. Im Feuerturm stöhnten die Flughunde und die große Glocke brummte ein trauriges Lied, sodass der Feuerwächter befürchtete, durch diese Geräuschkulisse in den Wahnsinn getrieben zu werden.
Der Wind schoss daraufhin in die engen Gassen, brach sich an den Kanten der brüchigen Häuser und zerrieb das Gestein langsam aber sicher zu feinem Staub. Die Bewohner der Hauptstadt versteckten ihre Gesichter und senkten ihren Kopf müde gegen die mitleidlosen Böen.
Durch die geschlossenen Fensterläden des Audienzsaales der Schwarzen Burg hörte man den Wind nur noch als fernes Rauschen, das protestierend an den Riegeln riss, dessen Flehen aber nicht erhört wurde.
Makral, Nachfolger von Laoch und jetzt gleichzeitig Oberster der Wachen und der Schergen, hatte sich zu den anderen Obersten des Reiches gesellt. Der Oberster Steuereintreiber, ein Vampyr und Adeliger aus dem Höhlengebirge von Schtalyr, stets griesgrämig, niemals zufrieden, einer der auch dann jammerte, wenn ein Bauer den Steuereintreibern noch das letzte Hemd gab. Der Oberste Verwalter, klein, dick, immer mit einer Notiztafel bewaffnet, auf der er ständig hin und her wischte. Auch der Oberste Stadtrat war diesmal anwesend, einer von Makrals Leuten, denn natürlich war der Oberste Stadtrat nur eine Marionette und ein Spitzel obendrein. Und seitdem Flanakan vor einigen Jahren die Sitzungen des Stadtrates in die Schwarze Burg verlegt hatte, war es auch dem letzten Bewohner Haragors klar geworden, dass die Mitbestimmung der Händler und Handwerker nur noch nettes Theater war. Aber der gute Mann, wohlgenährt und ganz eingenommen von seiner imaginären Bedeutung, hatte viele Kontakte zu den Reichen und Wichtigtuern und war, das konnte Makral bestätigen, ein hervorragender Denunziant.
Sie alle hatten ihr Haupt vor Flanakan und Tsarr gesenkt. Dem Herrscher sah man kaum an, dass seine Mutter eine Vampyrin gewesen war. Aber auch wenn ihm die lederartigen Flügel fehlten, die normale Vampyre, wenn sie unter Menschen wandelten, gerne wie einen warmen Mantel um sich schloßen, verriet doch die dunkle, faltige Haut, dass Flanakan kein Mensch war. Seine gelben Augen waren nur zwei Schlitze, mit denen er die Anwesenden griesgrämig musterte. Selbst Tsarr, stellte Makral fest, wie immer gekleidet in ihrem schwarzen Priestergewand, auf dem auch diesmal ein paar getrocknete Blutspritzer zu sehen waren, blieb von der schlechten Laune des Herrschers nicht verschont.
Makral berichtete von den zunehmenden Unruhen in Haragor. Mit diesem angeblichen Minas-Schwert hatte es angefangen. Die Schlacht am Branubrabat zwischen Laoch und einigen aufmüpfigen Gestalten war nicht gänzlich unbemerkt geblieben. Aber die Mär von einem Drachenprinzen wollte dann doch keiner wirklich glauben. Dieses unsinnige Gerücht war zur Zeit das geringste Problem. Es gab handfeste, reale Probleme! Störrische Toraks, unzufriedene Menschen und nicht zu vergessen dieses Scharmützel zwischen Amazonen und Ichtos am Rande des Reiches in den Weiten des Ozeans.
Makral bemerkte, wie Tsarr immer nachdenklicher wurde, während sie seinen Worten lauschte. Als sie das Wort an ihn wandte, war die unterdrückte Wut der Gova deutlich zu spüren.
»Vasallin Plr, Königin der Ichtos, scheint ihren Gehorsam gegenüber Flanakan vergessen zu haben sollte. Diese halben Fische dürfen nicht vergessen, welchem Herren und welchen Göttern sie dienen müssen.«
Flanakan nickte. »Die Oberste Priesterin Goibas hat recht. Wenn Plr nach der Magie Branus trachtet, müssen die Ichtos lernen, was es heißt, sich gegen die Magie der göttlichen Schwestern zu stellen.«
Makral wusste, dass Tsarr sehr darauf bedacht war, dass ihre Göttin, Goiba, nicht ins Hintertreffen kam. Die Waagschalen von Branu und Goiba mussten stets zu ihren Gunsten gefüllt sein.
Flanakans gelbe Augen richtete sich auf den Obersten Stadtrat. »Wisst ihr noch, Oberster Stadtrat, wieso ich eure Ratsversammlung damals in die Schwarze Burg verlegt habe?«
Der Angesprochene schluckte nervös und nickte langsam. »Ja, großer Herrscher. Es gab da einige von uns, die, äh, behaupteten, äh, ein Regent wäre… überflüssig.«
Das letzte Wort war kaum zu hören, der Oberste Stadtrat griff sich an die Kehle, als ob er eine unsichtbare Hand lösen wolle, die ihn gerade würgte.
»Und wie haben wir das natürliche Gleichgewicht wieder hergestellt?« Flanakan starrte den sich windenden Obersten Stadtrat unerbittlich an.
»Bestimmt meinst du den Tag der hundert Hinrichtungen…« Der Obersten Stadtrat versuchte verzweifelt zu lächeln, aber seine nach oben gezogenen Mundwinkel standen im krassen Gegensatz zu seinen hin und her huschenden Augen, die nach einem Fluchtweg suchten.
»Genau, Oberster Stadtrat. Hundert Hinrichtungen. Natürlich waren die meisten Toraks, aber im Endeffekt mussten viele verschiedene Wesen für ihren Frevel bezahlen, oder? Schließlich sollte ganz Haragor wissen, wer hier der Herrscher ist.«
Seine nächsten Worte richtete Flanakan an Makral. »Oberster Makral. Ich glaube, auch in diesem Fall werden hundert Hinrichtungen genügen. Es sollten vorrangig Ichtos sein! Dann wird dieses achtlose Weib, die sich Königin schimpft, auch mitbekommen, dass wir in Conchar nicht schlafen. Und…«, Flanakan ließ seinen Blick zum Fenster schweifen, »es dürfen auch Toraks und Menschen dabei sein. Amazonen, wenn man ihrer habhaft werden kann, können auch am Galgen baumeln. Schließlich sollen wirklich alle daran erinnert werden, wer der Herrscher Haragors ist.«
Flanakan schaute in die Runde, aber niemand hatte dem etwas zu entgegnen. Makral hatte ebenfalls keine Einwände. Sein Aufgabe war es, die Worte des Herrschers in Taten umzusetzen. Es stand ihm nicht zu, eigene Gedanken zu haben. Und Gefühle hatte er ja sowieso keine.
*
Der Bauer, der es sich im ›Knochenbruch‹, einer beliebten Kneipe in Conchar, gemütlich gemacht hatte, sah Gsaxt, den Wirt dieser Gastwirtschaft, mißtrauisch an. Für einen Menschen war der Mann recht groß und muskulös, was den riesigen Torak, der den Hünen immer noch um zwei Köpfe überragte, nicht im mindesten schreckte. Wenn es darauf ankommen würde, würde er es mit drei dieser Sorte aufnehmen. Gsaxt nahm den Krug, den ihm der Mensch zugeschoben hatte und nippte daran. Er ließ das Gebräu in seiner Mundhöhle kreisen, legte sogar sein mächtiges Haupt in den Nacken und gurgelte verhalten. Dann stellte er den Krug wieder vor seinen Gast.
»So wie immer, finde ich!«
»Wie immer, wie immer?« Der Bauer sah Gsaxt entgeistert an. Er war jung und offensichtlich einer, der Streitigkeiten unter Seinesgleichen eher mit der Faust als mit der Zunge regelte. Schon begann er, sich von dem Stuhl zu erheben, aber angesichts der Muskelmasse des Toraks, der mindestens das Doppelte auf die Waage brachte, besann er sich offensichtlich eines Besseren. Gsaxt sah ihn gutmütig an, lächelnd.
Der Bauer nahm den Krug und nippte nun seinerseits daran. Aber sofort spuckte er das Schoff wieder heraus. »Das ist kein Schoff, das ist Gift!«
Das Lächeln im Gesicht von Gsaxt hatte nun etwas Erstarrtes. Aber er war in erster Linie hier Gastwirt. Und der Kunde war König. »Wir machen dir einen neuen Krug, wie wäre es damit?«
»Einen neuen Krug, einen neuen Krug? Was will ich mit einem neuen Krug? Das Schoff ist einfach zu dünn, das ist ja mehr Wasser als sonst etwas.«
Der Mann sah ihn herausfordernd an. Gsaxt kannte diese Streithähne, die einen Anlass suchten, um sich ein wenig zu prügeln. Aber dieser Bauer schien noch etwas anderes im Schilde zu führen, was der Torak nicht so richtig einschätzen konnte.
»Dabei ist es das Schoff, das ihr uns selbst geliefert habt.«
»Kann gar nicht sein. Das Schoff, das ich euch geliefert habe, war süß und vollmundig und würzig und schwer. Ein Schoff, das einem nach dem ersten Schluck schon fröhlich macht. Nicht so ein dünnes Gesöff, wie ihr es hier anbietet.«
Es gab eben immer diese Wesen, die an allem etwas auszusetzen hatten. Gsaxt holte den Lieferzettel aus seiner Gesäßtasche.
»Und ist das nicht eure Unterschrift?«
»Ja, sicherlich. Aber das ist nicht das Schoff, das ich euch geliefert habe.«
»Wenn der werte Herr einen Blick hinter die Theke werfen möchte, wird er sogar das Fass sehen, welches wir heute morgen von seinem Wagen gehoben haben. Und mit Verlaub, Euer Schoff ist nicht besser oder schlechter als all die anderen Lieferungen, die wir bekommen.«
Gsaxt blickte weiterhin freundlich auf den Menschen, der unter ihm kurz vor der Explosion stand, und legte schon einmal beruhigend eine mächtige Faust auf die Tischplatte. Tatsächlich war dieser Bauer nicht der erste Gast, der sich wegen des Schoffs beschwerte, sodass der Torak inzwischen einige Übung darin hatte, mit diesem unbegründeten Verhalten umzugehen. Er hatte vor einiger Zeit sogar zusammen mit seinem Bruder einige Freunde eingeladen und ein Spiel gespielt. Sie hatten sich die Augen verbunden und dann blind die gefüllten Krüge geleert, um herauszufinden, ob das Schoff der unterschiedlichen Lieferanten tatsächlich verschieden schmeckte. Aber das Ergebnis war ernüchternd gewesen. Das Schoff waren immer gleich gewesen. Gleich dünn, gleich wässrig, gleich schlecht, gleich gut. Schoff eben.
»Also mein Schoff ist das bestimmt nicht!«
»Nun ja, hier in Conchar schmeckt es vielleicht anders als auf eurem Hof, auf der Fahrt werden die Fässer ja auch ganz schön durchgeschüttelt. Wieviel Tage ward ihr unterwegs?«
»Vier Tage. Aber davon wird das Schoff auch nicht dünner.«
»Dünner?« Gsaxt sah den Bauer jetzt tief in die Augen.
»Genau, dünner. Ihr panscht da doch herum, kann mir doch keiner erzählen.«
»Neue Lieferung!«
Die Stimme von Gsark dröhnte wie die Glocke des Feuerturms durch den Schankraum. Der ältere Bruder von Gsaxt stand an der Tür, die in den Keller des ›Knochenbruchs‹ führte, und hatte ein Schofffass geschultert.
»Neue Lieferung!«, wiederholte Gsaxt und schaute dem Bauer vielsagend ins Gesicht. Dann drehte er sich auf dem Absatz um und verschwand hinter der Theke. Man hörte das Hämmern, als das neue Fass angeschlagen wurde, dann das Gurgeln und Zischen, mit dem sich ein neuer Krug füllte. Kurz darauf stand Gsaxt wieder vor dem Bauern und stellte ihm den neuen Krug genau vor die Nase. Der Mann nahm einen tiefen Schluck und man konnte sehen, wie er versucht war, dieses Schoff genauso herauszuspucken wie das Schoff zuvor. Aber diesmal besann er sich und schluckte die Flüssigkeit herunter.
»Viel besser«, rief er dann laut und vernehmlich, sodass es alle Gäste im Knochenbruch hören konnten. Gsaxt nahm nun seinerseits den Krug und einen Schluck des Schoffs. Dann reichte er das Gefäß seinem Bruder weiter, der sich inzwischen zu ihnen gesellt hatte. Die Toraks schauten sich an und schüttelten den Kopf.
»Genauso gut wie das letzte Fass!« Der Tonfall von Gsark war wesentlich schärfer als der seines jüngeren Bruders.
»Über Geschmack lässt sich nicht streiten.« Gsaxt hatte sich vor den älteren Gsark geschoben und lächelte den Bauern freundlich an. »Geht auf’s Haus!«
Der Mann nickte grimmig und klammerte sich an dem neuen Schoffkrug fest, während die Toraks durch den Schankraum stiefelten und hinter der Theke Stellung bezogen. Der Bauer trank daraufhin zügig seinen Krug leer. Das wütende Glimmen in den Augen von Gsark war nicht zu übersehen gewesen. Der Mensch zog es offensichtlich doch vor, einer direkten Auseinandersetzung aus dem Weg zu gehen. Der Mann schnappte sich bald seine Jacke und stiefelte aus dem Schankraum. Gsaxt sah ihm nachdenklich hinterher. Diese Begegnung ließ ihn für die Zukunft nichts Gutes ahnen.
Draußen auf der Straße wartete bereits der Schatten auf den Bauern. »Und, war es, wie ich es gesagt habe?«
»Ja, du hattest recht. Das Schoff war dünn wie Wasser.«
»Sage ich doch. Diese Geizhälse, die strecken das Schoff. Um uns armen, hart arbeitenden Menschen noch die letzten Argits aus der Tasche zu ziehen.« Vielsagend schauend stülpte der Schatten seine Taschen nach außen, um zu zeigen, dass dort keine einzige Münze zu finden war. Die dunkle Gestalt schien ganz aufgeregt, denn er begann nun, von einem Bein auf das andere zu hüpfen.
»Aber ehrlich gesagt hatten die dann eine neue Lieferung, die genauso schmeckte. Genauso dünn. Schoff eben. Und das direkt aus dem neuen Fass.«
»Neue Lieferung? Ach was. Alles Theater. Glaub mir. Die panschen herum. Betrüger. Lügner. Banditen.«
Dann stand der Bauer plötzlich wieder alleine auf der Gasse. Der Schatten war so schnell verschwunden, wie er aufgetaucht war. Genauso wie vor seinem Besuch im ›Knochenbruch‹. Da hatte der Bauer sein schwer verdientes Geld schon wieder in all die Dinge umgetauscht, die man zu Hause brauchte. Eine neue Schaufel aus der Schmiede eines Toraks. Die Haarbürste aus gehärteten und flexiblen Seeigelstacheln von der Schreienden Makrele, diesem stadtbekannten Händler aus Ichtien. Wobei man sich immer fragte, wie diese Halbkiemenatmer es zu solcher Stimmgewalt bringen konnten. Ein paar weitere Dinge für den Hof hatte er noch erstanden. Zum Schluß wollte er noch gepflegt einen trinken gehen. Und dann war dieser Schatten aufgetaucht und hatte ihm sehr anschaulich und eindringlich von dem verdünnten Schoff erzählt. Gerade als die vielversprechenden Geräusche des ›Knochenbruchs‹ an sein Ohr gedrungen waren und er den Geschmack des Gebräus schon auf der Zunge hatte. Und als dem Bauern dann das dünne Gesöff die Kehle hinunter geronnen war, war das wirklich eine Enttäuschung gewesen. Der Schatten hatte wohl doch recht. Die Toraks verdünnten das Schoff und unten im Keller zechten die Geizhälse dann bis zum Umfallen. So etwas konnte auf Dauer nicht geduldet werden.
*
Der Torak-Schmied, der Kard eingestellt hatte, war anfangs natürlich mißtrauisch gewesen. Das hatte Kard nichts sonderlich überrascht. Ein Mensch als Schmied? Aber nach den ersten Gartenzaunscharnieren, Pflugscharen und Gülleschaufeln war der Meister überzeugt. Und mit welcher Kraft dieser kleine Mensch das Metall auf dem Amboss bearbeitete. Gar nicht schlecht.
Für sich selbst hatte der Junge als erstes eine Axt gefertigt, eine mit einem recht schweren Schneideblatt. Und sich freiwillig zum Holzhacken gemeldet, was dem Meister nur recht gewesen war. Noch bevor der eigentliche Tag in der Schmiede begann, stand Kard jeden Morgen nun im Hof und ließ die Axt auf die Holzstämme hinuntersausen. Die Sonne, sobald sie sich anschickte, ihr erstens Licht über die Hochebene und diese vergessene kleine Stadt zu schicken, wurde von Kards Schneide begrüßt. Der Junge gönnte sich ein kurzes Bad in den Strahlen, dann presste er die Lippen zusammen und schlug zu.
Wenn er dann später mit ähnlicher Verbissenheit die tägliche Arbeit verrichtete, glaubte der Meister zu sehen, wie die Glut der Esse dem Jungen, der seltsamerweise ohne Handschuhe arbeitete, direkt in die Arme kroch. Aber das musste ja eine Sinnestäuschung sein. Der Meister blinzelte zwei-, dreimal, schon war der Spuk vorbei. Und Kard lächelte ihn an. Mit diesen traurigen braunen Augen, die durch den Meister hindurch und in eine unbekannte Leere blickten.
Nachdenklich betrachtete Kard an diesem Abend den Ofengriff, den er gerade aus dem Abkühlbecken gezogen hatte. Das zerbrochene Gegenstück, das der Junge ihm gebracht hatte, lag neben ihm auf dem Amboss. Er drehte sich auf dem Absatz, so dass er nun den Griff um die Zange lockern konnte und den neuen Griff neben dem alten ablegen konnte.
Die Sonne war gerade untergegangen. Draußen vor den Fenstern der kleinen Schmiede war es bereits still geworden, die Bewohner saßen jetzt in ihren kleinen Hütten vor Tellern mit dünner Winxgrassuppe und tranken dazu ihr Schoff. Der Herbstwind, der hier am oberen Rand der Hochebene von Asch-by-lan nochmal richtig Schwung bekam, bevor er über die Kante der Hochebene hinunter in die Schwesterstadt Trok gezogen wurde, kündete bereits von der Kälte des kommenden Winters, die nun jede Nacht zunahm. Der Geruch von mitleidloser Feuchtigkeit und abgestandenem Rauch zog durch die Straßen der kleinen Stadt und erinnerte die letzten Bewohner, die durch die engen Gassen irrten, daran, sich möglichst schnell vor Goibas Kälte zu verstecken.
Der Junge, dessen Namen Benji war, saß neben der Esse und starrte fasziniert in die glühende Schlacke. Er hatte Kard geholfen, den Blasebalg zu bedienen, was den etwa Zehnjährigen offensichtlich doch einige Kraft gekostet hatte. Wenigstens war ihm dabei warm geworden, denn er hatte nur eine dünne Hose und ein dünnes Hemd an. Jetzt saß er recht zufrieden auf einem Schemel, sein Gesicht gezeichnet von einer glücklichen Erschöpfung, die man nur bei Kindern findet, die noch nicht fragten, wieso sie sich gerade so verausgabt hatten. Er nickt Kard anerkennend zu.
»Sieht genauso aus wie der alte. Das ist gut.«
Kard nickte stumm. »Ihr habt große Öfen!«
Benji nickte aufgeregt. »Ja, es sind sogar mehrere. Aber nur zwei funktionieren noch. Und mit den neuen Griffen, kann man sie wieder richtig schließen, dann reicht das Holz im Winter doppelt so lang, sagen die Govas.«
Der Junge kam aus dem Waisenhaus im Dunklen Wald. Kard kannte die Griffe, die er gerade schmiedete. Mit ihnen hatte er als Kind selbst dutzende Male die Ofentüren geöffnet und geschlossen. Zu seiner Zeit hatten sie im Winter drei Öfen geheizt. Damit wurde Wasser erhitzt, das in Rohren durch das ganze Waisenhaus floss. Ein Technik, die man sonst nur in den Häusern der Reichen fand und es war ungewöhnlich, dass man eine so aufwendige Konstruktion in einem einfachen Waisenhaus installiert hatte. Wieso, fragte sich Kard, ließ man die Waisen nicht einfach frieren? Haragor war nicht gerade dafür bekannt, dass es sich besonders um seine Kinder kümmerte.
»Das ist eine besondere Legierung. Die Govas waren sich gar nicht sicher, ob es in Truk eine Schmiede geben würde, die das herstellen kann.«
Der Junge hatte recht. Aber Wallas hatte Kard damals einiges beigebracht, was man in anderen Schmieden nicht lernte.
»Andere Metalle würden schmelzen oder sich wenigstens verbiegen, man braucht eine spezielle Legierung. Deswegen habe die Govas auch mich geschickt, ich hätte es dir sonst erklären können.«
Kard schaute den Jungen zweifelnd an.
»Legierung? Du kennst ja Worte! Bist du etwa auch ein Schmied?«
»Nein, das ist mir viel zu heiß. Ich habe es gelesen!«
Benji sah Kard triumphierend an und knetete ganz aufgeregt seine Finger.
»Gelesen?«
»Ja, in der Bibliothek gibt es Bücher über wirklich alles. Da habe ich nochmal nachgeschaut, bevor ich los bin. Und zu diesem Ofen gibt es eine eigene Bedienungsanleitung.«
»Eine was?«
»So ein Buch, wo alles beschrieben ist. Sicherheitsanweisungen. Beschreibung der Teile. Welchen Hebel man runterdrücken muss, damit die Rohre in den Schlafsälen mit heißem Wasser gefüllt werden. Und auch, aus welchem Material alles besteht.«
Kard nickte anerkennend. Ich erinnere mich an die Bibliothek. Sie lag direkt neben dem Trakt der Govas. Immerhin hatte er im Waisenhaus ja auch selbst das Lesen gelernt. Die Welt der Buchstaben hatte ihn allerdings nie wirklich fasziniert.
»Es gibt sogar Bücher über die Drachenkönige!«
Benji hatte geflüstert und schaute Kard jetzt erwartungsvoll an. Bücher über die Drachenkönige in einer Bibliothek der Govas? Kard glaubte, sich verhört zu haben. Der Kleine will hier wohl ein wenig angeben.
»Über die Drachenkönige?«
Benji nickte ganz aufgeregt und lächelte verschmitzt.
»Ja, ein bisschen versteckt in einem Buch über Steine. Es gibt Gestein, das durch Vulkane entsteht. Vulkane…« Benji senkte nochmals die Stimme, als ob eine der Govas hinter ihm stehen würde, »…Branubrabat…Drachenkönige!«
»Hm, ist ja interessant. Und die Govas lassen euch einfach so in die Bibliothek spazieren und alles lesen, was da steht?«
»Nein, das habe ich heimlich gemacht. Eigentlich dürfen wir nur da hin, wo die Schulbücher stehen. Rechnen und so.«
»Und da hast du mal so schnell nebenbei ein wenig in den anderen Büchern gelesen?«
»Nicht ganz! Aber ich weiß, wo der Schlüssel ist!«
Stolz schaute Benji Kard an.
»Der Schlüssel?«
»Der Schlüssel zur Bibliothek natürlich. Normalerweise ist immer eine der Govas dabei, wenn wir die Bücher holen. Aber wenn man den Schlüssel hat, kann man natürlich auch so rein.«
»Und jetzt laufen jede Nacht alle Kinder heimlich zwischen den Regalen herum?«
»Nur ich. Die anderen spielen lieber Grasball oder Verstecken. Die meisten interessieren sich nicht so besonders für Bücher. Bücher erinnert sie an die Schule und daran will keiner erinnert werden.«
»Wieviele seid ihr denn?«
Benji überlegte kurz, zählte mit den Fingern, seine Lippen bewegten sich stumm.
»Mit dem dicken Adrian sind wir siebzehn.«
Der dicke Adrian? Den kannte Kard sogar noch. Der Junge hatte damals mit zehn Jahren nur bis drei zählen können und die Spucke war ihm ständig aus dem Mund gelaufen. Was machte der noch im Waisenhaus? Normalerweise wurden die Kinder als Knechte an die Bauern oder Jäger gegeben, sobald sie kräftig genug dafür waren. Wieso hatten die Govas diesen dicken Klops, der soviel Suppe wie drei andere Kinder in sich hineinlöffelte, nicht einfach auf die Straße gesetzt? So wie sie es ihnen immer gedroht hatten, wenn einem der Kinder ein Missgeschick widerfahren war?
Siebzehn Kinder. Das waren nicht so viele. Zu meiner Zeit waren wir dreimal soviel gewesen.
Benji lächelte Kard vertrauensvoll an. Kard beneidete ihn irgendwie. In seiner Erinnerung war die Zeit im Waisenhaus geprägt von keifenden Govas und den Ellenbogen der anderen Kinder. Vertrauen war ein Gefühl, das Kard damals nur dem Feuer entgegengebracht hatte. Fast so wie heute. Aber es gab ja noch Madad. Als ob der Freund seine Gedanken gelesen hätte, stürmte der Cu in diesem Augenblick in die Schmiede.
»Papierfetzen jagen. Das ist vielleicht cool. Hier schau mal.«
Aus den Zähnen des Cus löste sich ein Stück Papier. Kard nahm es hoch und hob eine Augenbraue.
»Genau, da schaust du, oder?« Madad entblößte triumphierend alle Zähne.
Es war ein Flugblatt mit den anstehenden Hinrichtungen für das nächste Dadeugende, dem Ende der Arbeitswoche in Haragor. Ähnlich dem Flugblatt, wie es damals Gsam und seine Söhne gedruckt hatten. Damals, als Kard noch in die Lehre bei dem Torakschmied Wallas gegangen war, der ebenfalls zu dieser Gruppe gehört hatte. Ein paar verstreute Wesen, die sich Widerstand genannt und geglaubt hatten, sich mit einem Stück Papier gegen die Grausamkeit des Herrschers erwehren zu können. Nur ein Blatt Papier. Ohne Kommentar, ohne Unterschrift. Einfach nur die Liste. Aber nicht alle Wesen, die für die Hinrichtung bestimmt waren, waren, Toraks, was Kard verwunderte. Als Gsam, der Wirt des ›Knochenbruchs‹, die Flugbätter in Conchar gedruckt hatte, waren nur Toraks zum Tode verurteilt worden. Menschen hatten fast nichts zu befürchten. Wenn sie Pech hatten, mussten sie in die Minen als Zwangsarbeiter. Oder in den Kerker. Aber der Galgen war für die minderwertigen Halbriesen vorbehalten gewesen. Ein Grund, wieso der Widerstand sich hauptsächlich aus Toraks zusammensetzte.
Das schien sich inzwischen verändert zu haben. Auf der Hinrichtungsliste waren ebenfalls Menschen und Ichtos zu finden. Selbst auf das abgelegene Truk fiel also der tödliche Schatten Flanakans. Aber offensichtlich gab es auch hier eine Zelle des Widerstands, eine Gruppe von Menschen und Toraks und anderer Wesen, die sich der Willkür des Herrschers entgegen stellten.
Benji drängte sich neben Kard und schaute neugierig auf das Blatt.
»Sind ja fast nur Toraks. Die Govas meinen sowieso, dass Goiba froh wäre, wenn es ein paar weniger von ihnen geben würde.«
Kard schaute Benji an. Er wusste, dass er in seinem Alter und auch noch viel später genauso gewesen war. Was die Govas gesagt hatten, war nicht zu hinterfragen gewesen.
»Stell dir mal vor, Benji, du wärst ein Torak. Wie würdest du dich fühlen, wenn du so ein Liste siehst?«
»Ich, ein Torak?« Das helle, fröhliche Lachen des Jungen hallte durch die Schmiede, brach sich an den kalten Wänden und verschwand mit dem Rauch der Esse im Kamin. Zurück blieb ein Schweigen und die Blicke von Kard und Madad, die den Jungen traurig ansahen.
»Aber ich bin doch ein Mensch. Wie könnte ich denn ein Torak sein?«
»Dann stell dir eine Liste mit Menschen vor. Nur Menschen. Keine Toraks.«
»Es werden auch Menschen hingerichtet. Mörder und so.«
Kard zeigte auf das Blatt.
»Wegen Diebstahls eines Fasses Schoff.«
»Das kann man nicht so wirklich mit Mord vergleichen, oder?« Madad schaute Benji mit diesem tiefen, herzzerreißenden Hundeblick an.
»Schau mal, der ist erst knappe dreißig Jahre alt, für einen Torak ist der damit noch fast ein Kind.«
Benji schaute trotzig zurück. »Also die Govas sagen, dass das alles gerecht ist. Wer gegen Flanakan ist, ist gegen Tsarr, ist gegen Goiba. Und wer gegen die Götter ist, der ist des Todes. Ganz einfach.«
»Genau, ganz einfach. Und Goiba ist die einzige Göttin, und Branu ist ein Idiot, oder?«
Benji schaute den Gotteslästerer entsetzt an. In Kards Augen glimmte kurz eine Flamme auf, wahrscheinlich das Spiegelbild einer kurzen Eruption der Schlacke in der Esse. Dann wandte sich Kard ab und lenkte seinen Blick hinaus auf die Straße. Dort hatte die Nacht begonnen. Der Winter kündigte sich an. Zeit von Dunkelheit und Kälte.
Die Zeit Goibas.
*
Der Schatten lauerte im Halbdunkel und überblickte den Marktplatz von Conchar. Überall schlurften diese riesigen Toraks herum. Mussten die nicht irgendetwas arbeiten? Wie die sich bewegten. In Zeitlupe. Hatten die es nicht eilig, hatten die nichts zu tun? Wenn diese Viecher sprachen, klang es, als ob jede Silbe sich einzeln aus ihrer Kehle herausarbeiten musste. Boaaahääällllschsch. Das konnte doch niemand verstehen. Und diese kleine Augen! Wie bei Schweinen. Und genauso stanken auch! Und trotzdem waren die noch ganz gut gekleidet. Hatte der da hinten nicht sogar eine Goldkette um den Hals? Sicherlich so ein reicher Winxbauer. Der sein verdünntes Gesöff gegen überhöhte Preise an die Menschen verkaufte. Widerlich. Und dann diese großen Nasen. Die hatten wirklich große Nasen, diese Toraks. Riesige Riechkolben. Hässlich. Abgrundtief hässlich. Und liefen hier herum, als ob ihnen die Welt gehöre. Aber wartet nur ab, ihr Viecher, eure Zeit wird schon noch kommen, wartet nur ab.
Und dann dieser kreischende Ichto. Die schreiende Makrele. Konnte der nicht einmal seine Kiemendeckel geschlossen halten? Wir wissen ja langsam, dass du Fisch verkaufst. Du Fisch. Du dreckiger, stinkender Fisch. Du dummer, hässlicher Fisch. Fast so schlimm wie ein Torak. Geh doch zurück nach Ichtien, wo du herkommst. Zurück zu deiner dummen Königin. Dass Flanakan euch überhaupt hier nach Conchar reinläßt. Manchmal kann man die Entscheidungen des Herrschers nicht wirklich nachvollziehen. Ich könnte ganz gut ohne Fisch leben. Wer braucht schon Fisch? Hier in Conchar braucht keiner Fisch. Dann wäre der Gestank weg. Und diese Schreierei. Bleibt doch auf euren Inseln. Kann dieser Ichto jetzt endlich mal still sein, die Schreiende Makrele?
Und jetzt auch noch so ein kleiner Wahter. Wie kommt der denn hierher? Gibt’s nicht genug Nüsse im Dunklen Wald, du kleiner Fellhaufen? Bei denen kann man noch nicht mal die Augen sehen. Die führen doch etwas im Schilde. Bestimmt. Hinterhältige dumme, stinkende, kleine Biester. Das ist meine Stadt. Was wollt ihr hier? Meine Luft verpesten?
Der Herbstwind fegte über den Marktplatz. Die Händler hatten ihre Baldachine eingeholt und sich hinter ihren Wägen verschanzt. Die Einwohner Conchars, in ihre Mäntel gehüllt, waren mit Körben und Handkarren gekommen, um sich mit den Dingen des täglichen Bedarfs einzudecken. Das Angebot hier suchte in Haragor seinesgleichen. Natürlich gab es alles, was aus Winx herstellbar war. Von Schoff bis Zuckerwatte. Aus dem hohen Norden waren die Holz- und Erzhändler angereist. Ichtos boten viel Fischiges an. Alchemisten aus dem Erzgebirge verkauften Feuerwerkskörper und Aus-Blei-mach-Gold-Tinkturen. Govas und sogar einige Govans boten Furunkelsalben, Liebesgarantien, Herzensbrecher und diverse Mittelchen zur Antlitzverschönerung an. Selbst Vampyre und Fasachen waren zu sehen. Eine bunte Völkervielfalt, die friedlich umeinander stolperte auf der Suche nach Balsam für ihre unerfüllten Wünsche.
Ein Mann war neben den Schatten getreten. Es war eine geschützte Stelle, an der man sich ein wenig vor dem stetigen Wind verstecken konnte.
»Die Toraks strecken das Schoff, schon gehört?«
Der Mann sah den Schatten neugierig an.
»Echt?«
»Ja. Gestern war ich im ›Knochenbruch‹. Total dünnes Schoff.«
»Was suchst du denn im ›Knochenbruch‹? Ist doch eher eine Torak-Kneipe, oder?«
»Geschäfte. Wirklich dünnes Schoff. Sehr dünn!«
»Lass mich überlegen. Mein letztes Schoff hatte ich im ›Hustenden Hans‹. War eigentlich ganz lecker. Und der Wirt ist auch ein Torak.«
»Ist bestimmt schon eine Weile her.«
»Stimmt. Schon ein paar Tage.«
»Geh da nochmal hin. Ich wette, das Schoff ist da inzwischen auch dünner. Die Toraks wollen uns vergiften!«
»Mit dünnem Schoff?«
»Ganz genau, mit dünnem Schoff.« Die Stimme des Schatten war jetzt ein wenig schärfer geworden.
»Hör mal Kumpel. Kann das sein, dass du heute zu viel von diesem dünnen Schoff getrunken hast?« Der Mann klopfte dem Schatten gutmütig auf die Schulter. Der Schatten verschluckte sich daraufhin und hustete und spuckte eine Weile vor sich hin. Der Mann sah ihn besorgt an.
»Erste Vergiftungserscheinungen!«, bellte der Schatten.
»Sicherlich, Kumpel. Vergiftungserscheinungen, ganz bestimmt. Du, ich muss noch eine Bratpfanne holen. Ich geh da hinten mal zu dem Schmied. Schönen Tag noch.«
Der Mann verschwand in der Menge und ließ den Schatten zurück, der immer noch vor sich hin hüstelte.
Giftmischer, das sind sie. Toraks sind Giftmischer, jawohl.
*
Nach dem Tod des Oguls war die Trauer um Wallas von der Hoffnung aufgehellt worden, Antworten auf viele Fragen zu bekommen. Wer war er, Kard? Aber ohne das Minas-Schwert an seinem Gürtel hatte Kard bald angefangen, an allem zu zweifeln. Er, eine Schmiedemeister? Irgendwie lächerlich. Was hatte er denn bisher gemacht? Schaufelblätter, Gartenzäune. Oder mal einen Schlüssel gegossen. Dann hatte er mit Hilfe von Wallas das Minas-Schwert geschaffen. Er hatte die Klinge in die Lava gesteckt, na und? War jetzt auch nicht so schwer gewesen. Gut, dass ihm die Hände nicht verbrannt waren, war schon irgendwie seltsam gewesen, aber er hatte selbst eigentlich nichts dafür gemacht. Er hatte bisher immer nur das gemacht, was andere ihm gesagt hatten. Ein braver Waisenjunge. Immer hatte er schön den Göttern geopfert. Ein braver Lehrling eines angesehenen Schmiedes. Aber letztendlich war er ein Nichts. Ein braves Nichts.
Als sie vom Branubrabat aufgebrochen waren, hatte ihn noch die Frage nach seinen Eltern umgetrieben. Konnte die Beantwortung dieser Frage Licht in sein Dunkel bringen? Aber inzwischen hatte er aufgehört zu fragen. Welche Eltern gaben ihr Kind denn weg und brachten es in ein Waisenhaus? War er das Kind eines unüberlegten Augenblicks, unerwünscht, überflüssig? Oder diese seltsame Kraft, die ihm das Feuer verlieh. War sie vielleicht sogar der Grund, wieso man ihn weggegeben hatte? Warum noch die Frage nach seiner Herkunft stellen, wenn die Antwort doch nur sein konnte, dass er selbst für seine Eltern nur das Nichts gewesen war, als das er sich jetzt selbst fühlte.
Und dieses ganze Nichts-Sein machte ihn wütend, er wusste selbst nicht warum. Mit der Linken fest die Zange im Griff, mit der er das vierhundertdreiundachtzigste Küchenmesser seines Schmiedemeister-Daseins auf den Amboss drückte, mit der Rechten den schweren Hammer über den Kopf und dann rumms runter damit und mit aller Macht auf das glühende Metall hauen. Die Funken stoben und trafen auf seine nackten Unterarme, ohne irgendwelche Spuren dort zu hinterlassen. Und schon schwebte der Hammer wieder in der Luft und mit seiner ganzen Kraft flog das Eisen auf das Stück Metall, das eigentlich ein Messer werden sollte und nun wahrscheinlich als Löffel enden würde.
Und jetzt stand auch noch dieser dumme, kleine Junge mit seinen großen, fragenden Augen vor ihm. Ein Waisenjunge, wie er selbst. Aber mit dieser kindlichen Fröhlichkeit, dieser Unschuld und diesem Gottvertrauen. Kard würde ihm am liebsten links und rechts eine Ohrfeige verpassen.
Schau dich um, Benji, wo sind diese verdammten Götter? Sie helfen dir nicht, wenn du in Not bist, egal wieviel du ihnen geopfert hast. Sie sagen dir nicht, wer du bist, noch verraten sie dir, wer deine Eltern sind. Aber das willst du ja auch gar nicht wissen. Du dummer, dummer, dummer, kleiner Junge.
Benji starrte ihn immer noch entsetzt an, nachdem Kard gerade eben die Götter verspottet hatte. Die Müdigkeit im Gesicht des Jungen, dann dieses Nicht-Verstehen und der Schmutz, der sein Gesicht wie eine graue Patina bedeckte, all das ließ Kard plötzlich lachen. Hatte der Junge tatsächlich von der Gerechtigkeit der Govas, der Goiba-Priesterinnen Haragors, gesprochen?
»Die Govas, Benji, erzählen dir viel, damit du ihnen so wenig wie möglich Arbeit machst. Ich meine, was haben die davon, dass sie die ganzen Kinder durchfüttern? Die Govas können froh sein, wenn ein Bauer für euch eines Tages eine schöne Summe auf den Tisch legt, damit ihr ihm dann für eine dünne Winxgrassuppe die Ställe ausmistet. Das Wenigste, was sie daher von euch verlangen, ist der Respekt vor Goiba und ihren Schwestern und damit vor ihnen. Man stelle sich ein Waisenhaus vor, in dem die Kinder plötzlich täten, was sie wollten. Wo käme man da denn hin? Nein, die Govas geben euch Essen und ihr gebt ihnen Gehorsam und Respekt, ganz einfach.«
»Ganz einfach?«
»Ganz einfach.«
»Also, Herr Schmied, du magst ja mit dem Hammer umgehen können, aber von einem Waisenhaus hast du ja wohl keine Ahnung.«
Kard sah Benji verdutzt an. Madad war bei Benjis Worten erst aufgesprungen, jetzt hatte sich ein fröhliches Grinsen in seinem Maul breit gemacht.
»Yo, Mann, dieser Schmied, dieser Kard…«
Kard gab dem Cu ein Zeichen. Madad verstummte.
»Wieso glaubst du, du hergelaufener Waisenjunge, dass ich, Kard, keine Ahnung von einem Waisenhaus habe?«
»Weil es dort ganz und gar nicht so funktioniert, wie du gesagt hast. Die Govas sind nämlich einmal viel netter und dann machen sie doch mit uns ein Geschäft.«
»Ein Geschäft? Du meinst, die paar Argits, die die Bauern zahlen, wenn sie ein Kind auf ihren Hof holen?«
»Nein, doch nicht das. Damit verdienen sie tatsächlich nicht viel. Aber natürlich ist ein Waisenhaus letztendlich ein Geschäftsmodell.«
Verständnislos starrte Kard dieses dreckige, kleine Kind an, das ihn jetzt frech angrinste. Benji neigte sich vertrauensvoll zu Kard und flüsterte.
»Die Govas bekommen von jemanden Geld dafür, dass sie uns durchfüttern.«
»Du meinst die Opfergaben von den Gläubigen?«
»Nein, das nicht.« Benji schwieg kurz, schien zu überlegen und schaute Kard dann ins Gesicht. »Ich habe es selbst gesehen.«
»Was hast du gesehen?«
»Es gibt ein Buch, in dem sie alles hineinschreiben.«
»Was hineinschreiben?«
»Also, ich erzähle es euch jetzt. Aber ihr dürft das niemandem weitersagen, einverstanden?«
Kard und Madad nickten stumm.
»Ich hatte einmal Putzdienst im Büro der Großgova, der Obersten Gova, der Chefin, ihr wisst schon. Und bin dabei eingeschlafen. Lag unter dem Schreibtisch und träumte davon, wie ich im Sommer im See schwamm. Das Wasser war warm, ich ließ mich treiben und draußen war es doch in Wirklichkeit Winter. Im Traum sprang gerade ein Monster in den See und es machte einen Riesenplatsch und ich wachte auf und dann merkte ich, dass das in Wahrheit das Geräusch der Tür war und die Oberste Gova mit so einer reichen Dame reingekommen war. Dass sie reich war, habe ich an den Schuhen gesehen. Feinstes Tok-Rind-Leder mit Glitzersteinen und innen mit Faols-Fell gefüttert. Vielleicht eine Amazone, dachte ich erst, wegen des Faols-Fells. Ihr wisst bestimmt, dass Amazonen Faols essen?«
Kard und Madad nickten stumm, ohne zu widersprechen.
»Aber es war keine Amazone. Die hatte nämlich ein Kind dabei. Ihr wisst ja bestimmt auch, dass Amazonen Kinder essen, oder?«
Wiederum nickten Kard und Madad still.
»Eine Amazone konnte es also nicht sein. Wahrscheinlich dann eine Reiche aus der Stadt? Oder eine reiche Bäuerin mit ihren Sonntagsschuhen? Wie auch immer, diese Frau war im Waisenhaus, um ein Kind abzugeben. Das war wie eine Verhandlung! Wie, wenn man bei so einem kreischenden Ichto einen schönen Fisch kaufen will. Erst verlangen die hundert Argits und erzählen dir, was das für ein seltener und leckerer und einmaliger Fisch ist und letztendlich kriegst du ihn für einen halben Argit und es ist nur ein falscher Burla. Genauso war es mit dieser reichen Frau und der Obersten Gova. Dann einigten sie sich auf einen Preis und ich weiß noch genau, wie die Oberste Gova mehrmals betonte, dass die Frau diese Summe jährlich zahlen muss. Immer zum Jahresdadeugende. Wisst ihr wieviel?«
»100 Argits?«
»200 Argits?«
Benji ließ Kard und Madad ein Weile genüßlich zappeln.
»Tausend Argits. Im Jahr. Jedes Jahr. Immer wieder. Tausend Argits.«
»So ein Quatsch. Wer zahlt denn tausend Argits dafür, dass die Govas auf das Kind aufpassen?«
»Weiß ich nicht, ist mir auch egal. Die Oberste Gova hat aber alles in ein Buch geschrieben. Und die reiche Dame musste wohl unterschreiben. Habe ich natürlich nicht gesehen, ich lag ja unter dem Tisch. Aber ich habe das Rascheln von dem Papier gehört und dann, wie die Federn über das Papier kratzten. Und dann ging die Frau und das Kind blieb zurück. Die Oberste Gova hat das Buch wieder in die Bibliothek gebracht und die Kleine dann zu uns in den Schlafsaal. Da dachte ich erst, oh, so ein edles Fräulein, die wird jetzt hier aber bestimmt wie eine kleine Prinzessin behandelt. Aber war nicht. Wurde ganz normal behandelt. Bekam die gleiche dünne Winxsuppe. Ist genauso wie wir anderen. Ein ganz normales Waisenkind.«
»Ein ganz normales Waisenkind?«
»Genau. Wir wir alle. Versteht ihr?«
Kard und Madad schauten sich an. Und zuckten mit den Schultern.
»Dieses Kind, das Buch, dieses Geschacher. Das machen die Govas bei allen. Versteht ihr? Jemand bezahlt die Govas dafür, dass sie uns durchfüttern und auf uns aufpassen. Nicht nur bei der kleinen Prinzessin. Das war die Mona übrigens, ist jetzt eine gute Freundin von mir. Ich meine, unsere Eltern hätten uns doch auch einfach auf die Straße setzen können. Gibt doch sogar hier in Truk ein paar von diesen Straßenkindern, oder? In der Alten Stadt soll es ganz viele davon geben. Und in Conchar sollen sie ganze Stadtviertel kontrollieren, hat mal einer erzählt. Oder man verkauft die Mädchen an eine Goiba-Priesterin zum Opfern, versteht ihr?Aber es gibt auch genug Mädchen bei uns im Waisenhaus. Hätte man gut verkaufen können. Goiba hätte sich gefreut. Aber nein, man gibt sie in ein Waisenhaus. Das von Govas geführt wird. Statt sie Goiba zu opfern. Ist doch alles irgendwie seltsam, findet ihr nicht?«
Kard nickte. Jemand bezahlt dafür, dass die Kinder überleben, nicht umkommen, nicht geopfert werden? Diese Information sickerte ganz leise und langsam in die große Leere, die in ihm wartete. Jemand, wahrscheinlich die Eltern, sorgte dafür, dass das Kind überlebte. In seiner tiefen Dunkelheit erglomm plötzlich ein kleine Flamme, ganz winzig, kaum zu spüren.
»Ist ja interessant, Benji. Aber jetzt gehen wir mal schlafen. Ist schon spät.«
»Oh, darf ich hier bleiben. Super. Ist so schön warm hier.«
»Ja, bleib mal da.«
»Bist du denn noch nicht fertig mit den Ofengriffen?«
»Doch. Nein. Muss ich mir morgen nochmal anschauen.«
»Gut, ich bleibe gerne hier.«
Madad war bei den Worten des Jungen ganz still geworden. Was gar nicht seine Art war. Kard spürte den Blick seines Freundes, seine Neugier, seine Abenteuerlust. Er nickte ihm zu. Erstmal die Nacht abwarten. Denn er musste über die Dinge, die Benji gerade erzählt hatte, einmal gründlich nachdenken.
*
Die Sonne war inzwischen untergegangen und die Bürger Conchars hatten sich in ihre Hütten und Häuser zurückgezogen. Auch Tsarr, Oberste Priesterin von Goiba, hatte sich in ihre privaten Gemächer innerhalb der Schwarzen Burg zurückgezogen und bereitete sich auf die bevorstehende Aufgabe vor.
Flanakan mochte die Schergen haben, die ihm Informationen aus dem letzten Winkel seines Reiches zutrugen, Tsarr hatte ihre Obsidiankugel. Und damit eine direkte Verbindung zu allen Govas ihrer Sippe! Und das waren nicht wenige! Tsarr hatte in den letzten Jahrzehnten dafür gesorgt, dass in allen wichtigen Goiba-Tempeln des Reiches ihre Nichten und Großnichten als Oberste Priesterinnen ihren Dienst versahen. Selbst auf Amazonien und in Ichtien waren die Priesterinnen, was gerade bei den Halbkiemenatmern doch irgendwie wunderlich war, über mehrere Seitenlinien mit ihr verwandt. Die Anbetung und damit die Macht Goibas war fest in der Hand ihrer Familie. Leider war ihre einzige Enkeltochter vor einigen Jahren aus dem Leben geschieden, nachdem sich schon deren Mutter vorzeitig aus dem Staub gemacht hatte. Ärgerlich schluckte Tsarr die Erinnerung daran hinunter.
Tsarr stand vor einem Spiegel und blies sich eine störrige Locke, die ihr immer wieder über das Auge fiel, zum hundertsten Mal aus dem Gesicht. Gleich würde die magische Versammlung beginnen, da wollte sie einen guten Eindruck machen. Obwohl es ihr im Endeffekt natürlich gleichgültig war, was ihre Priesterinnen von ihr hielten. Sie war die Oberste Gova des Reiches, für Tsarr zählte nur Gehorsam. Aber diesen Gehorsam konnte sie natürlich nur einfordern, solange ihr der Respekt der anderen sicher war. Und dazu gehörte natürlich ein gewisses Aussehen. Niemand sah ihr an, dass sie dank der dunklen Magie von Goiba bereits über hundert Menschenjahre zählte, obwohl dass natürlich alle wussten. Sie war die Erste der Ersten und niemand sollte daran jemals zweifeln.
Der einzige, dem sie selbst Respekt entgegen brachte, war der Herrscher. Und das obwohl er ja ein Bastard war, in Tsarrs Augen ein ewiger Makel. Sie selbst konnte auf Generationen von reinrassigen Goiba-Priesterinnen zurückschauen, ihr Stammbaum reichte hinab bis zu den Anfängen des Reiches, als noch die Drachenkrieger die Herrschaft über Haragor innehatten. Aber Flanakan? Gezeugt aus einer zweifelhaften Verbindung zwischen dem Drachenkönig und seiner Liebschaft, einer ehrlosen Vampyrin. Flanakan war ein Bastard mit unreinem Blut. Aber von den Göttern mit der Magie Goibas und zudem mit der Magie Branus gesegnet, einer magischen Kraft, die der von Tsarr in nichts nachstand. Allein deswegen zollte ihm die große Tsarr Respekt und Anerkennung. Umso verwunderlicher, dass der Herrscher trotz seiner magischen Fähigkeiten die Vorboten des Unheils nicht sehen wollte.
Tsarr erinnerte sich an die vielen Katzenleichen, die sie im Tempel ihrer Göttin geopfert hatte. Dutzende hatte sie geschlachtet und immer wieder die Zukunft Haragors erfragt. Und jetzt war sich Tsarr sicher, dass das Unglück, dass mit der Sonnenfinsternis ihren Anfang genommen hatte, noch lange nicht überstanden war. Deutlich waren im Gedärm weitere Anzeichen einer sich ausbreitenden Branu-Krankheit zu erkennen. So als ob der heilige Vulkan Branubrabat selbst eine kurze Rauchwolke in den Himmel des Reiches katapultiert hätte, um seine baldige Explosion anzukündigen. Flieht, ihr Sehenden, denn die Macht der Zerstörung, die Macht des Feuers wird bald auf euch niederregnen, schien er sagen zu wollen. Aber nicht umsonst war Tsarr seit Jahrzehnten die Oberste Goiba-Priesterin. Die Macht Branus war nur mit der Macht Goibas zu kontrollieren. Und Goiba ließ sich nicht durch ein paar tote Ichtos herbeirufen und noch weniger dadurch, dass man ein paar Toraks erhängte oder zu Sklaven machte. Obwohl das natürlich schon ein wenig half. Es war die richtige Richtung, aber Flanakan erkannte nicht die Brisanz der Lage. Die wenigen Jungfrauen, die sie zur Sonnenfinsternis geopfert hatte, waren nicht falsch gewesen, aber Tsarr war sich sicher, dass die Gefahr noch lange nicht gebändigt war.
Die Obsidiankugel knackte und ein schwarzweißes Gekrissel breitete sich über die Oberfläche aus.
»Schwestern!«
Hätte die Kugel Geräusche von sich gegeben, hätte man ein vielstimmiges, zustimmendes Gemurmel gehört. Aber die Kugel selbst blieb stumm, das schwarzweiße Gekrissel war in sich zusammen gefallen und hatte sich in ein gleichmäßiges graues Pulsieren verwandelt. Die Kugel selbst war nur das Medium für die magische Übertragung von Gedanken. Alles spielte sich daher nur in Tsarrs Kopf ab.
»Schwestern, ich habe über hundert Katzen getötet.«
Erstauntes Gemurmel. Hundert Katzen. Ganz schöne Menge. Und das von der Obersten Gova von Goiba. Das sollte schon etwas heißen. Aber was eigentlich?
»Ich sehe die Ankunft einer gefährlichen Branu-Energie, so wie wir es damals alle bei der Sonnenfinsternis gesehen haben.«
Zustimmendes Gemurmel. Entsetzen. Abscheu. Dieser Branu. Oh Goiba steh mir bei.
»Unser großer Herrscher Flanakan…«
Lautes zustimmendes Gemurmel, teilweise begeisterte Schreie, ähnlich dem junger Mädchen, wenn der Barde Weiße Schlange zum ersten Mal auf die Bühne tritt.
»…sieht wie ich diese Gefahr…«
Tsarr, der diese Worte einfach so aus dem Mund geflossen waren, erkannte zwar, dass sie gerade ihre Sippe anlog, aber sie war sich sicher, dass die Zeit ihren jetzigen Worten zur Wahrheit verhelfen würde.
»…aber ich befürchte, dass die angesetzten Hinrichtungen nicht ausreichen werden…«
Mit einem Schlag Stille. Tsarr hatte ein wenig gehofft, dass die Brisanz der Lage nicht so offensichtlich zu Tage treten würde, aber die versammelte magische Familie hatte sofort verstanden, dass hier etwas Ungewöhnliches von statten ging.
»…wir werden den Großen Herrscher also mit allen Kräften unterstützen…«
Das Gemurmel setzte wieder ein.
»…irgendwo da draußen läuft immer noch dieser Junge herum…«
Wieder diese plötzliche Stille. Dass ihre Sippe aber auch immer sofort erkannte, wenn etwas im Busch war.
»Wir…«
Immer beruhigend, wenn man den anderen das Gefühl vermitteln, an der Entscheidung irgendwie beteiligt zu sein. Wobei eigentlich nicht klar war, wer mit dem Wir gemeint war. Tsarr und ihre Sippe, Tsarr und Flanakan oder alle zusammen?
»…müssen die Augen offen halten. Achtet darauf, ob ihr einem Jungen begegnet, der den giften Atems Branus verströmt. Schaut öfters in die Katzengedärme. Opfert zum Dadeugende mehr als üblich… für Goiba und unserem Großen Herrscher Flanakan.«
Die Nennung der Göttin und des Herrschers beruhigte die aufgeregte Gemeinde. Schon setzte wieder das sanfte Gemurmel ein.
»Und schaut euch nach Jungfrauen in euren Tempelbezirken um. Vielleicht brauchen wir sie bald wieder.«
Alles klar, Jungfrauenopfer waren schon immer Garantien für Goibas Segen gewesen.
»Goiba für immer.«
Goiba für immer. Immer, immer, immer. Langsam verabschiedeten sich die Govas Haragors aus der magischen Gedankenversammlung. Es war getan. Der Auftrag, den Jungen zu finden, war ausgesprochen worden. Es würde keine Stadt, kein Dorf geben, in dem ein Junge mit verdächtiger Branu-Aura unentdeckt bleiben würde. Auch wenn Flanakan das nicht angeordnet hatte, war es das Richtige. Das Richtige für das Reich, für Goiba. Für sie selbst.
Das sanfte Glimmen der Obsidiankugel war inzwischen erloschen und im privaten Gemach der Obersten Priesterin herrschte nun wieder magische Stille. Tsarr starrte noch eine Weile auf die glänzende Oberfläche der Kugel und konnte selbst in der Dunkelheit ihr verzerrtes Spiegelbild auf der Oberfläche erkennen. War es das Ritual, das sie immer ermüdet, oder wieso fühlte sie sich plötzlich so erschöpft? Oder sollte sich trotz des Zaubers die Müdigkeit des Alters bemerkbar machen? Aber sie hatte nicht alles, was ihr im Leben wichtig war, geopfert, um irgendwann in ihrem Leben sich dem Schicksal zu beugen. Niemals würde sie Branu oder einem seiner Gefolgsleute das Spiel übergeben.
*
Die Nacht war inzwischen weit fortgeschritten, der kalte Herbstwind fegte durch Conchars Gassen und die herumstreunenden Katzen wunderten sich, dass aus einem Haus laute Stimmen und fröhliches Gelächter erscholl. Der ›Rülpsende Roland‹ war bekannt dafür, dass er bis tief in die Nacht Menschen einen Rückzugsort vor den Mühen des Alltags bot.
Klaus schenkte dem Schatten noch einmal Schoff nach. Diese Person war ganz nach seinem Geschmack. Es tat so gut, wenn einer mal aussprach, was alle nur dachten. Diese Toraks waren Schoffpanscher! Ganz klar! Und dieses Gerücht, das seit einigen Wochen die Runde in Conchar machte, brachte ihm immer mehr Gäste. Die Idee, einfach die Nachbarkneipe zu übernehmen, so wie es der Schatten gerade vorgeschlagen hatte, war einfach genial. Denn der Wirt des ›Hustenden Hans‹, ein Torak natürlich, war erst gestern von den Wachen abgeführt worden. Und warum nicht seine eigene Kneipe, den ›Rülpsenden Roland‹ einfach erweitern? Er musste nur die Wand zwischen den beiden Schankräumen einreißen und schon hätte er doppelt so viel Platz.
»Und die Tür vom ›Hustenden Hans‹ einfach zunageln?«
Der Schatten nickte. »Besser noch zumauern. Diesen gewaltbereiten Toraks ist nicht zu trauen. Denen muss klar sein, dass sie hier nicht mehr erwünscht sind.«
Klaus lachte. Das wäre ja noch schöner, wenn sich ein Torak in seine Kneipe verirren würde. Er schaute in die Runde und alle Leute am Stammtisch schauten ihn aufmunternd an.
»Kein Schoff für Toraks hier!«
»Toraks müssen draußen bleiben!«
»Die sollen mal gefälligst ihr eigenes Gesöff trinken. Diese Panscher.«
Der ›Rülpsende Roland‹ war zum Bersten voll. Klaus stellte sich vor, wie viele Gäste es erst sein würden, wenn der Schankraum des ›Hustenden Hans‹ noch dazu kommen würde. Allerdings würde er dann noch ein paar Schankmädchen einstellen müssen, was ihm nicht so wirklich schmeckte. Aber es half ja alles nichts.
»Äh, aber ist das nicht illegal?«
Klaus schaute den Mann, der das gesagt hatte, mißbilligend an.
»Bist wohl ein Torak-Freund, oder was?«
»Nein, aber die Wachen…«
Der Mann konnte seinen Satz nicht beenden, denn der Schatten unterbrach ihn wütend.
»Die Wachen werden ja wohl kaum gegen einen unschuldigen Menschen vorgehen. Es ist das gute Recht eines Menschen, dass er alles Notwendige tut.«
»Äh, wie, das Notwendige…?«
»Mann, die Menschen haben Durst. Soll da diese Torak-Kneipe leer stehen. Das wäre doch vollkommen idiotisch.«
Der Schatten fing an, mit seinem Schoffkrug rhythmisch auf den Tisch zu hämmern, begleitet von Wir-haben-Durst-Rufen. Nach wenigen Augenblicken hatte die Welle die gesamte Kneipe erfasst.
»Wir haben Durst. Wir haben Durst. Wir haben Durst.«
Ein Chor durstiger Menschenmänner.
Dermaßen geeint, brauchte es nur wenig, um die Menge zu weiteren Taten aufzuwiegeln. Der Schatten nahm sich einen Vorschlaghammer, der wie zufällig an der Wand lehnte, was Klaus verwunderte, denn er konnte sich gar nicht daran erinnern, überhaupt einen Vorschlaghammer zu besitzen, und drückte ihn Klaus in die Hand. Der Wirt des ›Rülpsenden Rolands‹ stellte sich auf den Tisch, wobei er sich den Kopf an der Decke stieß, denn hier war ja alles nach Menschenmaß gebaut. Ein weiterer Grund, die nachbarliche Torakkneipe zu übernehmen, die entsprechend den Erfordernissen ihrer Gäste wesentlich geräumiger war. So stand er nun gebückt über der Schar des ihn aufmunternden Chors, den er seinerseits anfeuerte. Ein sich gegenseitig steigernde Geräuschkulisse.
Einen wilden Schrei ausstoßend stürmte Klaus dann noch vorne, sprang über die Köpfe seiner Trinkkumpanen hinweg und schwang den Hammer gegen die Wand. Dann war die Masse nicht mehr zu halten. Plötzlich hatten alle irgendwas in der Hand, sei es ein mitgebrachter Knüppel oder nur ein Schuh. Alle standen vor der Wand und prügelten wie wild darauf ein. Nach einer halben Stunde, die Ersten waren schon heiser, andere hatten erhebliche Handgelenkprobleme, löste sich der erste Stein.
Während Klaus wild schreiend die Wand bearbeitet, fiel sein Blick durch ein Fenster und der Wirt hielt in seinem Tun inne. Zwei Wachen näherten sich der Kneipe. Der Lärm, den sie beim Bearbeiten der Wand verursachte, musste wie dumpfe Donnerschläge in der dunklen Gasse widerhallen. Klaus sah die Männer Makrals schon die Schwerter ziehen. Aber der Schatten hatte sie auch bemerkt und war vor die Tür getreten. Er begrüßte die Uniformierten wie alte Freunde, die darauf hin ihre Waffen wieder ins Futteral steckten. Immer gut, wenn man die richtigen Leute kennt, dachte Klaus und schwang erneut den Vorschlaghammer.