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Erster Akt
Zweite Szene

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Sonntag abend

Melchior

Das ist mir zu langweilig. Ich mache nicht mehr mit.

Otto

Dann können wir andern nur auch aufhören! – Hast du die Arbeiten, Melchior?

Melchior

Spielt ihr nur weiter!

Moritz

Wohin gehst du?

Melchior

Spazieren.

Georg

Es wird ja dunkel!

Robert

Hast du die Arbeiten schon?

Melchior

Warum soll ich denn nicht im Dunkeln spazieren gehn?

Ernst

Zentralamerika! – Ludwig der Fünfzehnte! – Sechzig Verse Homer! – Sieben Gleichungen!

Melchior

Verdammte Arbeiten!

Georg

Wenn nur wenigstens der lateinische Aufsatz nicht auf morgen wäre!

Moritz

An nichts kann man denken, ohne daß einem Arbeiten dazwischen kommen!

Otto

Ich gehe nach Hause.

Georg

Ich auch, Arbeiten machen.

Ernst

Ich auch, ich auch.

Robert

Gute Nacht, Melchior.

Melchior

Schlaft wohl!

(Alle entfernen sich bis auf Moritz und Melchior.)

Melchior

Möchte doch wissen, wozu wir eigentlich auf der Welt sind!

Moritz

Lieber wollt′ ich ein Droschkengaul sein um der Schule willen! – Wozu gehen wir in die Schule? – Wir gehen in die Schule, damit man uns examinieren kann! – Und wozu examiniert man uns? – Damit wir durchfallen. – Sieben müssen ja durchfallen, schon weil das Klassenzimmer oben nur sechzig faßt. – Mir ist so eigentümlich seit Weihnachten … hol′ mich der Teufel, wäre Papa nicht, heut′ noch schnürt′ ich mein Bündel und ginge nach Altona!

Melchior

Reden wir von etwas anderem. —

(Sie gehen spazieren.)

Moritz

Siehst du die schwarze Katze dort mit dem emporgereckten Schweif?

Melchior

Glaubst du an Vorbedeutungen?

Moritz

Ich weiß nicht recht. – — Sie kam von drüben her. Es hat nichts zu sagen.

Melchior

Ich glaube, das ist eine Charybdis, in die jeder stürzt, der sich aus der Skylla religiösen Irrwahns emporgerungen. – — Laß uns hier unter der Buche Platz nehmen. Der Tauwind fegt über die Berge. Jetzt möchte ich droben im Wald eine junge Dryade sein, die sich die ganze lange Nacht in den höchsten Wipfeln wiegen und schaukeln läßt....

Moritz

Knöpf′ dir die Weste auf, Melchior!

Melchior

Ha – wie das einem die Kleider bläht!

Moritz

Es wird weiß Gott so stockfinster, daß man die Hand nicht vor den Augen sieht. Wo bist du eigentlich? – — Glaubst du nicht auch, Melchior, daß das Schamgefühl im Menschen nur ein Produkt seiner Erziehung ist?

Melchior

Darüber habe ich erst vorgestern noch nachgedacht. Es scheint mir immerhin tief eingewurzelt in der menschlichen Natur. Denke dir, du solltest dich vollständig entkleiden vor deinem besten Freund. Du wirst es nicht tun, wenn er es nicht zugleich auch tut. – Es ist eben auch mehr oder weniger Modesache.

Moritz

Ich habe mir schon gedacht, wenn ich Kinder habe, Knaben und Mädchen, so lasse ich sie von früh auf im nämlichen Gemach, wenn möglich auf ein und demselben Lager, zusammenschlafen, lasse sie morgens und abends beim An- und Auskleiden einander behilflich sein und in der heißen Jahreszeit, die Knaben sowohl wie die Mädchen, tagsüber nichts als eine kurze, mit einem Lederriemen gegürtete Tunika aus weißem Wollstoff tragen. – Mir ist, sie müßten, wenn sie so heranwachsen, später ruhiger sein, als wir es in der Regel sind.

Melchior

Das glaube ich entschieden, Moritz! – Die Frage ist nur, wenn die Mädchen Kinder bekommen, was dann?

Moritz

Wie so Kinder bekommen?

Melchior

Ich glaube in dieser Hinsicht nämlich an einen gewissen Instinkt. Ich glaube, wenn man einen Kater zum Beispiel mit einer Katze von Jugend auf zusammensperrt und beide von jedem Verkehr mit der Außenwelt fernhält, d. h. sie ganz nur ihren eigenen Trieben überläßt – daß die Katze früher oder später doch einmal trächtig wird, obgleich sie sowohl wie der Kater niemand hatten, dessen Beispiel ihnen hätte die Augen öffnen können.

Moritz

Bei Tieren muß sich das ja schließlich von selbst ergeben.

Melchior

Bei Menschen glaube ich erst recht! Ich bitte dich, Moritz, wenn deine Knaben mit den Mädchen auf ein und demselben Lager schlafen und es kommen ihnen nun unversehens die ersten männlichen Regungen – ich möchte mit jedermann eine Wette eingehen....

Moritz

Darin magst du ja recht haben. – Aber immerhin …

Melchior

Und bei deinen Mädchen wäre es im entsprechenden Alter vollkommen das nämliche! Nicht daß das Mädchen gerade … man kann das ja freilich so genau nicht beurteilen … jedenfalls wäre vorauszusetzen ...... und die Neugierde würde das Ihrige zu tun auch nicht verabsäumen!

Moritz

Eine Frage beiläufig —

Melchior

Nun?

Moritz

Aber du antwortest?

Melchior

Natürlich!

Moritz

Wahr?!

Melchior

Meine Hand darauf. – — Nun, Moritz?

Moritz

Hast du den Aufsatz schon??

Melchior

So sprich doch frisch von der Leber weg! – Hier hört und sieht uns ja niemand.

Moritz

Selbstverständlich müßten meine Kinder nämlich tagsüber arbeiten, in Hof und Garten, oder sich durch Spiele zerstreuen, die mit körperlicher Anstrengung verbunden sind. Sie müßten reiten, turnen, klettern und vor allen Dingen nachts nicht so weich schlafen wie wir. Wir sind schrecklich verweichlicht. – Ich glaube, man träumt gar nicht, wenn man hart schläft.

Melchior

Ich schlafe von jetzt bis nach der Weinlese überhaupt nur in meiner Hängematte. Ich habe mein Bett hinter den Ofen gestellt. Es ist zum Zusammenklappen. – Vergangenen Winter träumte mir einmal, ich hätte unsern Lolo so lange gepeitscht, bis er kein Glied mehr rührte. Das war das Grauenhafteste, was ich je geträumt habe. – Was siehst du mich so sonderbar an?

Moritz

Hast du sie schon empfunden?

Melchior

Was?

Moritz

Wie sagtest du?

Melchior

Männliche Regungen?

Moritz

M—hm.

Melchior

– Allerdings!

Moritz

Ich auch. – — – — – — – — – — – — – — – — —

Melchior

Ich kenne das nämlich schon lange! – schon bald ein Jahr.

Moritz

Ich war wie vom Blitz gerührt.

Melchior

Du hattest geträumt?

Moritz

Aber nur ganz kurz ....... von Beinen im himmelblauem Trikot, die über das Katheder steigen – um aufrichtig zu sein, ich dachte, sie wollten hinüber. – Ich habe sie nur flüchtig gesehen.

Melchior

Georg Zirschnitz träumte von seiner Mutter.

Moritz

Hat er dir das erzählt?

Melchior

Draußen am Galgensteg!

Moritz

Wenn du wüßtest, was ich ausgestanden seit jener Nacht!

Melchior

Gewissensbisse?

Moritz

Gewissensbisse?? – — – Todesangst!

Melchior

Herrgott …

Moritz

Ich hielt mich für unheilbar. Ich glaubte, ich litte an einem inneren Schaden. – Schließlich wurde ich nur dadurch wieder ruhiger, daß ich meine Lebenserinnerungen aufzuzeichnen begann. Ja ja, lieber Melchior, die letzten drei Wochen waren ein Gethsemane für mich.

Melchior

Ich war seinerzeit mehr oder weniger darauf gefaßt gewesen. Ich schämte mich ein wenig. – Das war aber auch alles.

Moritz

Und dabei bist du noch fast um ein ganzes Jahr jünger als ich!

Melchior

Darüber, Moritz, würd′ ich mir keine Gedanken machen. All′ meinen Erfahrungen nach besteht für das erste Auftauchen dieser Phantome keine bestimmte Altersstufe. Kennst du den großen Lämmermeier mit dem strohgelben Haar und der Adlernase? Drei Jahre ist der älter als ich. Hänschen Rilow sagt, der träume noch bis heute von nichts als Sandtorten und Aprikosengelee.

Moritz

Ich bitte dich, wie kann Hänschen Rilow darüber urteilen!

Melchior

Er hat ihn gefragt.

Moritz

Er hat ihn gefragt? – Ich hätte mich nicht getraut, jemanden zu fragen.

Melchior

Du hast mich doch auch gefragt.

Moritz

Weiß Gott ja! – Möglicherweise hatte Hänschen auch schon sein Testament gemacht. – Wahrlich ein sonderbares Spiel, das man mit uns treibt. Und dafür sollen wir uns dankbar erweisen! Ich erinnere mich nicht, je eine Sehnsucht nach dieser Art Aufregungen verspürt zu haben. Warum hat man mich nicht ruhig schlafen lassen, bis alles wieder still gewesen wäre. Meine lieben Eltern hätten hundert bessere Kinder haben können. So bin ich nun hergekommen, ich weiß nicht wie, und soll mich dafür verantworten, daß ich nicht weggeblieben bin. – Hast du nicht auch schon darüber nachgedacht, Melchior, auf welche Art und Weise wir eigentlich in diesen Strudel hineingeraten?

Melchior

Du weißt das also noch nicht, Moritz?

Moritz

Wie sollt′ ich es wissen? – Ich sehe, wie die Hühner Eier legen, und höre, daß mich Mama unter dem Herzen getragen haben will. Aber genügt denn das? – Ich erinnere mich auch, als fünfjähriges Kind schon befangen worden zu sein, wenn einer die dekolletierte Coeurdame aufschlug. Dieses Gefühl hat sich verloren. Indessen kann ich heute kaum mehr mit irgend einem Mädchen sprechen, ohne etwas Verabscheuenswürdiges dabei zu denken, und – ich schwöre dir, Melchior – ich weiß nicht was.

Melchior

Ich sage dir alles. – Ich habe es teils aus Büchern, teils aus Illustrationen, teils aus Beobachtungen in der Natur. Du wirst überrascht sein; ich wurde seinerzeit Atheist. Ich habe es auch Georg Zirschnitz gesagt! Georg Zirschnitz wollte es Hänschen Rilow sagen, aber Hänschen Rilow hatte als Kind schon alles von seiner Gouvernante erfahren.

Moritz

Ich habe den Kleinen Meyer von A bis Z durchgenommen. Worte – nichts als Worte und Worte! Nicht eine einzige schlichte Erklärung. O dieses Schamgefühl! – Was soll mir ein Konversationslexikon, das auf die nächstliegende Lebensfrage nicht antwortet.

Melchior

Hast du schon einmal zwei Hunde über die Straße laufen sehen?

Moritz

Nein! – — Sag mir heute lieber noch nichts, Melchior. Ich habe noch Mittelamerika und Ludwig den Fünfzehnten vor mir. Dazu die sechzig Verse Homer, die sieben Gleichungen, der lateinische Aufsatz – ich würde morgen wieder überall abblitzen. Um mit Erfolg büffeln zu können, muß ich stumpfsinnig wie ein Ochse sein.

Melchior

Komm doch mit auf mein Zimmer. In dreiviertel Stunden habe ich den Homer, die Gleichungen und zwei Aufsätze. Ich korrigiere dir einige harmlose Schnitzer hinein, so ist die Sache im Blei. Mama braut uns wieder eine Limonade, und wir plaudern gemütlich über die Fortpflanzung.

Moritz

Ich kann nicht. – Ich kann nicht gemütlich über die Fortpflanzung plaudern! Wenn du mir einen Gefallen tun willst, dann gib mir deine Unterweisungen schriftlich. Schreib mir auf, was du weißt. Schreib es möglichst kurz und klar und steck es mir morgen während der Turnstunde zwischen die Bücher. Ich werde es nach Hause tragen, ohne zu wissen, daß ich es habe. Ich werde es unverhofft einmal wiederfinden. Ich werde nicht umhin können, es müden Auges zu durchfliegen … falls es unumgänglich notwendig ist, magst du ja auch einzelne Randzeichnungen anbringen.

Melchior

Du bist wie ein Mädchen. – Übrigens wie du willst! Es ist mir das eine ganz interessante Arbeit. – — Eine Frage, Moritz.

Moritz

Hm?

Melchior

– Hast du schon einmal ein Mädchen gesehen?

Moritz

Ja!

Melchior

Aber ganz?!

Moritz

Vollständig!

Melchior

Ich nämlich auch! – Dann werden keine Illustrationen nötig sein.

Moritz

Während des Schützenfestes, in Leilichs anatomischem Museum! Wenn es aufgekommen wäre, hätte man mich aus der Schule gejagt. – Schön wie der lichte Tag, und – o so naturgetreu!

Melchior

Ich war letzten Sommer mit Mama in Frankfurt – — Du willst schon gehen, Moritz?

Moritz

Arbeiten machen. – Gute Nacht.

Melchior

Auf Wiedersehen.

Frühlings Erwachen

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