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Karo, meine Marke
ОглавлениеIch weiß nicht, ob Sie rauchen, was Sie rauchen, und ob Ihnen die Zigarette, die Sie rauchen, etwas bedeutet. Meine Marke ist Karo. Aber ich glaube nicht, dass diese Geschichte für Nichtraucher schwieriger zu verstehen ist.
Jahrelang kannte ich von der DDR nur das, was man vom Hörensagen kennt: Es gibt keine freien Wahlen, ein Korrespondent wird ausgewiesen, eine Tante bekommt keinen Kaffee, ein Flüchtling wird an der Mauer erschossen, die Autos sind schlecht und die Mitglieder des Zentralrats der DDR fahren bessere.
Das Land selbst lernte ich erst kennen, als ein Freund nach Westberlin übersiedelte, um dem westdeutschen Militär nicht dienen zu müssen, und ich einige Male im Jahr die Transitstrecke fuhr, um ihn zu besuchen.
Fast alle Leute, mit denen ich auf dieser Strecke unterwegs war, schimpften über das schlechte Essen in den Raststätten; aber sie mussten dort essen, weil es für Westdeutsche so billig ist. Das Essen ist nicht schlechter als in allen anderen Raststätten, die ich kennengelernt habe. Man schimpfte außerdem über die schlechten Straßen und die strikte Geschwindigkeitsbegrenzung auf 100 km/h; beides kümmerte mich nicht, ebenso wenig wie die angeblich besonders langen Wartezeiten an den Grenzübergängen, bei denen ich die Gelegenheit nutzte, die Beamten zu beobachten. Sie verhielten sich nicht anders als die Grenzer anderer Länder, die ich erlebt habe.
Wenn an den Raststätten gehalten wurde, hielt ich Ausschau nach einer Begegnung. Aber ich hatte gehört, dass einen das leicht in Schwierigkeiten bringen kann und traute mich deshalb nie, jemanden anzusprechen. Auch sah ich nie etwas, was das Gerücht bestätigt hätte, an diesen Plätzen würde eine rege Prostitution stattfinden, die für Westdeutsche ähnlich günstig ist, wie der Kauf von Zigaretten.
Eines Tages schlenderte ich durch einen Intershop, und zum ersten Mal fiel mir das reichhaltige Angebot an Ost-Zigaretten auf; aus Neugier, und weil ich nicht das Geld für eine Stange West-Zigaretten hatte, verlangte ich einige Schachteln aus dem einheimischen Angebot. Vom äußeren Eindruck der Schachteln ausgehend, nahm ich die ovale und filterlose Orient Exquisit von der zehn Stück in verschnörkelt gestalteter, gelber Verpackung mit herausziehbarer Einlage 2.40 kosten; Inka, hinter deren klingendem Namen sich die übliche, parfümiert duftende Filterzigarette mittlerer Stärke für 3.50 in aufdringlich rot-weiß-glänzender Verpackung verbirgt; und dann entdeckte ich noch eine schmucklose, schwarzweiße Packung, deren rote Schrift ich auf die Entfernung über die Ladentheke nicht lesen konnte und auf deren Namen am Regal auch nicht hingewiesen wurde.
»Karo?«, fragte die Verkäuferin, als sie nach mehreren Fehlgriffen das erwischte, worauf mein Finger deutete.
Der Name gefiel mir.
Ich klemmte die Tüte aus Packpapier unter den Arm und ging zum Wagen zurück. Auf dem Beifahrersitz legte ich mir alle Schachteln in den Schoß, um sie genauer zu betrachten.
Der junge Mann, mit dem ich nach Westberlin fuhr, wenn ich mich recht erinnere, ein Angestellter der dortigen Elektrizitätswerke, grinste, als er sah, was ich gekauft hatte.
»Das sind die Schlimmsten«, sagte er, als ich die Karo in die Hand nahm. Er selbst rauchte nicht.
Von Karo kosten 20 Stück 1.60, eine billige Sorte, wenn man bedenkt, dass die in der DDR gängige Inka mehr als das doppelte, und Orient Exquisit das dreifache kostet. Mir schien das ein Hinweis, dass der Fahrer mit seinem Urteil, das er von Bekannten übernommen hatte, recht haben könnte.
»Anzünden und wegwerfen!«, lachte er und erzählte eine Zigarettengeschichte von jemandem, der in Russland gewesen war; die russischen wären die allerschlimmsten.
Er gefiel mir nicht. Ich behielt die Schachtel weiter in der Hand.
Die Karoschachtel hat das Format der filterlosen Gauloises. Dieses eher robuste als elegante Aussehen wird bei Karo durch die fehlende Zellophanhülle noch verstärkt. Die Schachtel selbst ist aus grober Pappe, und es ist deutlich zu erkennen, dass an zwei Streifen geklebt wird, um aus der bedruckten Pappe eine Schachtel zu machen.
Das Grundmuster von Karo ist an allen Seiten, außer der unteren, wo nur steht, dass sie in den VEB Vereinigte Zigarettenwerke Dresden hergestellt wird, ein schwarzweißes Schachbrett, in das auf den Schmalseiten in einem weißen Rechteck mit der Ziffer 20 zu beiden Seiten das Wort Karo integriert ist, auf der Vorder- und Rückseite außerdem ein Wappen, das wie ein umgedrehter Helm aussieht, aus dem über einem schmalen Rand mit zwei fünfzackigen Sternen drei Tabaksblätter hervorblühen. Dieser Helm wird von zwei Panthern in die Mitte genommen, die jeweils eine Pfote auf das Gefäß gelegt haben und mit davon weggedrehten Köpfen und aufgerichteten Schwänzen die Flanken sichern. Name und Wappen der Zigarette sind rot.
Das alles erkannte ich in wenigen Sekunden, und obwohl nichts daran den westlichen Maßstäben von gelungener Gestaltung entspricht gefiel mir die Verpackung.
Aus Trotz und Verärgerung über die dumme Bemerkung des Fahrers öffnete ich die Karo also zuerst und als ich Minuten später den Stummel ausdrückte, hatte ich eine gute Zigarette geraucht. Noch ehe wir in Westberlin entfuhren, wusste ich, dass Karo unter den DDR-Zigaretten nicht nur die billigste, sondern auch die beste ist.
Obwohl in Westberlin die Dinge nicht so verliefen, wie ich es mir vorgestellt hatte, vergaß ich nicht mir auf dem Rückweg die erlaubte Menge meiner neuen Marke zu besorgen.
Als ich am Tresen des Raststättencafés danach fragte, sah man mich erstaunt an und schüttelte den Kopf. Erst auf eine weitere Frage erfuhr ich, dass ich es bei einem Kiosk auf einem zweiten Parkplatz auf der anderen Seite der Raststätte versuchen könnte.
Dort reihte ich mich in die kleine Schlange ein, die vor dem Schaufenster der Holzbude wartete. Auf diesem kleineren Parkplatz standen nur wenige westdeutsche Wagen, und auch drei der vier Personen, die vor mir an der Reihe waren, sprachen ostdeutschen Dialekt. Ich musterte sie unauffällig und versuchte, besondere Kennzeichen an ihnen zu entdecken. Sie waren alle in mittlerem Alter und sahen aus wie die meisten Leute mittleren Alters in Mitteleuropa aussehen.
»Drei Stangen Karo«, sagte ich; die beiden Stangen, die über das erlaubte Ausfuhrlimit hinausgingen, gehörten offiziell zu den beiden Nichtrauchern, mit denen ich unterwegs war.
»Ich weiß nicht, ob ich noch so viele auf Vorrat habe«, sagte die Verkäuferin.
Sie sah mir einen Moment forsch in die Augen und begann dann in einem Regal zu kramen.
»Wenn Sie möchten, können Sie sich eine Minute in den Garten setzen und einen Kaffee trinken!«, rief sie.
»Gute Idee«, sagte ich.
Im Innern des Kiosk stand ein junges Mädchen vom Tisch auf, wo sie im Halbdunkel in einer Zeitschrift geblättert hatte, kam ans Fenster und schaltete die Kaffeemaschine ein.
»Ist gleich soweit«, sagte sie.
Ich nickte und ging zu dem eingezäunten Stück Wiese, auf dem Tische, Stühle und Sonnenschirme aufgebaut waren. Ich zog meine längst geleerte Schachtel Karo, in die ich zum Spaß andere Zigaretten getan hatte, aus der Tasche.
Wie immer, wenn ich mich auf DDR-Gebiet aufhielt, war ich angespannt und wartete darauf, dass etwas passieren oder mich jemand ansprechen würde. Ich freute mich, einen Platz gefunden zu haben, wo keine Westleute waren und es deshalb leichter möglich wäre, etwas Typisches mitzuerleben.
»Sie sucht noch nach einer Stange«, sagte das Mädchen, als sie die Tasse vor mich auf den Tisch stellte.
»Die Marke wird hier selten verlangt. Unsere Leute rauchen das kaum.«
»Ich finde Karo prima, und außerdem ist sie die billigste.«
Sie zuckte mit den Schultern und streckte sich.
Ich war der einzige Gast.
»Was rauchen Sie denn?«, fragte ich.
»Dieselben, aber nicht, weil sie mir fremd sind«, sagte sie und lächelte mich spöttisch an.
»Woher wollen Sie denn wissen, dass ich aus dem Westen komme?«
»Man kennt sie, wenn man mit ihnen zu tun hat. Ich war früher in der Raststätte.«
»Sie mögen keine Westdeutschen?«
Sie überlegte, und ich sah ihr an, dass sie mich nicht verletzen wollte. Aber ehe sie irgendwas sagen konnte, rief die Frau aus dem Kiosk nach ihr.
Sie hieß Anna.
»Die Zigaretten«, sagte sie und ging hinüber.
»Kann ich noch einen Kaffee bekommen!«, rief ich ihr nach.
Sie ging sehr langsam; und ich bildete mir ein, sie wäre schneller gegangen, wenn sie nicht gewusst hätte, wie die Sonne durch ihren Kittel schien. Sie ging, als würde sie über einen Strand zum Meer gehen, im Gehen ihr Kleid öffnen und fallen lassen und ohne den Gang zu verändern ins Meer gehen.
In meiner Einbildung wurde ich bestärkt, als sie mir zuerst die Tüte mit den 55 Schachteln Karo brachte und dann noch einmal mit diesem Gang zum Kiosk ging, um mir den Kaffee zu bringen. Als sie mir die zweite Tasse servierte, fragte ich, ob ich sie einladen dürfte, und sie ging wieder und ich musste daran denken, dass Andy Warhol vor 20 Jahren sicher einen abendfüllenden Film über ihren Gang gedreht hätte.
»Geht’s noch weiter oder kann ich mich setzen«, sagte sie dann.
»Mal sehen«, sagte ich.
Sie ließ das ganze Päckchen Zucker in ihren Kaffee rieseln.
»Ich bin froh, wenn ich viel bedienen muss und aus dem muffigen Loch rauskomme. Die blöde Kuh mag es nur nicht, wenn ich mich von fremden Gästen einladen lasse. Aber heute kann sie nicht viel sagen, es gibt nichts zu tun.«
»Ihre Mutter?«
Sie kicherte und beugte sich über die Tasse, dass sich die blonden Haare wie ein Vorhang über ihr Gesicht schoben.
»Sie würde Ihnen das Gesicht zerkratzen. Sie behauptet sogar, dass sie nicht mal meine Mutter sein könnte. Aber sie ist wirklich eine dumme Kuh. Sie denkt, sie kann hier die Chefin spielen.«
Ich sah zum Kiosk hinüber. Sie tat, als würde sie uns nicht beobachten.
»Kann Ihnen das nicht Ärger einbringen, wenn Sie sich mit mir unterhalten?«, fragte ich.
Sie machte eine verächtliche Handbewegung.
»Wenn wir uns über die falschen Dinge unterhalten und die richtige Person zuhört; ist das bei euch vielleicht anders?«
»Vielleicht gibt es bei uns weniger falsche Dinge.«
»Vielleicht«, sagte sie und starrte dann auf die Tischplatte und ich fürchtete schon, sie gekränkt zu haben.
Mit einem Ruck hob sie den Kopf und schleuderte die Haare nach hinten.
»Wie ist es denn im Westen, kann man sich wirklich die ganze Welt kaufen?«
Sie sah mich dabei so direkt an, dass ich unsicher wurde. Sollte ich aus dem Satz etwas heraushören, was über die Frage hinausging?
»Natürlich«, sagte ich und streckte ihr meinen Arm mit der Armbanduhr hin.
»Wie bei uns.« Sie zeigte mir ihre.
Wir legten die Arme aneinander, um die Uhren zu vergleichen.
»Wasserdicht?«
»Was denkst du denn?« grinste sie.
»Sie bilden sich ein, sie hätten etwas, wenn sie ein gutes Auto haben oder all das andere Zeug.«
»Und hier denken sie das, wenn sie überhaupt eines haben. Es ist dasselbe. Mich kümmert das auch einen Dreck.«
Ich wunderte mich.
Ein Wagen der Volkspolizei fuhr im Schritttempo auf den Parkplatz und brachte mich auf andere Gedanken. »Soll ich besser verschwinden?«
»Wozu denn«, sagte sie ärgerlich, »wir tun doch nichts Verbotenes. Außerdem kenne ich die beiden.«
Sie winkte ihnen zu und die Beamten grüßten freundlich zurück. Dann gab der Fahrer Gas und steuerte auf den großen Parkplatz.
»Sie sitzen oft hier und bestellen etwas, verstehst du?« Sie tat, als würde sie mit dem Po wackeln und deutete mit dem Kinn zum Kiosk.
»Es ist immer das Gerede von solchen Leuten, das einen ins Gerede bringt. Aber sie ist damit schon einmal auf die Schnauze gefallen, weil man mir nichts beweisen konnte. Kann dir das nicht passieren? Ich kann dir gern einen Monat lang unser Neues Deutschland schicken, was meinst du, möchtest du darauf wetten?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Aber ich kann ausreisen«, sagte ich.
»Kann ich auch, nur in die andere Richtung.«
»In die Richtung kann ich auch.«
»Und hast du auch das Geld dazu?«
»Selten.«
Ich glaube, wir redeten beide von Dingen, über die wir uns überhaupt nicht unterhalten wollten.
Dann sagten wir nichts mehr und dann wurde sie zum Kiosk gerufen. Ich hätte längst wieder beim Wagen sein müssen.
»Sie ist einfach ein unglaublich dummes Weib«, sagte Anna, als sie wiederkam.
»Ich will nicht, dass du wegen mir Ärger bekommst, Anna.«
»Wenn das alles ist«
»Ist nicht alles; ich würde jetzt gern hier bleiben.« »Für eine Nacht oder länger?«
Sie erwartete nicht wirklich eine Antwort und wir lachten darüber.
»Ich bin leider mit irgendwelchen Leuten hier, die sicher schon vor Wut platzen.«
»Wenn sie zu lange auf dem Rastplatz herumstehen, ist es wirklich nicht so gut« Sie legte ihre Hand auf meine. »Schade, in einer Stunde bin ich hier fertig.« Durch die Luft gab sie mir einen Kuss, und zum Zeichen, dass ein richtiger Kuss doch zu viel wäre, verzog sie stöhnend die Augenbrauen und sah zum Kiosk. »Die würde gleich wieder was denken.«
Ich wollte sie gerade fragen, ob sie mich nicht zum Parkplatz begleiten könnte, als das Pärchen, an dessen Golf ich durch die Mitfahrzentrale geraten war, auf uns zu marschiert kam. Sie waren wütender als erwartet und keiften mich an, dass es eine Riesenunverschämtheit wäre, sie auf dieser blöden Raststätte so lange warten zu lassen und sie keine Lust hätten, nachts durch die DDR zu fahren und es schließlich ihr Auto wäre.
»Seid froh, wenn er überhaupt wieder mit rausfährt«, kicherte Anna.
Sie verstanden nicht, was daran so komisch war, und es dauerte eine Weile, bis ihnen dämmerte, dass sie ohne mich natürlich nicht die Grenze passieren könnten.
»Fünf Minuten«, sagte ich.
Sie drehten sich ohne ein weiteres Wort um. »Scheißdeutschland, alle beide«, sagte ich.
»Wann kommst du wieder?«
»In zehn Tagen. Ich bediene in einer Wirtschaft, zehn Tage Arbeit, zehn Tage frei.«
»Komm um halb sechs, du musst das Auto auf der anderen Seite abstellen und über die Brücke gehen.« »Gut«, sagte ich.
Wir gaben uns schnell einen Kuss.
Während der Heimfahrt lag ich mit geschlossenen Augen auf dem Rücksitz und sah mir immer wieder ihren irrsinnig langsamen und verführerischen Gang an.
Ich muss wohl nicht erklären, in welchem Zustand ich mich in den nächsten zehn Tagen befand. Von den 55 Schachteln Karo, von denen ich einige verschenkt hatte, war jedenfalls nichts mehr übrig, als ich wiederkam. Ich sah sie schon von Weitem auf dem leeren Parkplatz stehen. Ich hatte mich um eine halbe Stunde verspätet.
Sie stand mit gespreizten und durchgedrückten Beinen am Zaun gelehnt, hielt in der einen Hand eine Zigarette und in der anderen eine kleine rote Handtasche, die sie zwischen den Beinen baumeln ließ.
Wir umarmten uns. Sie flüsterte etwas, das ich zwar nicht verstand, dessen Klang mir aber gefiel.
Wir nahmen uns an der Hand und spazierten auf einem Feldweg zu dem Dorf, wo sie wohnte. Die Dächer waren einige hundert Meter weiter zu erkennen.
Ich hatte mir einen Wagen geliehen, und sie freute sich, dass wir diesmal mehr Zeit hatten.
Das Wetter war strahlend. Im Gehen riss ich Mohnblumen vom Feldrand und schenkte sie ihr.
Sie erzählte, dass sie schon wieder Karo besorgt und für mich drei Stangen beiseitegelegt hätte, denn seit meinem Kauf vor zehn Tagen würde die Marke erstaunlicherweise viel öfter als sonst verlangt. Und bei jedem Kauf hätte sie an mich denken müssen.
Am Morgen hatte sie von der Kunstakademie in Ostberlin einen Brief bekommen, dass sie abgelehnt war. In Ostberlin war sie aufgewachsen. Als sie zwölf war, trennten sich ihre Eltern, weil es ihren Vater, nachdem er wegen geringfügiger Schwarzarbeit zu einer hohen Geldstrafe verurteilt worden war, aus der Bahn geworfen hatte und er unerträglich geworden war. Zusammen mit ihrem Bruder, der an der Tankstelle der Raststätte arbeitete, wurde sie dann in dem kleinen Dorf bei der Großmutter abgegeben.
Jetzt war sie 19 und bekam wieder Sehnsucht nach Ostberlin, und wenn es mit der Akademie geklappt hätte, wäre alles perfekt gewesen.
Das Haus ihrer Großmutter war eine schmale und längliche Baracke aus Stein. Der Putz blätterte an vielen Stellen ab. Vor den Fenstern standen Kästen mit blühenden Blumen.
Anna ging zuerst allein hinein. Als sie wiederkam, legte sie den Zeigefinger an den Mund und nahm mich bei der Hand. Wir schlichen durch den dunklen Gang, in dem es nach gekochtem Gemüse roch, vorbei an einer Tür, hinter der leise geschnarcht wurde, in ihr Zimmer.
»Ist besser so«, sagte Anna, »sie macht sich immer viel zu große Sorgen.«
Ihr Zimmer war spärlich möbliert und die Möbel waren alt. Es sah aus wie mein Zimmer und wie das vieler meiner Freunde in Westdeutschland. Es war nichts Besonderes darin, auf den ersten Blick nichts Persönliches, außer einem Bild, an dem mich die geometrische Musterung, in der sich undeutlich Menschen abzeichneten, an ein Bild von Robert Delaunay erinnerte. Es war nicht von ihr.
»Willst du ein Bier?«, fragte Anna.
Aber schon im nächsten Moment lagen wir auf dem Bett. Und dort war keine Spur mehr von dieser Unsicherheit, die sich durch unsere Unterhaltung gezogen hatte, weil wir beide ein wenig misstrauisch gewesen waren, dass sich die Intensität der ersten kurzen Begegnung nicht wiederholen lassen würde.
Es war das schönste Zusammensein, das ich je mit einer Frau hatte; vielleicht genügt das als Erklärung für mein späteres Verhalten.
Als wir keine Kraft mehr hatten, war die Sonne untergegangen und das Zimmer dunkelgrau geworden. Mit zitternden Beinen setzten wir uns an den Tisch. Anna zündete uns zwei Karo an und öffnete zwei Flaschen Braustolz. Wir waren selig. Wir schlugen die Flaschen aneinander und ich war so ausgetrocknet, dass ich auf den ersten Zug die halbe Flasche trank.
»Kennst du Die Biertrinker von Marcel Duchamp?«, fragte ich sie.
»Ist das diese wahnsinnig hohe Rechnung?«
»Ja«, sagte ich und wir lachten, tranken unsere Flaschen leer und sie öffnete gleich zwei neue.
Braustolz ist ein ausgezeichnetes Bier. Ich wagte noch nicht zu sagen, dass sie mir einen Kasten besorgen sollte, weil ich befürchtete, sie könnte mich für einen von denen halten, die eine Schwäche für ein fremdes Land, seine Menschen und Produkte haben, die soweit geht, dass sie einfach alles mögen, was mit diesem Land zu tun hat, und wenn es noch so schlecht und dumm ist.
Ich drehte die Flasche in der Hand und besah mir das Etikett genauer.
»Ich besorg dir schon einen Kasten«, sagte sie und wir lachten, weil wir beide wussten, dass sie es nicht zufällig gesagt hatte.
Sie stand auf, schlüpfte in den Unterrock, streifte den BH über und setzte sich mit dem Rücken zu mir auf meinen Schoß, damit ich die Häkchen schloss.
Dann setzte sie sich wieder auf ihren Stuhl, nahm einen Schluck, fuhr sich durchs Haar, atmete kräftig aus, brannte sich eine Karo an und legte die Beine auf den Tisch.
Der Unterrock rutschte langsam auf die Hüften hinunter.
Sie sah so wundervoll aus wie sie war und am liebsten hätte ich sie so wie sie war auf meine Arme genommen und zu meinem Kofferraum getragen.
In Gedanken fluchte ich wieder auf diese elende Teilung Deutschlands.
»Was machst du, wenn du nicht arbeitest?«, fragte ich sie.
»Nichts Besonderes, ausgehen, fernsehen, Musik hören, lesen, mit Großmutter reden, meinen Bruder und seine Frau besuchen, durchs Dorf gehen, über die Felder, meine Freundinnen besuchen, rauchen, trinken.«
»Hast du keinen Freund?«
»Nicht so richtig. Und du?«
»Auch nicht mehr so richtig.«
Wir grinsten uns an, aber das Thema interessierte nicht weiter.
»Du hast das Malen vergessen«, sagte ich.
»Nein, das alles ist das Malen. Und du? Macht man bei euch was anderes?«
»Nein, nur dass das alles bei mir das Schreiben ist.« »Was schreibst du?«
Ich zuckte mit den Schultern.
»Einen Roman«, sagte ich, »wie einer ein Mädchen aus der DDR …«
Es kam schlecht an. Vielleicht dachte sie sogar, ich wäre wirklich nur hier, um etwas darüber schreiben zu können. Es gibt diese Typen, aber ich habe das nie gemacht. »Blödsinn«, sagte ich entschuldigend.
»Schon gut«, sagte Anna.
»Zeigst du mir Bilder?«
»Sind alle in Ostberlin.«
»Schade, ich dachte in diesen Schachteln in der Ecke sind sie.«
»Das sind Kleider von meiner Schwägerin, vielleicht gefällt mir was.«
Sie ging auf die Toilette und ich besah mir währenddessen ihre Bücher. Es waren nicht sehr viele, die Hälfte davon handgebundene und maschinengetippte Durchschlagblätter, Samisdat-Ausgaben, von denen ich bisher nur gehört hatte, und Bücher aus dem Westen, darunter eines von Thomas Brasch, der vor einigen Jahren aus der DDR ausgewiesen worden war. Ich kannte es und schlug die Stelle auf, wo er schreibt, dass er das, was er haben will, nicht kriegen kann, und was er kriegen kann, ihm nicht gefällt. Ich hatte diese Stelle damals angestrichen, und auch in diesem Buch war sie markiert. »Ist es nicht gefährlich, diese Privatausgaben offen herumstehen zu lassen?«, fragte ich, als sie wiederkam. »Doch, aber mich reizt eben die Gefahr.«
Sie machte sich über mich lustig.
»Und diese Bücher aus dem Westen? Wie bist du denn an die gekommen?«
»Man bekommt alles Mögliche, was man eigentlich nicht bekommt«
»Diese Stelle in dem Buch von Brasch habe ich übrigens auch angestrichen.«
»Jeder streicht sie an.«
Sie öffnete zwei neue Flaschen Bier.
»Oder möchtest du lieber amerikanischen Whiskey?« »Schon gut, hören wir auf damit.«
Wir küssten uns und dann stand sie auf, zog eine Schallplatte aus dem Regal und ging mit ihr ans Fenster, um nachzusehen, ob es die richtige war.
Es war eine Aufnahme mit dem Reinhard-Walter-Trio, und Schlagzeug, Bass und Piano, das der Sänger Reinhard Walter selbst spielte, machten einfachen und rauen Jazz, der unsere Stimmung verstärkte. Mir schien es, als hätte sie ihr Zimmer nach dieser Musik eingerichtet.
Sie legte ihre Füße in meinen Schoß und eine Schallplattenseite lang taten wir nichts anderes als zuzuhören, und es war doch, als würden wir uns unterhalten.
»Malst du ein Bild für mich, das ich mitnehmen kann?«, fragte ich Anna.
Sie reagierte nicht und ich dachte schon, sie wäre zu müde zu irgendwas, als sie plötzlich aufsprang, das Fenster öffnete und sich Unterrock und BH herunterriss. Sie setzte sich aufrecht in den Stuhl, sodass ihr Kopf im Profil wie ein Scherenschnitt im Fenster erschien; sie legte einen Arm genau senkrecht an den Hinterkopf und öffnete dann langsam ihre Hand, bis sich die Blüte der Blume aus ihrem Kopf entfaltet hatte.
Das Bild war fertig und blieb stehen, und ich hörte ihren Atem, weil es sehr schnell passiert war.
Ein geringer Teil war zu sehen; was sich im Fenster abzeichnete, ein Schimmer an der Schulter, ein Glanz auf den Oberschenkeln. Der größere Teil des Bildes lag im Dunkeln. Ich stellte mir vor, was darauf zu sehen war.
»Es heißt Abschied«, sagte ich, als ich wieder sprechen konnte und einen Blick auf die Leuchtziffern meiner Armbanduhr getan hatte.
Es war Zeit für mich, das Gebiet der DDR wieder zu verlassen, wenn wir keinen Ärger riskieren wollten.
Wir zogen uns an, schlichen hinaus und über den Feldweg gingen wir langsam auf die Lichter der Raststätte zu.
»Weißt du was«, sagte ich, »ich bleibe hier. Die Zigaretten sind gut, das Bier ist gut, und du bist auch nicht schlecht.«
»Hier ist alles nicht schlecht, merk dir das. Aber heiraten müssen wir.«
»Sozialismus, und dann noch heiraten.«
»Du reaktionäres Kapitalistenarschloch.«
Sie schlug mir in den Magen, und es begann eine Rangelei, die auf dem Schotter des Feldwegs endete. Es dauerte eine Weile, bis wir endlich zur Raststätte kamen.
Am Eingang des Restaurants blieben wir stehen, ich wischte ihr etwas Dreck aus dem Gesicht.
»Wir sitzen hier immer, weil sie am längsten geöffnet haben.«
»Trinken wir noch einen Kaffee«, sagte ich und wollte hineingehen.
Sie hielt mich zurück.
»Du kommst nicht mit, ist besser so, ist einfach zu spät und zu leer.«
Wir verabschiedeten uns.
Ich ging über die Brücke zu meinem Wagen auf der anderen Seite der Autobahn. Oben auf der Brücke drehte ich mich unter einer Laterne noch einmal um.
Sie stand immer noch draußen. Wir winkten uns zu und dann ging ich weiter. Es war völlige Stille. Ich stieg in den Wagen, drehte das Fenster herunter und hörte, wie die Tür des Restaurants zufiel.
Als ich zwei Tage später auf der Rückreise in den Westen wieder vorbeikam, räumte die Frau, mit der Anna am Kiosk arbeitete, gerade die an die Bude gelehnten Reklameschilder auf. Anna war nicht zu sehen.
»Ist Anna im Kiosk?«, fragte ich sie, nachdem ich höflich gegrüßt hatte.
»Nein«, sagte sie, ohne mich zu beachten.
»Wo ist sie denn?«
»Weiß ich nicht.«
»War sie nicht hier?«
»Nein.«
»Ist sie krank?«
»Sie hat gekündigt.«
»Was hat sie? Warum hat sie gekündigt?«
»Was geht Sie das an?«, sagte sie und starrte mich misstrauisch an.
Ich drehte mich um und lief ins Dorf. Ich klopfte an die Tür der Baracke, und als sich nicht gleich etwas rührte, schlug ich mit der Faust dagegen, bis ich hörte, dass jemand kam.
Die Haustür ging langsam auf. In dem Spalt, den die Sicherheitskette zuließ, tauchte eine Kopfhälfte ihrer Großmutter auf.
»Guten Tag«, sagte ich, »Sie sind sicher Annas Großmutter.«
»Ja, was wollen Sie?«
Ich nahm mich zusammen, ruhig zu bleiben.
»Ist Anna zu Hause? Ich bin ein Freund von ihr.« »Nein«, sagte sie und wollte die Tür wieder schließen. »Sagen Sie mir bitte, wo sie ist, ich bin ein guter Freund«, sagte ich schnell.
»Sind Sie der Mann aus ...«. Sie deutete mit dem Kopf nach drüben.
»Ja, wo ist sie denn?«
»Anna ist in Ostberlin, soll ich Ihnen ausrichten.« »Aber die Akademie hat sie doch abgelehnt.«
»Nein, sie ist angenommen worden. Hat sie Ihnen das nicht erzählt?«
»Sie hat erzählt, dass sie nicht angenommen worden ist, ich bin mir ganz sicher. Kann ich nicht reinkommen?«
»Die Anna ist angenommen worden.«
»Bitte, Sie müssen es mir sagen, wenn etwas passiert ist. Hat sie Ärger bekommen? Ist sie abgeholt worden?«
»Von wem soll sie denn abgeholt worden sein? Warum denn?«
Ich hätte sie am liebsten angeschrien.
»Weil sie sich mit mir getroffen hat. Sie müssen es mir sagen, dann kann ich ihr helfen, verstehen Sie?«
»Sie ist in Ostberlin. Gehen Sie jetzt, es ist nicht gut, wenn man Sie hier sieht.«
»Sie ist also doch abgeholt worden, weil man sie mit mir gesehen hat! Wo ist sie? Sagen Sie es endlich!«
Ich stieg eine Stufe höher. Sie schlug sofort die Tür zu. »Anna ist nichts passiert, sie ist in Ostberlin! Gehen Sie endlich, es ist nicht gut, wenn man Sie hier sieht!« rief sie durch die Tür.
»Haben Sie ihre Adresse?«
»Nein«, sagte sie, schon am anderen Ende des Flurs.
Ich lief zur Rückseite des Hauses, klopfte an ihr Fenster und rief ihren Namen, aber es zeigte sich niemand. Ich presste mein Gesicht an die Scheibe und sah durch den Vorhang, dass ihr Bücherregal leer war. Ich konnte nichts entdecken, was auf ihre Anwesenheit oder eine Verhaftung hingedeutet hätte.
Langsam ging ich zum Wagen zurück. Ich war verzweifelt. Ich glaubte nichts von alldem.
Ich erinnerte mich an die Kartons, die verschnürt in der Ecke gestanden hatten. Und warum war Anna guter Laune gewesen, das war man nicht, wenn man unbedingt nach Ostberlin an die Akademie wollte und gerade die Ablehnung bekommen hatte. Aber sie war doch nur guter Laune gewesen, weil ich wiedergekommen war. Und sie hatte keinen Grund, mir nicht zu sagen, dass sie nach Ostberlin gehen würde.
Wie unter Schock saß ich im Auto und starrte vor mich hin, bis ein Wagen der Volkspolizei neben mir hielt und der Beamte mich fragte, ob er mir behilflich sein könnte.
»Alles in Ordnung«, sagte ich.
Einige Wochen später, als ich inzwischen noch mehrmals beim Haus ihrer Großmutter gewesen war, in der Hoffnung, Anna dort wieder vorzufinden, und ich außerdem ebenfalls ohne Erfolg in Ostberlin nach ihr geforscht hatte, läutete es gegen neun Uhr morgens bei mir zu Hause in Westdeutschland. Ich riss die Tür auf und hatte einen Ausweis vor der Nase.
Es waren zwei Polizisten in Zivil.
Ich hatte keinen Grund, sie nicht hereinzulassen und hielt es für besser, nicht auf einem Hausdurchsuchungsbefehl zu bestehen.
Noch ehe der ältere Beamte mir die erste Frage stellte, sah er auf dem Tisch eine Schachtel Karo, nahm sie in die Hand, wog sie, als hätte ihr Gewicht eine Bedeutung, musterte mich, und entdeckte das Reklameschild an der Wand, das ich vom Kiosk mitgebracht hatte.
Er las es laut vor.
»Auch das Bier der DDR ist das beste Bier. Braustolz.«
»Stimmt«, sagte ich.
Und dann sagte ich nichts mehr, bis ich einen Anwalt neben mir hatte.
Oft klingt die Wahrheit wie eine Lüge. Wir wissen nicht, ob wir mit dieser unwahrscheinlichen Geschichte durchkommen werden.