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ОглавлениеAjith Nair lehnte sich zufrieden zurück in den dicken Polster und streckte die Beine aus. Er verspürte nicht den geringsten Jetlag, und das Essen in dem von einem Nepalesen geführten Restaurant, von dem aus sich ihm ein schöner Blick auf den Charles River bot, hatte hervorragend gemundet. Von den vegetarischen Momos in Tomatensauce hatte er sogar noch eine Portion nachbestellt.
Sein Gegenüber war da weitaus weniger entspannt. Kein Wunder, dachte er. Sein Besuch war R. S. Murugan schließlich erst einen Tag vor Ajiths Abflug angekündigt worden, und in dem Telefonat waren nur einige wenige Eckdaten genannt worden: Wann genau Ajith am Flughafen Boston abzuholen sei, dass der ältere Bruder ausdrücklich eine persönliche Abholung wünsche und dass Ajith angemessen, also in einem ordentlichen Hotel, aber unter falschem Namen, unterzubringen sei. Mehr nicht. Murugan hatte immer nur yes und of course gemurmelt. Dabei hatte er vermutlich an nichts anderes denken können als an die wenig erfreuliche Perspektive, wegen des überraschenden Besuchs aus Chennai alle möglichen Termine schleunigst absagen zu müssen. Ohne Wenn und Aber. Egal, wie wichtig sie auch sein mochten.
Während des dreigängigen Menüs hatten sie nur belangloses Zeug geplaudert. Wie es den Eltern gehe, was die Kinder so trieben (Ajith hatte keine, weshalb sich das Thema rasch erledigt hatte) und wie hoch der Benzinpreis in Indien respektive in den USA derzeit sei, die übliche Palette eben. Wenn Murugan sich auch rechtschaffen bemühte, Interesse an der momentanen Situation in seiner ehemaligen Heimat zu bekunden, entging Ajiths geschärften Sinnen nicht, wie hektisch die Blicke des Brokers waren, wie fahrig seine Bewegungen. Ständig nickend und lächelnd vermied er tunlichst die eine, die einzig interessante Frage: jene nach Ajiths Auftrag. Das hätte schon beim Besuch eines nahestehenden Freundes als unhöflich gegolten; wie viel mehr galt das erst für ihre Beziehung. Die gar keine war, in der engeren Bedeutung des Wortes. Oder konnte man es als eine Art indirekter Verwandtschaft bezeichnen, wenn der ältere Bruder über ihnen beiden als überdimensionaler Scheinwerfer strahlte, als Fixstern am Firmament? Ein Stern, der alles sah und über allem wachte. Immerzu präsent, doch von den Menschen erst wahrzunehmen, wenn die Dunkelheit hereinbricht.
Nachdem der Besitzer des Lokals höchstpersönlich den Kaffee serviert hatte, fand Ajith es an der Zeit, zum geschäftlichen Teil überzugehen.
„Ich soll dir von unserem älteren Bruder die besten Grüße ausrichten. Wie man hört, läuft bei dir geschäftlich ja alles äußerst zufriedenstellend.“
Wie man hört … Es konnte nicht schaden, von Anfang an klarzustellen, wer die Kontrolle innehatte. Egal, wie weit die amerikanische von der indischen Ostküste entfernt war.
In Murugans Gesicht zuckte ein kleiner Muskel. Ganz kurz nur, aber Ajith registrierte es mit Wohlgefallen.
„Ich bedanke mich“, sagte der andere. Es klang, als machte seine Stimme dabei einen tiefen Bückling. „Und was die Geschäfte angeht, bin ich in der Tat sehr zufrieden.“
„Ja“, bestätigte Ajith mit einem Blick auf Murugans Anzug. Der dunkle Stoff schimmerte dezent und saß wie angegossen. So etwas gab es nicht von der Stange. „Unser älterer Bruder sorgt für uns wie ein wahrer Vater. Das sollten wir nie vergessen.“
Murugan nickte, vielleicht nicht ganz so enthusiastisch, wie man es sich hätte erwarten dürfen. Schließlich wusste Ajith nur zu genau, was bzw. wer den dunkelhäutigen Tamilen in die Lage versetzt hatte, so hoch auf der gesellschaftlichen Leiter zu klettern, dass er es sich leisten konnte, von seinem Arbeitsplatz an der Wall Street zurück zu seinem feudalen Häuschen im besten Bostoner Viertel zu fliegen, wann immer ihm danach war. Businessclass natürlich.
Ajith hatte noch nie ein derart teures Tuch auf der Haut gespürt, aber er beneidete den anderen nicht darum. Er machte sich nichts aus Statussymbolen. Zog es sogar vor, schlicht und möglichst locker gekleidet seiner Arbeit nachzugehen. Wenn er, wie momentan, selbst einen Anzug trug, dann nur deshalb, weil das in gewissen Situationen einfach unvermeidlich war. Weil man nicht auffallen durfte, sich anzupassen hatte wie ein Chamäleon. Das war in seiner Branche eines der ungeschriebenen Gesetze. Wobei diese die einzig wichtigen waren, davon konnte er ein Lied singen.
„Es geht um eine große Sache“, sagte er unvermittelt, „eine, die unserem älteren Bruder äußerst wichtig ist. Dein Anteil dabei ist einfach und klar umrissen: Du hast nur Informationen zu beschaffen und ein bisschen Material, das ich nicht im Flugzeug mitbringen konnte. Aber unter keinen Umständen darf jemand etwas von unseren Aktivitäten erfahren. Unter gar keinen Umständen. Ansonsten …“
Mit der Handkante fuhr er von rechts nach links über seine Kehle. Es ging so schnell, dass kein Gast im Nepalese Corner es bemerkte. Außer der eine, für den die Botschaft bestimmt war.
Ajith nippte an seinem Kaffee und musterte Murugan über den Rand der Tasse hinweg. Freundlich, aber deutlich länger als üblich. Unnötig lange wäre dennoch der falsche Ausdruck gewesen. Schließlich war eine solche Verzögerung der normalen Zeitabläufe mitunter das wirksamste Mittel, um Kontrolle auszuüben. Ich könnte darüber ein richtig dickes Buch schreiben, dachte er, eines, das strotzt vor Alltagserfahrung. Vor angewandter Psychologie. Von beidem hatte Ajith Nair sich mit seinen eben mal neunundzwanzig Jahren zweifellos schon jede Menge angeeignet.
Der Blick über die Kaffeetasse zeigte ihm, dass die Botschaft angekommen war. Das Blut war aus dem Gesicht des Brokers gewichen. Zu Hause in Indien strebte ein jeder nach einem möglichst blassen Teint – je heller, desto besser stand man damit da in der gesellschaftlichen Hierarchie. Manche ließen sich sogar mit Chemie behandeln, um ihre Haut ein klein bisschen aufzuhellen. Aber damit hatte das plötzliche Weiß im Gesicht R. S. Murugans nichts zu tun.
„Selbstverständlich“, flüsterte er. Dann versuchte er sich an einem Lächeln. „Meine Lippen sind versiegelt. Was immer unser älterer Bruder wünscht, es wird geschehen.“
Nun lächelte auch Ajith. Eine Sekunde lang hegte er so etwas wie Mitgefühl für den anderen. Saßen sie nicht beide im selben Boot, wurden sie nicht vom selben Licht bestrahlt? Murugan, der erfolgreiche Börsenspekulant, und er, der nicht weniger erfolgreiche Agent, wie er sich selbst bezeichnete – stammten sie nicht aus derselben Gosse, auch wenn die seine in Kerala lag und jene Murugans in Tamil Nadu? Nein, verwarf er brüsk den Anflug von Sentimentalität, Gefühle waren schädlich, waren gefährlich in seinem Gewerbe. Es galt sich ihrer schnellstmöglich zu entledigen, wann immer sie einen zu überwältigen drohten, gemeinsame Hautfarbe und Herkunft hin oder her! Nur die Treue zählte, und die war weit mehr als ein Gefühl: Sie war eine Grundbedingung, die einzige Konstante in Ajiths Leben. Ohne sie war man nichts, höchstens Scheiße auf Beton.
Unfruchtbar wie Scheiße auf Beton.
Es war der Lieblingsspruch seines Vaters gewesen. Wie oft er ihn wohl in seinem Leben wiederholt hatte? Und ob er ihn auch auf den Lippen führte, ein letztes Mal, als er das Undenkbare beging? Als er sich umbrachte, wie so viele verarmte Bauern damals, wegen der einen Missernte zu viel. Wegen der Wucherzinsen, die er nicht mehr zurückzahlen konnte. Wegen der Schande, die eigene Familie nicht mehr ernähren, die Ausbildung des Sohnes an der Privatschule in Trivandrum nicht mehr finanzieren zu können. Die katholische Schule, an der er, der Hindujunge aus ärmlichen Verhältnissen, erstmals frei zu atmen gelernt hatte, wo er den Geist einer anderen Welt einsog wie frische Meeresluft. Sie lasen sogar ausländische Bücher und lernten dreimal so viel wie an der staatlichen Schule, die fast alle anderen aus seinem Dorf besuchten, die danach nicht einmal ordentlich Hindi sprechen konnten. Vor allem Englisch liebte er. „Nur wenn ihr Englisch beherrscht, könnt ihr in diesem Land etwas werden“ – das war ihnen von seinem Lieblingslehrer, der in den Vereinigten Staaten studiert hatte, immer wieder eingetrichtert worden. Seiner Ansicht nach hatte Ajith großes Talent, und Ajith setzte alles daran, den amerikanischen Akzent seines Lehrers zu kopieren. So drückte er seine Dankbarkeit und Zuneigung aus. Es fehlte ihm nur noch ein Jahr, ein lächerliches Jahr. Den Abschluss hätte er, der fleißige Schüler, problemlos geschafft. Mit einem guten Zeugnis wären auch lukrative Posten außerhalb seines Dorfes für ihn in Reichweite gerückt. Möglichst weit weg von zu Hause, wo es nur die Alternative gab, sich als Bauer oder als Fischer zu Tode zu schinden.
Aber Vater hatte es vorgezogen, eines Morgens in den Verschlag hinter ihrer Hütte zu gehen, wo sie das Zeug lagerten, das in weißen Säcken darauf wartete, auf die Felder ausgebracht zu werden, und eine Handvoll davon zu schlucken. So erfüllte das Pestizid am Ende doch noch seinen einzigen Zweck: zu töten. Wenn auch auf den Feldern nicht einmal mehr das gedieh, was man damit hätte vertilgen müssen. Was sonst sind wir als Unkraut, hatte Vater an seinem letzten Tag gemurmelt.
Sie hatten nicht verstanden, was er damit sagen wollte.
Und weil Vater nicht der erste und nicht der letzte Bauer gewesen war in diesem Jahr, als der Monsun das dritte Mal hintereinander ausblieb, der Gift schluckte oder sich an einem Baum erhängte, wurde eine Kommission eingerichtet. Eine fact-finding delegation, die herausfinden sollte, was wohl schuld sei an der Häufung von Selbstmorden in der Landbevölkerung. Und als die Kommission herausfand, dass nichts Ungewöhnliches herauszufinden war, dass es ebenso viele unterschiedliche Gründe wie Todesfälle gab, speiste man die Familien der Selbstmörder gnadenhalber, oder weil gerade Wahlen anstanden, bei denen man jede Stimme benötigte, mit jeweils drei lakh Rupien ab, dreihunderttausend Rupien also für jeden toten Vater und Alleinverdiener. Wenn die so Beschenkten dann ihre Schulden an die Gläubiger zurückgezahlt hatten, welche für die Kredite zwischen fünfundzwanzig und sechzig Prozent nahmen, blieb so gut wie nichts übrig. Jedenfalls nichts, mit dem man das letzte Schuljahr für den einzigen Sohn hätte berappen können.
In der allgemeinen Verzweiflung, als Mutter Grund und Boden für einen lächerlichen Betrag verkaufen musste und man die Heirat der Schwester, mitgiftlos, wie sie war, wieder absagte, tauchte er auf. Er, der ältere Bruder mit dem langen weißen Bart, wie man ihn in Kerala selten zu Gesicht bekam. Ein Mann, der sich um sie kümmerte und ihn, den Halbwüchsigen, mitnahm, hinüber in die große Stadt, die einmal Madras geheißen hatte. Ein älterer Bruder, der ihn wie ein wahrer Maharadscha in seinem weißen steinernen Haus aufnahm, als wäre er, der unwürdige Sohn eines Selbstmörders, sein eigen Fleisch und Blut. Der ihm Arbeit und Essen gab und ihn für seine Dienste sogar noch bezahlte, wodurch Ajith in die Lage versetzt wurde, seinen Teil dazu beizutragen, dass Mutter und Schwester nicht länger betteln mussten und wieder ein Dach über dem Kopf bekamen. All das dank eines bärtigen Fremden, der sich aus Kastengrenzen nichts machte. Der wie ein wahrer Vater an ihm handelte, bis zum heutigen Tag.
Nicht wie jener, der die Seinen alleine zurückließ.
Ihm, dem älteren Bruder, als der er sich ansprechen ließ, ihm allein galt seither Ajiths ganze Hingebung. Seine Treue. Bis in den Tod.
Nicht umsonst trug er diesen Namen: Ajith. Der, der nicht zu besiegen ist. Und war er nicht ein Nair, ein Abkömmling der alten Kriegerkaste? Wenn auch die Nairs ihre hohe Stellung längst verloren hatten – ihr Erbe trug er im Blut.
Vor allem aber war er ein Profi. Und ein Profi wusste nie, welchen Auftrag er als Nächstes erhielt.
Wen er als Nächsten zu eliminieren hatte.