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1. Die Geschichte der Entdeckung

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Ein Interview mit dem britischen Radiosender

Planet Freud

Planet Freud: Ihre Entdeckung des Hoteleintrags von Maloja hat unter Freudianern ein mittleres Beben ausgelöst. Uns interessiert an dieser Stelle die Geschichte hinter der Geschichte. Wie sind Sie der Sache auf die Spur gekommen?

F.M.: Auf Umwegen. Als ich meine Recherche im Oktober 2004 begann, glich sie der Suche nach der verlorenen Zeit. Der Proust’sche Erzähler erinnert sich an zwei Seiten für Spaziergänge, die sich von Combray aus zu gehen anboten, der Seite von Méséglise und der Seite von Guermantes. Die Wege seien einander so entgegengesetzt gewesen, dass er nicht einmal durch die gleiche Pforte aufbrach, um in die eine oder andere Richtung zu gehen. Und die Vorstellung, über Guermantes nach Méséglise zu gehen oder umgekehrt, sei so absurd gewesen wie die Idee, nach Osten aufzubrechen um nach Westen zu gelangen. Es wäre die Umrundung von Swanns Welt gewesen, die aber nur absichtslos gelingen kann. Ganz ähnlich ist es mir mit der Reise um den Planeten Freud [lacht] ergangen. Ich bin nach Osten gegangen, ohne zu ahnen, dass ich insgeheim nach Westen lief.

Planet Freud: Und Ihre beiden Wege waren ...

F.M.: ... die Seite von Freuds Schwester und die Seite von Freuds Bruder. Mit Schwester meine ich natürlich Freuds Schwägerin Minna, seine sister-in-law also »Schwesternach-dem-Gesetz«, wie es im Englischen so treffend heißt. Mit Bruder ist Freuds jüngerer, früh verstorbener Bruder Julius gemeint. Ich bin damals gerade nicht durch das große Tor der Minna-Frage nach der Seite der Schwester aufgebrochen, sondern umgekehrt durch die kleine Pforte der Bruder-Seite. Und von hier ging es wirklich nach Osten, in die alte mährische Heimat der Freuds nämlich, die heute Teil der Tschechischen Republik ist. Ich wollte dort in alten Archiven stöbern.

Planet Freud: Um mehr über Julius zu erfahren.

F.M.: Ja. Die kurze aber intensive Begegnung zwischen Sigmund und Julius ist ein faszinierendes Kapitel im Leben Freuds. Übrigens mit einer ungeheuren Nachwirkung. Freud selbst hat bekannt, dass er die Ankunft dieses, wenn ich so sagen darf, »Bruders-nach-der-Geburt« mit bösen Wünschen begleitet hat. Hernach, nach dem tatsächlich eingetretenen Tod (Julius starb mit 8 Monaten), blieben nicht vergehende Schuldgefühle zurück. Freud zählte diese traumatische Episode seiner frühesten Kindheit zum Kernbestand seiner Neurose. So machte er sie unter anderem für zwei Ohnmachtsanfälle, 1909 in Bremen und 1912 in München, verantwortlich. Ich sprach von Freuds Leben. Mich trieb die Frage um, welchen Einfluss der tote Julius auf das Werk des Gründers der Psychoanalyse genommen hatte.

Planet Freud: Das klingt ein bisschen verwirrend.

F.M.: Ist es auch. Ich ging nämlich davon aus, dass der Geist von Julius in Freuds Werk unter anderem Namen herumspukte.

Planet Freud: Wie bitte?

F.M.: Wie jeder jüdische Knabe, so hatte auch Julius anlässlich seiner Beschneidungsfeier einen zweiten Namen verliehen bekommen. Freuds jüdischen Namen kennen wir, er lautet Schlomo. Der von Julius ist unbekannt. Ich war, um die Sache auf den Punkt zu bringen, auf der Suche nach dem verlorengegangenen jüdischen Namen von Julius. Er schien ein Geheimnis zu bergen, wie schon Ernest Jones vermutet hat.

Planet Freud: Freuds bulldog.

F.M.: Jones bekennt in seiner Biographie, nicht nur nach dem zweiten Namen von Julius, sondern nach einem bestimmten Namen gesucht zu haben. Er hat versucht herauszubringen, ob Julius nicht auf Jüdisch Moses geheißen haben könnte. In diesem Fall, so Jones’ kryptische Botschaft, hätte Freuds Identifizierung mit der Gestalt des Moses die tiefere Bedeutung einer Hassreaktion gehabt, wie bei Napoleon gegenüber seinem Bruder Josef.

Planet Freud: Das müssen Sie unseren Hörern erklären.

F.M.: Hier sind zwei Fäden miteinander verwoben, die auseinander gehalten werden müssen. Hintergrund ist zunächst die obsessive Beschäftigung Freuds mit dem Moses, wie sie in den beiden Büchern »Der Moses des Michelangelo« und »Der Mann Moses und die monotheistische Religion« ihren Ausdruck gefunden hat. In Briefen, die Freud während der Entstehungszeit dieser Werke schrieb, finden sich Wendungen, die aufhorchen lassen: Moses verfolge ihn unablässig, er plage ihn wie »ein unerlöster Geist«. Aus Formulierungen wie diesen hat Jones den Schluss gezogen, dass Freud unbeherrschte gefühlsmäßige Gründe gehabt haben muss, um sich ein Leben lang mit der mächtigen Gestalt zu beschäftigen, ja, zu identifizieren. Nun hat Freud selber in Briefen an Arnold Zweig und Thomas Mann die Skizze einer angeblichen Josefsfantasie Napoleons zu Papier gebracht. Sie dient ihm als Musterbeispiel einer Lebensführung, dessen verschlungene Wege durch das einigende Band eines Namens (Josef), des Namens eines ursprünglich verhassten Bruders, zusammengehalten werden. Die Berechtigung, dieses analytische Vorbild versuchsweise auf Freud zu übertragen, dürfte sich für Jones aus der Art und Weise ergeben haben, mit der dieser den Geschwisterhass beschreibt. Freud spricht sinngemäß von einer elementaren, unergründlich tiefen Feindseligkeit des kleinen Napoleon gegenüber dem älteren Bruder. Josef zu beseitigen, sich an seine Stelle zu setzen, sei seine stärkste Gefühlsregung gewesen, für die heute die Bezeichnung Todeswunsch angemessen erscheine. Die Lektüre dieser Passagen führt zu einem unwillkürlichen Déjà-vu-Erlebnis: Hat sich Freud nicht mit ganz ähnlichen Worten zu Todeswünschen gegenüber seinem Bruder Julius bekannt? Verbarg sich nicht hinter der Absicht, Julius zu beseitigen, sich an seine Stelle zu setzen, wieder der bevorzugte Liebling der Mutter zu werden, die stärkste Gefühlsregung des kleinen Sigmund?

Planet Freud: Eine sehr weitgehende »Freud-Fantasie«, die Sie Jones da unterstellen, nicht wahr.

F.M.: Jedenfalls muss Jones intuitiv sehr sicher gewesen sein, das Richtige getroffen zu haben. Sonst hätte er die Anmerkung gegenüber Anna Freud, die bekanntlich jedes Wort der großen Biographie abgesegnet hat, nicht durchsetzen können. Ich glaube auch, dass Jones die Pointe klar vor Augen stand: Wenn Julius Moses geheißen hat, dann war niemand anderer als dieser unheimliche Bruder das Original hinter der vielschichtigen Figur des Moses des Sigmund Freud.

Planet Freud: Hat Jones die Sache denn herausbekommen?

F.M.: Nein. Er wurde nicht fündig, was nicht bedeutet, dass die Fährte falsch und der Fall damit erledigt war.

Planet Freud: Sie haben also mit Ihrer Recherche die Spurensuche von Jones dann wieder aufgenommen. Richtig?

F.M.: So kann man das sagen. Das geschah ziemlich genau 50 Jahre danach und unter gänzlich veränderten Bedingungen. Zwei Felder boten sich für eine neue Erforschung an. Auf der einen Seite gab es die Freud Archives, die größte Sammlung von Dokumenten und Papieren zu Freuds Leben und Werk. K. R. Eissler hat sie unter dem Dach der Library of Congress, Washington D.C., aufgebaut und verwaltet. Das Findebuch zur Sammlung weist u.a. diverse Familienpapiere aus (Family Papers, 1851–1978), aber die meisten dieser vielversprechenden Bestände sind aufgrund einer restriktiven Archivpolitik noch auf Jahre gesperrt. Ich habe gleichwohl an den derzeitigen Direktor Harold P. Blum eine Anfrage gerichtet und nachgefragt, ob seiner Kenntnis nach der zweite Name von Julius Freud in den Beständen der Freud Archives irgend dokumentiert ist. Der Bescheid fiel negativ aus [Anhang B].

Planet Freud: Damit blieb nur noch der Weg in die zugänglichen Archive von Freuds alter Heimat.

F.M.: So ist es. Die Bedeutung dieser Archive für die Freud-Forschung war durch wichtige Funde bekannt. Eine erste Sichtung von Freudiana hatte längst stattgefunden. So hat Josef Sajner im Staatsarchiv von Troppau (Opava) die »Matrik der Abschriften der Andersgläubigen Freibergs« eingesehen und dort den Geburtseintrag von Sigmund Freud entdeckt. Aber mehr noch, er konnte die Einträge all derjenigen Kinder, die wir aus den beiden Freud-Familien (von Jakob Freud und seinem ältesten Sohn Emanuel) kennen, präsentieren. Nur für Julius fand sich kein Eintrag – was wahrscheinlich macht, dass er nicht in Freiberg geboren wurde. Diese Nachforschungen bezogen sich nicht nur auf Freiberg, den Wohnort der Freuds, sondern nach und nach auch auf benachbarte Orte wie Roznau, einem nahe gelegenen Kurort. Im Zuge dieser erweiterten Suche hat Sajner eine Eintragung im Kurblatt von Roznau entdeckt, die belegt, dass sich »Amalie Freud, Wollhändlersgattin mit dem Kinde Sigmund und dem Dienstmädchen Resi Wittek von Freiberg« unter dem Datum vom 5. Juni 1857 im »Haus Nr. 180« einquartiert hat. Aufgrund dieser Quellenlage und in Kombination mit dem Wissen, dass Amalie Freud bei Kurantritt bereits hochschwanger war (notabene: mit Julius), habe ich an anderer Stelle die These vertreten, Freuds Mutter könnte ihren zweiten Sohn in Roznau zur Welt gebracht haben.


Der Marktplatz von Roznau um 1850

Planet Freud: Womit Roznau zum Dreh- und Angelpunkt der Recherche wurde.

F.M.: Roznau und andere Orte des Distrikts. Als ich im Oktober 2004 das Staatsarchiv von Troppau aufsuchte, war es in der Tat meine Absicht, die Matrikeln von Roznau nach einem Geburtseintrag von Julius zu überprüfen. Neben einer Bestätigung für die These der Geburt in Roznau, erhoffte ich im günstigen Fall einen Hinweis auf den zweiten Namen von Julius. Es stellte sich jedoch heraus, dass der Matrikelbestand von Roznau überhaupt keinen Anhang zide (d.h. jüdische Einträge) hatte. Der angenommene Fall: Geburt in einem Kurort (Roznau), der nicht der Heimatort (Freiberg) ist, scheint verwirrend, weil nicht klar ersichtlich ist, welche Stelle (Rabbinat, Gemeinde) für den Geburtseintrag zuständig ist. Roznau schied aus, da es dort keine eigenständige Israelitische Kultusgemeinde (IKG) gab. Nach Lage der Dinge, d.h. nach Einschätzung der kommunalen und religiösen Bedeutung der umliegenden Gemeinden, kamen die Matrikeln von Wallachisch Meseritz, Neutitschein, Vsetin und Weisskirchen in Frage. Alle diese Unterlagen lagern im Staatlichen Zentralarchiv von Prag. Dort habe ich als erstes das Geburtsbuch von Wallachisch Meseritz einsehen können. Ich tat dies mit gestiegener Erwartung, denn laut Katalog sollten die jüdischen Matrikeln mit dem Jahre 1857 beginnen, dem Geburtsjahr von Julius. Leider waren die interessierenden ersten Seiten herausgerissen.

Planet Freud: Das muss sehr enttäuschend gewesen sein. Wie ging es weiter?

F.M.: Die Leiterin der 1. Abteilung des Staatlichen Zentralarchivs, Frau Dr. Lena Matusikova, half mir, die anderen erwähnten Matrikelbestände zu überprüfen. Das Ergebnis war ernüchternd: Weder die Kontrollmatrikel der IKG in Neutitschein noch die in Vsetin enthielten irgendeine Angabe zu Julius Freud. Im Bestand der Geburts- und Sterbematrikeln der IKG in Weisskirchen klaffte dagegen für die Jahre 1857/58 eine Lücke. Nach meiner Rückkehr stand ich – was den erhofften Archivfund anbetrifft – mit leeren Händen da.

Planet Freud: Haben Sie in dieser Situation daran gedacht, das ganze Projekt aufzugeben?

F.M.: Im Frühjahr 2005 stand ich wirklich nahe davor. Ich kam, um ein Bild von Freud aufzugreifen, mir vor wie eine Tänzerin, die auf einer Zehenspitze balanciert, sprich: mit minimaler Bodenhaftung.

Planet Freud: Was bewirkte den Umschwung?

F.M.: Ich wusste von einer wenig beachteten Fehlleistung Freuds aus dem Jahre 1898. Es handelt sich um das Vergessen eines Eigennamens, den ersten Fall dieser Art überhaupt, den Freud erwähnt hat. Ihm war der Name des Dichters, von dem der Andreas Hofer (»Zu Mantua in Banden«) ist, entfallen: »Julius Mosen«. Wie in einem Vexierbild sind in diesem Namen die beiden mutmaßlichen Vornamen von Freuds Bruder versteckt: Julius und Moses. Ich ahnte intuitiv, dass Freud hier das Geheimnis um den jüdischen Namen seines Bruders auf eine vertrackte Art mitgeteilt hatte. Zur Kenntlichkeit entstellt, hätte Walter Benjamin das genannt. Wenn es mir gelingen würde, das Rätsel der Fehlleistung zu lösen, dann könnte ich – so meine Überlegung und Hoffnung – mein Ziel jenseits archivarischer Evidenz doch noch erreichen. Allerdings hatten all die klugen Freud-Forscher die Fehlleistung als nicht-analysierbar beiseite gelegt. Die Ersatznamen, die Freud an Stelle des verdrängten »Mosen« eingefallen waren (»Lindau« und »Feldau«), erschienen ihnen zu hermetisch. Es gab praktisch keinen Zugang in der Sache. Ich habe mich trotzdem an die Arbeit gemacht. Es war eine beispiellose Herausforderung – und meine letzte Chance.

Planet Freud: Offensichtlich ist es Ihnen gelungen, sich trotz der Widrigkeiten einen Zugang zu verschaffen. Wie ging das vonstatten?

F.M.: Ich ging zunächst die Frage der Datierung an: Wann und bei welcher Gelegenheit hat sich Sigmunds Freud’sche Fehlleistung ereignet? Und schon war die erste Überraschung perfekt. Ganz offensichtlich war das Vergessen auf eben jener Reise passiert, die Freud zusammen mit Minna Bernays im Sommer 1898 unternommen hatte und die die beiden ins Engadin führte. Mit einem Schlag, aber völlig unerwartet, befand ich mich auf der Spur, die mich über viele Stationen letztlich nach Maloja fuhren sollte.

Planet Freud: Sie haben auf der dunklen Seite des Planeten den Anschluss an den Weg der Schwester gefunden.

F.M.: Ja, aber es hat noch lange gedauert, bis mir die Bedeutung klar wurde. Zunächst blieb der Bruder das Leitmotiv. Ich konnte die mit Unlustgefiihlen verbundene Reminiszenz an Julius als einen Grund in dem vielschichtigen Vorgang des Vergessens von »Mosen« nachweisen. Über Wortbrücken wie »Julier« (einer altrömischen Heerstraße, die vom bündnerischen Chur über den Julierpass und Maloja nach Chiavenna führt) und »Julian« (einer Gestalt aus C. F. Meyers Novelle »Das Leiden eines Knaben«, die Freud vor Reiseantritt gelesen hatte) war der Geist von Julius wiedergekehrt. Er hatte teil an der Reise mit Minna. Wie ich bereits kurz erwähnte, hatte Freud die Geburt des Bruders – des Rivalen um die Liebe der Mutter – einst mit Todeswünschen begleitet und bei dessen tatsächlichem Ableben bleibende Schuldgefühle erworben. Julius verkörperte deshalb die bedrohliche Verklammerung von Liebe und Tod. Ganz offensichtlich war es die erotische Besetzung von Minna, welche über die Kraft verfügte, die Affektlage dieser älteren Schicht wiederzubeleben. In einer weiteren Schicht mischten sich dann die Schuldgefühle wegen der inzestuösen Liebesbeziehung in diesen Komplex hinein.

Planet Freud: War mit dieser Deutung das Rätsel der »Julius Mosen«-Fehlleistung denn schon gelöst?

F.M.: Nein, keineswegs. Das war ein langwieriger Prozess, das geduldige Zusammenlegen eines Puzzles. Die meisten Einzelstücke des Materials, das ich fand oder gewann, waren anfänglich völlig ungeordnet. Viele wichtige Schritte entpuppten sich als Zwischenschritte. Auch die Zerlegung des Rätsels in zwei Hälften, die Bruderseite von Julius und die Schwesterseite von Minna, erwies sich als eine solche Etappe. Ich habe das Vergessen von »Julius Mosen« von Anbeginn als Pendant zu einem anderen Fall verstanden, der später berühmt gewordenen »Signorelli«-Fehlleistung. Es gibt da eine überraschende Dopplung, eine Zweiheit der Geschichte. Freud reist mit Minna ins Engadin; auf dieser Reise unterläuft ihm das Vergessen von »Julius Mosen«. Nach seiner Rückkehr bricht Freud zu einer zweiten Reise mit Martha auf, seiner Ehefrau; sie reisen nach Dalmatien. Auf dieser Fahrt vergisst er den Namen des Malers »Luca Signorelli«. Was steckt dahinter? Zugespitzt formuliert: Es geht nicht allein um Schwester Minna, sondern um die beiden Schwestern Martha und Minna – aber in der Rolle von Müttern. Ein Dreieck wird sichtbar: Sigmund im Spannungsverhältnis zwischen seinen beiden Müttern, der guten und der bösen Mutter, der leiblichen Mutter und der Ersatzmutter. Szenisches Verstehen lässt natürlich sofort an die ferne Reise nach Roznau denken, die der kleine Sigmund 1½-jährig an der Seite von Mutter und Kinderfrau unternommen hat, überwältigt von Hass gegen den unerwünschten Dritten, den im Mutterleib heranwachsenden Julius. Dessen nahe Ankunft hat ja die Anwesenheit der Kinderfrau – und damit die »Zwei-Mütter-Kindheit« – überhaupt erst nötig gemacht. »Die Reise nach Roznau« ist gewissermaßen das topographische Urmeter, mit dem wir die Wegstrecken der Liebe und des Hasses, die Freud gegangen ist, immer wieder messen müssen. In diesem Licht entpuppten sich die beiden Reisen, die mit Minna nicht anders als die mit Martha, nach und nach als Reinszenierungen des älteren Vorbilds.

Planet Freud: Diese Zusammenhänge und Verknüpfungen sind das Ergebnis späterer Arbeit, sagten Sie. Aber wie haben Sie Maloja und das Hotel erlebt, als Sie das erste Mal vor Ort waren?

F.M.: Maloja hat in seiner exponierten Lage etwas zutiefst Janusköpfiges. Der Ort schaut gelassen zurück auf das alpine Hochtal und blickt in umgekehrter Richtung wie erregt nach Italien, dessen Versprechen sich durch einen jähen Absturz in das wildschöne Val Bregaglia (Bergell) andeutet. Dort der weite Panoramablick entlang des nach Norden fließenden Inn, hier das nervöse Blinzeln nach dem Süden. Der schlagartige Wechsel, den man erlebt, wenn man in 1800 Metern Höhe aus der Sonne in den Schatten tritt und den etwa Segantini auf seinen Bildern evoziert, hat hier seine genaue Stelle. Diesen letzten Außenposten haben sich Freud und Minna als Abschluss ihrer Reise auserkoren, so als hätten sie eine Grenze erreicht und ihr Äußerstes gewagt. Aus den Reisebriefen wissen wir, dass sie ursprünglich planten, nach Chiavenna abzusteigen in Richtung des Comersees. Freud zufolge unterließen sie den Abstecher wegen zu großer Hitze. »Es fehlte uns der Mut«, schreibt er wörtlich. Ich führte damals ein Reisetagebuch und notierte: War das Schweizerhaus ein Hotel (am) Abgrund? Ich schrieb dies, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, Erkundigungen über das Logis der beiden einzuziehen.

Planet Freud: Wie erklärt sich dieser Mangel an Neugier?

F.M.: Ich sollte an dieser Stelle nachtragen, dass meine Recherche in jenen Tagen längst Teil eines Buchprojektes geworden war. Ich schrieb, immer vor dem Hintergrund der Freud’schen Mosesfantasie, an einem Buch über das Leben, den Tod und das Nachleben von Julius; ein Buch ...

Planet Freud: ... das Ende 2006 unter dem Titel »Der Moses des Sigmund Freud« erschienen ist.

F.M.: Ja. Ein Buch, in dem der Blick auf den »unheimlichen Bruder« – so der Untertitel – vorherrschend blieb. Das ist das eine. Auf der anderen Seite wurde die von Autoren wie Ferenczi, Jung oder Swales nahegelegte Vermutung, Freud und Minna hätten (zumindest zeitweise) eine intime Beziehung unterhalten, für mich durch die Ergebnisse meiner eigenen Arbeit nahezu zur Gewissheit. Die Deutung von Träumen aus jener Zeit, die Analyse von Lektüren und Briefen Freuds, die fortschreitende Auflösung der »Julius Mosen«-Fehlleistung: alles wies in diese Richtung.

Planet Freud: Das heißt, Sie verspürten keinerlei Notwendigkeit, nach einem unabhängigen Beweis in der Sache zu suchen.

F.M.: Genau so war es – und so ist es die ganze Zeit der Niederschrift über geblieben. Buchstäblich erst kurz vor der Drucklegung meines Buches – ich hielt die Korrekturfahnen bereits in Händen – beschlich mich das Gefühl, in Maloja etwas Wichtiges vergessen zu haben. Ich hätte aber nicht sagen können was. Wenige Wochen zuvor hatte ich Kontakt mit dem Direktor des Hotels, in dem Freud und Minna Bernays vor mehr als hundert Jahren übernachtet hatten, aufgenommen. Ich dachte, er müsste Interesse an der alten Geschichte haben und wollte ihm ein Exemplar meines Buches zum Geschenk machen. Tatsächlich hatte er bis dahin keine Ahnung davon, dass Sigmund Freud einmal zu Gast im Schweizerhaus gewesen ist. Aber ihn interessierte die Sache sehr, da er für das im darauf folgenden Jahr anstehende 125-jährige Jubiläum des Hauses an einer Chronik arbeitete. Wir vereinbarten ein Treffen vor Ort, das im August 2006 zustande kam. Ich verband diese Reise mit einem Kurzurlaub und reiste mit meiner Familie. Wir wurden als Gäste erwartet, und meine Frau und ich erhielten das Zimmer N° 23, ein Doppelzimmer im alten Stil. Unser Sohn schlief in einem benachbarten Einzelzimmer. Erst am Vormittag des folgenden Tages fand die geplante Unterredung mit den Hotelbesitzern, Herrn und Frau Wintsch, statt. Ich werde nie meine Verblüffung vergessen, als ich bemerkte, dass sie das alte Gästebuch schon dabei hatten. Sie waren einfach neugierig zu erfahren, ob meine Behauptung, Freud sei am 13. August 1898 in »ihrem« Hotel abgestiegen, wirklich stimmte. Ich fand in der großen, in Leder eingebundenen Kladde schnell Jahr und Monat. Auf der betreffenden Seite fuhr ich mit dem Finger die Zeilen runter – und voilà, da war der Eintrag Freuds in der mir vertrauten Handschrift. Nun, den Rest kennen Sie.


Freuds Hoteleintrag (5. Zeile von oben): »Dr Sigm Freud u Frau – Wien«

Planet Freud: Nicht ganz. Sie konnten aufgrund Ihrer Kenntnis einen Eintrag Freuds erwarten, aber nicht diesen. Waren Sie nicht maßlos überrascht?

F.M.: Es gab, um genau zu sagen, zwei Überraschungen. Natürlich war der Eintrag im Gästebuch eine kleine Sensation. Freud hatte von seiner Affäre mit Minna eine Spur hinterlassen, es gab ein Realitätszeichen, einen Fingerabdruck, wenn Sie so wollen. Der Fund hatte aber für mich nichts Schockierendes an sich. Was sich einstellte, war eher das Gefühl einer unverhofften Bestätigung: Also ist es wahr, Sigmund hat wirklich ein Verhältnis mit Minna gehabt. Mir war zugefallen, wonach ich gar nicht gesucht hatte – und was nur durch die Hebammendienste der Hoteliers ans Licht gehoben wurde.

Planet Freud: Und was hat es mit der zweiten Überraschung auf sich?

F.M.: Der Eintrag enthält den Hinweis auf das Zimmer N° 11. Ich fragte die Besitzer, ob sie wüssten, um welches Zimmer es sich dabei handele. Sie mussten passen; naturgemäß entsprach die aktuelle Nummerierung der Zimmer nicht mehr der alten. Der Zufall wollte es, dass die Vorbesitzerin, eine Frau Marti, im Hause weilte. Herr Wintsch erbot sich, sie zu fragen. Die alte Dame wusste ohne Zögern zu berichten, dass die ehemalige N° 11 mit der jetzigen N° 23 identisch sei, dass es sich dabei im Übrigen um eines der wenigen Zimmer handele, die baulich nie verändert wurden. Ich hatte also mit meiner Frau in »Freuds Zimmer« übernachtet.

Planet Freud: Das i-Tüpfelchen sozusagen. Wie würden Sie zum Schluss die Bedeutung von Maloja zusammenfassen?

F.M.: Maloja ist das Epizentrum eines tieferliegenden Bebens, das in der prähistorischen Zeit von Freuds Kindheit ausgelöst wurde und seine Schockwellen über den Planet Freud geschickt hat – mit Nachwirkungen bis auf den heutigen Tag. Davon zeugen die vielfältigen Reaktionen. Die Affäre Minna, heißt das, steht nicht quer zum Freudschen Lebenslauf; richtig eingesetzt passt sie zur Linienführung eines frühen Kindheitsmusters und hilft mit, den Mann Freud besser zu verstehen – und damit die schwierigen Bedingungen, unter denen das Meisterwerk der Psychoanalyse entstanden ist – und wohl nur entstehen konnte. Zusammen mit Roznau ist Maloja einer der Erinnerungsorte, die zu beweisen scheinen, dass die spätere Einkleidung der zentralen Triebkonflikte in das Gewand der griechischen Ödipus-Mythe auf sehr eigensinnige Erfahrungstatsachen zurückzuführen ist.

Freud in Maloja

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