Читать книгу Die schwarze Baronin - Franz Preitler - Страница 4

Tamara

Оглавление

Wien im März 1914, Café Imperial

Schön, dass du heute so spontan Zeit für mich hast. Wir haben doch immer so angenehm miteinander geplaudert. Erinnerst du dich noch? Natürlich ist es sehr lange her. Wie lange ich in Wien bleibe? Ich denke, nicht besonders lange. Vorerst ist mein Zimmer hier im Imperial für drei Tage gebucht. Warum nur so kurz? … Weißt du, weil ich anschließend nach München fahre, um mich mit einem Mann zu treffen. Um Himmels willen! Nicht, was du denkst, meine Liebe. Er ist ein bekannter Schriftsteller und an meiner tragischen Geschichte interessiert. Ich weiß jetzt schon, dass es mir sehr schwerfallen wird, darüber zu reden. Immer wenn ich darüber nachdenke, bekomme ich furchtbares Herzklopfen und meine Kehle ist wie zugeschnürt von der Angst, die nun wieder in mir aufsteigt. In erster Linie will er über meine furchtbare Zeit in Mürzzuschlag schreiben. Du kennst die Geschichte, ja? Genau die, die mich unschuldig ins Gefängnis brachte. Gebrochen an Leib und Seele wusste ich, dass ich das Opfer einer politischen Intrige war. Zu vier Monaten Gefängnis wurde ich verurteilt für eine Schuld, die andere auf sich geladen hatten, meine Untersuchungshaft ist mir dabei nicht angerechnet worden. Sie haben es gewagt, mich unschuldig einzusperren und vom Licht der Sonne und vom Glanz des Mondes auszuschließen. Ich allein kenne die Wahrheit, verstehst du? Die bittere Wahrheit! Schau in mein Gesicht und du wirst sehen, wie müde ich geworden bin. Nachts schlafe ich schlecht. Und schließe ich die Augen, bilde ich mir ein, immer noch in Haft zu sein. Ich habe bereits die Jahre zuvor viel gelitten, nach dem schrecklichen Vorfall wurde alles noch schlimmer. Schonungslos hat sich die Hölle aufgetan und versucht, mich zu verschlingen. Mein bitterer Kampf war hart, aber nicht aussichtslos. Die Enttäuschung hätte mich fast um den Verstand gebracht. Sogar im Irrenhaus bin ich gelandet. Das war enorm demütigend, entwürdigend. Ich verlangte weder Mitleid noch Hilfe und trotzdem standen sehr viele Leute auf meiner Seite. Sie waren nicht nur von meiner Unschuld überzeugt, sondern kämpften sogar um mich. Verstehst du? Im Unterschied zu meinem Mann, der viel zu schwach dafür war. So gut er auch sonst gewesen sein mag. Ob ich dir ein Foto von ihm zeigen kann? … Gerne, warte einen Moment, ich suche gleich in meiner Handtasche, denn ich trage stets ein Bild von ihm mit mir. Dumm, ich weiß. Aber ich kann nicht anders. Hier ist das Bild, schau, das ist er. Siehst du diese Augen? Sie lachen unschuldig und rein. Ja, so war er, unerfahren und treuherzig. Ich fragte mich: Wie kann ein so schöner, stattlicher junger Mann, der mitten im Leben steht, derart vertrauensselig sein? Er war ein Mensch, der ständig mit der Welt Frieden halten musste, um in seiner Seele Ordnung zu schaffen. Was los ist? … Entschuldige, gib mir eine Minute, ich muss die Tränen aus meinen Augen wischen. Siehst du, ich bin noch immer nicht über das Furchtbarste hinweg – wie stark doch die Toten sind. Eines Tages tauchen sie wieder auf, vielleicht ist gerade heute so ein Tag. Es gab kein Wort des Abschieds und ich hatte keine Chance, mit ihm über all das zu reden, was zwischen uns stand! Ob ich vergessen kann? … Nein, auch nach den vielen Jahren nicht. Wie? … Die Zeit heilt alle Wunden? … Das sagt sich so einfach. Ich habe meinen Franz über alles geliebt. Manchmal denke ich, ich liebe ihn noch immer. Besser gesagt, ich werde diesen Mann mein Leben lang lieben. Es gibt Wunden, die nicht einmal die Zeit heilt. Das weiß ich. Warum? … So etwas spürt man einfach. Du kennst mich ja und weißt, dass ich eine Frau mit besonderer Moral bin und nach dem Prinzip erzogen wurde, dass man sich durchs Leben schlagen muss. Keine Dahergelaufene, wie es sie überall zuhauf gibt. Mein Leben war davon bestimmt, dass ich aus jeder Situation etwas gemacht habe. Dazu bedarf es einer besonderen Kraft und Disziplin. Ich war nie ein schwacher Mensch, im Gegenteil. Andere haben von meiner Kraft profitiert und meine Energie in sich aufgesogen. Mein einziger Fehler ist, dass ich ohne Liebe nicht leben kann. Es ist schwer, das alles zu erklären. Sagen wir es einmal so: Die Männer wussten das gekonnt auszunutzen. Das ist wie mit den Misteln und dem Baum. Plötzlich hast du einen Mann an deiner Seite und im Handumdrehen befindest du dich in einer Beziehung. Ich denke, eine Beziehung zwischen Mann und Frau ist immer etwas Bindendes. Etwas, das Körper und Seele zweier Menschen verknüpft. Noch viel mehr, wenn er dein Ehemann ist. Die Ehe ist für mich etwas Heiliges. Das hat mir meine Mutter immer gepredigt; und dass man sich als Ehefrau glücklich schätzen muss und für die Liebe des Mannes stets dankbar sein sollte. Ja, das hat sie mich gelehrt – und glaub mir, ich weiß, wovon ich rede. Schau mich bitte nicht so an! Natürlich hast du recht, ich selbst bin heute eine zutiefst unglückliche Frau, die elend zugrunde gehen muss, weil ihr Horizont größer ist als eine Mürzzuschlager Waschschüssel. Ich führe einen harten Kampf, das Wissen um meine Schuldlosigkeit gibt mir Kraft und Mut. Die tausend Beweise für echte Anteilnahme heben meinen tieftraurigen Seelenzustand. Bin ich eine Durchschnittsfrau?

Es war stets mein innigster Wunsch, alle nur erdenkbaren menschlichen Facetten im Namen der Liebe auszukosten. Ich persönlich neige dazu die Liebe als das fünfte Element nach Feuer, Luft, Erde und Wasser zu bezeichnen. Sie ist mystisch und allumfassend und alleine deshalb eben musste ich für so manchen eine Hochstaplerin sein, wenngleich sich damals trotz aller Aufrufe während der fünf Monate kein Einziger der von mir angeblich Geschädigten meldete! Du kannst dir wohl vorstellen, in welcher inneren Verfassung ich mich noch immer befinde. Aber die wahnsinnige Empörung über das mir zugefügte Unrecht, das eine ganze Familie ins tiefste Unglück brachte, hat mich auch körperlich mitgenommen. Sieh mich bloß an. Ich habe eine schwere Krankheit mit Mühe überstanden. Und über die Behandlung während meiner Haft erzähle ich dir später noch ausführlich, es wird dich erschüttern!

Wenn ich an all die Zerrbilder denke, die man von mir entworfen hat, steigt Bitterkeit in mir auf. Man glaubt in mir so eine Art Flittchen sehen zu müssen, die sich um kurzer Genussstunden willen, die sich dafür, dass sie sich mit Prunk umgeben kann, dem Meistbietenden in die Arme wirft. Die Welt denkt, ich sei eine verblühte Frau, der der einst farbenprächtige Staub ihrer Schmetterlingsnatur fortgeweht ist, die sich um jeden Preis eine sorgenlose Existenz schaffen wollte. Ich bin jedoch eine tiefernste Natur! Der stete Kampf gegen mein Schicksal, dieses Sich-unausgesetzt-in-Notwehr-Befinden, hat mir Mut und Energie gegeben – und eine große Rücksichtslosigkeit. Mein ganzes Leben war ja ein einziges Sich-Aufopfern für andere und so mag es sein, dass Gott mich genau dafür auch noch bestrafte. Wieso? … Weil ich ständig meine eigenen Bedürfnisse zurückstellte, Sinn und Zweck meines Lebens allein darin sah, andere Menschen glücklich zu machen. Glaubst du mir nicht? Nein, nicht aus Liebe alleine, nicht aus kleinlichem Selbsterhaltungstriebe heiratete ich mehrmals. Sondern aus dem Gefühl heraus, einem Menschen etwas sein, ihm eine Heimat geben zu können, die ich auch selbst so sehnsüchtig erhoffte. Es kam mir so erhaben vor, sich selbst in der Sorge um einen anderen zu vergessen. Wenn ich dann einsehen musste, dass der Mann sich nicht einmal die geringste Mühe gab, mein Seelenleben zu verstehen, sondern mich nur seine Wirtschafterin sein ließ, die geistig neben ihm darben sollte, wenn dann noch die Erkenntnis dazukam, dass der Mann durch und durch schlecht und gemein war, dann war meines Bleibens nicht länger. Ich ging wieder hinaus in die Welt und nahm den Kampf mit dem Leben mutig auf. Allemal aber ging ich bettelarm fort – betrogen und belogen, in den heiligsten Gefühlen misshandelt! Wie? … Die Geschichte meiner vier Ehen zuvor willst du wissen? Ach, wie schwer es ist zu leben. Jetzt soll ich das Ganze wieder aufwühlen? Na gut, ich will es für dich tun, auch wenn es mich enorme Kraft kostet. Hast du denn überhaupt so viel Zeit?

Ich war kaum siebzehn Jahre alt, als ich Herrn Kunz in Berlin heiratete. Einen sehr gut aussehenden, stattlichen Mann. Ich wusste nichts vom Leben, nicht einmal einen Ball hatte ich bis dato besucht; meine Mutter führte ein einsames Dasein, nachdem ihr einziger Sohn im Duell gefallen war. Niemand kam in unser Haus. Ich war von Kindheit an von einem glühenden Wissensdurst beseelt und meine kluge, hochintelligente Mutter half mir, diesen zu befriedigen. Dann heiratete ich diesen Agenten, hatte eine entzückende Wohnung – aber keinen richtigen Mann. Ich war zu unerfahren, um das zu verstehen, wunderte mich aber, dass der Herr die wunderschönsten Stickereien anfertigte und mir ständig die Haare machen wollte. Er hatte in seiner ganzen Art etwas Weibliches und war mir also kein Ehemann. Ich wartete wohl auf etwas, gab mich jedoch mit der Zeit auch ohne dieses Etwas zufrieden. Schon nach wenigen Tagen unserer Ehe, wenn man dieses Zusammensein so nennen kann, blieb mein Mann Tage und Nächte aus, ohne dass ich wusste, wo er sich befand. Er verreiste für lange Zeit, ohne mir auch nur einen einzigen Brief zu schreiben, ohne dass ich seinen Aufenthaltsort kannte. Eines schönen Tages erfuhr ich das Schreckliche. Er war ein Säufer, ein Spieler, hatte Wechsel gefälscht, Unterschlagungen gemacht und sollte verhaftet werden. Du kannst dir wohl vorstellen, was ich durchmachte. Es brauchte übermenschliche Kraft, all das zu verstehen. In meiner Gutgläubigkeit gab ich ihm alles, was ich besaß, und verhalf ihm zu seiner Flucht nach Amerika, deckte mit dem Letzten seine Schulden und Fälschungen – er versprach mir, im Gegenzug dafür ein neues Leben anzufangen. Sobald alles in geordneten Bahnen verlaufe, so seine Worte, werde er mich nach Amerika nachholen. Vielleicht hätte ich nicht so gelitten, wenn ich ihn gleich losgelassen hätte. Doch ich wartete und wartete auf seine Nachricht, bis ich einsehen musste, dass er mich betrogen hatte. Was weiter aus ihm geworden ist, weiß ich nicht. Erst bei meiner Verhandlung in Leoben vernahm ich, dass er gestorben sei.

Ich mietete mir dann damals ein kleines Zimmer und fristete mithilfe kunstvoller Handarbeit mein Leben, bis ich als Gesellschafterin einer Dame eine Stellung fand. Bei dieser Dame zu Hause war alles ein wenig anders als seinerzeit bei uns. Sie wohnte in einer großen Mietvilla mit einem weitläufigen Garten und hatte im Gegensatz zu uns auch Bedienstete. Alles war fein, gesittet und geregelt. Ich war erstaunt, wie unbeschwert diese Dame ihr Leben führen durfte. Du musst wissen, mich hat meine Mutter nach dem Grundsatz erzogen, dass das Leben mit einem ständigen Existenzkampf verbunden ist. Dort sah ich zum ersten Mal, dass es auch anders sein konnte, und in diesem Hause lernte ich den Freiherrn von Lützow kennen. Er war ein Offizier und noch dazu adelig und er versprach mir seine Liebe. Im Gegensatz zu meinem ersten Mann war er sehr männlich, zudem äußerst gebildet und konsequent. Mag sein, dass er vom Aussehen her nicht ganz meinem Typ entsprach, aber er konnte mit Worten umgehen – auf eine eigene, beruhigende Art, die mich ­faszinierte. Ich glaubte an seine Liebe, er schilderte mir das Leben an seiner Seite in den prächtigsten Farben. Freiherr von Lützow war zudem ein stattlicher Offizier und sein Auftreten und sein Verhalten mir gegenüber gefielen mir von Tag zu Tag besser. Als er mir dann einen Antrag machte, verdrängte ich die Scheidung von meinem ersten Mann, die mir bis dahin psychisch schwer zu schaffen gemacht hatte, und sagte „Ja“. Es war in Helgoland, er blickte mich so offenherzig an, dass ich nicht anders konnte. Die erste Zeit war voller Leidenschaft, er verehrte mich, als erfülle er eine heilige Pflicht. Jedenfalls lebte ich mit diesem Mann so lange glücklich zusammen, bis er seine Stellung aus Gründen, die er mir partout nicht verraten wollte, verlor. Er bat mich um meine gesamte Mitgift, denn ich hatte in der Zwischenzeit eine ziemlich bedeutende Erbschaft gemacht. Er bemühte sich auch um eine neue Anstellung. Wer die deutschen Verhältnisse kennt, weiß, wie schwer es für einen ehemaligen Offizier ist, Broterwerb zu finden. Bald traten denn auch existenzielle Sorgen an uns heran. Ich nahm meine kunstvollen Handarbeiten wieder auf und ernährte uns beide mehr schlecht als recht, bis ich ihm bei einem mir sehr gut bekannten Russen eine vorzügliche Stellung vermitteln konnte. Wir lebten friedlich zusammen, ich erfüllte meine Pflicht als Hausfrau, studierte auch eifrig und füllte mir mit diesen mannigfachen Studien mein Dasein aus. Als ich später dann wahrhaben musste, dass mein Mann eine gemeine Rolle spielte, seinen Brotgeber bei der politischen Polizei verriet, sich von dieser bezahlen ließ, mich auch noch mit einer Dirne betrog, da ließ ich mich von ihm scheiden. „Du bist total verrückt“, dachte ich. Mir war ganz seltsam zumute, denn ich wurde innerhalb kürzester Zeit ein zweites Mal geschieden. Bist du entsetzt? Meine Geschichte ist nun halt einmal kein schönes Märchen. Glaub mir, ich konnte nicht anders, sonst hätte ich das alles nicht überstanden. Ich war gezwungen, den Mann zu verlassen, dem ich einst vertraut hatte. Um Gutes zu tun, übte ich den Beruf einer Krankenpflegerin aus. Ein Freund meiner Eltern gab mir die Mittel und ich machte eine Reise durch Frankreich, Italien, Sizilien und Nordafrika. In dieser Zeit war ich zum ersten Mal in meinem Leben rundum glücklich. Ich fing an zu sehen, mein Horizont erweiterte sich und ich lernte das Leben und die Menschen kennen. Bei meiner Arbeit als Krankenpflegerin traf ich meinen dritten Ehemann, Herrn von Schewe. Es dünkte mich eine erhabene Aufgabe, den kranken Mann zu pflegen, ihm sein Leben ein wenig leichter zu gestalten, ihm ein Heim geben zu können. Seine schüchterne, tiefe Liebe rührte so gewaltig an mein Herz. Du verstehst mich? Was konnte mir das Leben noch bieten? An Glück glaubte ich nicht mehr recht. Aber als der arme, kranke Mann so eindringlich flehte: „Ach Schwester, ob Sie nun einen pflegen oder viele, ist doch gleich. Ich liebe Sie so grenzenlos, heiraten Sie mich!“, da konnte ich nicht nein sagen. Es war ja eine schier unerschöpfliche Menschenliebe in mir, ich wollte so leidenschaftlich gern einen Lebenszweck haben, ein nützliches Glied in der menschlichen Gesellschaft sein! So gab ich wiede­rum mein Jawort, brachte den Kranken nach Neapel, wo wir in aller Stille getraut wurden. Es war eine schwere Bürde, die ich trug. Mein Mann hatte mir verschwiegen, dass er schon mehrmals in Heilanstalten gewesen war. Zeitweise war er unfähig, sich zu bewegen; er war ein verschlossener, finsterer Charakter und entsetzlich nervös.

Wir zogen aufs Land. In einem Anfall geistiger Umnachtung warf mich mein Mann einmal sogar aus dem Fenster! Er kam in eine Anstalt und ich ging wieder hinaus in die weite Welt, machte viele Reisen, wusste nicht, was ich mit meinem Leben noch anfangen sollte, irrte umher. Ich sehnte mich nach Glück und Geborgenheit. Vor allem nach einer Heimat. Die Einsamkeit wurde auch von meinen Studien nicht ausgefüllt, eine so temperamentvolle Frau wie ich sehnt sich nach dem Leben und seinen Freuden! Von einer Reise durch Indien zurückgekommen, machte ich in Mentone Zwischenstation. Es war Januar und der Winter in Deutschland, dem Ziel meiner Reise, zu kalt. In Mentone wurde ich mit Herrn Meurin bekannt. Die Frauen nannten ihn einen „schönen Mann“, ich aber konnte diesem verlebten Gesicht mit der gelben, schlaffen Haut nichts abgewinnen. Der unstete Blick seiner grünlich schillernden Augen war mir oft unsympathisch. Er verstand jedoch klug und anregend zu plaudern, und seine geistsprühenden Briefe nahmen mich ganz gefangen. Ich sagte mir, wenn mich Zweifel peinigten: Ein Mann, der mit so reiner, kindlicher Liebe an seinen Eltern hängt, kann nur gut sein. Ach! Alles Lug und Trug, der ganze Mann war eine einzige große Lüge. Hätte ich auf all die Warnungen gehört, wie viel Unglück wäre mir erspart geblieben! Er sagte mir, er sei Plantagenbesitzer, Afrikaforscher, am auswärtigen Amte angestellt und mehr. Später erfuhr ich, dass er ein stellungsloser Kommis sei, nur Schulden und recht böse Sachen auf dem Gewissen habe. Ich weiß nicht, wie ich dazu kam, ihm mein Jawort zu geben, es war an einem märchenschönen Abend. Du musst wissen: Die herrliche Natur wirkt sehr auf mein Gemüt! Ich war so grenzenlos allein, er erzählte mir von seinem Elternhause, von seinen Geschwistern. Mir war so weh ums Herz. Heiße Sehnsucht nach dem Frieden dieses weinumrankten Hauses an der grünen Mosel überkam mich! Ach! Endlich einen Platz zum Ausruhen, endlich Liebe, Ruhe und Frieden! Unser Bund sollte etwas Besonderes sein, wir schlossen ihn in London. Wer könnte meine Handlungsweise nicht verstehen?

Und dann dieses grauenvolle Erwachen! Er hatte seinen Gläubigern gesagt: „Wartet, ich heirate eine sehr reiche Russin, dann bekommt ihr euer Geld. Lasst mich nur so lange in Ruhe, bis ich geheiratet habe.“ Er hatte keine Anstellung, war weder im auswärtigen Amte noch Afrikaforscher, sondern lediglich kurze Zeit Kommis einer Handelsgesellschaft in Neuguinea gewesen; dort hatte er sich eine Tropenkrankheit geholt und musste nach Europa zurückgebracht werden. Er war ein kranker, verbrauchter Mann. Auch diesem Manne verschaffte ich durch Beziehungen eine gute Anstellung im gehobenen Dienst, als Inspektor. Entzückend richtete ich unser Haus ein. Ich bin, glaube ich, eine gute Hausfrau und für meine Person sehr bescheiden. Wir wären also vorzüglich zurechtgekommen, wenn mein Mann nicht so verschuldet gewesen wäre. Er besaß keinen Pfennig Vermögen, schon als Braut musste ich ihm Geld geben, um die Hochzeit und alles andere zu bezahlen. Nun fingen die Gläubiger an zu drängen, Klage über Klage kam. Der Gerichtsvollzieher war täglicher Gast bei uns, ich bezahlte, verkaufte, es hieß ja immer: „Dies ist das Letzte.“ Meine Enttäuschung war entsetzlich, der Mann schlug mich erbarmungslos, wenn ich kein Geld geben konnte. Er zerschlug mir das Trommelfell, mein Gesicht war oft entstellt, mein Leiden nicht zu schildern. Er musste die Stellung aufgeben. Ich erfuhr, dass er wieder mit seiner früheren Geliebten zusammen sei. Ihre Briefe gingen an die Adresse des Buchhalters. Kurz, ich wollte von ihm fort. Da sagte er: „Wir wollen nach Afrika gehen, ich habe dort eine ausgezeichnete Stellung.“ Er verkaufte meine Sachen, nahm mein Geld und wir reisten ab. Ich bin so mürbe geworden. Eine derartige Gleichgültigkeit war über mich gekommen, dass ich widerstandslos alles mit mir geschehen ließ.

Herr Meurin hatte in Afrika keine Anstellung, unsere Mittel gingen zu Ende, er wurde todkrank und ich brachte ihn mithilfe eines guten Menschen zu seinen Eltern. Dort versuchte er, mich als geistesgestört hinzustellen. Als ihm dies missglückte, zeigte mich sein Vater wegen Betrugs bei der Staatsanwaltschaft an. Ich hatte ihm ein Fahrrad geschenkt, dieses bis auf 30 Kronen bezahlt und wollte es, als ich nicht weiter zahlen konnte, dem Besitzer zurückgeben. Mein Mann hatte es verpfändet. Der Schwindel kam ja während der Untersuchung schnell heraus und das Verfahren wurde eingestellt. Ich aber reichte die Scheidung ein, seither verfolgt dieser Mann mich mit seinem wütenden Hasse. Wo er mir schaden konnte, tat er es! Aber er wird seinen Lohn finden, dessen bin ich ganz sicher, noch ist nicht aller Tage Abend.

Siehst du, ich habe mir mein ganzes Leben lang ein schweres Los ausgesucht. Es gehört zu den schmerzlichsten Erfahrungen, wenn man für jemanden voll und ganz da ist und von ihm dann zutiefst enttäuscht wird. Ich musste unter schwierigsten Bedingungen lernen loszulassen und es dauerte sehr lange, bis ich das begriff. Es brauchte Zeit und das Leben ging vorbei. Manchmal erstickte ich fast an meiner Einsamkeit. Was meinst du? Warum ich vorhin geweint habe, als ich das Bild von meinem Franz gesehen habe? In solchen Momenten ist mir zum Weinen, denn Gott hat mich mit ihm beschenkt und bestraft zugleich.

Willst du wissen, wie ich ihn kennengelernt habe? Ja, dann höre mir gut zu! Müde und traurig nach den vielen rastlosen Reisen kam ich vom Süden, um mich in der frischen Bergesluft von Österreich zu erholen. Ich wählte bewusst Mürzzuschlag, weil mir gesagt wurde, dort könne ich, fern vom Getriebe der Welt, ruhig leben. Die Natur ist mir ein wichtiger Lebensbestandteil, ich war begeistert von diesem herrlichen Fleck Erde und kann mich keines Platzes erinnern, der mich so entzückt hätte. Du weißt ja, ich habe die halbe Welt bereist. Täglich machte ich weite Spaziergänge, ich kannte keinen Menschen und ich vermisste die Menschen auch nicht. Meine Seele schrie nach Ruhe und Frieden. Ich war vom Schicksal so wundgerieben, hatte ja noch kaum die letzte große Enttäuschung überwunden. Bei einer meiner einsamen Wanderungen begegnete mir eines Tages im Mai im grünen Walde ein Mann in steirischer Tracht. Ruhig schritt er den Waldweg entlang und rauchte mit Behagen seine Zigarre. Wir standen uns gegenüber und sahen uns fragend in die Augen. Der Mann stutzte, auch ich war wie versteinert. ­Zögernd nahm er den mit einem grünen Auerhahnstoß geschmückten Steirerhut vom Kopf. Eine weiche Stimme fragte mich: „Pardon, meine Gnädigste, Sie sind fremd hier?“ „Jawohl, ich bin erst ganz kurz hier“, gab ich zur Antwort. Darauf er: „Fürchten Sie sich nicht so allein im Wald? Darf ich Ihnen meine Gesellschaft anbieten? Ich bin hier der Bezirkshauptmann.“ Ist es Gottes Weg gewesen, war es Zufall, der mich diesen Mann finden ließ? Ich war zum ersten Mal in Österreich und wusste nicht, was ein Bezirkshauptmann ist. Das ganze Wesen des Mannes, von dem ich nicht wusste, was ich von ihm halten sollte, nahm mich gefangen. Seine elegante Erscheinung und seine Art zu sprechen ließen auf einen Mann von Welt schließen, dazu aber passte seine einfache, steirische Trachtenkleidung nicht. Mein Interesse, meine Neugierde waren geweckt. Ein Zauber ging von ihm aus, dem ich sofort erlag. Plaudernd gingen wir ein Stück des Weges gemeinsam, so gar nichts Fremdes war mehr zwischen uns. Es war mir, als ob ich diesen Mann, dessen Namen ich nicht einmal verstanden hatte, bereits jahrzehntelang kennen würde. Plötzlich blieb er stehen und sah mir tief in die Augen, er fasste meine Hand und sagte mit zitternder Stimme: „Ich bin so unglücklich, meine Mutter hat mich da mit einem Mädchen zusammengebracht, weil es reich ist. Ich liebe das Mädchen nicht, ich kann mit so einem Fratz nicht glücklich leben und ihm nicht treu sein. Ich habe mich gebunden und bereue es zutiefst. Ich werde mich lieber erschießen, als sie heiraten.“ Ich sah ihn erschrocken an und konnte nicht begreifen, wie man einer gänzlich fremden Frau solch intime Sachen anvertrauen konnte. Bald aber gewahrte ich eine derart große Angst im Herzen dieses sympathischen Mannes, dass ich ihm Trost spenden musste. Ich sagte ihm, eine Verlobung sei ja längst keine Ehe. Die Zeit der Verlobung sei dazu da, sich gegenseitig zu prüfen, ehe man sich fürs Leben bindet; und dass er ein Unrecht an jener jungen Dame begehe. Eine solche Handlungsweise sei eines Ehrenmannes unwürdig und er sei verpflichtet, den Eltern der Dame seine Gesinnung offen und ehrlich mitzu­teilen. „Aber meine Eltern sind in sehr schlechten Verhältnissen, da hat wohl meine Mutter viel falsch gemacht und dazu beigetragen. Schon seit langer Zeit öffne ich ihre Briefe nicht mehr, weil ich dieses fortwährende Drängen nicht mehr ertragen kann!“

Er hatte Tränen in den Augen und mir steckten sie im Hals. Stell dir vor, ich konnte mich nur mit Mühe beherrschen. Wir setzten uns auf eine Bank und plötzlich hielt er mich fest in seinen Armen und flehte: „Hilf mir, hilf mir! Dich hat Gott zu mir geschickt, ich fühle es so deutlich; sage mir bitte, wie darf ich dich nennen?“ „Mara“, stammelte ich. Ein namenlos beseeligendes Gefühl hatte mein ganzes Sein erfasst. Wir waren beide ganz still, dieser einzigartige Friede umgab uns, leise rauschten die grünen Wipfel. Wie eine heilige Andacht umgab uns die grüne Waldeseinsamkeit und nur die lustigen Finken sahen unser zagendes Glück! Am anderen Tage fuhren wir auf den Semmering. In Mürzzuschlag beobachtete man jeden Schritt und wir hatten uns viel zu sagen. Dass der Bezirkshauptmann bei mir seine Karte am Vormittag abgegeben hatte, wusste bereits das ganze Mürztal. Wir gingen in den Wald und dort fing ich an, von meinem Leben zu erzählen. Ich sprach davon, wie mein Mann mich so entsetzlich misshandelte, wie furchtbar ich gelitten hatte, wie sich in mir ein Gefühl aufstaue, welches mich fast zu zersprengen drohe. Er sollte einen vollständigen Einblick in mein Leben bekommen. Er sollte mein ganzes Leben kennen – und dies hat er in Briefen an befreundete Personen, die auch bei der Gerichtsverhandlung verlesen wurden, deutlich gesagt. Doch ich will nicht abschweifen. Er verstand mich so gut, war ja auch in ihm diese ungestillte Sehnsucht nach Glück, ein Unbefriedigtsein, eine Empfindung, wie herrlich es sein könnte, wenn zwei Menschen Hand in Hand in tiefer Liebe vereinigt ihr Leben gemeinsam lebten, ineinander und miteinander. Und er schloss mich so fest in seine Arme, als ob er mich nie wieder lassen wollte. Er flehte, er bat: „Sei meine Frau. Auf meinen Händen will ich dich tragen, alles Schwere, was du erlebt und erlitten hast, wird meine Liebe dich vergessen machen. Mir liegt nichts am Geld, darüber mache dir keine Sorge. Tausende leben von Einkünften gleich den meinigen, ich will nur glücklich sein.“ Ich machte ihn darauf aufmerksam, dass er nicht frei sei, dass er schweigen müsse. Und dass ich, obwohl ich ihn unsagbar lieb habe, nicht seine Frau werden könne. Aber er wollte von alledem nichts hören, seine süßen Zärtlichkeiten erstickten mich fast. Ich schloss die Augen und ich konnte kaum fassen, was ich hörte. Mir schwindelte vor diesem Glück, ich liebte diesen Mann mit dem goldenen Herzen, mit dem lauteren Charakter. Und doch konnte ich nicht seine Frau sein, eben weil ich ihn so innig liebte. Mein Franz wollte nicht von mir lassen, ich hatte ihn auf Stürme vorbereitet, habe ihm alles gesagt, ihn gewarnt – aber er sagte nur immer wieder: „Ich lasse dich nicht, ich liebe dich zu sehr, ich kann ohne dich nicht leben.“ Auch ich war noch nicht frei, noch nicht geschieden, mein Mann verfolgte und quälte mich. Wenn er erfuhr, dass mir ein Glück blühte, so zerstampfte er es aus niedriger Rachsucht. Meinen Hinweis, dass es für ihn als Bezirkshauptmann unbedingt notwendig sei, eine reiche Frau zu heiraten, tat er ab mit den Worten: „Und wenn du mit nur einem Hemd zu mir kommst, ich heirate dich und bin glücklich!“ So schrieb er schließlich mit meiner Hilfe an die Mutter der jungen Dame, ihr auseinandersetzend, dass er ihre Tochter nicht liebe und diese Verbindung bei der Verschiedenartigkeit der Charaktere keine glückliche sein könne. Im selben Atemzuge bat er mich erneut, seine Frau zu werden, sprach von seiner Liebe zu mir, erzählte mir, wie er sonst immer so schwer einen Entschluss fassen könne und diesmal so schnell mit sich einig sei.

An diesem Tag war ich auch zum ersten Mal in seinem Büro. Die musterhafte Ordnung auf seinem Schreibtisch, die Wärme, mit der er von seinem Beruf sprach, alles entzückte mich. Am anderen Morgen bekam ich von ihm einen Rosenstrauß mit einem Brief, worin er mir mitteilte, dass er von der Mutter der jungen Dame seine Briefe zurückerhalten habe, ohne Begleitschreiben. Er sei nun frei und komme gegen zwölf Uhr zu mir. Er wolle ganz feierlich um meine Hand bitten. Er sei glücklich und zähle die Stunden, bis er mich als seine Braut in den Armen halten könne. Was meinst du wegen meines Vorlebens? … Denkst du, er hatte ein Problem damit? „Sprich nicht von deiner Vergangenheit, mein süßes Engelsmärchen, sie geht mich überhaupt nichts an. Du regst dich nur auf. Ich will gar nichts wissen. Was geht es mich an, was hinter dir liegt, die Zukunft gehört uns und ich liebe dich so heiß, so grenzenlos“, waren seine Worte und ich konnte nicht anders, als ihm mein Jawort zu geben. Hier kam endlich mein Glück, ich war ihm zum Leben notwendig. An seine äußere Position dachte ich dabei nicht, denn ich wusste, dass wir beide arm waren. Mit ihm an meiner Seite fürchtete ich mich vor keinem Kampf, er wollte mich schützen, er liebte mich, nur mich, meine Seele! Auf einmal war die Welt schön, auf einmal schien die Sonne in mein freudloses Dasein. Es waren die enormen Gegensätze unserer Charaktere, die uns so mächtig anzogen. Das Märchen von zwei Sternen, die sich im weiten Weltall suchten, wurde zur Wahrheit für uns. Weißt du, er war eine schwache Natur, die sich anlehnen musste; ein ewiges Hin- und Herschwanken, ein unfertiger Charakter, dem die „Freistelle“ auf der Theresianischen Akademie den Stempel aufgedrückt hatte. Der von dem Augenblick an, in dem er selbstständig denken konnte, von seinen Eltern nur mit dem Ausblick auf eine steile Karriere gefüttert worden war. Er lernte nie die Stürme des Lebens kennen, andere ebneten ihm die Wege, kampflos fiel ihm alles in den Schoß, ein Kindergemüt steckte in der entzückenden Hülle! Die Jagd nach der reichen Frau hatte ihn müde gemacht. Wo er Geld gefunden hatte, fehlte die Zuneigung, und die Mama erlaubte doch nur eine sehr reiche Heirat. Denn Geld brauchte man: Erstens, um Karriere zu machen, in Österreich noch viel mehr als anderswo, aber auch die Familie brauchte Geld, die Schulden lasteten auf all ihren Mitgliedern.

Nun aber fand mein Franz in mir den starken Charakter, an den er sich anlehnen konnte, er fand eine Frau, die nicht nur die Geliebte des Mannes sein wollte, sondern auch sein bester und treuester Kamerad. Eine Frau, die ganz anders war als die jungen Damen, die er in den Salons kennengelernt hatte. Einen fertigen, festen und selbstbewussten Charakter, ein Wesen, das sich Schätze angeeignet hatte, die nicht dem ewig sich drehenden Rad Fortunas unterworfen sind. Er kannte nichts sonst, als seine Amtsgeschäfte gut zu verrichten. Selbst die Klassiker waren ihm fremd. Seine ganze Widmung bestand darin, ein eleganter Mann mit guten Manieren zu sein. Sein Herz aber war von Gold und seine Liebe brachte mir den Himmel auf Erden.

Es kamen herrliche Tage voll heimlichen Glückes! Nachdem wir uns verlobt hatten, fuhren wir nach Graz zum Notar und machten jeder unser Testament und einen Ehekontrakt. In diesem gab ich natürlich an, dass ich kein Vermögen habe. Später schrieb mein Mann einen Brief an meinen Anwalt, Herrn Doktor Kner, nach Trier, in welchem er ihn bat, die Scheidung voranzutreiben, da ich in elenden finanziellen Verhältnissen lebe! Und da behaupten die Menschen noch immer das Gegenteil! Vor Jahren sagte man mir, eine hohe Persönlichkeit des obersten Gerichtshofes habe sich dahingehend geäußert, dass ich meinem Manne angeblich einen enormen Reichtum vorgeschwindelt habe!

Au contraire! Ich hatte den Heldenmut und zwang meinen Verlobten mein ganzes Leben anzuhören. Seine eigenen Briefe geben Zeugnis davon, dass er alles gewusst hat und mich nur umso inniger liebte. In meinem Glückstaumel dachte ich gar nicht an die Klatschbasen männlichen und weiblichen Geschlechts in diesem Nest. Ich lachte, wenn Franz mich davor warnte, in Reichweite der Mürzzuschlager Megären zu kommen. Mein Empfinden, meine Gedanken, mein Leben waren so rein, dass ich nicht einmal den Schein zu wahren trachtete. Die Leute waren ja auch alle so liebenswürdig zu mir und ich kannte diese erbärmliche Sorte Menschen noch nicht. Trotz meiner Welt- und Menschenkenntnis nahm ich das falsche Getue für bare Münze. Alles Schreckliche hatte ich verdrängt und lebte schlichtweg in der seligen Gegenwart meines jungen glücklichen Brautstandes. Bekanntlich sieht man in dieser Stimmung alles im rosigsten Lichte. Ist es dir noch nie so ergangen? Nein? Oh du Glückliche, kann ich nur sagen! Da ist dir im Leben viel erspart geblieben! Was? … Dann höre mir gut zu, wie sich alles entwickelt hat in Mürzzuschlag. Täglich kamen anonyme Briefe des gemeinsten Inhaltes. Diese Briefe charakterisierten die Gesinnung der Mürzzuschlager.

Franz aber teilte seinen Eltern und seinem Bruder unsere Verlobung mit und bat um ihren Besuch. Seine Familie leistete der Einladung Folge und kam am 26. Juni vollzählig nach Mürzzuschlag. Die Mutter, eine furchtbar hässliche Frau mit einem unförmigen, dicken Leib, einem hageren, von roten Flecken entstellten Gesicht, sah aus, als ob sie in einen sauren Apfel gebissen hätte. Der Vater ist Kavalier, der Bruder ein nichtssagender Mann; seine Frau erinnert lebhaft an den Martinsbraten – oder wie nennt man die weißen Vögel vom Kapitol? Die ersten Worte, welche seine Mutter an mich richtete, waren: „Meine Gute, mein Sohn besitzt gar nichts, kein Vermögen!“ Bleich vor Entsetzen über diese Taktlosigkeit erwiderte ich: „Oh Madame, das macht doch überhaupt nichts aus!“ Bei Tisch zankte sich die ganze Familie und Franz wurde immer nervöser und sagte seiner Mutter unglaubliche Grobheiten; einzig die junge Frau seines Bruders fühlte das Ungemütliche der Situation nicht, weil das Essen sie zu sehr in Anspruch nahm. Herzlich froh war ich, als die Herrschaften wieder abreisten. Diese „Familie“ war der erste Wermutstropfen im Becher meines Glückes. Ich wurde mit Briefen seiner Mutter überschüttet. Was wollte sie nicht alles wissen! Wo mein Geld lag, wie viel es sei, wie es angelegt sei, ob es auf Franz’ Namen geschrieben werden würde. Ich antwortete kühl und höflich, dass mein Bräutigam über meine Verhältnisse genau unterrichtet sei.

Unsere Brautzeit wurde durch die Quälereien seiner Mutter und durch die anonymen Briefe der Ortsbewohner getrübt. Von allen Seiten legte uns der ach so moralisch denkende Pöbel nahe, wir sollten endlich diesem unhaltbaren Zustand, unverheiratet zusammenzuleben, ein Ende bereiten. Mein Schatz war furchtbar nervös, wir litten grenzenlos, unsere Liebe aber wuchs von Tag zu Tag. Sie wurde durch diese Widerwärtigkeit nur intensiver. Franz weinte, als ich vom Fortgehen sprach und in Anwesenheit seines Vaters bat ich ihn aufrichtig, mich ziehen zu lassen. Seine Mutter hatte ihren Mann nach Mürzzuschlag geschickt, um Franz heimlich zu sagen, wie es um meine Vergangenheit stehe. Merkwürdig, wenn ich jetzt so darüber nachdenke: Immer, wenn der Vater nach Mürzzuschlag kam, zitterte ich. Er brachte nur Unglück. Noch am selben Tag reiste ich nach Wien, damit mein Franz einen klaren Kopf bekommen konnte. Ich wollte den ganzen Intrigen, die seine Mutter ständig spann, entfliehen. Mein Liebling war jedoch zu schwach, um seinen Eltern Paroli bieten zu können. Ich sage dir: Schwache Menschen sind das Produkt ihrer Umgebung. Sie selbst kann man dafür nicht verantwortlich machen. Und du irrst dich, wenn du glaubst, ich hätte meinen Franz vor die Alternative gestellt: „Entweder du heiratest mich, oder ich bleibe in Wien!“, so wie es mir angedichtet wurde. Franz war es, der mir geschrieben hat: „Ich erschieße mich im selben Augenblick, in dem du sagst, dass du für immer gehst!“

Mir lag nur sein Glück am Herzen. Und erst als er mich überzeugt hatte, dass ich wirklich sein Glück bedeutete, ging ich nach Mürzzuschlag zurück – fest entschlossen, unter allen Umständen die Gattin des heißgeliebten Mannes zu werden. Ich wollte alles tun, was eine liebende Frau nur ersinnen kann, um meinen Auserwählten glücklich zu machen. Nach meiner Rückkehr nagte aber eine innere Unruhe an uns beiden. Um diesem qualvollen Zustand ein Ende zu bereiten, aber auch aus Angst, dass mich diese Quälereien ermüden könnten, ging er dann schließlich zum Pfarrer in Mürzzuschlag und holte sich dort Rat. Auch er selbst hatte aufgrund des Geredes im Ort keine Ruhe, um seiner Arbeit nachgehen zu können. Er war neu in seinem Amte und wusste: Wenn er seinen Aufgaben nicht gewachsen war, würde er diese Anstellung verlieren, die ihm und seiner Familie das hohe Ansehen brachte.

Das alles sah ich und konnte nichts ändern. So befürwortete ich seinen Schritt, sich dem hiesigen Pfarrer anzuvertrauen. Der Pfarrer riet zu schleuniger Hochzeit und wollte mich sehen. Mein Herzensschatz bat mich, auf keinen Fall über mein bitteres Schicksal zu sprechen, denn der hochwürdige Mann mit dem niedrigen Horizont würde es nicht verstehen. So erzählte ich dem Pfarrer also nur, dass ich eine geschiedene Frau und noch nicht frei sei. Dass meine Dokumente bei einem Prozess gebraucht würden und nicht zu meiner Verfügung stünden. Auf seine Frage, ob mein ehemaliger Gatte noch am Leben sei, erwiderte ich, dass ich nichts von ihm wisse. Für mich sei er nicht mehr auf der Welt. Auch sagte ich dem Pfarrer, dass, wenn er mich, weil ich eine geschiedene Frau sei, nicht trauen könne, wir auf andere Art zum Ziele kommen würden. Er jedoch meinte, das sei für ihn kein Hindernis. Daraufhin bat Franz den Pfarrer, ein feierliches Eheverlöbnis in der Kirche von Mürzzuschlag vorzunehmen, er werde danach beruhigt sein. Am 15. Juli fand dieses Eheverlöbnis in der geschlossenen Kirche statt. Du kannst dir vorstellen, dass ich auf diese Lösung nur deshalb eingegangen bin, weil ich hoffte, dass nun endlich Ruhe in unsere Beziehung einkehre. Aber meinem Franz reichte das Eheverlöbnis nicht. Nach geraumer Zeit erklärte er mir, es müsse auf schnellstem Wege etwas gefunden werden, das es uns ermögliche, vor der ganzen Welt als Ehepaar zusammenzuleben und nicht nur unter dem pöbelhaften Volk in Mürzzuschlag. Er schrieb an meinen Anwalt in Trier, der den Scheidungsprozess führte, dass ich geneigt sei, alle Schuld auf mich zu nehmen, dass er ihm sogar ein Extrahonorar geben wolle, wenn er die Scheidung beschleunige, denn der Pfarrer warte bereits auf meine Dokumente. Außerdem werde er zwei Wochen Urlaub bekommen, nachdem der Kaiser mit dem Zaren zur Jagd in Mürzsteg gewesen sei, und plane in dieser Zeit die Hochzeitsreise. Ich war schockiert, doch dem nicht genug. Um den Quälereien seiner Eltern zu entkommen, teilte er ihnen unsere bevorstehende Hochzeit mit und dass ich 300.000 Kronen für ihn deponiert habe. Seine Mutter wollte ja nur das viele Geld. Dann ging er zum Pfarrer, der ihm versprach, ein Eheverlöbnis in Form einer richtigen Hochzeit vorzunehmen. Er zeigte mir ein Dokument, das folgenden Wortlaut hatte: „Um der Braut des Herrn Bezirkshauptmannes zu ermöglichen, unter dem Schutze ihres zukünftigen Gatten vor den Verleumdungen und Anfeindungen eine Zuflucht zu finden, nehme ich in Form einer Hochzeit ein feierliches Eheverlöbnis vor. Doch hat diese Ehe vor dem Gesetze keine Gültigkeit!“ Dieses Schriftstück schrieb der Pfarrer, stempelte es und versah es mit dem Kirchensiegel. Nach der Hochzeit sei das Schreiben von den Trauzeugen zu unterfertigen und außer uns und den beiden Herren würde ja niemand davon erfahren. Erst nach einer tatsächlich rechtmäßigen Trauung sollten die Daten ins Kirchenbuch eingetragen werden. Mein Mann gab dafür 600 Kronen! Meine Scheidungspapiere waren zu dieser Zeit noch immer nicht in Mürzzuschlag eingelangt. Dem Bürgermeister musste er ebenfalls ein paar Hundert Kronen zustecken, damit er keine Schwierigkeiten betreffend gewisser Unstimmigkeiten zur Formalität machen konnte. Zu meinem Franz, der selig war, sagte ich: „Du bist ja der Hüter des Gesetzes und musst wissen, ob das angeht, was ihr da vorhabt!“

Ohne mein Wissen erteilte mein Verlobter Dispens vom dreimaligen Aufgebot und die Hochzeit legte er für den 9. August 1903 fest, es sollte eine Überraschung für mich sein. Erst eine Woche vor dem Hochzeitstermin, als er sein Ziel unmittelbar vor Augen hatte, wurde er ruhiger und erzählte mir alles. Du kannst dir sicherlich vorstellen, wie verwundert ich war, doch er beruhigte mich: „Die Hochzeit ist ein gutes Zeichen, sagen die Leute, und alle freuen sich für uns!“ Die wenigen Tage vergingen wie ein süßer Rausch, wir zählten die Stunden, machten Pläne, richteten im Geiste die Wohnung ein und lebten in heller Glückseligkeit. Und dann kam der große Tag, der uns die Erfüllung unserer heißesten Wünsche brachte. Ein Sommertag voll Sonnenschein und Blumenduft. Die kirchliche Feier war wundervoll. Wie kann ein Mensch dankbareren Herzens zu seinem Schöpfer gebetet haben als wir vor dem Altar? Nach der Zeremonie hielten wir uns umschlungen, als könnten wir uns nicht mehr aus den Armen lassen. Mein Gesicht war von seinen Freudentränen benetzt, wir fanden nur mit großer Mühe unsere Fassung wieder, um die Glückwünsche der Gäste in Empfang zu nehmen. Das Diner im Hofwartesalon des Bahnhofs war ausgezeichnet und die Stimmung, dank des sehr reichlichen Sektgenusses, eine ungemein fröhliche. Nur die Familie meines Mannes stimmte nicht ein in die allgemeine Fröhlichkeit. Meine Schwägerin war wütend, dass sie neben dem Bürgermeister sitzen musste und „nicht standesgemäß“ platziert war. Der Herr Bürgermeister erzählte so ausgiebig, wie er schwitzte. Am Abend fuhren wir dann nach Wien, ein Teil der Hochzeitsgesellschaft gab uns bis zum Semmering Geleit. Still saßen wir nebeneinander, mein Mann hatte mich fest in seinen Arm genommen. Wir sprachen beide kein Wort. Nach den Kämpfen der letzten Zeit umfing uns jetzt die wohlige Gewissheit: Nun gehörten wir zusammen. Dankerfüllten Herzens genossen wir dieses Glück. Nur ab und zu stammelte mein Franz: „Mein Märchen, du mein süßes Frauerl, jetzt bist du mein!“ Und nun stell dir vor: Unterwegs bemerkte mein Mann, dass er sein gesamtes Gepäck vergessen hatte! So stieg er aus, um zu telegrafieren, und in seiner großen Nervosität vergaß er wohl, zur rechten Zeit wieder in den Zug einzusteigen. Ja, so war er! Der Zug fuhr ohne ihn ab und erst in Wiener Neustadt trafen wir uns nach einigen Stunden wieder. Wir hielten uns etliche Tage hier in Wien auf und fuhren anschließend weiter nach Ungarn zu Verwandten meines Mannes, lieben, prächtigen Menschen, denen ich in meinem Herzen stets ein warmes Andenken bewahren werde. Sie verstanden meine Antipathie gegen meine Schiegermutter und erzählten mir Geschichten aus dem Leben dieser Frau. Ich könnte dir hässliche Sachen erzählen, aber ich mag nicht weiter im Schmutz wühlen. Wie bitte? … Warum ich mich dann mit dieser furchtbaren Frau geeinigt habe? … Oh Gott, das ist eine eigene Geschichte und für diese ist es heute wohl zu spät, meine Liebe, du entschuldigst. Gut, eine Frage noch! … Warum ich diese fünfte Ehe eingegangen bin? In erster Linie aus Liebe, denn die wahre Liebe lernte ich mit meinem Franz kennen und deshalb war diese Liebe, die sich unbewusst in meinem Herzen aufgespeichert hatte, so intensiv, so elementar. Es gibt aber auch, außer der Liebe, einen anderen zwingenden Grund – das heißt, für mich gab es ihn. Nämlich die Hilflosigkeit eines Mannes. In mir ist ein starker Hang zur Opferfreudigkeit. Sie hat mir, bis ich die Liebe kennenlernte, diese ersetzt. Das schöne, starke Gefühl erfüllter Pflicht ist beinahe Glück! Hätte man meinen Mann und mich zusammengelassen, es wäre mit jedem Tage ein vollkommeneres Glück geworden. Ich hätte diesen Mann meiner ersten, herrlichen Liebe hinaufgetragen zum höchsten moralischen Fühlen. Doch leider, diese glühende, verlangende Liebe und das schrankenlose Sich-Hingeben konnten keinen Bestand haben. Frevelnde Hände wühlten in unserem Heiligtum und ich habe nicht im Geringsten daran gedacht, dass ich beneidet werden könnte. Mir ist dieses Gefühl so fremd, ich hatte auch gar keine Zeit, an Böses zu denken in dieser wonnigen Zeit. Oh herrliche, süße Zeit. Worte vermögen unser Glück nicht zu schildern. Die Hochzeitsreise endete in Tatrafüred und die Natur stimmte uns auch so freudig, wir machten ganz allein herrliche Spaziergänge am See. Ich denke an die Abende auf unserem Balkon, dieses ganze wonnige Liebesleben mit seinen tausend so nichtssagenden Geheimnissen, die alle so süß sind. Oh Gott, jetzt, wo ich in Erinnerung an die wundervolle Hochzeit mit meinem Franz schwelge, werde ich ganz sentimental, entschuldige. Ich muss mir die Nase putzen. Siehst du, wie meine Hände zittern? Ob das irgendwann vergehen wird? … Ich denke nicht. Wie du siehst, bin ich eine von ihrem schweren Schicksal gezeichnete Frau.

Du bist bestimmt neugierig, wie es nach unserer Hochzeitsreise weitergegangen ist. Ich möchte dir diese schreckliche Geschichte nicht vorenthalten, sie war der reinste Horror für mich. Es wundert mich heute noch, wie ich diese furchtbare Zeit in Leoben im Gefängnis überleben konnte. Wie? Du wusstest nicht, dass ich tatsächlich im Kerker war? Ob ich dir davon erzählen möchte? … Ich bin mir nicht sicher, ob ich alles noch einmal in Erinnerung bringen soll. Das wird schwer und im Moment fehlt mir fast die Kraft dazu, es dir zu erzählen. Außerdem ist es mir heute bereits zu spät geworden. Wann hast du wieder Zeit? Oh, morgen schon? … Wirklich? Also dann bis morgen, meine Liebe. Ich freue mich sehr darauf und werde mich heute ausruhen. Hier, im Hotel Imperial, um 9 Uhr, ja? Also meine liebe Freundin, bis morgen dann!

***

Wartest du schon lange auf mich? Entschuldige, dass ich mich verspätet habe. Nach den vielen Erinnerungen, die sich gestern wie ein grauer Nebelschleier über meine Seele gelegt haben, ist es mir heute früh sehr schlecht gegangen. Es hat mich viel Kraft gekostet, überhaupt aufzustehen. Warum ich trotzdem gekommen bin? … Ich bin eine Kämpfernatur, auch wenn mich das ganze Leben kränkt. Kennst du das? Nein? Dann hast du es besser, ich beneide dich fast. Auf verschiedenste Art und Weise drückt mir die Verzweiflung immer wieder mein Herz zusammen. Wenn ich jedoch denke, wie sehr mich mein Franz geliebt hat, wird es langsam wieder. Und gerade aus diesem Grund bin ich da, wie du siehst. Ich möchte dir unbedingt weiter erzählen, wie stark unsere Liebe war. Obwohl ich denke, nein – heute weiß ich es mit Sicherheit, dass ich ihn mehr geliebt habe als er mich. Anscheinend muss es im Leben so sein, dass es einen gibt, der den anderen mehr liebt. Warum ich denke, dass er mich weniger geliebt hat? … Ach, mein Herzchen, vielleicht verstehst du das noch nicht! Über diese Frage brauche ich nicht lange nachzudenken. Es liegt auf der Hand. Als die ersten wirklich ernsten Probleme aufgetaucht sind, hat er mich einfach zurückgelassen. Er ist gekommen, war für mich da und ist wieder gegangen. Ein seltsamer Zug des Lebens. Denn als er weg war, dachte ich, nicht mehr weiterleben zu können. Doch gleichzeitig wurde mir bewusst, dass er immer noch da war. Meistens ist es so, dass die Zeit alles bereinigt, auf ihre eigene und einzig mögliche Art. Doch diesmal war mir klar, dass nichts mehr in Ordnung kommen würde. Ich wäre gerne gleichgültig gewesen und konnte es nicht. Heute weiß ich, was geschehen ist, und ich weiß auch, warum alles so geschehen ist. Doch davon etwas später.

Wo war ich gestern mit meinen Erzählungen stehen geblieben? Genau, die Hochzeitsreise! … Es waren wirklich wundervolle Tage in Ungarn und dann kamen die Heimfahrt und bald darauf das böse Erwachen. Kannst du bitte den Ober rufen? Ich möchte mir einen starken Kaffee und ein Glas Wasser bestellen. Danke. Also mein Liebster und ich waren wieder zurück in Mürzzuschlag. Wir wohnten noch die ersten Tage im Hotel, während ich unser Nest einrichtete. Mein Herzensmann durfte nichts sehen, es sollte eine Überraschung sein. Ach, wie ich schaffte, wie ich arbeitete, wie ich immer und immer nachsann, was ihm wohl noch eine Freude bereiten könnte, und endlich kam der große Tag, an dem ich meinen geliebten Franz im Triumph durch unser Heim führte! Wie soll ich dir dieses jauchzende Glück nur schildern – jedes Stück musterte er und bei jedem Einzelnen erinnerte er sich: „Dies haben wir dort gesehen und ich sagte dir, dass es mir gefällt. Jenes habe ich mir damals gewünscht, mein Märchen, hier ist ja alles nur für mich eingerichtet. Bei allem dachtest du nur an mich und an meine Bequemlichkeit, mein Frauerl, mein Märchen.“ So hat er mich am liebsten genannt, mein Märchen. Entschuldige, wenn mir erneut die Tränen kommen. Das geht gleich vorbei. Wir herzten und küssten uns, dann begann die Wanderung aufs Neue und als wir müde wurden und uns zum ersten Mal im eigenen Heim, im gemütlichen Schlafzimmer zu Bett legten, da stieg ein heißes, inbrünstiges … Nein, nein, nicht was du denkst! Es stieg ein inbrünstiges Dankgebet aus meinem Inneren zu Gott empor. In diesem Augenblick vergab ich all den Menschen, die sich uns in den Weg gestellt hatten, um unser Glück zu verhindern. Ernsthaft nahm ich mir vor, meiner Schwiegermutter eine gute Tochter zu sein. Wir arrangierten uns. Du kannst mir glauben, ich habe mein Versprechen gehalten! Mit wahrem Feuereifer begann ich mein Hauswesen. Mein herziger kleiner Haushalt lief bald wie ein Uhrwerk. Lach jetzt nicht, das kann man sich ruhig so vorstellen! Sämtliche Leute, die uns besuchten, waren entzückt über unser Heim, dessen Zauber sich niemand verschließen konnte. Ob ich keine Zofe hatte, willst du wissen? … Natürlich hatte ich eine Zofe, ein junges und eifriges Ding, Anuschka. Sie war sehr hübsch. Ich hatte sie von einer meiner weiten Reisen mitgebracht. Sie hat mir seinerzeit sehr leidgetan. Ihr vorheriger Dienstherr hatte sie sehr schlecht behandelt, sogar geschlagen, und da habe ich mich aus Mitleid ihrer angenommen. Sie war sehr verängstigt und ihre Stellung hat sich durch mich schnell geändert. In Mürzzuschlag war sie für mich mehr eine Freundin als eine Dienerin. Außerdem war ich sehr sparsam, erledigte das Meiste im Haushalt selbst und so konnte Anuschka sich im Hotel „Post“ ein kleines Zubrot verdienen und sich ein eigenes Zimmer neben unserer Wohnung leisten. 50 Kronen zahlte ich ihr dafür, dass sie mir zur Hand ging. Du siehst, wir lebten bescheiden. Mein Mann hatte außer seiner Dienstwohnung nur 400 Kronen monatlich Gehalt, davon musste er mindestens ein Drittel wieder ins Amt stecken, da das Pauschale viel zu gering war. Für meine gesamte Wirtschaft brauchte ich pro Monat gerade einmal 200 Kronen, trotz der teuren Verhältnisse im Semmeringgebiet. Ich musste ja in Mürzzuschlag auch alles teurer bezahlen. Später dann ließ ich mir, zum Verdruss der Mürzzuschlager Geschäftsleute, das, was ich brauchte, aus Wien schicken. In den zehn Monaten meiner Ehe habe ich mir nicht einen Heller vom Geld meines Mannes genommen. Auch besitze ich kein einziges Geschenk meines Mannes! Stell dir vor, mein Mann hatte Schulden, von denen ich erst viel später erfuhr. Sogar die Quartiersfrau seiner letzten Wohnung in Wien hier, Fräulein Gusti, schrieb diesbezüglich an mich, da sie auf mehrere Briefe an meinen Mann keine Antwort erhalten hatte. Ich bezahlte stillschweigend. Von nun an liefen täglich Mahnbriefe ein. Mein Schatz hatte an unserem Hochzeitstag gerade noch den Rest seines Gehaltes, nämlich 300 Kronen. Kannst du dir so etwas vorstellen? Ich bezahlte das Hochzeitsdiner, die Hochzeitsreise und gab einen Großteil meines Vermögens hin, um seine Schulden zu decken. Damit es nicht auffiel, brach ich einzelne Steine aus meinem wertvollen Schmuck und verkaufte sie. Dass ich anstelle der echten Steine falsche setzen ließ, geschah nur, um meinem Mann keine Demütigung zu bereiten. So sehr habe ich ihn geliebt. Hätte er mein Herzblut tropfenweise verlangt, ich hätte es ihm freudig gegeben. Verstehst du jetzt meine Worte vorhin, dass meine Liebe größer war als die seine? In Mürzzuschlag glaubten alle, dass mein Mann nur den schönen Körper liebte und meine Seele, meine Charaktereigenschaften ihm gleichgültig waren. Ich müsste lügen, wenn ich nicht zugeben würde, dass sich die ganzen Männer in Mürzzuschlag nach mir umdrehten. Wahrscheinlich konnten ihnen ihre eigenen Frauen, die mir sehr prüde schienen, nicht solche Reize bieten, wie ich sie hatte. Jedoch gehörten meine Reize lediglich meinem Franz und er liebte meine Seele, wenn auch nicht ganz bewusst. Er war eben auch nur ein Mann, der aber meinen Charakter achtete und bewunderte. Mit nicht wiederzugebendem Entzücken genoss er alles, was ich ihm zeigte und bot. So erfüllte ich ihm mit Verständnis all seine unausgesprochenen Wünsche, die ich ihm von den Augen ablas. Er hielt es kaum wenige Stunden ohne mich aus. Gewiss war seine Liebe auch eine sinnliche, nur war ihm die Sinnlichkeit nicht Hauptsache und ich versuchte Maß zu halten. Auch im intimsten ehelichen Verkehr, wenn ich dir das so sagen darf, ließen wir uns niemals gehen, alles hatte eine gewisse Weise und stets genossen wir unsere heiße, stürmische Liebe als etwas Neues, sogar Heiliges!

Ich will dir seine eigenen Worte wiederholen: „Schatz, wie ist bei uns doch alles so heilig, was gibt mir dein tiefes Gemüt für ein grenzenloses Glück! Aber sag, wirst du mich auch lieben, so wie jetzt, wenn ich, was vielleicht bald sein wird, dich nur noch küssen kann?“ Ich habe ihm sehr ernst geantwortet, dass das, was er meint, doch nicht die „Hauptsache“, dass die wahrhaftige Liebe davon doch ganz unbeeinflusst sei. Eine Ehe wie die unsere basiere doch auch auf gegenseitiger Hochachtung. Die Gewohnheit, die Intimität des Ehelebens muss ja den Liebesrausch mit der Zeit dämpfen, dies sei ein Naturgesetz. Wenn jedoch dann die Freundschaft und die Hochachtung bleiben, so sei das ein herrlicher Ersatz für den Sinnesgenuss. Dieser Mann soll mich „Luder“ genannt haben? Nein, ich kann es nicht glauben, ich will mir wenigstens sein Andenken erhalten. Das Leben ist ja jetzt so elend für mich. In meinen Gedanken an ihn, den ich heute noch immer innig liebe, will ich die traurige Gegenwart vergessen. Wir lebten ganz für uns. Die Leute in Mürzzuschlag waren so minderwertig. Spießbürger, deren einzige Beschäftigung Klatsch und Tratsch waren. Eine entsetzliche Sorte von Menschen, engherzig, verdummt, nicht die geringste Gemeinsamkeit verband uns mit ihnen. Ich kam mir zu gut vor, als dass ich ihre neugierigen, albernen Fragen beantworten wollte. Mir war neu, dass Menschen so neugierig und dumm zugleich sein konnten. Warum ich dann in Mürzzuschlag geblieben bin? … Die Liebe zu meinem Mann wird zu meinem Schicksal, dachte ich, und durch seine Anstellung als Bezirkshauptmann waren wir an Mürzzuschlag gebunden. Ich versuchte ruhig und freundlich zu bleiben, hatte keine wirkliche Angst mehr vor dem hetzenden Pöbel in Mürzzuschlag. Ich sagte mir: Das sind alles Gescheiterte – und dieser Gedanke erfüllte mich nicht mit Befriedigung, sondern ich fühlte plötzlich Mitleid. Hast du schon einmal ein tiefes, demütiges Bedauern für jemanden empfunden? Nein? Es ist so, wie wenn man merkt, dass andere etwas Unpassendes tun und man selbst viel zu reif ist, um sie zu tadeln, weil sie auf einer bestimmten Stufe der Entwicklung stehengeblieben sind. Nur wenn diese Leute mich besuchten, war es eine Qual für mich. Ich bemerkte, wie sie mit Unverstand und Unvermögen jedes Stück, welches in unserer Wohnung stand, prüften. Sie fragten nach den Preisen, wunderten sich über alles, erfassten nichts. Mit dreister Neugier wurde alles aufgenommen; mir bereitete dieses Zerstückeln unseres Heiligtums fast körperliche Schmerzen. Öffentliches Ärgernis erregte es in Mürzzuschlag, dass ich lieber auf eine „gute Stube“ verzichtete und mir stattdessen ein Badezimmer einrichten ließ. Wenn die Besucher unser Schlafzimmer sehen wollten, wurde ich grob und so schuf ich mir Feinde. Ich gab auch keine Kaffeegesellschaften, fragte die Leute nie etwas, was mir allerdings nicht als Zartgefühl, sondern als Interessenlosigkeit ausgelegt wurde. Wenn ich ehrlich bin, war ich diesen Menschen gegenüber eine sehr schlechte Zuhörerin. Ob ich keine Freunde hatte in Mürzzuschlag? … Natürlich hatte ich auch Freunde, aber es waren sehr wenige und sie gehörten eher zu den armen Leuten, die von der Welt noch nicht viel gesehen hatten und zu meinem einfachen Mann passten. Um ehrlich zu sein, muss ich dir sagen, dass mein Mann geistig nicht sehr begabt war. Gelernt hatte er nichts, als ein liebenswürdiger Mensch zu sein und seine Amtsgeschäfte nach bestem Wissen und Gewissen zu erledigen. Lebenserfahrungen konnte er sich bei seiner Erziehung kaum bis gar nicht aneignen, ebensowenig Weltkenntnis. Bei unseren herrlichen Wanderungen über Berg und Tal weckte ich andere Interessen in ihm. Dieses große Brachfeld zu bearbeiten, dünkte mich eine himmlisch schöne Aufgabe. Abends las ich ihm die Klassiker und Nietzsche vor, plauderte von meinen Reiseerlebnissen, erschloss ihm eine neue Welt!

Nie ist zwischen uns ein heftiges oder gar böses Wort gefallen, nie gab es Zank zwischen uns. Nur die innigste Liebe, gegenseitiges Verständnis herrschten in unserem Eheglück. Er konnte einfach nicht von mir lassen oder ohne mich sein. Alle Augenblicke kam er während seiner Amtsstunden zu mir, um mich mit seinen Zärtlichkeiten zu überschütten. Ich wartete immer mit Sehnsucht auf ihn. An einen Abend kann ich mich noch sehr gut erinnern. Ich wollte in die Maiandacht gehen. An sich sagte ich meinem Mann, wenn ich ausging. Da ich aber in seinem Büro Stimmen hörte, wollte ich nicht stören und ging fort. Als ich dann um acht Uhr nach Hause kam, stürzte mir Anuschka mit folgenden verzweifelten Worten entgegen: „Ach, gnädige Frau, der Herr Bezirkshauptmann sucht Sie schon seit einer Stunde, er war so furchtbar erregt, als ich nicht wusste, wo Frau Baronin sind!“ Du kannst dir meine Verzweiflung vorstellen? Ich lief hinunter auf die Straße, machte mir bittere Vorwürfe, dem heißgeliebten Mann eine einzige traurige Minute bereitet zu haben. Ich traf ihn bald, der Schweiß lief ihm über sein leichenblasses Gesicht und zitternd schloss er mich in seine Arme und keuchte: „Gott, wie furchtbar erschreckt war ich, als du nicht zu Hause warst, meine Liebste, mein Glück. Bitte schwöre mir, dass du nie wieder fortgehst, ohne es mir vorher zu sagen!“ Und dieser Mann soll sich vor meiner Herrschsucht gefürchtet und mich eine Hexe genannt haben! Ich kann es immer noch nicht glauben, was man mir im Gerichtssaal alles erzählt und vorgeworfen hat! Ich bin mir sicher, dass dies alles ein Produkt der Fantasie des Mürzzuschlager Gesindels ist – und damit meine ich sie alle! Es ist alles so lächerlich für mich, wenn ich im Nachhinein die Zeit in Mürzzuschlag Revue passieren lasse. Wie konnte ich nur so naiv und gutgläubig sein!

Die Einzigen, die bei uns verkehrten, waren die drei jungen Herren meines Mannes. Welche Herren? … Seine engsten Freunde, für die er seine Hand ins Feuer legte. Und ich? … Ich bemühte mich, ihnen bei uns ein Heim zu geben. Fast täglich waren sie unsere Gäste und fühlten sich wohl bei uns, denn auch sie hatten keinerlei Kontakte im Ort. Zu meinem Leidwesen hatten sie außer für steirische Lieder keinerlei Interessen. Für eine derartige Musik habe ich heute noch sehr wenig übrig. Der eine, ein Herr von der Steuerbehörde, der furchtbar unbeliebt war, dies liegt schon an seinem Beruf, war außerordentlich fromm. Stundenlang kniete er in der Kirche zum Gebet. Wahrscheinlich bat er den lieben Gott um pünktliche Steuerzahler in Mürzzuschlag. Bei einem größeren Fest hielt dieser besagte Herr eine hochoffizielle Rede. Mein Mann und ich waren Ehrengäste. Entschuldige, wenn ich keinen Namen nenne. Bei dieser Rede, in der er den lieben Gott wohl in jeder Minute einige Male anrief, wurde mir ganz mulmig. Ich bin mir ganz sicher, dass sich der liebe Gott selbst zu dieser Serenade die Ohren zuhielt. Zudem sang und jammerte er, anstatt wie ein Mann zu reden. Ich erlaubte mir, ihm ins Wort zu fallen, und fragte ihn, ob er den lieben Gott hochleben lassen wolle. Von diesem Tage an hatte er in Mürzzuschlag den Beinnamen: „Der liebe Gott!“ So eine grässliche Heuchelei ist mir aus tiefster Seele zuwider. Ich bin eine fromme Christin, ein gläubiges Gemüt, aber keine Heuchlerin. Ich gehe in die Kirche und bete innig und fromm, nur keine vorgeschriebenen Gebete. Meine Gebete kommen aus dem Herzen und die Quintessenz meiner Religion ist, ein anständiger Mensch zu sein und mich in christlicher Nächstenliebe zu üben. Du kannst dir denken, wie schwer es mich getroffen hat, vor dem Richter zu stehen und für Dinge verantwortlich gemacht zu werden, die ich nie begangen habe. Das schreckliche Gefühl der Schuld, nicht genug auf meinen Mann aufgepasst zu haben, hat sich in mir breit gemacht. Es gibt Wunden, die die Zeit nicht heilt. Wenn du verstehst, was ich meine. Es fällt mir immer noch schwer, für das, was geschehen ist, die richtigen Worte zu finden. Unerträglich war es, ich hatte nicht die Kraft, einen Priester noch einen Arzt zu rufen. Niemanden wollte ich mehr sehen, keinen einzigen Menschen. Mir wurde klar, dass Gott nur die Natur, die Blumen und Tiere, erschaffen hat. Die Menschen aber hat der Teufel gemacht!

Dem zweiten Mann gab ich den Spitznamen „Anatol Schumrig“. Er dachte wohl, seine Eltern seien die reichsten Leute in der Stadt. Jedes Mal, wenn ihm etwas nicht passte, meinte er, dass er den ganzen Kram einfach hinwerfen werde. Trotzdem schien es ihm, als könne der österreichische Staat nicht auf seine treue Arbeit verzichten, die er für einen – seiner Meinung nach – Hungerlohn leiste. Er war der Spitzel des Statthalters und animierte seinen Vorgesetzten, den Bezirkshauptmann, zu unvorsichtigen Äußerungen. Leider war mein gutgläubiger Gatte bei solchen Äußerungen manchmal ungeschickt, vor allem in meiner Abwesenheit, musste ich erfahren. Das hat ihm letztendlich das Genick gebrochen. Mein Mann war über die Arbeiten des Herrn Schumrig meist entsetzt, er musste häufig alles neu schreiben, weil seine Schrift die eines kleinen Kindes war. Ich sagte wohl manchmal lächelnd: „Wegen hohen Adels des Lesens und Schreibens unkundig!“ Nein, das Pulver hatte er nicht erfunden, nicht einmal das Insektenpulver; wenigstens für anständig hielt ich ihn damals. Die österreichischen Beamten bilden, soweit ich dies anhand der drei „Freunde“ meines Mannes zu beurteilen vermag, eine ganz besondere Spezies. Gelernt haben die jungen Herren eher wenig. Sie verstanden ihr Ämtchen mehr schlecht als recht und bildeten sich auf ihre Stellung Gott weiß was ein. Irgendein dummes Amtsgerede beschäftigte sie tagelang, denn außer „fachsimpeln“ konnten sie nichts. Neid und Missgunst waren ihre Charaktereigenschaften, wichtig war ihnen nur, nach außen den Stand zu wahren! Das war die Hauptsache – inwendig konnte man schon ein Lump sein, nur erwischen durfte man sich nicht lassen. Viel zu spät habe ich die ehrwürdigen Herren durchschaut! Viel zu spät, das stellte sich als großer Fehler heraus. Doch wer weiß das im Vorhinein schon?

Und der Dritte? … Ach, das war ein armer Teufel, der eher zu allem anderen getaugt hätte, als Beamter einer Bezirkshauptmannschaft zu sein! Immer war er gleich beleidigt, fühlte sich zurückgesetzt, obgleich er im Grunde genommen der Begabteste von allen dreien war. War er im Büro und kamen die Mürzzuschlager zu ihm, redeten ihn seine Kollegen mit „Sie“ an, aber wenn er auswärts arbeitete, machten sie sich über ihn lustig: „Warum heiratet er nicht in ein gutgehendes Gemischtwarengeschäft?“, fragten sie. Dort passte er ihrer Meinung nach besser hin als zum politischen Dienst! Die entsetzliche Unsauberkeit machte mir diesen Mann widerwärtig. Ein so übler Geruch ging von ihm aus, dass seine Kameraden ihn öfter darauf aufmerksam machen mussten, er solle seine Wäsche wechseln. Stell dir vor, ich bin einmal ohnmächtig geworden neben ihm. Ein derartig übler Gestank hing an diesem Mann. Aus diesem Grund war er der eher seltenere Gast bei uns, sein ganzes Benehmen gefiel mir nicht. Am Verhandlungstag überreichte er mir dafür dankend die Quittung! Seine hasserfüllten Augen werden mir unvergesslich bleiben. Ich blickte ihm ins Gesicht und musste innerlich lachen, selbstverständlich war alles gelogen, was er über mich erzählte. Er begann um sich zu blicken, zu fuchteln, sich mit dem Taschentuch die Stirn abzuwischen. „Warum hast du dich nur mit ihnen abgegeben?“, fragte ich mich. Bei seinen Worten wurde es mir ganz unheimlich, ein Wahnsinniger schien da vor dem Richter zu reden. Sein Gerede schwirrte durch den Raum, wie verzweifelte Hummeln, die Luft im Saal wurde immer stickiger und ich drohte bald zusammenzubrechen, habe mich jedoch aufgerafft. Ich dachte, der Gipfel der Gemeinheit sei erreicht – und täuschte mich, denn das war noch lange nicht alles! Du musst mir zustimmen: Zu diesen schrecklichen Leuten habe ich nicht gepasst. Doch das Glück meines Mannes füllte mich damals so vollständig aus. Sein Wohl beherrschte mich viel zu sehr, um die schlechten Absichten seiner „Freunde“ zu erkennen. Wer auf dieser unseligen Welt nur der reinen Vernunft und seinem Gewissen Folge leisten will, der kann getrost zu den Narren gezählt werden. Das kannst du mir glauben. In diesem Sinne hatten meine Henker ja recht, mich zur Beobachtung meines Geisteszustandes ins Irrenhaus nach Graz zu bringen. Aber ebenso wenig, wie ich ihnen den Gefallen tat, im Gefängnis zu sterben, ebenso wenig tat ich ihnen den Gefallen, geisteskrank zu sein. Ist doch schade? Es wäre ihnen jedenfalls aufs Angenehmste geholfen gewesen, wenn sich dieser große Justizskandal auf „natürlichem“, einfachem Wege bereinigt hätte, indem sie mich hinter den Mauern der Irrenanstalt hätten verschwinden lassen können. Von dort wäre kein einziger Laut meiner Verzweiflungsschreie in die Welt hinausgedrungen. Nur, so einfach habe ich es dem hohen Gericht in Leoben nicht gemacht! Jedenfalls brach die ganze Tragödie über sie herein und zuletzt musste das hohe Gericht zur Besinnung kommen. Die Situation war ein einziges, schlechtes Rollenspiel um Verwirrungen und ich mittendrin die Leidtragende. Das Schlimme daran war, dass dieses Theater viel zu lange hinausgezögert wurde, sodass sich nicht nur alle Beteiligten, sondern auch die Presse und der Pöbel in Mürzzuschlag schamlos auf mich stürzen und ihre Sensationsgier befriedigen konnten.

Ich will dir eine kleine Geschichte aus früher Kindheit erzählen. Leider sind viele meiner Erinnerungen traurig, wie auch diese Geschichte. Sie passt jedoch sehr gut auf mein Leben. Willst du sie hören? Also, ich war noch ein sehr junges Mädchen und zu Besuch bei meiner Pflegemutter in Finnland. Ich sollte dem Herrn Pfarrer „Guten Tag“ sagen und fand ihn in seinem Garten, wie er seine Rosen pflegte. Ich sah, wie er die schönsten und frischesten Triebe mit erbarmungsloser Hand von den jungen Stämmchen schnitt und gleich dem Herzblut quoll der Saft aus den Wunden und mir war, als ob die Rosen wie in herbem Schmerz erzitterten. „Warum quälen Sie Ihre Lieblinge so sehr?“, fragte ich den alten Herrn und er antwortete: „Rosen und Menschenherzen sind sich wunderbar gleich; je tiefer das Schicksal ihnen ins Mark schneidet und je mehr der grünenden Hoffnung es ihnen nimmt, desto schöner und herrlicher entwickeln sie sich. Was zu schnell und üppig in die Höhe wächst, treibt wohl Laub, aber längst keine Blüten!“ Viele Jahre später begriff ich diese Aussage des alten, weisen Pfarrers, die mir damals unverständlich war, und verband sie mit meinem Schicksal. Ich muss ständig für meine Individualität kämpfen und leiden. Das ganze Leben ist mir ein Kampf und gesiegt habe ich immer nur über mich selbst. Wenigstens etwas, nicht wahr? Lache ruhig!

Die Menschen erlauben es nicht, dass man seine eigenen Wege beschreitet. Wehe denen, die den Mut dazu besitzen! Und wachsen gar ein paar grüne Halme auf diesem Pfad, so kommen genau diese Menschen mit ihren großen Füßen und zerstampfen alles. Ich gebe es ja zu, dass ich im Leben viel geliebt wurde. Bin ich dafür verantwortlich? Nein! Wer will mich dafür verantwortlich machen? Ich weiß ja selbst nicht, warum mich die Männer so anziehend finden. Was an mir schön ist, sieht doch keiner, und in meiner Kleidung bin ich einfach und schlicht. Ich trage fast immer schwarze, maßgeschneiderte Mode. Meine Leidenschaft sind schwere Stoffe, die sehr weich und ruhig die Figur umspielen. Meine Haare trage ich nie offen. Die Dessous liebe ich in Weiß, elegant und edel. Sie waren das ganze Entzücken meines stürmischen Franz. Und was ich zu meiner Toilette brauche, was mich umgibt, muss schön sein. So eine durstige Sehnsucht nach Schönheit beherrscht mich eben.

Warst du schon einmal in Italien? Nein? Dort solltest du unbedingt hin! Ich denke sehr gerne zurück an meine Wanderungen durch Italien und wie ich sehend wurde. An die wunderbaren Schätze des Landes, an die ganze märchenschöne Natur. Ach, könnte ich jetzt in Taormina sein, könnte ich das blaue Meer, den Himmel sehen, der sich im tiefsten Blau vom Schnee des Ätna abhebt. In Taormina an der Ostküste Siziliens hatte ich eine kleine Villa ganz für mich alleine. Nein, sie war nicht groß! Doch der malerische Ausblick von meiner Dachterrasse über das Meer und den weißen Sandstrand bleibt mir unvergesslich. Wäre ich nur dort geblieben. Aber ich, ich konnte nirgendwo Fuß fassen, war eine Getriebene, denn der Freiheitsdrang war immer groß in mir. Und heute bin ich eine innerlich Gefangene mit unwürdigen Ketten und einer Scheu vor allem Hässlichen und der quälenden Verachtung des Gemeinen, mutterseelenallein in der Welt und tief unglücklich. Zufällig traf ich heute ein buckeliges Mädchen, es bettelte nicht, aber seine Augen sahen mich so bittend an. Ich konnte nicht widerstehen, es war wohl noch ärmer als ich! Ich möchte mich auch an eine Straßenecke stellen und betteln – mit flehenden Augen und erhobenen Händen um eine Gabe von Reinheit und Glück wortlos betteln, wie das verkrüppelte Mädchen. Ich wollte mich verschwenden in Liebe, ohne etwas dafür zu empfangen. Wie die Sonne ohne Wahl Licht und Wärme verstreut in selbstloser Geberseligkeit. Ich wollte geben, ohne zu messen! Was daraus geworden ist? … Du siehst es ja! Mein Geschenk liegt zertrümmert vor meinen Füßen! Entsetzlich ist es, immer neben einem Abgrunde hinzuwandeln, bei jedem Schritt lösen sich kleine Steine und reißen im Hinunterrollen alles mit sich fort und letztlich wird man selbst von der Lawine begraben. Wann die Tragödie in Mürzzuschlag begonnen hat? … Wie so oft hat alles mit einem dummen Gerede seinen Anfang genommen. Wann genau, kann ich dir jetzt nicht sagen. Ich erinnere mich nur noch, dass der Statthalter meinen Mann als Bezirkshauptmann gerne wieder los sein wollte und ihn in jeder nur denkbaren Weise schikanierte. Es kam so weit, dass mein Schatz mich bat, frühmorgens die Statthalterpost für ihn zu öffnen und ihm dann die Nachrichten schonend beizubringen. Du musst wissen, mein Liebster war sehr nervös, er nahm sich alles sehr zu Herzen und sprach in Gegenwart der drei Herren oft sehr abfällig über den Statthalter. Oft genug warnte ich ihn vor seinen unüberlegten Äußerungen. Ich bat meinen Liebsten, er möge ein wenig Diplomatie an den Tag legen. Jedoch vergeblich, mein Franz konnte nicht anders. Er sagte alles immer offen hinaus. So meinte er eines ­Tages in Anwesenheit seiner sogenannten Freunde, dass ihm der Statthalter aufsitze und er es bitter bereue, dem Drängen des Grafen C. nachgegeben und seine schöne Stellung im Ministerium in Wien aufgegeben zu haben. Nicht nur in Mürzzuschlag, sondern auch in Graz bei der Statthalterei neideten ihm so manche Wichtig­tuer seine Anstellung als erster Bezirkshauptmann von Mürzzuschlag. Dass sich so manche Frau, auch wenn sie bereits vergeben war, nach dem jungen, schönen Menschen umdrehte, passte den Männern ebenso wenig wie seine liebgewonnene Gewohnheit, stolz durch den Ort zu spazieren, um nach dem Rechten zu sehen. Etliche Schurken fühlten sich beobachtet und kontrolliert in ihrem Treiben. Dann kamen die „Nordischen Spiele“, eine ganz gute Idee des Besitzers des Hotels „Zur Post“, um sein Haus zu füllen. Mein Mann wurde zum Präsidenten gewählt und bei einer Versammlung beging er die Unvorsichtigkeit, den Schriftführer des Mürzzuschlager Wochenblattes zu beschimpfen. Der Kerl war zu feige, offen gegen meinen Mann aufzutreten, und wühlte nun im Geheimen. Am Tage des Festes bat mein Mann den Bürgermeister, seines Zeichens ein Schuster, wenigstens eine schwarz-gelbe Fahne statt der allgemeinen Trikoloren zu hissen. Der Herr Bürgermeister, der stets zu liebenswürdig war, um ernst genommen zu werden, und der seine sehr mangelhafte Bildung hinter dieser Liebenswürdigkeit zu verstecken trachtete, wollte es sich natürlich mit niemandem verderben. Nach vielem Hin und Her kam dann wirklich eine schwarz-gelbe Fahne auf den Festplatz. Die Veranstaltung wurde zum großen Erfolg für alle Beteiligten, ich hatte die Ehre, den Gewinnern die Medaille zu überreichen. Kurze Zeit danach wurde mein Mann zum Statthalter befohlen! Ein böser Tag, mein Franz war über diese Fahrt nach Graz sehr unglücklich. Der Statthalter empfahl meinem Mann, einer Versetzung zuzustimmen. Mehrere Abgeordnete hätten sich wiederholt über ihn beklagt, er gebe zu viel auf Popularität. Mit gewissen Aktionen schade er direkt der deutschen Partei. Nur denke ich, das war ja doch eigentlich der Zweck der Übung? Über seine Amtsführung konnte er allerdings nur Vorzügliches berichten. Der Statthalter hatte panische Angst, dass sich die so „wichtigen“ Abgeordneten in der Folge beim Minister beschweren würden, was wiederum für diesen selbst unangenehm wäre, da er sich seinerzeit für meinen Mann eingesetzt hatte. Sehr unangenehm für einen Statthalter, der es sehr nötig hat, Statthalter zu sein! Franz kam in einer nicht wiederzugebenden Stimmung nach Hause. Also dies war der Dank für seine immense Mühe, für die anstrengende Arbeit und für die Gewissenhaftigkeit, mit der er diese Musterbezirkshauptmannschaft eingerichtet hatte. Mein Liebster litt unsagbar, ich war empört über diese Art, einen pflichttreuen Beamten unmöglich zu machen, und zermarterte mir den Kopf, wie ich helfen konnte, meinem Schatz Genugtuung zu verschaffen und dem Herrn Statthalter einen „Tebscher“ – wie der Wiener sagt – zu versetzen.

Meine Idee, den Bürgermeister bei seiner Eitelkeit zu fassen, sodass er mir als Werkzeug diene, erwies sich als goldrichtig. Solche Leute spielen ja so gerne ein kleines, feines Röllchen. Ich ging also zu besagtem Herrn und erzählte ihm die Geschichte und meinte, jetzt wäre so eine günstige Gelegenheit, dem Bezirkshauptmann seine Freundschaft zu zeigen. Natürlich fühlte sich der gute Herr geschmeichelt, dass ich mit einer Bitte vorsprach. Ob mein Mann davon wusste? … Was denkst du? Selbstverständlich kannte mein Mann mein Vorhaben, wollte jedoch so tun, als handle ich ohne sein Wissen. Der Bürgermeister besprach sich mit dem Obmann der Bezirksvertretung, einem wackeren Mann, diese beriefen eine Versammlung der Gemeindevertreter ein und nachmittags kamen die beiden Herren zu meinem Mann und sagten, sie hätten gehört, dass sich zwei Abgeordnete über ihn beim Statthalter beschwert haben und man ihm nahegelegt habe, sich um eine Versetzung zu bemühen. Sie hätten bereits an den Statthalter telegrafiert und würden nach Graz fahren, um im Namen des ganzen Mürztales zu berichten, dass sie ihren verehrten Bezirkshauptmann behalten wollen. Im Zuge ihres Besuches würden sie die Unwahrheiten, die über den Bezirkshauptmann verbreitet wurden, restlos aufklären. Wie mein Mann darauf reagiert hat? … Er war glückselig und hat geweint, denn die Anhänglichkeit seiner geliebten Mürzzuschlager ging ihm sehr nahe. Und ich? … Ich saß stumm in einer Ecke und beobachtete zufrieden die Situation. Die Marionetten tanzten wunderbar, die Komödie kam glatt heraus! Abends war dann eine geheime Sitzung und ein diskretes Schreiben des Bürgermeisters unterrichtete meinen Mann davon, dass seine „Mitbürger, die ehrenwerten Männer“, wie Marc Anton sagt, einstimmig für die Fahrt nach Graz gestimmt hatten. Außerordentlich wurden die Herren von Sr. Exzellenz empfangen. Sr. Exzellenz lieben es gar sehr, sich populär zu machen, aber nur Sr. Exzellenz dürfen populär sein. Der Statthalter freute sich wirklich von ganzem Herzen, dass „seine lieben Mürztaler“ so brav für ihren Bezirkshauptmann eintraten. Gewiss, gewiss, er solle nur bleiben, sollte mit seiner hohen Unterstützung noch viel Schönes und Gutes für seinen Bezirk tun. Er habe ja allerdings meinen Mann dort nicht hingebracht und er müsse jede Verantwortung ablehnen! In Wirklichkeit war seine Exzellenz sehr wohl oftmals bei meinem Mann gewesen, um ihn zu bitten, in Mürzzuschlag der erste Bezirkshauptmann zu werden. „Wie ist denn die Frau vom Bezirkshauptmann?“, geruhte seine Exzellenz den Bürgermeister zu fragen. „Man hört so dunkle Sachen!“, fügte der Statthalter hinter vorgehaltener Hand hinzu. Der Bürgermeister sprach nur Gutes: „Oh, wir verehren sie alle, sie tut viel für die Armen und die Herrschaften leben außerordentlich glücklich. Man sagt ja so viel, Exzellenz, aber man beweist nie etwas!“ Später meinte sogar der Minister, dass die Äußerung des Statthalters eine bodenlose Frechheit gewesen sei. Beim Fest am Semmering hatte ich die „hohe Ehre“, außerordentlich freundlich von seiner Exzellenz, dem Herrn Statthalter, angesprochen zu werden. Ich hatte auch diesmal die gleiche Frage zu beantworten: „Haben Sie sich in Mürzzuschlag schon eingewöhnt?“ Warte mal, ich muss kurz nachdenken, was ich darauf geantwortet habe. Auf jeden Fall habe ich mir die Nase gepudert und dann ein wenig überschwänglich gemeint: „Natürlich. Nun hoffe ich, dass sich die Mürzzuschlager auch an eine außergewöhnliche Frau wie mich gewöhnen!“ Weißt du, die Hoffnung birgt auch immer etwas Angst in sich. So hatte ich damals oft das Gefühl, dass die einfachen Leute in Mürzzuschlag Angst davor hatten, in meiner Gesellschaft zu sein, weil ich ihnen ja in vielen Dingen voraus, um nicht zu sagen überlegen war. Damit meine ich halt auch die Lebenserfahrung, die ich mit meinen jungen Jahren bereits mitbrachte. Meine aufregende Vergangenheit mit all ihren Begebenheiten, die manch einem sein ganzes Leben nicht widerfahren. Verstehst du, was ich damit meine?

Gewiss, deine Frage ist ganz berechtigt. Mein geliebter Mann kannte natürlich meine Vergangenheit. Was sollte ich denn zu verheimlichen haben? Wenn ich den Leuten in Mürzzuschlag etwas verheimlichte, so geschah dies nur auf Bitte meines Mannes. Sie fragten immer und immer wieder: „Wo kommen Sie her?“, und ich sagte: „Vom Sirius, ich habe oben neue Kanäle gebaut, aber wenn Ihnen dies zu ‚hoch‘ ist: aus dem Burenlande!“ Dass mir dies jemals als eine bewusste Lüge ausgelegt werden würde, was bewusste „Frotzelei“ und Abwehr müßiger Neugierde war, konnte ich nicht ahnen. Man muss schon die Eltern meines verstorbenen Mannes kennen, um alles zu begreifen. Sie sahen in ihm den zukünftigen Landespräsidenten. Durch den Sohn wollte die Mutter eine Rolle spielen, die ihr aufgrund der traurigen Verhältnisse versagt war, und mir gab sie die Schuld am Scheitern. Nur, ich sehe ja die Welt, wie sie ist, nicht wie sie sein soll. Außerdem beurteile ich die Fehler der Menschen im Gedenken der ­eigenen, also sehr milde; es ist keine Gehässigkeit in mir, Rachsucht liegt mir fern. Die Familie meines Mannes hat wohl die Lektion des Lebens nie verstanden, ansonsten wäre es nie so weit gekommen, dass mein Mann in vielerlei Hinsicht kein Vertrauen zu ihnen aufbauen konnte. Und Vertrauen ist im Allgemeinen die Basis für jegliches Handeln, es beruhigt.

Dieses Aussprechen tut mir heute sehr wohl. Es bringt mir innere Ruhe, wie du sicher schon bemerkt hast. Wenn du noch ein wenig Zeit hast, erzähle ich dir gerne weiter. Wie? Über die gesellschaftlichen Verhältnisse in Mürzzuschlag willst du etwas wissen? Die gab es ja überhaupt nicht, wenn du mich so direkt fragst, und es störte mich auch nicht. Ich ging durch die Straßen, kümmerte mich nicht um das Leben der anderen. Und wenn mir jemand etwas unbedingt erzählen musste, sagte ich: „Ach ja? … Wirklich? … Sehr interessant!“ Oder: „Das ist aber traurig, es tut mir schrecklich leid!“ Sofern ich unterrichtet war, lebten die wenigen Beamtenfamilien von der knappen Gage eher erbärmlich, sie hatten zwei Zimmer und Küche, und da die Frauen kochen und Kinder erziehen mussten, hatten sie zu geselligen Treffen keine Zeit, selbst die Mittel zu den kleinsten Extraausgaben fehlten. Schon alleine der ewige Klatsch, der in Mürzzuschlag grassierte, ließ keinerlei geselligen Verkehr aufkommen. Neid und Missgunst herrschten meiner Ansicht nach in diesem kleinen Ort. Im Grunde genommen waren es erbärmliche Verhältnisse und mir völlig unangenehm.

Als das „Märchen“ in dem Mürzzuschlager Käseblättchen erschien, las ich es meinem Manne vor; wir merkten beide nicht, dass ich die traurige Heldin sein sollte, und erst als einige Tage später die jungen Herren meinen Mann auf diese Gemeinheit aufmerksam machten, begriffen wir die schlechte Absicht dahinter. Statt dass diese Leute, die meinem Mann zu Dank verpflichtet waren, die ihm hundertmal versichert hatten, dass sie ihn verehrten und liebten, den Verfasser dieses Artikels einfach an die Luft setzten, freuten sich diese Leute über den Schlag gegen meinen guten Mann, denn über mich trafen sie ihn ja am härtesten. Die unreifen jungen Männer verlangten, mein Mann solle den Herausgeber des Schmierblattes fordern. Jedoch der Minister riet uns dagegen und meinte, wir sollten die Sache ignorieren. Was war geschehen? Wir verstanden es nicht mehr. Wir wollten auch keine Rache, nein. Es wurde uns klar, dass die Rache weder Gutes noch Schlechtes bringen würde. Ich habe versucht, kleinere Schritte zu machen, aber mein geliebter Mann hat von diesem Moment an den Boden unter den Füßen verloren. Von nun an verkehrten die drei Herren nicht mehr mit uns und intrigierten gegen ihn. Sprachlos waren wir, als eines Tages der Pfarrer erzählte, die Herren seien bei ihm gewesen, um sich meine Papiere zeigen zu lassen, sie hätten unsere Erlaubnis dazu erhalten. Auf Vorhalten, wie er denn meine Papiere zeigen hätte können, meinte der Gottesmann, er habe den jungen Männern das Maul stopfen wollen. Nun wussten die famosen Stützen der Bezirkshauptmannschaft, dass meine Papiere zur Trauung noch ausständig waren. Stell dir das bitte vor, wir waren bloßgestellt! Durch unser erfülltes, junges Eheglück hatten wir komplett vergessen, dem Versprechen nachzukommen, meine Scheidungsdokumente, die noch beim Anwalt in Trier lagen, einzuholen. Es schien uns weiter auch nicht wichtig, so hofften wir, dass diese demnächst von selbst einlangen müssten, denn unsere Ehe war längst besiegelt. Es war eine Lappalie, glaub mir. Ich war ja eine geschiedene Frau, das wusste mein Mann, der das Gesetzbuch auswendig kannte. Er versicherte mir, die über solche Dinge kaum Einblick hatte, dass dies nur eine Formalität sei, die man jederzeit nachholen könne. Lediglich ein Eintrag, so wie man sich in ein Gästebuch einträgt, bevor man ein Fest verlässt. Kein Mensch wird fragen, wann man das Fest verlassen hat, wenn er den Eintrag im Gästebuch liest. Jedoch die eifrigen Beamten sahen dies als Vergehen meines Mannes und wandten sich sogar an die Polizei. So eine Frechheit muss man sich erst vorstellen! In Mürzzuschlag sprach man plötzlich von Moral – gerade dort, wo sie offensichtlich fehlte. Die Moral, verstehst du, ist ja nicht eine ererbte, sondern eine meiner Ansicht nach erworbene Eigenschaft. Man eignet sich im Leben eine Moral an oder nicht. Das konnten diese Leute gar nicht, es fehlte ihnen ja sogar an Benehmen und Bildung. Diese drei Männer hatten in moralischen Fragen überhaupt kein Gehör, denn auf meine Forderung hin, sich nicht in meine Angelegenheit einzumischen, lachten sie mich nur aus. Ich biss die Zähne zusammen. Mein Franz zitterte plötzlich um seine Stellung in der Bezirkshauptmannschaft, es wurde ihm Amtsmissbrauch vorgeworfen. Ich tröstete meinen Mann mit meiner ganzen Liebe, ich konnte nicht glauben, dass seine guten Freunde sich auf den Weg nach Graz zum Statthalter machten, womit sie bereits gedroht hatten. Doch es war so, sie besaßen diese Frechheit. Entschuldige meine Aufregung, ich spüre, wie mir das Blut ins Gesicht schießt. Es hat jetzt zwar überhaupt keinen Sinn mehr, sich aufzuregen, aber ich kann nicht anders. Kannst du mir bitte ein Glas frisches Wasser bestellen. Danke! „Ach, du kennst den Statthalter nicht, er will seinen Neffen auf meinem Posten haben, schon alleine wegen der Hofstation, er muss, wie wir alle hier in Österreich, mit dem Strom schwimmen!“ Ich hörte erschrocken den verzweifelten Worten meines Mannes zu. Wahrscheinlich hatte er sogar recht, denn er wusste, wovon er sprach. Am nächsten Sonntag war mein Mann persönlich zu seiner Exzellenz, dem Statthalter, nach Graz befohlen. Der Diener, der ihn anmeldete, sagte laut zu ihm: „Gestern waren Ihre jungen Herren bei Sr. Exzellenz, so viel ist hier noch nie gelacht worden!“ Das war mehr als gemein, dafür gab es keine Entschuldigung, es war unmenschlich, was man mit meinem Franz anstellte. Verstehst du jetzt! Mein armer Herzensschatz wurde nach dem Gespräch vom Amt suspendiert. Der Herr Statthalter nannte ihn einen Popularitätshascher allerschlimmster Sorte, einen unangenehmen Streber, der den Boden unter seinen Füßen verloren habe, der überhaupt für eine derartige Stellung unbrauchbar sei. Von mir war mit keinem Worte die Rede! Ich habe meinen Mann gebeten, mir ehrlich ins Gesicht zu sagen, welche Lügengeschichten seine Exzellenz über mich zu verbreiten wusste. Als er mir abermals bestätigte, dass mein Name nie zum Thema stand, war mir klar, dass nur ihn, meinen schwachen, sensiblen Schatz, das schlechte Los erwischt hatte. Ich verstummte in der Ahnung, was nun auf mich zukommen würde. Wäre es um mich gegangen, ich hätte mich zu verteidigen gewusst.

Gib mir bitte Zeit, ich fühle plötzlich eine unheimliche Schwäche und muss tief Luft holen. Ob du jemanden rufen sollst? … Nein, gib mir nur eine Minute. Ruf niemanden, es wird schon wieder. Offenbar ist meine Gesundheit durch die Monate im Gefängnis und das unendliche Leiden doch sehr angegriffen. Wie du siehst, bin ich auch alt geworden. Aber weiter. Seine Exzellenz hat bewusst gesagt, dass mein Franz niemals wieder eine Stellung erhalten würde. Dass dieser Ausspruch, an dem ich heute noch zweifle, den ohnehin zermürbten Mann vollends in den Tod trieb, liegt auf der Hand. Ich führte das immer wieder in Leoben beim Prozess an, um dem hohen Gericht klarzumachen, welche Faktoren den Tod meines Mannes verschuldet hatten, da es ja selbst in maßgebenden Kreisen noch immer Leute gab, die meinten, ich sei an seinem tragischen Ende schuld. Traurige Tage folgten, ich selbst versuchte nicht zu klagen. Immer wieder hatte mein Franz, wenn die Ungerechtigkeiten aus Graz ihn empörten, gesagt, er wolle mit mir in ein kleines Häuschen auf dem Berge ziehen, er wolle ihnen seine Uniform zurückgeben und lieber Erdäpfel essen; wenn er nur mich hätte, wäre er glücklich! Und ich schwöre dir, ich wäre mit ihm gegangen, hätte ich seinen Worten Glauben schenken können. Zu gut wusste ich, wie viel ihm an dem Posten als Bezirkshauptmann lag. Ach, so gerne wäre ich mit ihm in die Einsamkeit gegangen, nur fort von diesem elenden Gesindel, das den Namen „Mensch“ schändet! Doch nie kommt etwas zur rechten Zeit, nie gibt das Leben dann, wenn man darauf angewiesen ist. Wo waren nur auf einmal die „lieben Mürzzuschlager“, die für ihren Bezirkshauptmann immer da sein wollten? Keine Hand rührte sich, er war nichts mehr. Offensichtlich war seine einst so große Beliebtheit im Mürztal vorbei! Zerstört von dummen Leuten, die nicht wussten, was ihr Handeln auslöste. Es ist ein hartes Gesetz, glaub mir. Eines Tages aber erkennt man, dass alles ein System und eine Ordnung hat, nur waren wir weit von diesem Tage entfernt. Ich wusste von nun an, dass ich den stärkeren Charakter hatte und mein geliebter Mann beim nächsten Tiefschlag seine Kraft verlieren würde. Ich betete zu Gott, so wie es mir meine Mutter einst beigebracht hatte, in einfachen Worten: dass seine drei Herren die verlogenen Schritte bereuen und alles sich zum Guten wenden möge. Dass der Statthalter die unüberlegt ausgesprochene Suspendierung aufheben und sich öffentlich entschuldigen und den guten, ehrlichen Ruf meines Mannes wiederherstellen möge. Es war für diese grauen Amtsschimmel längst an der Zeit, die Grenzen zu erkennen! Was für Grenzen? … Die Grenzen ihrer Verlogenheit, ihres Neides und Hasses. Ich denke, jeder Mensch hat seine inneren Grenzen, die dem Guten und dem Bösen ihr Maß geben. Nur diese Menschen hatten keine Grenzen und ich konnte keine Erklärung für ihr böswilliges Tun finden.

Wie du sicher schon erfahren musstest, kommt ein Unglück selten allein. Der Vater von Franz kam dann natürlich auch noch nach Mürzzuschlag, nachdem er von irgendjemand „Unbekanntem“ über die Schande in seiner Familie informiert worden war. „Eine hohe Person“, meinte er auf meine Aufforderung hin, einen Namen zu nennen, habe ihm sofort geschrieben, sich dazu verpflichtet gefühlt. Was er ihm geschrieben hatte? … Er solle doch mit seinem Sohn nach Wien auf die Polizeidirektion gehen und sich nach mir erkundigen, alle einleitenden Schritte seien bereits getan. Mir war sofort klar, dass dieser Brief einer „hohen Person“ von einem der verlogenen drei Herren stammte. Ich ahnte auch, welcher es sein könnte, natürlich der, der mir am meisten gestunken hatte! Ich hatte überhaupt kein schlechtes Gewissen, ging also ganz ruhig mit meinem Mann und dessen Vater nach Wien. Wir suchten den Polizeipräsidenten auf und dort sagte man meinem Mann unter vier Augen, wie ich erst während der Verhandlung erfahren habe, dass ich eine Betrügerin sei, eine Hochstaplerin, die 24 Jahre im Zuchthaus gesessen habe. Man verwechselte mich, ich glaube nicht ohne Absicht, mit einer gewissen anderen „Frau Lützow“, auf welche diese Aussagen passten. Mein Mann wurde von seinem Vater und seinem Bruder aus der Polizeidirektion hinausgeführt und ich stand auf der Straße, ohne etwas denken oder fühlen zu können, und wartete auf die Herren. Eine Weile standen sie mir gegenüber, wie die Darsteller in einem schrecklichen Stück ohne Worte. Ich atmete tief ein und blickte sie an. Ich war bereit, ihnen Rede und Antwort zu stehen, und machte kurz die Augen zu. Mir war heiß und schwindelig. Als ich meine Fassung zurückgewonnen hatte und meine Augen öffnete, waren sie weg. Wie vom Erdboden verschluckt, einfach fort. Sie haben mich in meinem Elend alleine auf der Straße stehen gelassen! Das muss sich einer vorstellen! Sogar mein geliebter Ehemann war in Anwesenheit seines Vaters und seines Bruders zu feige, um mich zu fragen, was ich zu diesen verlogenen Geschichten zu sagen habe.

Später habe ich mich gefragt, ob in dem Ganzen nicht etwas von seinem Vater Inszeniertes war. Ich glaube ja! Er arbeitete doch fieberhaft an meinem Ruin, nur zu dieser Zeit dachte ich nicht daran. Er hat mir letztendlich alles weggenommen und kaputt gemacht. Gott sei Dank kann ein Mensch nur ein gewisses Quantum Schmerz ertragen, was darüber hinausgeht, vernichtet ihn entweder oder es macht ihn gefühllos. Verstehe mich! Es ist sehr schwer für mich, das alles zu erklären. Den ganzen Tag irrte ich in dumpfem Schmerze in Wien umher. Ich konnte das Ungeheuerliche nicht fassen. Was hatte ich verbrochen, um so furchtbar bestraft zu werden? Am Abend ging ich zu Familie R., sie hatten mich sonst immer mit Jubel empfangen. Als ich ihnen kurz mitteilte, was sich ereignet hatte, merkte ich, wie sie kälter wurden und sich bemühten, mich auf irgendeine, nicht zu unanständige Weise loszuwerden. Frau R. sagte, vor wenigen Tagen habe sie nach dem Preisreiten mit der Familie meines Mannes in einer Gesellschaft beisammen sein sollen, sie habe es abgelehnt, denn mit diesen Leuten wolle sie nichts mehr zu tun haben. In der Kärntnerstraße brach ich ohnmächtig zusammen. Den ganzen Tag hatte ich keinen Bissen zu mir genommen, dazu kam die furchtbare Aufregung, was war natürlicher! Hilfsbereite Leute vom Roten Kreuz brachten mich dann in unser Hotel. In der Nacht wurde mein Mann an mein Krankenbett geholt, er wurde von Vater und Bruder keine Sekunde mehr allein gelassen. Mein geliebter Franz flüsterte mir zu: „Sei unbesorgt, ich lasse niemals von dir, jetzt halten sie mich fest. Sie wissen jetzt, dass du kein Geld hast.“ Aufgrund meines immer schlechter werdenden Zustandes brachte man mich ins Krankenhaus. Auch dort besuchte mich mein Mann mit seinem Bruder, der ihn nach wenigen Minuten schon fortzerrte. Als ich meinen Mann wegen meiner Habseligkeiten fragte, sagte er: „Aber du bekommst doch alles.“ Sein Bruder gab mir sogar sein Ehrenwort, dass ich all meine Ausstattung und das Silber zurückbekäme, auch die Summe, die ich für die Tilgung der Schulden meines Mannes gegeben hatte. „Du bist ja ein edles, gutes Wesen!“, sagte sein Bruder. Er wusste, dass ich meinem Mann nie schaden wollte. Nein, Gott ist mein Zeuge, ich wollte ihm gewiss nicht schaden. Dann kam Franz noch einmal mit dem Anwalt seiner Familie und gab mir hundert Kronen mit der Bemerkung, er müsse erst „Geld“ beschaffen – und hatte dabei Tränen in den Augen, ich würde ja die Verhältnisse kennen. Seine Tränen schienen mir auch echt, doch sie lösten in ihm nichts auf. Er war nicht mehr er selbst, zu sehr stand er unter dem Einfluss seiner Familie. Ich sah ihn an und mir wurde klar, dass er im Grunde nichts mehr fühlte. Das hatte etwas Unmenschliches. Er rannte aus dem Zimmer, als einer, der den Schmerz nicht aushält und der vor den Erinnerungen flieht. Den Erinnerungen an meine aufopfernde Liebe! Die Schwester, die mich pflegte, fragte mich, ob ich in meinem Hause noch wichtige Papiere oder dergleichen habe. Ich verstand die Frage nicht. Erst als sie meinte, die Familie meines Mannes scheine zu allem fähig zu sein, wurde mir klar, in welch grauenvoller Lage ich mich befand. Trotzdem, dass alles anklagend und aufgebracht gegen mich stand, raffte ich mich auf, schlich mich aus dem Krankenhaus und fuhr in derselben Nacht nach Mürzzuschlag. Ich fühlte mich von einem unwiderstehlichen Zwang getrieben! Wie in einem Kriminalroman, wo der Täter sich voll Angst und Bange zum Tatort zurückzuschleichen versucht. Nur war ich das Opfer, nicht der Täter. Man wollte mir den Eingang in unsere Wohnung verwehren. Sein Vater lag in meinem Bett, meinen Mann sah ich nicht. Mein Schreibtisch war aufgebrochen und alle Briefe meines Mannes, meiner verstorbenen Mutter und sämtliche Dokumente waren weg. Alles war gestohlen! Als ich seinen Vater zur Rede stellte, meinte dieser verlogen: „Du bekommst alle deine Unterlagen, wir sind keine gemeinen Menschen!“ In diesem Moment wurde mir klar, dass man mit solchen Leuten nicht leben konnte. Ich spürte, wie ich rot wurde: Der Zorn brach aus solcher Tiefe und mit solcher Wucht hervor, dass es mich selbst erschreckte; eine panische Stimme begann in mir zu schreien. Ich konnte und wollte sie nicht zum Schweigen bringen. „Ihr habt mich alle betrogen und belogen, so sieht die Wirklichkeit aus. Meinen Mann habt ihr mir genommen und mich werft ihr einfach weg, wie eine Streichholzschachtel. Eine arme, unschuldige Frau mag man leicht wegwerfen. Wenn ich Sie ansehe, wird mir schlecht vor Zorn. Ihr aufgedunsenes Gesicht gleicht dem eines Kartenspielers, der im Verlieren ist und versucht, alle Mittel und Wege zu finden, um sich zu retten. Nur spielen Sie nicht mit Karten, sondern mit Gefühlen und Menschen. Das Tragische ist, dass ich die Dame im Spiel bin, die es zu vernichten gilt! Das ist die Wahrheit, furchtbare, unmoralische Wahrheit! Alles Lügen, Sie treiben ein abgekartetes Spiel mit mir!“

Was dann geschah, kannst du dir bestimmt vorstellen. Sein Vater packte mich und schrie meine Zofe Anuschka, die viele Jahre treu in meinen Diensten war, die nur Wohltaten von mir erhalten hatte, an: „Sie sind dafür verantwortlich, dass ‚diese Frau‘ sofort das Haus verlässt!“ Ich verstummte und packte meine wenigen, mir noch verbliebenen Habseligkeiten, bevor ich das Haus verließ. Da hatte ich mich aus dem Krankenhaus geschlichen, war in der Nacht noch in meine Wohnung gefahren und dann diese Gemeinheit!

Über die „gemeinen Menschen“ bilde ich mir heute so meine eigene Meinung, die wohl die halbe Welt mit mir teilt, zumindest die anständigen Menschen. Was die Liebe betrifft, habe ich nur meinen Franz geliebt im Leben – und das ohne sehr ernste Ansprüche. Was ihn jedoch anbelangt, weiß ich, dass er mich zu wenig liebte. Es genügt nicht, jemanden einfach nur zu lieben, weil man ihn braucht oder um sich beschützt zu wissen. Man muss den anderen Menschen mutig lieben, sodass weder Lügen noch unmoralische Gesetze etwas gegen diese Liebe ausrichten können. Mein Franz hat mich nicht mutig geliebt! Das war im Grunde genommen mein wirkliches Problem. Daran ist mein armer Herzensschatz gescheitert und mit ihm alles andere auch, was unser endloses Glück hätte ausmachen können. Er hat das Schlimmste gemacht, was ein Mann machen kann. Was das ist? Er ist einfach, ohne seine Frau zu retten, davongelaufen. Wovor er mich hätte retten müssen? … Dann warte, was ich dir noch zu erzählen habe, meine Gute! Wenn er wenigstens Rücksicht auf meine Zukunft genommen hätte, aber auch das hat er in seinem grenzenlosen Selbstmitleid vergessen. Heute habe ich ihm verziehen, er war eben nicht zum Helden geboren. Und trüge er auch alle Schuld: Er war so ein schwacher Charakter – wie sollte man ihm Vorwürfe machen können, dass er nicht die Kraft besessen hatte, ihn zu festigen. Er hatte nicht die Kraft, sich an meine Seite zu stellen, nicht die Energie, sich dem gewaltsamen Fortreißen von mir zu widersetzen. So ein qualvolles, tiefes Mitleid für ihn lebt in mir und eine verzehrende Sehnsucht nach ihm beherrscht mich! Gerade als wir ein ruhiges Leben in Mürzzuschlag führten, haben es diese Leute gewagt, meinen Mann zu verleugnen und mich dafür verantwortlich zu machen. Seine ach so guten Freunde haben sich erdreistet, mich für seine Verfehlungen abzuurteilen und mir die schönste Zeit meines Lebens zu rauben. Bei meiner Verhaftung fühlte ich gar nichts mehr. Ruhig ließ ich alles mit mir geschehen. Kennst du das Gefühl, wenn man sich mithilfe einer Art Taubheit wehrt? Man will weder etwas hören noch sehen! Ich fühlte mich wie unbeteiligt an dem ganzen Theater und zeigte keine Regung, wollte weder Zuschauer noch Darsteller sein. Auf meine einzige Frage, warum man mich überhaupt verhafte, wurde mir ohne Angabe von Gründen gesagt: „Der Statthalter von Graz hat eine Anzeige wegen Betrugs gegen Sie erstattet!“ Also der Herr Statthalter! Mir wurde übel! So legte er seiner Handlungsweise dieses Mäntelchen um. Ein Schuldiger muss her, meinen Franz zu halten, war man schließlich verpflichtet, und wenn ich eine Betrügerin war, hatte man ein leichtes Spiel. Oh! Pfui über so viel Gemeinheit, über solch ruchlose Niedertracht. Der Transport nach Leoben war das Qualvollste, was ein Mensch nur erdulden kann. Durch Mürzzuschlag – vorbei an dem Haus, wo ich das reinste Glück genossen hatte. Natürlich war das ganze Mürzzuschlager Gesindel auf dem Bahnhof und beschimpfte mich. Mein Gott, man bewarf mich mit Steinen, spuckte mir ins Gesicht und ich musste Spießruten durch den Pöbel laufen. Bei der Erinnerung glüht mir die Schamröte im Gesicht und heiße, wütende Empörung presst mir das Herz zusammen. Dann die Ankunft in Leoben, sofort wurde ich weggesperrt. Ich lernte Menschen kennen, in denen der Atem des Teufels zu lodern schien. Mit Diebinnen und Betrügerinnen saß ich zusammen in einem dumpfen Loch. Ich hatte panische Angst vor den Geschlechtskranken, musste dieselbe Sanitäranlage benutzen. Das Wasser rann an den Wänden hinunter. Eine entsetzliche Luft herrschte in dem Raum. Oben an der Decke war ein winziges Fenster, vergittert und mit einem dichtmaschigen Drahtnetz versehen. Kein Lichtstrahl fiel in die Zelle. Ein schmutziger, übelriechender Strohsack mit einer groben Pferdedecke war mein Lager. Dumpfe Verzweiflung, Scham und Empörung, heiße Sehnsucht nach meinem Mann drohten, mich wahnsinnig zu machen. Du hast keine Ahnung, wie das ist, wenn man sich sehnt, jemanden, den man liebt, wiederzusehen! Entschuldige, natürlich weißt du das. Du bist ja verheiratet, oder? Also horchte ich auf jeden Schritt, mein Franz musste doch kommen, um mich rauszuholen. Er war doch der Bezirkshauptmann von Mürzzuschlag und ich saß im Kerker. Er wusste, dass ich nichts begangen und niemanden betrogen hatte. Ach, dass Gott diese Gebete aus einer todeswunden Seele nicht erhört hat! Es ist mir heute noch schleierhaft, wie es zu alledem kommen konnte!

Der Untersuchungsrichter fragte mich, ob ich schuldig sei. Natürlich sei ich schuldig, sagte ich. Was nützte es, wenn ich nicht tat, was sie von mir verlangten? Sie wollten einen Schuldigen und ich erkannte, dass es nur ein Ende geben konnte, wenn sie diesen Schuldigen gefunden hatten. Ich war allein von dem Drang beseelt, alles auf mich zu nehmen, um meinem Franz keine Schwierigkeiten zu machen. Es war genug an meinem zertretenen Dasein, ich hatte nichts mehr zu verlieren, ich durchschaute ahnend den ganzen politischen Betrug um die Stelle in Mürzzuschlag. Ich hatte nur einen Gedanken: Mein Mann musste gerettet werden! Mein Verteidiger sagte jedoch zu mir: „Ich weiß, dass Sie keine Verbrecherin sind, nur eine arme, vom Unglück verfolgte, bedauernswerte Frau!“ Das half mir jedoch auch nicht weiter, das waren leere Worte. Wer vom Schicksal mit leeren Worten erschlagen wird, hat das schlechteste Los erwischt, glaub mir!

Nach wenigen Tagen stellte sich heftiges Fieber bei mir ein, ich konnte von der ekeligen Nahrung nichts mehr zu mir nehmen, so brachte man mich ins Krankenhaus. Niemand sprach mit mir und darüber konnte ich nur froh sein. Ich ließ das Zimmer verdunkeln, um in der Dämmerung alles verdrängen zu können. Nein, nicht alles! Die Verbundenheit zu meinem Mann konnte ich nicht vergessen. All meine traurigen Gedanken drehten sich um ihn: Wie es ihm ohne mich in Mürzzuschlag wohl ergehen würde? Ich fühlte mich für das, was mit ihm geschehen war, verantwortlich. Und genauso nahm ich ihn in die Verantwortung, was mit mir Schreckliches passierte. Hatten wir uns doch in Mürzzuschlag gemeinsam unsere Zukunft aufgebaut – und diese hing nun an einem seidenen Faden, der zu reißen drohte. Das durfte nicht passieren! Was könnte diesen Mann, der mir seine ewige Liebe geschworen hatte, dazu bewegen, mir nicht zu helfen? Was könnte er für ein Interesse haben, nicht zu mir zu stehen? Diese Fragen quälten mich Stunde um Stunde, jeden Tag wartete ich auf den Besuch meines armen Mannes. Erst nach drei Wochen sagte mir der Primarius des Stephaniehospitals ohne jegliche Vorwarnung, ohne nur mit der Wimper zu zucken oder auf meine labile Verfassung Rücksicht zu nehmen, dass sich mein Mann in Mürzzuschlag erschossen habe! Wie es mir dabei ergangen ist? … In diesem Augenblick fühlte ich eine schwere Benommenheit, wie sie wohl nur ein Scheintoter verspüren mag. Ich war so entsetzt, dass ich diesen rohen, gefühllosen Mann wie versteinert anstarrte. Kennst du das, wenn man alles um sich herum versteht und gleichzeitig erkennt, dass man nicht bei Sinnen ist? Wie gelähmt lag ich in meinem Bett, nicht wach, nicht schlafend und trotzdem nicht ansprechbar. Sehr wohl verstand ich die Bedeutung seiner Worte. Beim Hi­nausgehen sagte er zur Krankenschwester, die mir die heiße Stirn mit nassen Tüchern zu kühlen versuchte: „Sie macht sich gar nichts daraus!“

Du wirst mich verstehen, wenn ich dir sage, dass diesen Schmerz keine Worte schildern können! Mein Franz, mein Herzblatt, lag seit Wochen unter der Erde und ich wartete geduldig auf ihn. Ich konnte nicht fassen, was man mir angetan hatte! Die Schwester stand still neben mir, sie hatte meine Hand fest in der ihren, sie sah meinen stummen Schmerz und wusste, dass es dafür keinen Trost gab. Stell dir vor, am selben Tag brachte man mich wieder zurück ins Gefängnis! Mehr brauche ich dir dazu wohl nicht zu sagen, meine liebe Freundin. Es erklärte alles, auch meine angeschlagene psychische Gesundheit. Von Tag zu Tag verschlimmerte sich mein Zustand, ich wurde bewusstlos. Von hier an kann ich dir nur erzählen, was mir später die Frau Oberin, meine Zellengenossinnen sowie verschiedene Leute, die mich in meiner schweren Krankheit gesehen hatten, sagten oder mir viel später erst schrieben.

Ohne jede Pflege lag ich auf dem Strohsack. Der Gefängnisarzt behauptete, ich simuliere nur, und ließ mich täglich von zwei Sträflingen auf den mit spitzen Steinen gepflasterten Hof schleppen. Die ekelhafte Nahrung soll mir mit Gewalt in den Mund gesteckt worden sein. Im Hofe wurde ich auf einen Hocker gesetzt, von dem ich ständig hinunterfiel. Dabei schlug ich mir große Wunden. Diese Wunden sind, weil ohne jede Pflege, in Eiterung übergegangen und das Ungeziefer im Gefängnis machte alles noch schlimmer. Niemand kümmerte sich um mich. Wäre nicht einer der Aufseher zum Arrestinspektor gegangen und hätte er diesem nicht gesagt, dass er jegliche weitere Verantwortung in meinem Falle ablehne, läge ich längst unter der Erde bei meinem Schatz. Nun, es hätte mich nicht gewundert, wenn dies im Sinne dieser großen Justizverlegenheit gewesen wäre. So hätte sich der tragische Fall auf natürlichem Wege erledigt. Ich lag auf dem erbärmlichen Lager, nicht imstande, ein Wort zu sprechen oder mich zu bewegen. Entsetzliche Wunden bedeckten meinen Körper, was waren aber diese Schmerzen gegen die der Seele! Und kein Wort des Trostes. Rohe Behandlung vonseiten der Ärzte. So ein junger Affe, ein Assistenzarzt, sagte dem Mädchen, das mich pflegen sollte: „Warum sind Sie denn hier? Lassen Sie das Frauenzimmer doch ruhig liegen, an der verliert die Welt auch nichts!“ So lag ich den ganzen Tag allein, der Durst quälte mich oft bis zum Wahnsinn und das Mädchen tat von nun an alles widerwillig und schikanierte mich, wo es nur konnte.

So vergingen Wochen, aber das war noch nicht alles! Wie ich in die Irrenanstalt gekommen bin? … Eines Nachts wurde ich aus dem Bett geholt, notdürftig angekleidet und von zwei Justizsoldaten in einen Wagen geschleppt. So ging es in die Nacht hinaus. Auf mein Flehen hin, mir doch zu sagen, was man mit mir vorhabe, erhielt ich keine Antwort, bloß ein zynisches Lächeln. Ich wurde zur „Beobachtung meines Geisteszustandes“ in die Irrenabteilung des Grazer Gefängnisses gebracht. Entschuldige, ich will dich nicht schockieren und werde dir daher nicht weiter davon erzählen. Du kannst dir ja denken, wie meine körperliche und seelische Verfassung zu dieser Zeit war. Übermenschliche Qualen und Leiden musste ich ertragen und stand an der Kippe zum Wahnsinn! Die ersten Tage in Graz waren entsetzlich und ich hatte, verursacht durch meine Krankheit, die schlimmsten Visionen. Andauernd soll ich mit dem Kopf gegen die Wand geschlagen haben, bis ich bewusstlos wurde, erzählten mir die Zimmergenossinnen. Ich wollte nicht verrückt sein. Die fortwährenden Verhöre durch die Ärzte waren in meinem Zustand eine grenzenlose Quälerei. So biss ich die Zähne zusammen, denn ich wusste, wie schnell man in Österreich eine unbequeme Person im Irrenhaus verschwinden lässt. Woher ich das wusste? Das haben mir etliche, fast zum Wahnsinn getriebene Frauen zugeflüstert. Sie spendeten mir erstmals Trost und baten mich innig, nicht aufzugeben. Mein Fall hatte sich in der Anstalt längst herumgesprochen, bis sich der Vizepräsident der Anstalt, ein ehrenvoller Mensch, meiner erbarmte. Er verschaffte mir täglich zu Mittag ein anständiges Essen, damit ich zu Kräften kommen konnte. In inniger Dankbarkeit gedenke ich dieses menschenfreundlichen Mannes, das schwöre ich bei allem, was mir heilig ist. Ich wurde wieder stark und konnte von meiner Unschuld überzeugen. Die Ärzte in Graz wurden plötzlich freundlich, sie pflegten mich und sprachen mir Trost und Mut zu. Nach einigen Wochen wurde ich nachts wieder zurück nach Leoben transportiert, von einer Wahnsinnigen konnte keine Rede sein. Am Tage der Verhandlung war ich kaum imstande, mich aufrecht zu halten. Mein Verteidiger hatte mich sehr gut vorbereitet. Das, was ich erlebte, überstieg trotzdem selbst meine hochgeschraubten Erwartungen. „Wundern Sie sich über nichts! Alle werden lügen, nirgends wird mehr gelogen, nirgends wird mehr falsch geschworen als vor Gericht!“, waren seine vertraulichen Worte in der Zelle. Was er mir damit im Geheimen sagen wollte, konnte ich zu dieser Zeit nicht verstehen, hatte ich doch noch nie mit dem Gericht Kontakt gehabt. Ekel erfasste mich, als die Zeugen vernommen wurden. Nie tat ich diesen Leuten etwas zuleide. Alle hatten sie mehr oder weniger unsere Gastfreundschaft genossen. Wie sie nun glücklich waren, mit den trockenen Reisigzweigen unter dem Arm zu meinem moralischen Scheiterhaufen beitragen zu dürfen. Wie sie strahlten im Bewusstsein der kleinen Rolle, die sie spielen durften, dieses erbärmliche Gesindel! Zuerst der Bürgermeister, dann der Pfarrer und der so ehrwürdige Stationschef. Wenn die Situation nicht so ernst gewesen wäre, hätte ich laut aufgelacht, als sie alle erzählten, wie befreundet sie mit dem „Bezirkshauptmann“ gewesen seien.

Mein armer Mann war so allein, als die Katastrophe hereingebrochen war. Plötzlich schimpften sogar die Herren der Bezirkshauptmannschaft auf den Herausgeber dieses Schmierblattes, in dem der Artikel über dieses „Märchen“ erschienen war, der den Auslöser der ganzen Katastrophe darstellte. Ich verstehe meines Mannes Seelenzustand an jenem Abend ja so gut. Seine Familie hatte das Zerstörungswerk vollbracht, weiter kümmerten sie sich nicht um den armen Mann. In diesen bangen Stunden ließen sie ihn allein! Wie unglücklich mag er sich in dieser verlassenen Wohnung vorgekommen sein, aus der die gute Seele entfernt worden war! Er war ja so an mich gewöhnt, er liebte mich grenzenlos, redete sich selbst in eine gewisse Stimmung gegen mich hinein, als er vor seinem mahnenden Gewissen Schutz suchte. Er vermisste die ihn einhüllende Liebe, alles brach über ihm zusammen. Wäre nur ein einziger guter Freund an seiner Seite gewesen, der ihm gut zugeredet hätte. Bei Gott, das Unglück wäre nie und nimmer geschehen. Später hat man mir erzählt, dass mein Mann einen Tag nach meiner Verhaftung in Leoben gewesen sei. Geistesabwesend soll er durch die Straßen gelaufen sein, er bat und flehte, man möge ihn zu mir lassen. Das Gericht verweigerte ihm eine Aussprache mit mir. Oh! Die Herren vom Gericht wissen, was ihres Amtes ist! Ich vergrub das Gesicht in meinen Händen, als ich davon hörte. Das wäre die einzige Chance gewesen, ein letztes Mal mit meinem geliebten Schatz über alles zu reden, dachte ich verzweifelt. Das Gespräch hätte sogar sein Leben retten können. Bei diesem Gedanken wird mir heute noch ganz mulmig. Dass man mich mit Verbrecherinnen zusammengesperrt habe, könne er nicht ertragen, äußerte er gegenüber einer ihm bekannten Person. Mein Franz war ein gar eitler Mensch. Der Verlust seiner Stellung musste tief schmerzlich sein. Er hatte nicht den Mut, sich im entscheidenden Moment an meine Seite zu stellen. Ich kann das gar nicht oft genug erwähnen, wie du hörst! Er hatte nicht die Energie, sich zu bekennen und zu sagen: „Ich weiß alles, ich habe mit dem Pfarrer die ganze Geschichte in Szene gesetzt!“ Es wäre so einfach gewesen. Siehst du, wie sehr ich mir darüber den Kopf zerbrochen habe? Vielleicht dachte er auch, ich hätte seine Briefe und Dokumente vernichtet. Er konnte nicht ahnen, dass seine Angehörigen eine derartige Handlung begehen würden, alles, was meine Unschuld klar darstellte, zu vernichten. Oder waren es die Quittungen für die aus seiner Junggesellenzeit bezahlten Schulden, die vernichtet werden sollten? Die Papiere über meine verkauften Edelsteine? Ich weiß es nicht. Bei Gott, ich weiß es nicht!

Von seinen drei Herren sagte einer aus, dass er nie gern bei uns verkehrt habe. Der Zweite wusste gar nichts zu erzählen, außer, dass er öfter seinen Geldbeutel gezückt habe, und der Dritte wurde feuerrot, als er seine Aussagen machen musste, die sich merkwürdigerweise mit den einst zu Protokoll gegebenen nicht deckten. Aber im Großen und Ganzen herrschte eine Einigkeit unter den Zeugen, sagenhaft. Ihre Aussagen stimmten zu auffällig überein, um nicht verabredet zu sein. Die Mutter meines Mannes machte allgemein keinen guten Eindruck, ebenso wenig wie sein Bruder. Man versuchte mit aller Kraft das Andenken an den Verstorbenen rein zu halten und aus diesem Grunde verzichtete ich ebenso auf eine Antwort zu ihren Aussagen. Zu meinem großen Erstaunen entlastete mich der Vater meines Mannes. Er gab zu, von seinem Sohn einen Brief erhalten zu haben, in dem Franz geäußert hatte, ihm sei meine Vergangenheit egal. Mein Kammermädchen Anuschka wurde wenige Tage vor der Verhandlung von der Mutter meines Mannes engagiert. Sie saß jeden Tag im Gerichtssaal und musste sich die schlimmsten Anschuldigungen gegen mich anhören. Es war wohl ein Albtraum für sie. Unter Tränen sagte die Gute aus, dass sie in der ganzen Zeit nie etwas Unrechtes oder Unsittliches gesehen habe. Sie habe stets in meiner unmittelbaren Nähe, in einem kleinen, feinen Nebenzimmer gewohnt. Herrenbesuche habe ich nie empfangen und ich sei nie in Gesellschaften gegangen, sondern habe ein sehr zurückgezogenes Leben geführt und sei äußerst sparsam gewesen. Sie konnte unter Eid bestätigen, dass ich meinen Mann über mein gesamtes Vorleben unterrichtet und keine Geheimnisse vor ihm hatte. Zu meinem Leidwesen habe ich sie nach dem Prozess nie wieder gesehen. Ich denke, sie hat vor lauter Enttäuschung das Land verlassen, dessen Gesetze einen Unschuldigen weder schützen noch verteidigen. Sie wird nach Frankreich zurückgekehrt sein.

Sogar ein Brief des Präsidenten von Nizza wurde verlesen, der mir das Zeugnis gab, eine sehr ehrenwerte Dame zu sein, die stets unter seinem Schutze gestanden habe. Mein Lebenswandel sei tugendhaft gewesen, meinte dieser. Lediglich der deutsche Konsul verwechselte mich, aus Gefälligkeit für die Familie meines Mannes, mit jener in Nizza lebenden Frau von Lützow, die gut meine Großmutter sein könnte.

Hör mir gut zu, was ich dir jetzt erzähle! Du wirst es nicht glauben! Unter allgemeiner Anspannung erschien dann der Herr Pfarrer. Seine Knie schlotterten, man sah seinem Munde an, dass er betete! Oh, welch eine erbärmliche Rolle spielte dieser Mann, dachte ich mir. Trotz des Protests meines Verteidigers wurde der Pfarrer vereidigt. Der Mann hatte vom Anwalt meiner Schwiegereltern ganz bestimmte Instruktionen bekommen, dies erzählte er selbst. In der Aufregung aber hatte er alles wieder vergessen. Er sagte aus, eine ordnungsgemäße Trauung vorgenommen zu haben. Dies sagten auch alle anderen Zeugen aus. Ja, sollten wir denn die Leute zu einem Hokuspokus in der Kirche und nachfolgendem guten Diner einladen? Die Leute zu täuschen, war ja der Zweck der Übung. Aber er musste eingestehen, ein Dokument verfasst zu haben, dass er „in Form einer Hochzeit ein feierliches Eheverlöbnis vornehme und diese Ehe vor dem Gesetze keine Gültigkeit habe“. Er habe dieses Dokument unter der Amtsgewalt seines politischen Chefs verfertigt, respektive es unterschrieben. Der Verfasser sei der Herr Bezirkshauptmann gewesen, der ihm gedroht habe, mit seiner Braut zum evangelischen Pfarrer zu gehen und zum protestantischen Glauben überzutreten, falls er ihn nicht trauen würde!

Und ich werde dafür fünf Monate eingesperrt! Die Anklage auf Betrug wurde „leider“ fallen gelassen, denn die Geschädigten wollten sich nun einmal, trotz aller Bitten, nicht melden! Die einzige Geschädigte aber war ich selber, nur glaubte man es mir nicht! Entschuldige, wie du siehst, übermannt mich wieder der Zorn. Es ist heute noch schwer, davon zu reden. Du wirst mir bestätigen, dass auch ein weniger einfältiger Mann als es der Herr Pfarrer ist, stutzig geworden wäre, wenn jemand eine „Trauung“ von ihm verlangt und sich anstatt des Trauscheines ein Dokument hätte ausstellen lassen, wonach diese Trauung nur ein „Eheverlöbnis“ sei und nur in Form einer „Hochzeit“ vorgenommen werde, um dem Brautpaar ein Zusammenleben zu ermöglichen, „doch hat diese Ehe vor dem Gesetze keine Gültigkeit!“ Dies hat nun aber, zugegebenermaßen, mein Mann mit dem Pfarrer gemacht und ich komme dafür ins Gefängnis. Und mein Mann und der Pfarrer sollen nicht gewusst haben, dass ich noch gebunden bin? Mein Mann, der den Anwalt, der nur meine Scheidung führt, um Beschleunigung bittet, weil der Pfarrer wartet, und er später seinen Urlaub, der Hofjagden wegen, erhält. Der soll es nicht gewusst haben? Dann bekommt mein Mann vom Anwalt aus Trier das Telegramm: „Ehe gelöst“, geht damit zum Pfarrer und gibt es ihm. Als ich diesen Erleuchteten bei der Verhandlung fragte, was er sich dabei gedacht habe, sagte der Mann, er habe das Telegramm auf meine zweite Ehe mit dem Herrn Baron Lützow bezogen. Der Herr Pfarrer hatte das Scheidungsdekret dieser Ehe, die 1894 getrennt worden war, seit einem Jahr in seinem Schreibtisch! Warte einen Moment, ich muss dir etwas zeigen. Schau mal, wenn du Zeit hast, lies diesen Text vom 10. November 1904 von Karl Kraus, dem geistreichen Herausgeber dieses Heftchens. Er hat in seinem Artikel „Der Hexenprozess in Leoben“ ein charakteristisches Bild der Verhandlung gegeben.

Warum ich trotzdem eingesperrt wurde, willst du wissen? … Das ist ganz einfach zu beantworten. Mein Verteidiger war leider keine Kämpfernatur, zu anständig für die Leobener Verhältnisse, die ihn auch in der ganzen Äußerung seiner Meinung behindert haben. Hätte in meinem Fall ein anderer Verteidiger Mitspracherecht gehabt, wäre ich mit Sicherheit freigesprochen worden. Davon bin ich fest überzeugt!

Was meinen Mann betrifft, hat er sein Leben weggeworfen! Weshalb? Weil er, als er so allein in unserer Wohnung zurückblieb, sich seiner armen Hilflosigkeit und Verlassenheit bewusst wurde; dazu kam noch das quälende Gefühl, an mir ein Unrecht begangen zu haben. Unser ganzes, großes, verlorenes Glück stand vor seinen Augen. Ja, ich hätte anders gehandelt! Nicht von seiner Seite wäre ich gewichen, ich wäre ihm in Not und Tod, ja selbst in die Schande gefolgt! Ich hätte mich vor seine Kerkertür gesetzt und keine Macht der Welt hätte mich fortgebracht. Unausgesetzt hätte ich ihn mit meiner Liebe getröstet, ihm Mut zugesprochen. Das Totschießen hätte immer noch Zeit gehabt, glaub mir!

Warum ich wieder geheiratet habe? … Ich sehe, du verstehst es nicht. Es ist auch nicht leicht zu erklären. Nach meiner Haft konnte ich nur staunen, manchmal habe ich sogar eine Gänsehaut bekommen. Weshalb? … Wie zugetan mir die Leute plötzlich waren, wie sie mein unsagbares Leid erschütterte. Unzählige Briefe erreichten mich, in denen mir das tiefste Mitgefühl ausgedrückt wurde oder sich die Menschen nach meiner Gesundheit erkundigten. Hatten doch etliche Zeitungen ausführlich über diese Justizungerechtigkeit mir gegenüber berichtet. Du kannst mir glauben, nicht umsonst hat mich der Kaiser mit einer beachtlichen Summe dafür entschädigt. Er war bemüht, die leidige Sache aus der Welt zu schaffen, die sich wie ein dunkler Schatten über sein graues Beamtentum legte, und begnadigte mich. Werde nicht ungeduldig, ich erzähle ja gleich, warum ich wieder geheiratet habe! Ein Mann war mir in dieser schweren Zeit besonders gut gesonnen, er schrieb mir fast täglich Briefe, in denen er mir sein Verständnis kundtat und seine Hilfe anbot. Anfangs war ich etwas verwirrt, warum gerade mir ein Unbekannter ein guter Freund sein wollte. Doch meine tragische Geschichte hatte sein Herz berührt. „Nur nicht verzagen, Kopf hoch. Sie haben nichts Strafbares begangen. Ich bin Ihnen, was auch immer kommen möge, ob gut oder nicht gut – treu ergeben, denn in meinen Augen sind Sie das Opfer“, waren seine Worte. Ich streckte ihm meine Hand entgegen und nahm dankbarst seine selbstlose Hilfe an, die ich sehr nötig hatte. Bislang war ich die Person gewesen, die ohne zu Fragen den armen Menschen geholfen, die ihre eigenen Bedürfnisse vergessen hatte und darüber ins bitterste Elend kam. Letztendlich habe ich in Herrn J. nicht nur einen Freund, sondern auch einen gewissenhaften Ratgeber gefunden. Er richtete mich in jeder Weise auf und versprach für mich zu kämpfen. Wehmütig und schwer ist es mir ums Herz, wenn ich daran denke. Es war ein Weihnachtsabend, an dem wohl der ärmste Mensch ein Anrecht auf irgendeine Freude hat. Vergessen und alleine saß ich in meinem Hotelzimmer und niemals ist mir meine Verlassenheit gegenwärtiger gewesen als an diesem trüben Abend. Den ganzen Tag quälte mich die Idee, meinem Dasein ein Ende zu machen. Trotzdem verspürte ich, dass noch so viel in mir lebte und ich wieder Glück säen und Frieden ernten wollte. Licht verbreiten im Dunkel von Not und Elend unserer Menschheit. Warum schenkte mir Gott so viel, wenn alles verkümmern sollte, gerade jetzt, wo alles reif geworden war? Ich ersehnte von Neuem den Sonnenschein des Glücks und spürte, dass mir dies mein geliebter Gatte bis in seinen Tod hinein gönnen würde. Plötzlich klopfte es zaghaft, fast überhörbar leise an meiner Hotelzimmertüre. Anfangs wollte ich in meiner Depression gar nicht öffnen, es sollte mich niemand in diesem schrecklichen Zustand sehen. Doch dann rief die Zimmerfrau, es sei ein liebenswerter Mann mit Blumen für mich da. So gut ich konnte, raffte ich mich auf und öffnete die Tür. Draußen stand Herr J. mit einem wunderschönen Strauß roter Rosen und einem verlegenen Lächeln im Gesicht. Und nicht nur das, er bat mich höflichst, ihn zu einem feierlichen Essen in ein kleines, vornehmes Lokal zu begleiten. Einerseits wollte ich ablehnen und auf der anderen Seite war mein trauriges Herz so berührt, dass es nicht nein sagen konnte. Bei Kerzenschein und einem Glas Wein war mir dieser liebenswürdige Mensch ein verständnisvoller Zuhörer. Das erste Mal konnte ich mir mein Leid von der Seele reden, ohne dabei nur einen Funken von Schuldgefühl zu verspüren, jemandem mit meiner Geschichte auf die Nerven zu gehen. Am selben Abend schlug er mir vor, ihn auf einer bevorstehenden Reise nach London zu begleiten, um mich abzulenken. Ein Ortswechsel würde mir sehr gut tun, meinte er mit fester Überzeugung. Zögernd sagte ich zu und zu Neujahr fuhren wir nach London, wo er mich dann aufrichtig um meine Hand bat. Ich konnte nicht nein sagen!

Du denkst, es war zu schnell? Du magst schon richtig liegen. Doch nur wer die Qual meiner Tage kennt und nur wer weiß, wie ich unter der glühenden Sehnsucht nach meinem liebevollen Mann leide, der wird mich auch hierin verstehen! Ob ich Herrn J. liebe? … Das ist eine direkte Frage, die ich leider mit nein beantworten muss. Mit schmerzerfüllter Sehnsucht denke ich immer noch an meinen dahingeschiedenen Franz und seine verlorene Seele. Ich kann dir jedoch sagen, warum ich letztendlich erneut mein Jawort gegeben habe. Im Volk herrscht der Glaube, dass die Seele eines gewaltsam aus dem Leben Geschiedenen die ewige Ruhe nicht finden könne und unstet, rastlos und klagend umherirre, bis derjenige, welcher die Schuld an dem gewaltsamen Tode des Opfers trägt, der verdienten Strafe zugeführt wird. Du musst wissen, mein Gatte ist ein sehr einflussreicher Mann und er hat mir mit seinem Ehrenwort versprochen, mich mit allen Mitteln zu unterstützen, um den Tod meines geliebten Franz zu rächen. Rein soll sein Andenken vor aller Welt sein, deshalb muss ich mit jedem Mittel, das mir zu Verfügung steht, die Schuldigen in ihrer Handlungsweise zeichnen. Schon allein, um die Tat meines geliebten Franz, wenn auch nicht zu rechtfertigen, so doch verständlich zu machen. Seine Familie höhlte den Boden unter seinen Füßen aus und die Herren der Bezirkshauptmannschaft trugen den Zündstoff hinein. In die Luft geflogen sind ich und mein armer Mann.

Kannst du mich jetzt verstehen? Nein, versuche bitte nicht, mich zu trösten. Lass uns lieber einen kleinen Spaziergang im Park machen, bevor ich ins Zimmer zurück muss, um die Koffer für die morgige Abreise zu packen. Die frische Luft wird uns beiden sehr gut tun. Ich bezahle die Rechnung und dann gehen wir. In Ordnung?

Die schwarze Baronin

Подняться наверх