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Auf Tod und Leben

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Findling, der diese Gewässer zum erstenmal befuhr, hatte mit größter Vorsicht seinen Weg durch die gefährliche Torresstraße gesucht und war fast Tag und Nacht nicht von Deck gekommen. Während der wenigen Stunden, die er schlief, verließ er sich mehr auf den erfahrenen und besonnenen Martin als auf Marholm. Doch jetzt in der Harafurasee gönnte er sich mehr Ruhe. Der Auftrag, den Schatz des verschollenen Konsuls zu heben, kam ihm jetzt, wo das Schiff seine Aufmerksamkeit weniger erheischte, wieder lebendiger zu Sinn. Er hielt das Ganze noch immer für die Ausgeburt eines kranken Gehirnes.

Während mittschiffs Henrik, Martin und der Schneider sich Wunderdinge erzählten, saß er am Hinterdeck unter dem Sonnenzelt, welches er hatte herstellen lassen, und hing seinen Gedanken nach. Ob er es gleich von der niedrigen Stufe aus, auf welche ihn das Geschick alsbald nach seiner Geburt gestellt, verhältnismäßig rasch zu einer achtbaren Stellung gebracht hatte, so nagte doch das Gefühl, so ganz vereinsamt im Leben zu stehen und auf die Frage: »Woher des Landes und wer waren die Eltern?« die Antwort schuldig bleiben zu müssen, oft schmerzhaft an seiner Seele. Doch nicht allein die Demütigung, die dieses Verlassensein mit sich führte, bereitete ihm Kummer, mehr noch die so vergebliche tiefe Sehnsucht nach einem Wesen, das nach Blut und Seele ihm innig verwandt sei. Wie beneidete er die beiden Jünglinge, den frischen, feurigen, so gut und edel veranlagten Henrik Horsa, den gutmütigen, drolligen Schneider um das Glück, ein liebendes Mutterherz ihr eigen nennen zu können. Er war gut und freundlich im Waisenhaus behandelt worden, und er war heute noch dankbar dafür, aber die gütigste Haushälterin war keine Mutter, der freundlichste Lehrer kein Vater. Sein eigenartiges Wesen hatte ihn verhindert, im Waisenhaus sowohl wie später unter seinen derben, oft rohen Schiffsgenossen, die an natürlicher Begabung und bald auch an Wissen und Können unter ihm standen, Freunde zu finden. Bis auf Kapitän Baggesen war niemand seinem Herzen näher getreten. Henrik, dessen Äußeres für ihn einnahm, wie sein freundliches Wesen, vornehmes Denken und gute Manieren, der eine für seine Jahre nicht gewöhnliche Bildung besaß, hatte bald sein Herz gewonnen, und in einer Stimmung, in welcher die Sehnsucht nach Gütern, die ihm ein herbes Geschick geraubt hatte, mächtig war, hatte er ihm jene vertraulichen Mitteilungen gemacht.

War Henrik auch für einen Freundschaftsbund mit einem durch die rauhen Stürme des Lebens vor der Zeit gereiften Mann zu jugendlich an Jahren und Empfindungen, so brachte ihm doch Findling ein Wohlwollen entgegen, welches Ähnlichkeit mit dem Gefühl hatte, mit dem man einem jüngern Bruder gegenübersteht.

Seine Gedanken kehrten, während das Schiff langsam durch die Wellen strich, zu dem Auftrag zurück, den Schatz des Konsuls zu suchen, und als Martin in die Nähe des Hinterdecks kam, rief er ihn an.

Der Alte trat zu ihm.

»Hast du einen Marsgasten Hans Evers gekannt, der später in Hamburg Jollenführer war?«

»Will's meinen, Kaptein; habe mehr als einmal die Back mit ihm geteilt.«

»War's ein zuverlässiger, ehrenwerter Mann?«

»Nu, Kaptein, er war ein guter Schiffsmaat, nichts gegen zu sagen, nur mit der Wahrheit nahm er's nicht ganz genau, war mitunter ein Leichtfuß.«

»Hast du ihn denn auch noch als Jollenführer gekannt?«

»Habe ihn immer gesehen, wenn ich in St. Pauli vor Anker lag. War ein drolliger Kauz geworden, hatte seine fixe Idee. Nach dem dritten Glas Grog faselte er stets von einem Schatz, den er irgendwo verborgen wußte, und schimpfte auf die Dummheit der Menschen, die ihm nicht die Mittel geben wollten, ihn zu heben, das wußte der ganze Hafen und amüsierte sich daran.«

Das klang, was die Aussagen des Evers anging, nicht gerade tröstlich.

»Kennst du den Namen Isenhoit?«

»Habe den Namen wohl nennen hören, zählten ehemals zu den großen Hansen, die Isenhoits.«

»Von einem Konsul dieses Namens, der vor Jahren mit dem Schiff zugrunde gegangen, hast du nichts gehört?«

»Kann mich nicht besinnen, Kaptein, muß all lange her sein.«

Da bis auf die nicht tröstlichen Mitteilungen über die Zuverlässigkeit des Evers zu der Sache, welche Findling ihrer Eigenartigkeit wegen interessierte, nichts Wichtiges aus ihm herauszubekommen war, verabschiedete er ihn.

Der Wind war allgemach eingeschlafen und nach kurzer Zeit herrschte völlige Windstille. Luft und Wasser waren so ruhig, daß die Segel matt herniederhingen. Auch die Grundströmung machte sich hier in der Binnensee nur wenig bemerkbar.

Der »Roland« schaukelte sich leicht auf und nieder wie ein Kahn auf einem Teich.

Findling wußte, daß Windstillen in diesen Gewässern oft tagelang anhalten. Die Harafurasee ist eingeschlossen von hoch aufragenden umfangreichen Inseln und liegt nicht in den Linien, welchen die großen Luftbewegungen folgen. Dieses erzwungene Stilliegen war ihm wenig angenehm.

Gegen Norden zeigten sich dem Auge, nur wenige hundert Faden entfernt, zwei anmutig gestaltete, bewaldete Inseln. Ein reiches Tierleben schien dort heimisch zu sein, denn zahlreiche Wasservögel belebten die kleinen Buchten, Papageien und andere buntgefiederte Waldbewohner schwangen sich auf den Zweigen umher.

Zu Henrik, der neben ihm am Vollwerk stand, sagte Fritze, der wie sein Gefährte bewundernd auf das Tropenbild schaute: »Du, wat meenste, Hamburger, wenn wir so een paar von die Paradiesvögel mit nach Hause bringen könnten, det wär' aber 'n Jux vor die janze Reezenjasse.«

Auch in Henrik war die Sehnsucht lebendig, eine Erinnerung an diese farbige Tropenwelt mit hinwegzunehmen, und er äußerte die Absicht, um Erlaubnis zu bitten, an Land gehen zu dürfen.

»Denn bitte aber vor mir ooch, ick möchte meine Beene mal gehörig vertrampeln.«

Die Mütze in der Hand, nahte sich Henrik dem Hinterdeck.

»Komm her, was willst du?« rief ihm Findling entgegen.

Henrik trat vor ihn und sagte mit seinem einnehmenden Lächeln: »Ich möchte um die Erlaubnis bitten, einige von den Enten und Papageien dort für den Herrn Kapitän schießen zu dürfen.«

»O wie liebenswürdig, und der Herr Horsa möchte natürlich auch einige von jenen Papageien mit nach Hause nehmen?«

»Ja, Herr Kapitän – dort würde es große Freude bereiten. Auch Fritz Fischer sehnt sich danach, seiner Mutter Sonntagshut mit einem echten Paradiesvogel zu schmücken.«

Findling stand auf, ließ seinen Blick über den Horizont schweifen und sagte dann freundlich: »Nehmt die Jolle, Jungs, und geht an Land. Der Schneider darf mit. Bei dieser See kann jedes Kind rudern.«

Diese Erlaubnis enthielt für die beiden jungen Leute die Aussicht auf ein seltenes Vergnügen. Die Jolle ging nieder, Findling gab Henrik seine eigene Doppelflinte sowie Patronen mit Dunst und grobem Schrot, und vergnügt ruderten der Hamburger und Fritze nach der nahen Küste. Zwei Stunden Urlaub hatte ihnen der Kapitän bewilligt. Henrik war ein vortrefflicher Schütze und erlegte schon vom Boot aus zwei Enten. Sie landeten, legten die Jolle fest und begannen sich nun nach den bunten Vögeln umzuschauen, die zahlreich die Uferbäume belebten. Besonders erregte ein seltsamer Vogel, dem vom Haupt zwei lange, dünne, auffallend gestaltete Federn, länger als der ganze Körper, herniederhingen, nicht nur Fritzes, sondern auch Henriks bewunderndes Staunen, der weder in den berühmten Vogelsammlungen seiner Vaterstadt, noch in ornithologischen Werken ähnliches gesehen hatte.

»Du, Hamburger«, schrie der entzückte Berliner, »von die schieß ein paar. So 'n Ding soll de Alte un de Line uff'n Hut haben, wenn wir Sonntags zu'n Jrunewald jehn, denn platzt awer de olle Piefken vor Neid und Jalle.«

Henrik schoß nach einem schönfarbigen langgeschwänzten Papagei, traf ihn auch, aber der Knall erregte einen furchtbaren Aufruhr in der Vogelwelt; wild flatterte alles von Ast zu Ast und erhob mißtönendes, betäubendes Geschrei. Da die schönen Vögel nach mehreren gut gezielten Schüssen scheu wurden und nicht mehr aushielten, folgten ihnen die beiden Jünglinge in den Wald.

Zum erstenmal sahen sie sich staunend von den Wundern der Tropennatur umgeben, die sie bis jetzt nur von fern erschaut hatten. Seltsame, nie gesehene Pflanzen, farbenprächtige Blüten von wunderlichen Formen, mit denen große Schmetterlinge an Glanz und Schönheit wetteiferten, Schlinggewächse, die sich von Baum zu Baum in kühnen Windungen hinzogen, dichtbelaubte Waldesriesen, welche zum Himmel aufragten, andere, welche niedergesunken am Boden der Vernichtung entgegengingen, boten sich ihren staunenden Augen; die feierliche Stille, das düstere Halbdunkel unter den Bäumen, welches nie ein Sonnenstrahl zu erhellen schien, dies alles erfüllte das Gemüt der jungen Leute mit Schauern der Ehrfurcht. Wie in eine Märchenwelt fühlten sich die Kinder des Nordens versetzt, in jene phantastische Welt, welche in ihre Kindesträume hereinragte.

»Det is aber wirklich scheene hier«, nahm endlich Fritze das Wort, »det is doch noch anders wie der Tierjarten. Nur 'n bißchen duster is et.«

»Es ist die Tropenwelt in ihrer ganzen Pracht und Macht«, sagte Henrik in staunender Bewunderung.

»Ja, scheene is et, aber 'n bißchen kellerig mang die ollen Bäume, meenste nich?«

Henrik, in den neuen und überwältigenden Anblick versunken, antwortete nicht. Fritze, bei dem der Eindruck dieser so überreichen Vegetation weniger tief haftete, sagte dann: »Aberst, nu laß uns 'n paar von die Paradiesvögel schießen, det wir ooch wat mitbringen.«

Sie schritten in den Wald hinein, bahnten sich ihren Weg durch Büsche und Schlinggewächse, überkletterten morsche Bäume und stiegen allgemach höher und höher an der Berglehne empor. Es gelang Henrik, zwei von den ersehnten Vögeln zu schießen, und dann dachte der besonnene Jüngling an den Heimweg, den er nach dem kleinen Kompaß an seiner Uhr bestimmte. Sie stiegen mit ihrer Beute bergab, um die Meeresküste zu gewinnen, als ein heftiger Donnerschlag sie plötzlich aufschauen ließ. Der Himmel war ihnen durch das dichte Laubdach verdeckt und ein Luftzug, hier im dichten Urwald, nicht zu spüren. Henrik erschrak über diese jähe Veränderung des Wetters, die sicher von starker Luftströmung begleitet war, und setzte eilends seinen Weg fort. Unter großen Anstrengungen erreichten sie nach einer halben Stunde den Strand und sahen den mit grauem Dunst überzogenen Himmel über sich. Die See zeigte Bewegung, und von Osten blies es scharf. Das Auge suchte das Schiff. Dort stand es wohl drei Meilen weit unter kurzen Segeln und lavierte hin und her. Es war klar, der sich erhebende Ostwind hatte es von der Insel abgetrieben, während sie im Wald weder die Sonne sahen noch einen Lufthauch spürten.

Henrik war bereits erfahren genug, um zu wissen, daß es gelte, den »Roland« vor dem Ausbruch eines schweren Wetters zu erreichen, solange er noch am Wind segeln konnte.

»Vorwärts!« rief er und lief nach der Stelle zu, wo die Jolle lag. Glücklicherweise führte diese immer Mast und Segel mit, so auch jetzt. Kräftig hob er den Mast empor und setzte ihn ein, Fritze befehlend, die Schote des Klüvers zu festigen, während er das Segel losband.

Er fühlte das Anschwellen des Ostwindes, sah wie die Wogen sich zu heben begannen und übergab das Segel nur sehr verkürzt dem Luftzug. Sich ans Steuer setzend, zog er die Schot an, und das Boot schoß wie ein durchgehender Renner über die Wellen. Schweigend saß Fritze neben ihm und starrte auf die blasenwerfenden Wellen. Sie liefen vor dem Wind ab und machten schnelle Fahrt.

Henrik war ein überaus kräftiger Jüngling, geübt, ein Boot auch in rauhem Wetter zu führen, und hielt das Steuer mit eherner Kraft. Doch nie hatte er bis jetzt eine solche See im Boot befahren, und auch der »Roland« war bisher immer von gutem Wetter begünstigt worden. Er wußte, daß sie rettungslos verloren waren, wenn die Jolle einen Augenblick außer Fahrt kam, die nächste Welle hätte sich mit aller Wucht daraufgestürzt und sie versenkt. Ja er wußte, daß, wenn das Boot in seiner Schnelligkeit nachließ, er Wasser von achtern bekommen würde, was ebenfalls Vernichtung bedeutete. Gern hätte er gewendet, wiederum die schützende Bucht der Insel zu suchen; das war ein vergeblicher Wunsch, denn nie konnte die Jolle bei diesem Luftzug am Wind fahren, sie konnte nur von ihm ablaufen. In steigender Verzweiflung sagte er sich, daß es bei diesem Wellengang ganz unmöglich sein würde, an Bord zu gelangen – da – sein Herz bebte krampfhaft zusammen – der »Roland« hatte vor dem ausbrechenden Sturm wenden müssen und lief jetzt gleichfalls vor dem Wind ab, sich mit jeder Sekunde weiter von ihnen entfernend. Diese Bewegung des Schiffes, durch die eherne Notwendigkeit erzwungen, glich einem Todesurteil für die Jünglinge. Aber Henrik war von jener kühnen deutschen Art, die auch in drohender Gefahr des Unterganges nicht verzweifelt. Mit immer gleicher Ruhe, Kraft und Geschicklichkeit steuerte er das Boot durch die schäumenden Wellen, dem brausenden Sturm Trotz bietend.

Der Letzte vom

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