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Am Rio Quinto

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Jahre waren ins Land gegangen, seit Don Juan und Sancho Pereira, genannt Pati, der Gewalt Don Francisco de Salis entschlüpften. Aber noch immer herrschte in Buenos Aires Don Manuel de Rosas, der harte Mann, der den Unitariern den Tod geschworen hatte. Die wirklichen wie die vermeintlichen Anhänger der unitaristischen Partei erlagen, wo immer er sie fassen konnte, seinem unerbittlichen Zugriff. Das Gewicht seiner starken Persönlichkeit und seine politische Rücksichtslosigkeit hatten den Gewaltigen durch Wahl des Kongresses zum dritten Male mit diktatorischen Vollmachten ausgerüstet an die Spitze des Staates gestellt.

Die erst in jüngerer Zeit der Wildnis abgerungenen Grenzgebiete des Landes wurden von der harten Faust de Rosas nur selten erreicht, dafür hatten sie um so härter mit anderen Gefahren zu kämpfen. Denn den hier noch immer herumstreifenden Indianerhorden waren die politischen Wirren insoweit günstig gewesen, als die Regierung weder Macht noch Möglichkeit hatte, sich um diese Fragen zu kümmern. Forts, die früher an geeigneten Stellen zum Schutz gegen die Wilden angelegt worden waren und eine starke Besatzung aufzuweisen hatten, um die Indianer von Angriffen abzuhalten oder ihre Macht zu brechen, waren geräumt worden, weil die Truppen in anderen Teilen des Landes benötigt wurden. Damit aber war der Schutzwall niedergerissen worden, der die dünnbesiedelten Grenzen deckte. Die Indianer, die im Süden hausenden Puelchen ebenso wie die kriegerischen Bewohner des noch von keinem Weißen betretenen Gran Chaco, wurden auf solche Weise zu Angriffen und Überfällen geradezu herausgefordert, und es geschah denn auch immer wieder, daß sie die Grenzen heimsuchten und großes Leid über die Bewohner brachten.

Dennoch hatte in der Pampa seit einigen Jahren Ruhe geherrscht, denn die Puelchen waren, nachdem sie bei ihrem letzten Ansturm, alles vor sich niederwerfend, tief in das Land eingedrungen, von den Gauchos schließlich so aufs Haupt geschlagen worden, daß sie seither Frieden hielten. Die Gefahr erneuter Angriffe blieb indes bei der Schutzlosigkeit der Grenze nach wie vor bestehen.

Die Pampa Argentiniens ist öder und einförmiger als die Prärie Nordamerikas. Reitet man über sie hin, so bildet das Haupt des Reiters den höchsten Punkt in der Weite. Dem ruhenden Meere gleich liegt die Fläche da, ihre Ränder verschwimmen in violettem Schein mit dem fernen Horizont.

Von den Anden her senkt sich, dem Auge unmerkbar, der Boden sanft, aber ununterbrochen nach dem Atlantischen Ozean hin, und die zahlreichen Wasserläufe, die in den himmelansteigenden Höhenzügen der Kordilleren ihren Ursprung haben, nehmen den Weg nach Osten.

Seen, die nicht alle süßes Wasser haben, Salzsümpfe und öde Strecken, an denen nur der nackte Dünensand zutagetritt, bringen einige Abwechslung in die Einförmigkeit der Steppe. Einer riesigen Felseninsel gleich erhebt sich die Sierra de Cordoba, gleich weit vom Parana wie von den Anden entfernt, unvermittelt aus der Grassteppe, weithin die endlose Pampa überragend. Auch sie sendet zahlreiche Wasserläufe gen Osten. Im Süden rinnt der Rio Quinto durch das Grasland, wasserreich in der Nähe des Höhenzuges, dem er entspringt, auf seinem Lauf indessen mehr und mehr versiegend, bis er, aufgesaugt von der Pampa, verschwindet.

Die Flußufer werden hier und da von Bäumen eingefaßt, von schlanken, hochragenden Nogals, Erlen, Algaroben und vor allem vom Ombus, von denen einige Exemplare sich sogar bis in die Steppe verirrt haben.

Auf dem linken Ufer des langsam strömenden Flusses erhoben sich, von Bäumen beschattet, einige niedrige Gebäude, aus Holz und Lehmziegeln aufgeführt. Ein umfangreicher Korral, dessen Umfassung aus Säulenkaktus und den Stämmen junger Zedern errichtet war, zeigte sich dem Blick; drinnen tummelte sich eine Anzahl munter umherspringender Pferde und Maultiere. Einen ungewohnten Anblick gewährten in diesem Teil der Pampa wohlbestellte Mais- und Weizenfelder sowie ein Garten, der sich an dem längsten, umfangreichsten der Gebäude hinzog, und in dem außer Kartoffeln und verschiedenen Gemüsen auch junge Orangen- und Pfirsichbäume sowie allerlei Blumen angepflanzt waren. Dornenhecken und lange Balkenriegel grenzten das Ganze ein, um es vor den frei weidenden Pferden und Rindern zu schützen. Der Einfluß einer umsichtig ordnenden Hand war überall spürbar.

Dies war das Heim Juan Perez‘, des Gaucho, der sich vor einigen Jahren hier niedergelassen hatte. Er war eines Tages mit einem Majordomo von fremdländischem Aussehen und einem dunkelhaarigen Knaben von Süden gekommen und hatte mit Hilfe von Leuten, die er aus den Niederlassungen am Höhenzug von Cordoba und am Parana angeworben hatte, nach und nach diese Heimstätte geschaffen, die ihm als altem Soldaten eine Schenkungsakte des Präsidenten Manuel de Rosas verbürgte.

Die Estancia lag einsam und war in jenem Landesteil am weitesten von allen in die Pampa vorgeschoben. Ihr Viehbestand, die hauptsächlichste Erwerbsquelle der dortigen Estancias, war nicht gering! Señor Perez wußte ihn mit Fleiß und Energie zu nützen. Er hatte einige junge Gauchos als Rinder- und Pferdehirten in seinen Diensten, und eine große Anzahl Rinder- und Pferdehäute machten alljährlich den Weg nach der Küste, wo sie beträchtlichen Gewinn einbrachten.

Die Gauchos pflegen sich ebensowenig wie die Indianer mit Feldarbeit zu befassen; die nicht unbeträchtliche Boden- und Gartenkultur auf der Besitzung des Señor Perez war deshalb das alleinige Verdienst seines Majordomos, des Señor Sancho Pereira, dessen wunderliche Haarfarbe ihm weit und breit den Namen Feuerkopf eingetragen hatte. Señor Pereira also – wir kennen den braven Pati ja bereits ebenso wie seinen Herrn – hatte mit Hilfe einiger schwarzer Arbeiter den Boden ur- und fruchtbar gemacht. Die Erzeugung von Feld- und Gartenfrüchten gab der Niederlassung ein zivilisiertes Gepräge und unterschied sie vorteilhaft von anderen Estancias dieser Gegend.

Die Sonne hatte sich eben erst am Horizont erhoben; sie verwandelte die Myriaden Tautropfen auf den Gräsern in blitzende Edelsteine. Der Himmel war klar und wolkenlos, er schwang sich wie eine gläserne Glocke über die Ebene, die nur durch den Waldsaum unterbrochen wurde, der die Ufer des Flusses einfaßte. Von fern schimmerten die Spitzen der Berge von Cordoba im rötlichen Frühlicht; sie brachten etwas Abwechslung in die großartige Eintönigkeit der Pampa.

Innerhalb der Gebäude schien alles noch m tiefem Schlaf zu liegen, als aus einem der niedrigen, mit Fellen verhangenen Fenster der größeren Behausung eine jugendliche Gestalt schlüpfte und, einen Sattel nebst dem unvermeidlichen Lasso auf dem Kopf tragend, mit unhörbaren Schritten nach dem Korral eilte.

Die Gestalt war kaum hinter der Balkenumzäunung verschwunden, als ein kräftiger Mann durch die Tür auf die offene Veranda trat und, die frische Morgenluft einatmend, einen prüfenden Blick auf Himmel und Erde warf. Es war Juan Perez, der Gaucho, nicht mehr ganz der junge Mann, den wir kennenlernten; ganz spurlos waren die Jahre nicht an ihm, dem nunmehr etwa Vierzigjährigen, vorübergegangen. Aber seine Gestalt war kräftig und sehnig wie ehedem, das gebräunte Antlitz trug die Spuren heißer Sonne und rauher Stürme. Einige Narben zeugten von den Kämpfen, an denen er teilgenommen hatte.

Da stand er und grüßte den erwachenden Morgen.

»Ave Maria!« sagte hinter ihm eine Stimme mit dem landesüblichen Gruß.

»Purissima«, antwortete er und wandte sich um, den Mann begrüßend, der soeben die Veranda betreten hatte. Es war Pati, und auch an seinem Äußeren hatte die Zeit ein wenig verwandelnd gewirkt. Er war dicker und massiger geworden, doch zeugte noch immer jede seiner Bewegungen von außergewöhnlicher Muskelkraft.

»Nun, mein Goldprinz«, sagte Don Juan lächelnd, »was jagt dich so früh von deinem Lager?«

»Ich will euch abreiten sehen«, sagte Sancho.

»Natürlich!« lachte der Gaucho. »Don Aurelio auf dem Schimmel! Das muß man gesehen haben. Aber wo bleibt denn der Junge? Verschläft wahrhaftig den schönen Morgen. Aurelio!« rief er laut nach dem Hause zu, »raus aus dem Bett! Benimmst dich wahrhaftig wie ein Pampashase im Winter!«

»Der Pampashase ist schon da!« sagte lachend eine frische Stimme. Die Männer wandten den Kopf, und heran galoppierte auf einem schneeweißen Pferd, dem man die edle arabische Abkunft in jeder Linie seines Leibes ansah, ein gut gewachsener junger Mann. Mit ausgezeichneter Haltung saß der wohl Achtzehnjährige zu Pferde; das dunkelblaue Wollhemd, die knapp sitzenden ledernen Hosen und die hohen Stiefel mit den silbernen Sporen unterstrichen den schlanken Bau seines Körpers. Das fast klassisch geschnittene, von dunklen Locken umgebene Gesicht mit den vor Lebenslust blitzenden Augen nahmen sofort für ihn ein.

»Ich nehme den Pampashasen zurück, mein Junge!« lachte Don Juan und betrachtete den Jüngling mit offensichtlichem Wohlgefallen. »Wie ich sehe, bist du mir sogar zuvorgekommen.«

»Wer weiß, vielleicht verdiene ich mir den«Pampashasen« ein andermal, Vater«, lachte der Junge.

»Du willst den Cid reiten?« fragte der Gaucho und runzelte ein wenig die Stirn.

»Ja, ich wollte gern. Ist es dir nicht recht?«

»Ich weiß nicht recht; eigentlich – aber gut, erproben wir, ob er hält, was er verspricht.«

An sich hatte der Gaucho den Schimmel mit großer Sorgfalt eigens für Aurelio gezüchtet, denn für diesen Jungen, den er einst als hilfloses Kind dem erstarrten Arm seiner toten Mutter entnommen hatte, war Juan Perez nichts zu gut. Zusammen mit Sancho Pereira hatte er das Kind mit einer Liebe und Sorgfalt erzogen, die der einer fürsorgenden Mutter gleichkam. Er war selber Junggeselle geblieben. Pati hatte, nicht zuletzt des Jungen wegen, vor Jahren eine Lebensgefährtin genommen; sie war ihm schon nach kurzer Ehe durch den Tod wieder entrissen worden. Aurelio ahnte bis zur Stunde nichts von seiner Abkunft, er hielt sich für Juans Sohn und erwiderte die Zuneigung der beiden Männer auf das zärtlichste.

Juan, der alljährlich einige Male nach Buenos Aires und nach Santa Fé ritt und dabei niemals versäumte, alles zu erkunden, was auf seines Schützlings Zukunft Bezug haben könnte, hatte die Verhältnisse bisher stets zu ungünstig gefunden, um offen für die Rechte Aurelios einzutreten. Zu stark schienen die feindlichen Mächte, mit denen er zu ringen gehabt hätte; der Kampf mußte auf günstigere Zeiten verschoben werden. So hatte er denn seinerseits für Aurelios Zukunft getan, was er konnte. Den Namen Aurelio hatte er ihm von dem Augenblick an gegeben, da er von der alten Negerin auf der Estancia Bellavista erfahren hatte, daß der jüngste Sohn Fernandos diesen Namen führte. Er hatte den Jungen zu seinem persönlichen Erben eingesetzt und außerdem einen Priester in Buenos Aires, einen Mann ohne Menschenfurcht, ins Vertrauen gezogen, ihm alles, was er über Aurelios Herkunft wußte, unter eidlicher Bekräftigung mitgeteilt und die von Pater Hyacinth darüber angefertigten Dokumente vor Zeugen unterzeichnet. Auch hatte er dem Cura für alle Fälle die Schmucksachen, die Pati der Leiche der Mutter abgenommen hatte, anvertraut.

So also lagen die Dinge. Juan Perez kannte die Macht, die Schlauheit und die Rücksichtslosigkeit der Männer, die ein Interesse daran hatten, seinen Schützling zu verderben. Vielleicht waren die Befürchtungen, die er hatte, übertrieben, jedenfalls bestimmten sie seit Jahren sein Handeln. Sie hatten ihn vom Rio de Salado nach Norden in die einsamen Gegenden Cordobas getrieben. Am Salado lag ihm Buenos Aires zu nahe. Auch der Angriff der Puelchen vor einigen Jahren hatte ihn seines Pflegesohnes wegen besorgt gemacht. Nachdem er das Seine dazu beigetragen hatte, die Roten niederzuwerfen, suchte er einen Teil des Landes auf, der ihren Überfällen weniger ausgesetzt war als die Ufer des Salado. Und diesem letzten Umzug verdankte die Estancia am Rio Quinto ihre Entstehung.

»Komm, Aurelio, wir wollen frühstücken«, rief der Gaucho dem Jüngling zu. Der stieg ab, band den Schimmel an einen Pfosten der Veranda und sprang die paar Stufen mit elastischen Schritten hinauf. Eine alte Mulattin erschien und trug in einer großen Blechkanne heißen Mate auf, dazu Eier, gebratene Hühnchen und frischgebackene Tortillas. Juan und Aurelio setzten sich, und Pati, der sich durchaus als Majordomo fühlte und den Rangunterschied zwischen dem Gaucho und sich peinlich aufrecht erhielt, nahm erst Platz, nachdem beide saßen.

Don Juan sah sich um und fragte: »Wo ist Don Estevan?«

»Er schläft noch«, lachte Aurelio. »Wahrscheinlich träumt er von einer neuen Gattung Stipa, die er entdeckt hat.«

»Also lassen wir ihn schlafen«, sagte der Gaucho, und alle machten sich an das Frühstück.

»Der Estrangero hat sich lange nicht sehen lassen«, äußerte Juan nach einer Weile.

»Er wird seine bösen Tage haben«, sagte Aurelio. »Dann sitzt er in seiner Höhle und brütet, und nichts und niemand lockt ihn heraus.«

»Schade, daß er so menschenscheu, ja, ich möchte sagen, menschenfeindlich ist.« Juan wiegte nachdenklich den Kopf. »Ich schätze ihn nämlich sehr, er ist ein zuverlässiger und redlicher Mann.«

»Oh«, sagte Aurelio, »er macht Ausnahmen mit seiner Menschenfeindlichkeit. Mich beispielsweise hat er ins Herz geschlossen, seit er mich aus den Klauen des Jaguars rettete.«

»Den Schuß werde ich ihm meiner Lebtage nicht vergessen«, versicherte der Gaucho.

»Das war aber auch ein Schuß, Vater«, ereiferte sich der Junge. »Wahrhaftig, der Mann handhabt seine lange Buche so unfehlbar wie du den Lasso oder die Bolas.«

»Der Neid muß es ihm lassen, aber ich neide es ihm nicht einmal«, versicherte Juan.

»Und reiten! Reiten kann er auch, Vater. Nicht gerade wie du und ich, aber für einen Estrangero immerhin erstaunlich.«

»Er war drüben in seiner Heimat wohl Soldat und hat in einem Reiterregiment gedient; da ist es schließlich kein Wunder. Wie gesagt, schade, daß man ihn so selten sieht.«

»Ich habe von ihm schießen gelernt, Vater, es geht schon ganz gut«, sagte Aurelio. »Wenn die Puelchen wieder einmal in der Pampa erscheinen sollten, dann will ich unsere Reiter lehren, wie man angreift und den Feind wirft. Ich stürme mit der langen Lanze voran.«

»Laß das, Aurelio«, sagte Don Juan ernst, »du wirst den Krieg leider noch früh genug kennenlernen. Und übrigens: der Estrangero mag für europäische Verhältnisse ein vortrefflicher Krieger sein; für uns Gauchos ist es sicher das beste, wir bleiben bei unserer alten Kampfweise.«

Das Frühstück näherte sich bereits seinem Ende, da erschien, aus dem Hause heraustretend, eine Gestalt auf der Veranda, die sich in dieser Umgebung einigermaßen sonderbar ausnahm. Es war dies ein schmächtiger junger Mann in moderner Kleidung, in dessen magerem, bartlosen Gesicht neben der stark vorspringenden Nase vor allem die großen Brillengläser auffielen, die vor offenbar kurzsichtigen Augen funkelten. Er kam langsam heran, rieb sich die Hände und machte einen ziemlich verschlafenen Eindruck.

»Da ist ja Don Estevan«, sagte der Gaucho. »Schämt Euch, Doktor, den schönen Morgen zu verschlafen!«

»Wenn Aurelio mich nur geweckt hätte, Señor«, sagte der Mann, zweifellos ein Gelehrter; seine Stimme war so sanft wie sein Gesichtsausdruck.

Der Jüngling lachte. »Nein, Doktor«, sagte er, »Ihr schlieft so friedlich, daß es eine Sünde gewesen wäre, Euch zu stören.«

»Ich bin spät zur Ruhe gegangen«, bemerkte Don Estevan. »Ich schrieb nämlich in der Nacht noch an meiner Abhandlung über die Erycinidae.«

»Um so mehr Grund, Euch zu stärken, Don Estevan«, sagte der Hausherr höflich und wies mit einladender Bewegung auf den Tisch. Der Bakkalaureus Don Estevan Manzano, Graduierter der Universität zu Buenos Aires, nahm mit höflicher Verbeugung neben Aurelio Platz.

Der junge Gelehrte lebte schon seit längerer Zeit auf der Estancia. Denn Juan Perez, der selber nur eben lesen und schreiben konnte, wußte den Wert von Wissen und Bildung sehr wohl zu schätzen. Er hatte deshalb die Verpflichtung gefühlt, Aurelio mit geistigem Rüstzeug versehen zu lassen. Pater Hyazinth, dem er sich auch insoweit anvertraute, hatte ihn in dieser Meinung bestärkt und ihm den jungen, kränklichen Gelehrten, dem die Ärzte einen Aufenthalt in der Pampa zur Festigung seiner Gesundheit verschrieben hatten, zugewiesen. Kurz entschlossen hatte der Gaucho ihn samt einer Maultierladung von Büchern, Papier, Tinte, Karten und dergleichen mit sich genommen.

Aurelio hatte unter Don Estevans Anleitung bereits überraschende Fortschritte gemacht, und der junge Doktor, dem die Pampaluft recht gut bekommen war, hing mit herzlicher Zuneigung an seinem Schüler. Da er von Haus aus Naturforscher war – Naturalista sagt man dortzulande —, bot die Pampa ihm ein reiches und ergiebiges Studienfeld.

»Sie wollen jagen, Señor Perez?« fragte Don Estevan während des Frühstücks.

»Ja, mein Lieber. Im Osten haben sich Nandus sehen lassen; wir wollen ihnen nachstellen.«

»Kommt doch mit, Doktor«, sagte Aurelio, »wir wollen einmal Seite an Seite über die Pampa fliegen.«

Der Gelehrte lächelte schwach. »Nein, Aurelio«, sagte er, »zum Pampasreiter bin ich einmal verdorben, ich will den Tag lieber meinem Studium widmen. Sollte euch aber irgendwo eine breitblätterige Prionida unterkommen, so wäre ich dankbar, wenn ihr mir einige Exemplare mitbringen wolltet; hier in der Nähe wächst sie nämlich nicht.«

Ihr habt Vorstellungen von einer Straußenjagd! hätte Aurelio am liebsten gesagt, aber er unterdrückte die Bemerkung. »Sollte ich die Pflanze entdecken, will ich gerne daran denken«, sagte er nur. Don Juan erhob sich. »Auf jetzt, Aurelio«, sagte er, »da kommt Pablo mit den Pferden.« Er schnürte die Bola um den Leib, warf den Poncho über und bestieg sein Roß, das von einem jungen Hirten vorgeführt wurde. Auch Aurelio nahm die Bolas von der Wand, befestigte sie an seinem Leib, warf den Poncho über und schwang sich auf den Schimmel. Der Lasso und das lange Messer fehlten natürlich bei keinem der Männer. Pablo führte einen hinter seinem Sattel befestigten ledernen Beutel mit Verpflegung bei sich.

Nach fröhlichen Abschiedsworten ritten Juan Perez und Aurelio davon. Sancho Pereira sah ihnen mit strahlendem Lächeln nach; seine Blicke galten vor allem Aurelio.

»Was für ein Reiter!« rief er begeistert, »und Lasso, Bolas und Lanze führt er bald besser als Señor Perez.«

»Auch tapfer soll er sein«, äußerte der Gelehrte, »ja, es gibt Leute, die ihn tollkühn nennen.«

»Tapfer ist er, der Bursche, das ist wahr«, versicherte Pati. »Vor zwei Jahren war er mit Juan Perez da drüben in den Bergen« – er deutete auf die Höhen von Cordoba – »zufällig scheuchte er einen Jaguar auf. Er warf die Bolas nach der Bestie, doch sein Arm war zu schwach, auch besaß er noch nicht Übung genug im Gebrauch dieser Waffe; er reizte das Tier nur zur Wut, und der Jaguar nahm ihn an. Da sprang der Junge entschlossen aus dem Sattel, wickelte blitzschnell den Poncho um seinen linken Arm, zog das Messer und erwartete den Ansprung der Bestie. Perez sah das alles, war aber zu weit entfernt, um selber eingreifen zu können, und halbtot vor Schreck. Er zittert noch heute, wenn er daran denkt, aber er sagt auch jedesmal, es sei bewundernswert gewesen, wie unerschrocken der Junge sich zum Kampf gestellt hätte.«

Don Estevan kannte die Geschichte längst, doch gab er dem Majordomo gerne Gelegenheit, seiner Begeisterung über Aurelios Tapferkeit die Zügel schießen zu lassen.

»Gott hat über den Jungen gewacht, Señor«, fuhr Pati fort, »denn die Gefahr, in der er schwebte, war entsetzlich, und ich weiß nicht, was aus der Sache geworden wäre, wenn nicht der fremde Jäger erschienen wäre und die Bestie abgeschossen hätte. Es war ein Estrangero«, fügte er hinzu, »ein Aleman.«

»Ich habe schon öfter über diesen Estrangero sprechen hören«, sagte der Gelehrte, »was ist er für ein Mann?«

»Ich kann nicht viel über ihn sagen«, antwortete Pati, »es wird viel Gutes und manches Sonderbare über ihn erzählt. Er ist noch jung, haust ganz allein in den Bergen und lebt von dem Ertrag seiner Büchse, denn er ist ein trefflicher Jäger. Wie er zu schießen versteht, hat er ja schon damals bewiesen, als er Aurelio vor dem Ansprung des Jaguars rettete. Der Señorito hat ihn seit damals einige Male besucht, und er war auch selber schon hier, aber man hört nur selten von ihm; er liebt die Einsamkeit.«

»In Uruguay, in Entre Rio und auch in Buenos Aires leben viele Alemans; man sieht sie recht gern, und ich habe bisher nicht gehört, daß sie ungesellig sind«, sagte Don Estevan.

»Auch nördlich von hier, am Rio Tercero, wohnen Landsleute des Estrangero«, bemerkte der Majordomo. »Nun, wir wollen uns über die Grillen des Mannes nicht den Kopf zerbrechen«, fügte er hinzu, »ich denke mir, Gott hat den Estrangero zur rechten Zeit damals des Weges geschickt, um unserem Aurelio das Leben zu retten.« Damit erhob er sich, um nach den Feldern zu sehen, auf denen bereits einige Schwarze ihre Morgenarbeit verrichteten, und auch Don Estevan verließ die Veranda, um sich an seinen Schreibtisch zu begeben.

Don Juan, Aurelio und der junge Hirte waren indessen am Flußufer entlanggeritten, das auf einer großen Strecke weit von Baumwuchs frei war. An einer seichten Stelle kreuzten sie den Quinto. Drüben ließ Juan Perez den Blick über die Landschaft schweifen. Hier und da waren einzelne Gruppen weidender Pferde und Rinder zu sehen, nichts aber von dem Wild, das zu jagen sie ausgezogen waren. Der Gaucho prüfte den Wind; ein leichter Luftzug kam von Südwest. Er deutete in diese Richtung und sagte: »Da drüben sind sie, wir müssen zu ihnen reiten.«

Sie setzten sich in Trab und mochten einige Stunden in der schnellen Gangart der Pampaspferde geritten sein, als Juan sich im Sattel erhob. »Seht ihr?« sagte er, »da drüben!« Und nun gewahrte auch Aurelio in weiter Ferne noch die hochragenden Tiere, die ruhig ihre Nahrung suchten.

»Noch sind sie nicht aufgescheucht«, sagte der Gaucho. »Wenn unsere Burschen aufpassen und die Nandus nicht zu früh flüchtig werden, können wir sie nach Süden treiben. Dann mag Cid beweisen, was er kann.«

Sie nahmen die Bolas von der Hüfte, Aurelios Augen funkelten im Jagdeifer.

»Reite du nach links, Pablo«, befahl Juan Perez dem Hirten, »und du, mein Junge, halte dich rechts. Bleibt in gleicher Höhe mit mir und gebt acht, daß sie nicht nach Norden entkommen.«

Die Jungen schwenkten nach links und rechts ab, und im Abstand von etwa zweihundert Metern galoppierten alsdann alle drei vorwärts. Bald schon wurden sie der Hirten ansichtig, die schon am Vorabend ausgesandt waren, um das Wild nach Süden und Westen hin einzukreisen.

Sie mochten den Straußen vielleicht auf eine halbe Legua nahegekommen sein, als eines der großen Tiere plötzlich den Kopf hob und zu ihnen herüberäugte. Im gleichen Augenblick wurden die Riesenvögel, es mochten wohl ihrer zwanzig sein, nach Süden flüchtig. Von dorther aber nahten sich nun drei Reiter, die ihre Ponchos schwangen. Augenblicklich wandten die Nandus sich nach Westen, aber auch von dorther jagten ihnen drei Reiter mit flatternden Ponchos entgegen. Einen Augenblick verhielten sie, zu einem Trupp zusammengeschart, dann wandten sie und jagten nach Norden davon.

Don Juan ließ einen hellen Schrei ertönen, das Zeichen zum Beginn der Jagd. Und während die Hirten nun in ausgedehntem Halbkreis dem dahinstürmenden Wild den Weg nach Süden und Westen verlegten, suchten Juan und seine zwei Begleiter ihm die Flucht nach Norden unmöglich zu machen.

Die von allen Seiten bedrohten Tiere stutzten wieder, aber nur einen Augenblick, dann teilte sich der Trupp, und sie jagten nach Westen und Osten davon. Sie durchbrachen den Kreis, und nun galt es, ihnen nachzusetzen; jetzt kam es auf die Schnelligkeit der Pferde und auf die Geschicklichkeit der Reiter an. Mit Sporen und gellenden Rufen feuerten die Jäger ihre Pferde an. Doch unaufhaltsam stürmte das geängstigte Wild durch die Pampa, die Reiter hinter sich lassend.

Von Todesangst gepeitscht, jagten die riesigen Vögel dahin. Durch hastige Schläge ihrer kurzen Flügel suchten sie ihren Lauf zu beschleunigen. Die Reiter kamen kaum näher, doch zeigte sich nun bald, daß Aurelios Schimmel die beiden anderen Rosse an Schnelligkeit weit übertraf; schon nach kurzer Zeit hatte er erheblichen Vorsprung gewonnen.

Wilder und aufregender wurde die Jagd. Die Strauße schienen über die Pampa zu fliegen, und die schäumenden Pf erde gaben ihnen kaum nach. Einer der Strauße, der von Aurelio verfolgt wurde, zeichnete sich durch besondere Größe aus; er war auch an Schnelligkeit seinen Gefährten überlegen. Dich! Dich! dachte Aurelio, dich will ich haben! »Es gilt, Cid!« flüsterte er, »es gilt jetzt die Probe!« Und der Schimmel rechtfertigte alle Erwartungen, die ein so guter Pferdekenner wie der Gaucho auf ihn gesetzt hatte. Er verschlang förmlich den Raum.

Bald blieben Juan und Pablo zurück; der Abstand zwischen ihnen und dem dahinjagenden Aurelio vergrößerte sich immer mehr. Der Junge, die Augen unverwandt auf das flüchtige Nandu gerichtet, hatte die Bolas wurfbereit in der Rechten. Er näherte sich bereits den ersten Straußen, die deutliche Zeichen der Ermattung erkennen ließen, doch beachtete er sie kaum; auf den voranjagenden großen Vogel hatte er es abgesehen. Die anderen Nandus stoben, von panischem Schrecken erfaßt, auseinander und suchten links und rechts ihren Weg, als der Schimmel an ihnen vorüberjagte. Aurelio sah sie gar nicht; einige hundert Schritt vor ihm stürmte das ersehnte Wild über die Pampa. »Cid!« flüsterte er, »Cid!« Und bald schon erkannte er: der Schimmel war schneller als der Vogel. Langsam aber sicher verringerte sich der Abstand zwischen Jäger und Wild. Jetzt galt es, die ganze Geschicklichkeit des Reiters zu zeigen. Wie ein Sturmwind brauste Cid dahin, immer näher kam er dem von Todesangst beflügelten Tier. Schon begann Aurelio, die Bolas um den Kopf zu schwingen, um zum tödlichen Wurf auszuholen, da strauchelte Cid über ein Kaninchengehege, deren viele die Pampa unterwühlten, und nur die unübertreffliche Sicherheit des Reiters bewahrte diesen vor dem Sturz. Cid hatte sich nicht verletzt, er stürmte weiter, aber der Strauß hatte Vorsprung gewonnen.

»Adelante! Adelante!« rief Aurelio, das Pferd anfeuernd, da bog der Vogel plötzlich nach links aus, Aurelio stieß einen Jubelruf aus, gab dem Pferd die Sporen und war mit wenigen Sätzen dem Nandu in der Flanke. Die Bolas wirbelten um den Kopf, entflogen, umwickelten die armdicken Ständer des Straußes, der wie vom Blitz getroffen zu Boden stürzte.

Aurelio brachte Cid zum Stehen und sprang ab. Die Beine des Nandus waren zerschlagen. Gegen die Bolas gibt es, wenn sie ihr Ziel erreichen, keine Rettung. Jetzt galt es, das Tier schnell zu töten. Das ist, wenn es mit dem Messer geschehen muß, keine ungefährliche Sache, denn der Strauß versteht, kräftige Schnabelhiebe zu führen. Das Tier hob den Kopf; Aurelio wollte sich eben herunterbeugen, als eine Büchse krachte, und es, durch das Auge geschossen, leblos zurücksank. Staunend wandte Aurelio den Kopf; an der Stelle, wo der Strauß so plötzlich abgebogen war, stand ein hochgewachsener Mann, die noch rauchende Büchse in der Hand. Neben ihm erhob sich soeben ein Maultier aus dem Gras.

»Oh, Señor«, rief Aurelio sichtlich erfreut, »ich danke Euch. Ihr erspartet mir, das Tier abzustechen.« Ohne weiter seiner Beute zu achten, ging er auf den Mann zu, der ihn erwartete.

Es war dies ein hochgewachsener, kräftiger Mann, größer als die Männer spanischer Abkunft; langes blondes Haar fiel unter einer Pelzmütze herab, die Augen über der kräftigen Nase waren von lichtem Blau. Er trug ein grünes Jagdhemd, hirschlederne Beinkleider und hohe, derbe Reitstiefel. Seine Augen waren mit freundlichem Ausdruck auf Aurelio gerichtet.

»Ich freue mich sehr, Euch hier so unvermutet begrüßen zu können«, sagte Aurelio und nahm die Hand, die der Fremde ihm entgegenstreckte. »Ihr habt lange nicht mehr von Euch hören lassen.«

»Auch ich freue mich, mein Junge«, sagte der Mann. »Bist du etwa ganz allein in der Pampa?«

»Nein, Señor. Mein Vater ist auch hier und mehrere unserer Peons. Wir wollten Nandus jagen.«

»Du bist ein prächtiger Reiter, mein Junge, und du hast da, scheint mir, ein großartiges Pferd.«

»Nicht wahr, Señor!« Aurelios Augen strahlten. »Cid ist das beste Pferd in der ganzen Pampa. Vater hat ihn für mich aufgezogen und selbst zugeritten.«

»Du bist wahrhaftig ein erstaunlicher Bursche«, sagte der Mann. »Wie du die Bolas handhabst, das muß man gesehen haben.«

»Nun«, wehrte Aurelio ab, »der Wurf war wohl nicht schlecht, aber an meines Vaters Kunst darf ich mich nicht messen.«

»Du wirst es deinem Vater schon noch gleichtun, mein Junge.«

»Ich habe mich auch mit der Lanze geübt«, sagte Aurelio, »so, wie Ihr es mich gelehrt habt. Neulich habe ich im vollen Jagen bei zehn Versuchen nur einmal den Ring gefehlt.«

»Gut«, lobte der Blondbärtige, »gut, mein Junge, du wirst die Lanze vielleicht eines Tages noch brauchen. Aber wie steht‘s mit der Wissenschaft?«

Aurelio lachte und schien ein wenig verlegen. »Ich kann nicht sagen, daß es mir Vergnügen macht, über den Büchern zu sitzen«, versetzte er. »Aber immerhin, Don Estevan ist ganz zufrieden mit mir.«

»Lerne, hijo mio«, sagte der Fremde. »Dein Vater hat klug getan, als er Don Estevan kommen ließ. Auch das Wissen wirst du eines Tages noch brauchen.«

»Ich glaube Euch gern, Señor«, lächelte der Junge, »aber warum habt Ihr Euch solange nicht bei uns sehen lassen? Wo habt Ihr gesteckt? Ich war selbst dreimal in Eurer Behausung, ohne Euch anzutreffen.«

»Ich habe die Pampa nach Süden zu durchstreift«, sagte der Mann. »Eben komme ich zurück und war auf dem Wege zu Euch.«

»Großartig!« strahlte der Junge. »Ich hab Euch schon mächtig vermißt.«

Der Mann hob die Hand. »Da kommt dein Vater«, sagte er.

Tatsächlich sprengte der Gaucho soeben mit verhängten Zügeln heran. Er rief schon von weitem: »Seid mir gegrüßt, amigo. Ich freue mich, Euch zu treffen.«

»Das ist beiderseits, Don Juan«, sagte der Fremde und streckte dem vom Pferde Gesprungenen die Hand entgegen, die Juan Perez mit offensichtlicher Freude ergriff. Gleich darauf wandte er sich dem Jungen zu. »Gut gemacht, Aurelio«, sagte er. »Und Cid? Was sagst du zu Cid?«

»Oh, Vater, er ist ein großartiger Raumverschlinger, ich habe es ja gewußt.«

»Kein Caballero in Buenos Aires hat ein besseres Pferd«, sagte der Gaucho.

Die Peons kamen nun heran. Es waren noch zwei weitere Strauße erlegt worden; die Hirten hatten sie bereits abgebalgt und führten die Bälge mit. Pablo machte sich sogleich daran, auch den von Aurelio niedergestreckten Riesenvogel abzuziehen. Die Kadaver nahm man nicht mit; das wäre mühsam und zwecklos gewesen.

»Nun seht euch aber nach Brennmaterial um und macht Feuer«, sagte Juan Perez, »ich verspüre erheblichen Appetit. Seht, daß wir Mate bekommen und öffnet den Beutel.«

»Dort drüben wächst Brea«, sagte der Fremde und deutete auf die Stelle, wo er mit seinem Maultier gerastet hatte. Es dauerte nicht lange, da brannte das Feuer, Wasser lieferte ein unscheinbares Rinnsal, das dem Fremden und seinem Maultier bereits Erquickung geboten hatte, und bald darauf verbreitete der Paraguaytee seinen angenehmen Duft.

Die Männer streckten sich ins Gras, füllten ihre Becher und ließen sich die Speisen munden; der Fremde hatte seinerseits ein gebratenes Kaninchen zu dem Festmahl beigesteuert. Sie sprachen zunächst über die Jagd. »Ihr habt den Strauß durch den Kopf geschossen, Estrangero«, sagte Don Juan, »es ist staunenswert.«

»Es ist eine Sache der Übung«, entgegnete der andere gleichmütig. »Ihr wißt dafür besser mit Lasso und Bolas umzugehen; ich bin froh, daß ich mich auf meine Büchse verlassen kann.«

»Glaubt Ihr, daß auch Aurelio schießen lernen wird?«

»O gewiß. Warum nicht? Hand und Auge sind gut. Schickt ihn wieder mal für ein paar Wochen zu mir in die Berge. Da kann er sich üben.«

»Ja, Vater, ja!« rief Aurelio begeistert.

»Also«, sagte Don Juan, »ich habe nichts dagegen. Der Junge kann nicht genug lernen, und bei Euch weiß ich ihn in guten Händen. Er wird also kommen.«

»Ich werde mich freuen«, sagte der Fremde. Er griff nach der neben ihm liegenden Doppelbüchse, wies zum Himmel und sagte: »Siehst du den Raubvogel dort oben, Aurelio?«

Aurelio folgte mit den Augen der weisenden Hand. »Ja, Señor«, antwortete er.

»Ich verfolge ihn schon den ganzen Tag«, sagte der Fremde. »Es ist ein Kondor der Anden; er streicht so weitab von seiner Heimat. Der Kadaver deines Straußes lockt ihn an, deshalb streicht er so niedrig. Hier, nimm die Büchse. Ich denke, er wird in Schußweite kommen; dann versuche dein Glück.« Aurelio griff nach der Waffe und spannte die Hähne.

»Langsam mit dem Lauf von unten nach oben gehen und etwas vorhalten, wenn er kommt«, sagte der Mann.

Aller Blicke waren nun auf den mächtigen Vogel gerichtet, den bisher niemand beachtet hatte. Verhältnismäßig niedrig zog er in majestätisch gleichmäßigem Fluge dahin. Schweigend, in atemloser Spannung warteten die drei; Aurelios Hand zitterte im Jagdeifer. Jetzt kam der Kondor in Schußnähe; Aurelio legte an, hob langsam den Lauf und drückte ab. Der Kondor zuckte sichtbar zusammen, flog aber weiter. Beschämt ließ der Junge die Büchse sinken.

»Gut gemacht, mein Freund«, sagte indessen der Fremde, »der Kondor gehört dir.« Aurelio sah ihn zweifelnd an, da senkte sich schon der König der Lüfte, geriet ins Flattern, überschlug sich einige Male und stürzte gleich darauf zur Erde nieder. Dort schnellte er gleich einem Federball auf und ab. Die Gauchos stimmten ein Freudengeschrei an.

Glücklich lief Aurelio von allen Peons gefolgt nach der Beute. Das Tier war inzwischen verendet; sie betrachteten es staunend. Noch keiner von ihnen hatte bisher einen so gewaltigen Raubvogel in der Nähe gesehen. Der Beifall über den sicheren Schuß gab sich in lauten Ausrufen kund. Die Kugel war dem Kondor durch die Brust gedrungen. Er wurde unter lautem Hallo herbeigetragen und zu Don Juans Füßen niedergelegt. Es war ein stattliches Exemplar; selbst der Gaucho betrachtete staunend die ungeheure Spannweite der Flügel, die an drei Meter betragen mochte.

»Das hat der Junge von Euch gelernt, Estrangero«, lachte Don Juan, »es ist bewundernswert. Ich habe, als ich im Kriege war, auch schießen gelernt, aber es liegt nun einmal nicht in unserer Art; es ist Zufall, wenn eine Kugel auf solche Entfernung trifft.«

»Es war ein guter Schuß«, sagte der Fremde trocken. »Aurelio wird ein vortrefflicher Schütze werden.«

Sie sprachen noch mancherlei, aber allmählich kam die Müdigkeit über alle. Die Mittagshitze war drückend, und die Straußenjagd war anstrengend gewesen; einer nach dem anderen streckte sich zum Schlaf aus. Nur Aurelio wachte noch lange in der Freude über sein ungewöhnliches Jagdglück.

Stunden später brachen sie auf; sie wollten noch vor Sonnenuntergang die Estancia erreichen. Die Pferde waren ausgeruht, hatten geweidet und wurden auch noch getränkt, obgleich ein Pampaspferd vierundzwanzig bis sechsunddreißig Stunden ohne Wasser auskommen kann und oft genug auch muß. Auch der Fremde hatte sein starkes Maultier bestiegen und sich bereit erklärt, die Jagdgesellschaft zu begleiten, sehr zur Freude Aurelios, der seinen Kondor vor sich festgebunden hatte, und zur Zufriedenheit Juan Perez‘, der dem Deutschen herzlich und dankbar zugetan war, seit er den Jungen vor dem Zugriff des Jaguars gerettet hatte.

Sie ritten zunächst ziemlich schnell, da sie sich viele Leguas von ihrem Heim entfernt hatten; später wurde es dann nötig, die Pferde langsamer gehen zu lassen. Nun gesellte sich Don Juan dem Deutschen zu, und beide ritten in einiger Entfernung hinter den anderen her.

»Ihr lebt noch immer einsam in Euren Felsschluchten, amigo?« fragte Don Juan.

»Ja, amigo, und es ist gut so«, antwortete der Fremde.

Der Gaucho warf ihm von der Seite her einen prüfenden Blick zu. »Ihr scheint die Menschen nicht sonderlich zu lieben«, sagte er. Der andere antwortete nicht gleich; über sein offenes Gesicht liefen Schatten, die Augen unter den dichten Brauen waren zusammengezogen, als lauschten sie nach innen.

»Ich sehne mich jedenfalls nicht nach Menschen«, sagte er dann schließlich. Er wandte sich Perez zu. »Sucht mich zu verstehen«, fuhr er fort, »ich bin kein Menschenfeind. Ich habe meine Heimat seinerzeit verlassen müssen, politischer Umstände wegen, die Euch nicht weiter interessieren können, und dann habe ich, schon hier im Lande, einige trübe Erfahrungen gemacht.«

»Die mag wohl jeder Mensch im Leben machen«, sagte nachdenklich der Gaucho. »Ihr lebt schon lange hier?«

»Vier Jahre werden‘s demnächst«, antwortete der Deutsche. »Früher habe ich in Entre Rios gewohnt; es leben dort Landsleute von mir. Ein gewisses trauriges Erlebnis hat mich dann davongetrieben. Ich ging über den Parana und fand in den Bergen von Cordoba eine neue, mir zusagende Heimstätte. Dort hause ich seitdem.«

»Wenn ich Euch so ansehe«, sagte der Gaucho, »Ihr seid noch jung, ich schätze Euch auf nicht viel über Dreißig, obgleich Haar- und Barttracht Euch älter machen. Man sagt, die Zeit heile viele Wunden. Sollte es sich wirklich lohnen, in Eurem Alter mit den Menschen zu grollen? Auch ein tätiges Leben schenkt Vergessen.« Der Fremde streifte ihn mit einem nachdenklichen Blick, sagte aber nichts.

»Ihr müßt vielleicht über eine solche Äußerung eines Halbwilden staunen«, fuhr Don Juan fort. »Ich weiß schon, daß ich ein Halbwilder bin. Ich verstehe den Lasso und die Bolas zu schwingen, kann aber nur mühsam lesen und schreiben. Nun, Estrangero, ich war auch einmal jung und ein wilder, reichlich gedankenloser Gesell, der in den Tag hinein lebte und nicht mehr von der Welt wußte, als er in der Pampa und auf seinen Kriegszügen gesehen hatte. Dann hat mir Gott eines Tages eine Aufgabe gestellt, mir, dem wilden Gaucho. Seht, seit jenem Tag hat mein Leben einen Sinn, und ich bemühe mich, die Aufgabe mit meinen schwachen Kräften zu lösen. Mich dünkt nun, jeder Mensch hat Pflichten zu erfüllen, die ihm Gott auferlegt hat, der eine diese, der andere jene. Glaubt Ihr wirklich, daß Euch nicht auch ein Auftrag fürs Leben geworden ist, Ihr, der Ihr jung und kräftig wie ein schmollendes Kind in Eurer Felshöhle hockt? Seid mir nicht böse, daß ich Euch das so geradezu sage, aber ich bin für dieses Leben Euer Schuldner, und wahrhaftig, ich meine es gut.«

»Ihr braucht mir das nicht zu versichern, Don Juan«, sagte der Deutsche, »und Ihr müßt reden, wie Euch der Schnabel gewachsen ist. Vielleicht kann ich Euch eines Tages eine Antwort geben, für heute müßt Ihr sie mir noch erlassen.«

Sie schwiegen nun wieder eine Weile; der Fremde schien in Grübeln versunken, und Juan Perez störte ihn nicht. Der Deutsche selbst brach schließlich das Schweigen. »Ich bin zum erstenmal diesseits des Parana mit Ureinwohnern zusammengestoßen«, sagte er.

Don Juan zuckte bei diesen Worten so heftig zusammen, daß er unwillkürlich die Zügel anzog und sein Pferd zum Stehen brachte. »Indios?« fragte er, »diesseits des Parana? Wo?«

»Zwei Tagesreisen von hier«, sagte der Deutsche.

»Caracho! Wieviel?«

»Oh, es waren nur drei.«

»Führten sie Lanzen?«

»Nein.«

»Por le nombre de dios, was ist das?«

»Fürchtet Ihr Gefahr?« fragte der Fremde und schien einigermaßen erstaunt.

»Was haben die Puelchen hier in der Pampa zu schaffen? Wie benahmen sie sich übrigens gegen Euch?«

Der Deutsche lachte knurrend. »Oh, ich bin ganz gut mit ihnen fertig geworden«, sagte er. »Ich habe sie in ihrem Lager überrascht. Sie zogen etwas grimmige Gesichter, schienen aber Respekt vor meiner Büchse zu haben.«

»Wie waren sie gekleidet?«

»Einer trug den Poncho, die anderen Fellmäntel. Und alle drei hatten sie Perlenbänder in den Haaren.«

»Puelchen!« Der Gaucho schien noch immer fassungslos. »Und sie ließen Euch entkommen?« staunte er.

»Was heißt entkommen?« lachte der Deutsche. »Wir verkehrten freundschaftlich miteinander. Der mit dem Poncho sprach ganz gut Spanisch. Vielleicht haben mein Äußeres und meine Sprechweise ihnen gesagt, daß ich kein Argentinier sei. Sie forschten nach meiner Landsmannschaft, mit der sie natürlich, als ich sie ihnen verriet, nicht viel anzufangen wußten.«

»Sagten sie nicht, was sie hier wollten?«

»Wenn ich sie richtig verstanden habe, wollten sie nach dem Parana, um Stuten in Empfang zu nehmen, die ihnen die Regierung versprochen hat.«

Der Gaucho war sehr ernst geworden. So hoch nach Norden kamen diese Burschen? Das sah verdächtig aus. »Außer diesen dreien saht Ihr keine Indios?« fragte er.

»Nein.«

»Wunderbar genug, daß sie Euch entkommen ließen.«

»Und warum sollten sie mir feindlich gegenübertreten?«

»Ihr kennt die Puelchen nicht, Aleman«, sagte der Gaucho. »Sei überzeugt, daß Ihr Euer Leben nur Eurer Büchse zu verdanken habt. Alle Wetter! Die Roten in der Pampa! Laßt uns eilen. Das müssen die Nachbarn wissen. Die Grenze muß gewarnt werden. Und sprecht bitte nicht mit Aurelio von dieser Begegnung. Es sind jetzt sechs Jahre her, daß wir mit den Puelchen kämpften, nachdem sie unvorstellbares Elend über die einsam gelegenen Estancias gebracht hatten. Sicher wollen sie jetzt, da die Pampa mehr denn je von Truppen entblößt ist und sie neue Kraft gewonnen haben, abermals einen Ansturm versuchen. Hinter den drei Burschen, die Ihr getroffen habt, lauert sicherlich der teuflische Jankitruß. Vorwärts! Vorwärts!« rief er den anderen zu, und alle setzten sich in Galopp.

Die Pampa ist pfadlos. Der Estrangero würde ohne den Kompaß, den er mit sich führte, sicherlich nie den Weg zu den Bergen von Cordoba zurückgefunden haben. Der Gaucho aber, von früher Jugend an mit der Pampa vertraut, mit den Augen eines Falken und dem Ortssinn eines Hundes begabt, richtet sich nach unscheinbaren Merkmalen, um den Weg in der Wüste mit unfehlbarer Sicherheit zu finden. Er sieht am fernen Horizont Dinge, die ein ungeübtes Auge selbst mit dem Fernglas nicht wahrnehmen würde.

So nahm denn die kleine Reiterschar unter der Führung Don Juans ihren Weg in schnurgerader Richtung durch die Ebene. Die Pferde liefen in leichtem Galopp; sie sollten nicht überanstrengt werden, vor allem das Muli des Deutschen, das indessen wacker durchhielt, obgleich es an seinem Reiter und dessen Gepäck nicht eben leicht zu tragen hatte.

Auf dem weiteren Ritt fand Aurelio Gelegenheit, sich dem Deutschen zu nähern. Er hatte das ernste, verschlossene Gesicht Don Juans wahrgenommen, aber nicht zu fragen gewagt. Nun sah er, daß auch der Deutsche in ernste Gedanken versunken schien. Er zögerte ein Weilchen, dann sagte er leise: »Denkt Ihr an Eure Heimat, Estrangero?«

»Nein«, sagte der Fremde; es war offensichtlich, daß er über diesen Gegenstand nicht zu sprechen wünschte.

»Ihr habt sicherlich viel von der Welt gesehen«, fuhr der Junge nach einer kleinen Weile fort, »gewiß auch viele Städte.«

»O ja, mein Junge«, antwortete der Fremde, »vieler Menschen Städte.«

»Auch Buenos Aires?«

»Gewiß, Aurelio.«

»Ich möchte so gern einmal die Städte des Ostens sehen«, sagte der Junge. »Schon oft habe ich Vater gebeten, mich mitzunehmen, aber er hat es mir jedesmal abgeschlagen.«

»Du wirst die Städte noch früh genug kennenlernen«, versetzte der Deutsche. »Dann wirst du dich zurück nach der Pampa sehnen. Dein Vater wird Gründe gehabt haben, dich bisher nicht mitzunehmen.«

»Habt Ihr in Buenos Aires auch Don Manuel gesehen?« fragte der Junge nach einer Pause.

Der Deutsche schüttelte den Kopf.

»Er soll ein gewaltiger Mann sein. Viele sagen, er bringe dem Lande Segen.«

»Ich weiß«, sagte der Fremde, »die Gauchos hängen an ihm.«

»Aber – —«; Aurelio zögerte und fuhr dann mit etwas gedämpfter Stimme fort, »mein sanfter Doktor gerät außer sich, wenn der Name de Rosas erwähnt wird.«

»Dein Doktor ist ein kluger Mann«, sagte der Deutsche trocken. »Was sagt denn dein Vater von Don Manuel?«

»Gar nichts«, antwortete der Junge, »er spricht nie über ihn, weder Gutes noch Böses.«

»Und der Rotkopf? Euer Majordomo?«

»Oh«, lachte Aurelio, »der denkt und sagt immer nur, was Vater denkt und sagt.«

»Ja, sie sind ein recht merkwürdiges Paar«, sagte der Deutsche.

»Sagt nichts gegen Pati«, sprudelte Aurelio heraus, »er hat in vielen Schlachten Seite an Seite mit Vater gekämpft, jeder von ihnen hat dem anderen das Leben gerettet. Pati ist Vater auf Tod und Leben ergeben.«

»Waffenbrüderschaft bindet«, sagte der Deutsche.

Die Sonne neigte sich schon und warf lange Schatten in das Gras der Pampa, als die Reiter sich dem Rio Quinto näherten. Die Pferde bekamen neue Spannkraft, und ihr Galopp gewann an Munterkeit.

Sie waren eben so weit, daß sie das andere Ufer des Flusses überblicken konnten, da zügelte Don Juan plötzlich sein Roß und musterte mit scharfem Blick die Gegend. Alle verhielten die Pferde. Sie sahen einen Reiter in geringer Entfernung sein augenscheinlich erschöpftes Tier zur Anspannung seiner letzten Kräfte antreiben.

»Was hat das zu bedeuten?« fragte der Gaucho.

Das taumelnde Tier kam näher; es drohte Jeden Augenblick zusammenzubrechen. Der Reiter trug die Tracht der wohlhabenden Hazienderos des Ostens. Sein Kopf war unbedeckt, das dunkle Haar umflatterte wild seine Stirn. Langsam ritt Juan zum Ufer des Quinto, von den anderen gefolgt. Außer dem erschöpften Reiter war weit und breit kein lebendes Wesen zu erblicken. Der Mann schien weder den Fluß noch die Männer zu sehen; er nahte dem Ufer, das Pferd stolperte und brach ruckartig zusammen. Der Reiter stürzte über seinen Kopf weg zu Boden.

Kurz entschlossen spornte der Gaucho sein Pferd und ritt eilig durch das seichte Wasser; Aurelio, der Estrangero und die Peons folgten ihm. Drüben sprangen sie von den Tieren und näherten sich dem betäubt daliegenden Mann. Aurelio kniete nieder und hob das bleiche Gesicht des Gestürzten empor. Der Ohnmächtige war ein nicht mehr junger Mann, dessen jetzt erschlaffte Züge edle Formen zeigten.

Auf einen Wink Juans holte einer der Peons in seinem Hut Wasser aus dem Fluß und besprengte damit die Stirn des Mannes. Der öffnete bald darauf die Augen und richtete einen verstörten Blick auf die ihn umstehende Menschengruppe. »Macht‘s rasch, Leute«, sagte er in heiserem Ton; sein flackerndes Auge wanderte von einem zum anderen. »Wer seid ihr?« stammelte er, »seid ihr seine Henker?« Jetzt haftete sein Blick auf Aurelios Gesicht, wurde starr und verschleierte sich. »Fernando«, stöhnte er, »Fernando! Jesus, wo bin ich?« Sein Blick wanderte, er traf Juan und den Deutschen und wurde sogleich wieder finster. »Macht‘s kurz«, sagte er, »ihr habt mich ja nun. Ich bin José d‘Urquiza, der Sieger von Indios muerte, und weiß zu sterben.«

»Wer verfolgt Euch, Señor?« fragte Don Juan.

»Wer denn anders als ihr? Oder wie?« Er richtete sich etwas auf; seine Augen flackerten. »Seid ihr nicht Salis Spürhunde?« flüsterte er.

»Wir sind friedliche Leute, Señor«, sagte der Gaucho. Der Name d‘Urquiza hatte ihn aufhorchen lassen und der Name de Salis noch mehr. »Warum verfolgt man Euch, Señor?« fragte er.

Der Mann schien wieder bei sich, er richtete sich auf. »Was denn? Wer seid Ihr denn? Wo kommt Ihr denn her? Warum hat man mich verfolgt? Weil es den edlen de Salis nach meinen Gütern gelüstet. Darum mußte ich plötzlich ein Unitarier, ein Hochverräter sein! Die Mörder sind mir dicht auf den Fersen.« Er richtete den Blick wieder auf Aurelios Gesicht und ließ ihn lange darauf haften. Juan war sehr erregt, denn er wußte, daß er in dem General José d‘Urquiza, einen der besten Männer des Landes vor sich hatte, ebenso aber auch, wie gefährlich es war, der Rache des Diktators oder eines seiner Günstlinge ein Opfer zu entziehen. Der Zwiespalt seiner Gefühle war seinen Zügen abzulesen.

Der Estrangero gewahrte die tiefe Bewegung des Gauchos. Er kannte dessen aufrichtigen Charakter und wußte genug von der innerpolitischen Lage des Landes; so war es ihm nicht schwer, Juans Gedanken nachzuempfinden. Ihn selbst hinderten keinerlei Bedenken. Deshalb wandte er sich jetzt an den Verfolgten und sagte: »Wenn es Euch recht ist, Señor, bringe ich Euch über den Fluß und führe Euch zu einer sicheren Zufluchtsstätte. Ich fürchte nämlich, meine Freunde hier werden Euch beim besten Willen nicht schützen können.«

Der Gaucho atmete erleichtert auf und ergriff impulsiv die Hand des Deutschen, um sie zu drücken. Der Verfolgte blickte aufmerksam in das offene bärtige Gesicht. »Ich vertraue Euch, Señor«, sagte er, »und ich folge Euch.« Darauf wandte er sich an Juan, sah forschend in seine Züge und richtete alsdann den Blick wieder auf Aurelio. »Um der Liebe Gottes willen, Señor«, fragte er mit eigentümlich bebender Stimme, »wer ist dieser Junge?«

»Mein Sohn, Señor«, entgegnete Juan Perez ruhig; man merkte ihm die tiefe Betroffenheit, die die Frage in ihm ausgelöst hatte, nicht an. D‘Urquiza sah noch einmal prüfend in Aurelios Gesicht, dann wandte er sich mit einem leisen Seufzer ab. »Nun, Gott segne ihn«, sagte er.

»Vorwärts, Señor«, mahnte der Deutsche. »Zeit ist nicht zu verlieren.« Er half dem Erschöpften in den Sattel seines Maultieres. »Adios, muchas mercedes!« murmelte der und ritt auf dem von seinem Eigentümer geführten Maultier in das seichte Wasser. Bald war er am jenseitigen Ufer, und der Deutsche leitete das Tier dem nahen Waldsaum zu, der den Quinto weiter oberhalb begrenzte.

»Kommt zur Estancia«, rief Juan kurz und ritt das Ufer hinauf. Ohne sonderliche Überraschung gewahrte er, oben angelangt, einen Reitertrupp, der auf erschöpften Pferden flußabwärts kam. Er blieb stehen und musterte die Reiter. Es waren ihrer sechs, von denen fünf bewimpelte Lanzen führten, während der Voranreitende nur einen Säbel trug. Den Leuten fielen Ponchos von den Schultern, aber die Beine steckten in Hosen und Stiefeln, wie sie von den Lanceros getragen wurden.

»Reite zum Haus«, rief Juan Aurelio zu, »sage Pati, er möge seine Flinte bereithalten. Du selbst bleibe dort.«

Aurelio eilte sofort zu den Gebäuden hinüber, wo der Majordomo schon sichtbar war; er wunderte sich über die Weisung, selbst dort bleiben zu sollen, aber er war gewöhnt, den Wünschen und Befehlen des Vaters bedingungslos nachzukommen.

»Löst die Bolas, Männer«, sagte Juan zu seinen Peons, »man weiß nicht, wer da kommt.« Die Vaqueros nahmen die Wurfgeschosse zur Hand, hielten sie aber unter dem Poncho verborgen. Wenige Minuten später hielten die Lanzenreiter vor dem sie ruhig erwartenden Gaucho.

»Habt ihr ihm zur Flucht verholfen?« schrie der voranreitende Soldat, den die goldene Schnur um den breitrandigen Hut als Offizier auswies. »Es geht Euch schlecht, wenn Ihr es tatet. Wo steckt der Verräter?«

»Ich weiß nicht, von wem Ihr sprecht, Señor«, entgegnete Juan ruhig.

»Er ist hier auf den Fluß zugeritten«, schrie der Offizier, »wir haben es genau gesehen. Leider hat er uns von der Fährte abgebracht, und das Wasser war weiter oben nicht passierbar.«

»Wenn Ihr den Mann meint, der eben zu Tode erschöpft hier ankam und dessen Pferd dort liegt, der reitet da drüben auf dem Maultier«, versetzte der Gaucho.

In dem scheidenden Licht konnten die Reiter soeben noch gewahren, wie der Deutsche und der Verfolgte unter den Bäumen verschwanden.

»Ihm nach!« schrie der Offizier, »wir haben ihn! Wo ist die Furt?«

»Was habt Ihr mit dem Mann?« fragte mit gemessener Höflichkeit der Gaucho.

»Seht Ihr nicht, was ich bin, wer wir sind? Wir setzen einem Hochverräter nach, auf dessen Kopf ein hoher Preis gesetzt ist«, brüllte der Soldat.

»Oh«, Juan Perez lächelte leicht, »der Mann sagte, er würde von einer Mörderbande verfolgt.«

»Caracho! Wir werden ihm die Mörderbande eintränken. Wo ist die Furt?«

»Da drüben«, antwortete der Gaucho und wies die Richtung. »Aber ich würde Euch raten, vorsichtig zu sein. Der Flüchtige ist von einem Manne begleitet, der eine Doppelbüchse trägt und von dem ich zufällig weiß, daß er auf zweihundert Schritt einen Peso trifft.«

Der Häscher stutzte. Zwar trug er im Gürtel Pistolen, und einige seiner Männer, die dem Gespräch stumpfsinnig lauschten, waren mit Karabinern ausgerüstet, doch schien es ihm wohl bedenklich, sich einer weittragenden Büchse auszusetzen, noch dazu im Wald, der den Schützen deckte. Seine Wut richtete sich gegen den Anwesenden. »Ihr habt ihm durchgeholfen«, schrie er, »das sollt Ihr büßen.«

Juan Perez zog die dunklen Augenbrauen zusammen und entgegnete in einem Ton, der eine unverkennbare Drohung mitschwingen ließ: »Wer bist du denn, mein Bursche, daß du es wagst, gegen mich eine solche Sprache zu führen? Ich bin der Alkalde dieses Bezirkes und hätte nicht übel Lust, dich meinen Lasso fühlen zu lassen, wenn du nicht bald höflich wirst.«

»Was?« brüllte der Mann mit verzerrtem Gesicht, »du Gauchoschlingel wagst es, mir Widerstand entgegenzusetzen und mir zu drohen? Ich halte hier mit Vollmacht des Gobernadors von Santa Fé, Don Francisco de Salis, als Alguacil, um einem Verbrecher nachzusetzen, und du trittst mir entgegen? Du machst dich selber des Hochverrates schuldig!«

»Leere Worte, Mann!« sagte Juan Perez wegwerfend. »Hindere ich dich, dein Opfer einzufangen? Ich hindere dich nicht, ich habe dir sogar gezeigt, wo es zu finden ist. Außerdem sind wir hier in der Provincia Cordoba und nicht in Santa Fé, und dein Señor de Salis hat hier nichts zu sagen.«

»Alle Gobernadors haben Befehl, den verruchten d‘Urquiza einzufangen«, rief der Alguacil. »Befehl des Präsidenten. Willst du dich dem auch widersetzen?«

»Ich widersetze mich überhaupt nicht«, sagte der Gaucho. »Tu was du mußt, und laß friedliche Leute in Ruhe«; er wandte sich nachlässig ab.

Die Lanceros hatten inzwischen, als der Wortwechsel zwischen ihrem Anführer und dem Gaucho heftiger wurde, ihre Karabiner schußfertig gemacht. Als der Offizier, der außer sich vor Wut war, dies bemerkte, riß er eine Pistole aus dem Halfter und schrie: »Du bist mein Gefangener! Ergib dich, Hochverräter, oder ich schieße dich nieder!«

Er hatte das kaum zu Ende gesprochen, da flog er mit unbegreiflicher Geschwindigkeit aus dem Sattel und fand sich neben Pati wieder, der ihn mit kräftiger Faust aufrechthielt, ihm aber zugleich die Pistole aus der Hand nahm. Der Majordomo war unbemerkt herangekommen und hatte schon neben dem Offizier gestanden, als dieser die Pistole zog. Juan lachte herzlich über des Mannes verdutztes Gesicht, wandte aber den Kopf, als er Hufschlag vernahm. Im gleichen Augenblick hielt Aurelio neben ihm, eine gespannte Büchse in der Hand. Die Sonne sandte ihre letzten Strahlen auf sein zornflammendes Gesicht. Der Soldat starrte den Jüngling verblüfft an; seine Augen weiteten sich. »Nombre de dios!« entrang es sich seinen Lippen, »Don Fernando!« Juan und Pati zuckten zusammen; sie verstanden, was in dem Alguacil vorging.

»Was wollen diese Leute, Vater?« fragte Aurelio.

»Mich als Hochverräter verhaften.«

»Sie sollen es wagen!« Der Junge hob das Gewehr und blitzte den Offizier an. Der erwiderte den Blick. »Wer seid Ihr?« fragte er. »Der Sohn meines Vaters, Señor«, antwortete Aurelio.

Der Offizier holte tief Atem und sah sich im Kreise um. Neben ihm stand, die Flinte in der Hand, der furchtbare Rotkopf, der ihn aus dem Sattel gerissen hatte. Dort hielten Juan und seine Peons die Bolas zum Schleudern bereit, außerdem näherten sich eben zwei Neger mit Spießen in der Hand. Sein Blick haftete dann wieder auf Aurelio, der ihm mit schußbereiter Büchse gegenüberstand. Seine Reiter schienen angesichts der Lage durchaus nicht bereit, zu seinem Beistand einzugreifen.

Er verbiß seinen Grimm und wandte sich Juan zu. »Ich ersuche Euch, Señor«, sagte er, »keine weitere Gewalt gegen mich anzuwenden. Ich bin eine obrigkeitliche Person.«

Der Gaucho zuckte die Achseln. »Mag immerhin sein«, sagte er. »Erlaubt Ihr Euch aber Übergriffe gegen freie Bürger des Staates, dann dürft Ihr Euch nicht wundern, wenn wir Gewalt mit Gewalt begegnen.«

»Es ist gut, Señor. Kann ich jetzt unbehindert reiten?«

»Wohin Ihr wollt, Señor«, versetzte höflich der Gaucho. »Wir haben zuviel Achtung vor den Befehlen Seiner Excellenza und den Vollstreckern seiner Befehle, als daß wir es wagen würden, Euch hindernd in den Weg zu treten.« Dabei zog er, zur Verabschiedung grüßend, den Hut. Der Alguacil stieg in den Sattel, und Pati händigte ihm die abgenommene Pistole ein. Gleich darauf ritten die Lanceros den Quinto hinauf davon.

Juan lenkte sein Pferd, in Nachdenken versunken, den Gebäuden zu; Aurelio hielt dicht neben ihm. »Ich glaube, ich hatte dir gesagt, du solltest im Haus bleiben«, sagte der Gaucho, sich seinem Sinnen entreißend. »Ja«, stammelte Aurelio, »ja, Vater, ich weiß. Aber da ich doch sah, daß Gefahr dich bedrohte, konnte ich nicht bleiben. Verzeih mir, Vater!« Der Gaucho lachte ihm zu.

Als sie abgestiegen waren, flüsterte Juan dem Majordomo zu: »Komm, Pati, es gibt einiges zu bereden.« Und er begab sich, von dem Rotkopf gefolgt, in sein Zimmer.

Der Sohn des Gaucho

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