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Drittes Kapitel: Die Notabeln von Yoghonoluk

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Der Heimritt nahm viel Zeit in Anspruch, denn Gabriel Bagradian setzte sein Pferd nur selten in Trab und ließ es immer wieder in die langsamste Gangart verfallen. So geschah es auch, daß er vom kürzeren Wege geriet und auf der Straße blieb, die den Orontes entlang führt. Erst als jenseits der Häuserkuben von Suedja und El Eskel der ferne Meereshorizont in Sicht kam, schrak der Reiter aus seiner Versunkenheit auf und wandte sich scharf gegen Norden, dem Tal der armenischen Dörfer zu. Zu Beginn der langlebigen Frühjahrsdämmerung erreichte er die Straße – wenn man den elenden Karrenweg so nennen darf –, welche die sieben Dörfer miteinander verbindet. Yoghonoluk lag ungefähr in der Mitte. Er mußte daher die südlichen Ortschaften Wakef, Kheder Beg, Hadji Habibli durchqueren, um nach Hause zu kommen, was vor Einbruch der Dunkelheit kaum mehr möglich war. Er aber hatte keine Eile.

Um diese Stunde waren die Ortschaften am Musa Dagh reich belebt. Alles stand vor den Häusern. Die Zärtlichkeit des Sonntag-Endes trieb die Menschen zusammen. Die Körper, die Augen, die Worte suchten einander, um das Behagen des Daseins durch Familienklatsch und allgemeine Klagen über die Zeit zu bekräftigen. Die Geschlechter und die Altersstufen bildeten getrennte Gruppen. Scheel standen die Matronen beisammen, gelassen die jüngeren Frauen in ihren Feiertagskleidern und spöttisch die jungen Mädchen. Ihr Münzenschmuck klapperte. Sie zeigten die herrlichen Zähne. Gabriel fiel die große Menge kriegstauglicher Burschen auf, die noch nicht eingerückt waren. Sie lachten und tollten, als ob es für sie keinen Enver Pascha gäbe. Aus den Wein- und Obstgärten näselten die Saiten des Tar, der armenischen Gitarre. Ein paar überfleißige Männer bereiteten ihr Handwerkszeug vor. Der türkische Tag geht mit der Dämmerung zu Ende und somit auch die Sonntagsruhe. Gesetzte Arbeitsmänner hatten Lust, vor dem Schlafengehen noch ein bißchen herumzubasteln.

Anstatt mit ihren türkischen Namen hätte man die Dörfer auch nach dem Handwerk benennen können, das sie auszeichnete. Wein und Obst pflanzten sie alle. Getreide wurde fast nicht angebaut. Doch ihr Ruhm lag in der Kunstfertigkeit. Da war Hadji Habibli, das Holzdorf! Seine Männer verfertigten nicht nur aus hartem Holz und Bein die besten Kämme, Pfeifen, Zigarettenspitzen und ähnliche Gegenstände des täglichen Gebrauches, sondern sie schnitzten auch Kruzifixe, Madonnen, Heiligenfiguren, die bis nach Aleppo, Damaskus und Jerusalem ausgeführt wurden. Diese Schnitzereien, keine grobe Bauernware, besaßen ihre Eigenart, wie sie nur im Schatten des heimatlichen Berges zu gedeihen vermochte. Wakef aber war das Spitzendorf! Denn die feinen Decken und Taschentücher der dortigen Frauen fanden ihre Kundschaft sogar bis Ägypten, ohne daß die Künstlerinnen freilich etwas davon wußten, die mit ihrer Ware nur bis auf den Markt von Antiochia gelangten, und dies kaum zweimal jährlich. Von Azir, dem Raupendorf, muß nicht mehr gesprochen werden. In Kheder Beg wurde die Seide gesponnen. In Yoghonoluk und Bitias, den beiden größten Flecken, fanden sich all diese Handwerksarten zusammen. Kebussije aber, der nördlichste, der verlorenste Ort, war das Bienendorf. Der Honig von Kebussije, so behauptete Gabriel Bagradian, finde auf der ganzen Welt nicht seinesgleichen. Die Bienen sogen ihn aus der innersten Essenz des Musa Dagh, aus seiner zauberhaften Begnadung, die ihn unter allen den melancholischen Gebirgen des Landes heraushob. Warum entsandte gerade er unzählige Quellen, von denen die meisten als schleiernde Kaskaden ins Meer fielen? Warum er, und nicht die muselmanischen Berge wie der Naulu Dagh und der Dschebel Akra? Es war wirklich wie ein Wunder, als ob die Gottheit des Wassers, in geheimnisvoller Vorzeit durch den Wüstensohn, den Moslem, gekränkt, sich von dessen nackten, bittflehenden Höhen zurückziehe, um den christlichen Berg üppig zu begnaden. Die blumendurchwirkten Matten seiner Obsthänge, die satten Almen auf seinem faltenreichen Rücken, die schmiegsamen Wein-, Aprikosen- und Orangengärten an seinem Fuß, die Eichen und Platanen in den dunkeldurchmurmelten Schluchten, die Freudenausbrüche von Rhododendron, Myrtenblüten und Azaleen an heimlichen Stellen, die schutzengelhafte Stille, in die sich Herden und Halterbuben verdämmernd schmiegten, dies alles schien nur leicht gestreift zu sein von den Folgen des Sündenfalles, unter deren karstiger Trauer das übrige Kleinasien seufzt. Durch irgendeine kleine Ungenauigkeit in der göttlichen Weltordnung, durch die gutmütige Bestechlichkeit eines heimatliebenden Cherubs schien sich in den Revieren des Musa Dagh ein Bodensatz, ein Abstrahl, ein Nachgeschmack des Paradieses verfangen zu haben. Hier, an der syrischen Küste, und nicht etwa tief unten im Vierstromland, wohin die geographischen Bibelerklärer den Garten Eden gerne versetzen.

Es ist selbstverständlich, daß auch die sieben Dörfer am Berge von seinem Segen ein Teil abbekommen hatten. Sie waren mit jenen elenden Siedlungen nicht zu vergleichen, denen Gabriel auf seinem Ritt durch die Ebene begegnet war. Da gab es keine Lehmhütten, die menschlichen Behausungen nicht glichen, sondern schlammigen Anschwemmungen, in die man ein schwarzes Loch gebohrt hatte zur Wohnstatt und Herdstelle für Mensch und Vieh. Die Häuser waren zumeist aus Stein erbaut. Jedes umfaßte mehrere Räume. Kleine Veranden liefen um die Mauern. Tür und Fenster blinkten sauber. Nur einige wenige Hütten aus ältester Zeit hatten nach orientalischer Sitte keine Fenster gegen die Straße zu. Soweit der scharfe Schlagschatten des Damlajik sich in das Land zeichnete, soweit herrschte diese Freundlichkeit und dieser Hochstand des Lebens. Jenseits des Schattens begann die Öde. Hier Wein, Früchte, Maulbeere, Terrasse über Terrasse, dort die Ebene mit einförmigen Mais- und Baumwollfeldern, die stellenweise die nackte Steppe wies, wie ein Bettler seine Haut durch die Lumpen. – Doch es war nicht der Segen des Berges allein. Nach einem halben Jahrhundert noch zeitigte die Energie Awetis Bagradians des Alten hier volle Frucht, die Liebe eines einzigen unternehmenden Mannes, die sich stürmisch auf diesen Heimatfleck Erde konzentriert hatte, aller Weltlockung zum Trotz. Mit erstaunten Augen sah der Enkel diese Menschen, die ihm sonderbar schön erschienen. Einige Sekunden vor seinem Näherkommen verstummten die Gruppen, wandten sich zur Straßenmitte und grüßten ihn mit lautem Abendwunsch: »Bari irikun!« Er glaubte – vielleicht war's nur Einbildung – in den Augen der Leute ein kurzes Aufleuchten wahrzunehmen, ein Lichtchen der Dankesfreude, das nicht ihm galt, sondern dem alten Segenspender. Die Frauen und Mädchen verfolgten ihn mit eingehendem Blick, während in den raschen Händen die Wirtel der Handspindeln unbeteiligt hin und her zuckten.

Diese Menschen hier waren ihm nicht weniger fremd als heute die Menge im Bazar. Was hatte er mit ihnen zu tun, er, der noch vor wenigen Monaten im Bois spazierenfuhr, die Vorlesungen des Philosophen Bergson besuchte, Gespräche über Bücher führte und in preziösen Kunstzeitschriften Aufsätze veröffentlichte? Und doch, eine große Beruhigung strömte von ihnen aus. Es war ihm dabei so eigen väterlich zumute, weil er jene drohenden Anzeichen kannte, von denen sie nichts ahnten. Er trug eine große Sorge in sich, er allein, und würde sie ihnen ersparen, solange es nur ging. Der alte Rifaat Bereket war kein Träumer, wenn er auch seinen Scharfsinn mit blumigen Sprüchen kränzte. Er hatte recht. In Yoghonoluk bleiben und abwarten. Der Musa Dagh liegt außerhalb der Welt. Selbst wenn ein Sturm käme, er wird ihn nicht erreichen.

Wärme für seine Landsleute stieg in Gabriel Bagradian auf: Mögt ihr euch noch lange freuen, morgen, übermorgen ...

Und er grüßte sie vom Pferde herab mit einer ernsten Handbewegung.

In kühler Sternenfinsternis stieg er den Parkweg zur Villa empor. Das Gehäuse der dichten Bäume umschloß ihn wie jener gute »abstrakte Zustand«, wie das »Mensch-an-sich-Sein«, aus dem ihn dieser Tag gerissen hatte, um ihn den Wahn solcher Geborgenheit fühlen zu lassen. Mit der Müdigkeit wurde der angenehme Aberglaube wieder stärker. Er trat in die große Haushalle. Die alte, schmiedeeiserne Laterne, die von der Höhe herabhing, erfreute mit ihrem matten Licht sein Herz. In einer unbegreiflichen Verflechtung des Bewußtseins wurde sie zu seiner Mutter. Nicht die ältere Dame, die ihn in einer charakterlosen Pariser Wohnung mit einem Kuß empfangen hatte, wenn er aus dem Gymnasium kam – sondern jene schweigsame Milde aus Tagen, die wesenloser waren als Träume. »Hokud madagh kes kurban.« Hatte sie wirklich diese abendlichen Worte gesprochen, über sein Kinderbett gebeugt? »Möge ich für deine Seele zum Opfer werden.«

Nur noch eine zweite Milde war aus der Urzeit da. Das Lichtchen unter der Madonna in der Treppennische. Sonst gehörte alles der Epoche des jüngeren Awetis an. Dies aber war, was zumindest die Treppenhalle anbelangt, ein Zeitalter der Jagd und des Krieges. Trophäen und Waffen hingen an den Wänden, eine ganze Sammlung altertümlicher Beduinenflinten mit endlosen Läufen. Daß der Sonderling aber nicht nur ein Mann der rauhen Leidenschaft gewesen, das bewiesen ein paar herrliche Stücke, Schränke, Teppiche, Leuchter, die er von seinen Fahrten heimgebracht hatte und die das Entzücken Juliettes bildeten.

Während Gabriel in seiner Benommenheit die Treppe zum Stockwerk hinanstieg, hörte er kaum den Stimmenklang, der aus den unteren Räumen kam. Die Notabeln von Yoghonoluk waren schon versammelt. In seinem Zimmer stand er lange am offenen Fenster und starrte regungslos auf die schwarze Silhouette des Damlajik, die sich um diese Stunde gewaltig aufplusterte. Nach zehn Minuten erst läutete er dem Diener Missak, den er gleich dem Verwalter Kristaphor, dem Koch Howhannes und dem übrigen Haus- und Wirtschaftspersonal nach dem Tode des Bruders in seine Dienste übernommen hatte.

Gabriel wusch sich von Kopf bis zu Füßen und kleidete sich um. Dann ging er in Stephans Zimmer. Der Junge war bereits zu Bett gegangen und schlief so kindlich fest, daß ihn nicht einmal der bissige Strahl der Taschenlampe erwecken konnte. Die Fenster standen offen und draußen bewegten sich die Laubmassen der Platanen mit ahnungsvoller Langsamkeit. Auch hier blickte die schwarze Wesenheit des Musa Dagh in den Raum. Nun aber war die Kammlinie des Berges sanft aufgeglommen, als verberge er anstatt des Wasser-Meeres ein Meer von jenseitigleuchtendem Stoff hinter seinem Rücken. Bagradian setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett. Und wie am Morgen der Sohn den Schlaf des Vaters belauscht hatte, so belauschte der Vater jetzt des Sohnes Schlaf. Dies aber war erlaubt.

Die Stirne Stephans, Gabriels eigene Stirn, schimmerte durchsichtig. Darunter lagen die Schatten der geschlossenen Augen wie zwei Blätter, von draußen auf dieses Antlitz geweht. Wie groß diese Augen waren, sah man auch jetzt, da sie schlummerten. Die spitze, schmale Nase gehörte dem Vater nicht an, war Juliettes Erbteil, fremd. Stephan atmete schnell. Die Wand seines Schlafes verbarg ein rauschendes Leben. Die zu Fäusten geballten Hände drückte er fest gegen seinen Körper, als müsse er die Zügel anziehen, damit ihm die galoppierenden Traumerlebnisse nicht durchgingen.

Der Schlaf des Sohnes wurde unruhiger. Der Vater rührte sich nicht. Er sog sich voll mit dem Bild seines Kindes. Hatte er Angst um Stephan? Wollte er eine Einheit herstellen, die einst in Gott lag? Er wußte nichts. Keine Gedanken waren in ihm. Endlich stand er auf, wobei er einen Seufzer nicht unterdrücken konnte, so zerschlagen fühlte er sich. Während er sich unsicher hinaustastete, stieß er gegen den Tisch. Die Nacht übertrieb den kurzen Lärm. Gabriel stand still. Er fürchtete, Stephan geweckt zu haben. Die schlaftrunkene Knabenstimme lallte auch aus dem Dunkel:

»Wer ist hier? ... Papa ... du ...«

Sogleich aber wurden die Atemzüge wieder ruhig. Gabriel, der die Taschenlampe sofort ausgeschaltet hatte, knipste sie nach einer Weile wieder an, wobei er das kleine Licht mit der Hand abblendete. Es fiel auf den Tisch und auf einige Zeichenblätter. Siehe, Stephan hatte sich schon an die Arbeit gemacht und auf des Vaters Wunsch ein Croquis des Musa Dagh mit ungelenker Hand entworfen. Die roten Verbesserungen Awakians durchkreuzten reichlich die Linien. Bagradian erinnerte sich zuerst der Anregung gar nicht, die er bei dem morgendlichen Zusammentreffen dem Jungen gegeben hatte. Dann aber empfand er den stürmischen Eifer, mit dem das Kind ihn suchte und überzeugen wollte. Der kritzlige Entwurf wurde zum Sinnbild.

Vor dem großen Empfangszimmer der Villa Bagradian zu Yoghonoluk befand sich ein großer Raum, der an die Treppenhalle grenzte. Er war ziemlich kahl und wurde nur als Durchgangszimmer benützt. Awetis, der Alte, hatte seine Residenz für eine zahlreiche Nachkommenschaft berechnet, so daß sowohl der einsame Sonderling als zuletzt die kleine Familie, die übriggeblieben war, nur einen Teil der vorhandenen Wohnräume in Verwendung nehmen konnte. In dem kahlen Durchgangszimmer brannte eine herabgeschraubte Petroleumlampe. Gabriel blieb einen Augenblick stehn und lauschte den Stimmen daneben. Er hörte Juliette lachen. Die Bewunderung dieser dörflichen Armenier da drin tat ihr also wohl. Ein Fortschritt.

Der alte Arzt Bedros Altouni öffnete eben die Tür, um sich davonzumachen. Er zündete die Kerze in seiner Laterne an und griff nach seiner Ledertasche, die auf einem Stuhl lag. Altouni bemerkte den Hausherrn erst, als dieser ihn leise anrief: »Hairik Bedros!«, Väterchen Bedros! Der Arzt schrak zusammen. Er war ein kleiner, dürrer Mann mit einem unordentlichen Graubart; er gehörte noch zu jenen Armeniern, die, anders als die jüngere Generation, auf ihren gebeugten Schultern die ganze Last des verfolgten Stammes zu tragen schienen. Als Schützling Awetis Bagradians hatte er in seiner Jugend auf dessen Kosten in Wien Medizin studiert und die Welt gesehen. Damals trug sich der Wohltäter Yoghonoluks mit großen Plänen und dachte sogar an die Errichtung eines kleinen Hospitals. Es blieb aber nur bei der Bestallung des Bezirksarztes, was angesichts der allgemeinen Verhältnisse schon überaus viel war. Von allen lebenden Menschen kannte Gabriel den alten Arzt, den alten »Hekim«, am längsten, denn dieser hatte bei seiner Geburt mitgewirkt. Er besaß einen zärtlichen Respekt für den Arzt, jedenfalls ein Erbteil von Kindheitsgefühlen. Doktor Altouni mühte sich mit einem Lodenmantel ab, der noch aus seiner Wiener Universitätszeit zu stammen schien.

»Ich konnte nicht mehr länger auf dich warten, mein Kind ... Nun, was hast du im Hükümet herausgebracht?«

Gabriel richtete den Blick auf das eingeschrumpfte Gesichtchen. Alles an dem alten Mann war schartig. Seine Bewegungen, seine Stimme, ja selbst die Schärfe, die seine Worte manchmal zeigten. Er war äußerlich und innerlich abgewetzt. Der Weg von Yoghonoluk nach Holzdorf auf der einen und nach Bienendorf auf der anderen Seite zog sich verdammt, wenn man ihn mehrmals wöchentlich auf dem harten Rücken eines Esels zurücklegen mußte. Gabriel erkannte die ewige Ledertasche, in der neben Heftpflaster, Fieberthermometer, chirurgischem Besteck und einem deutschen ärztlichen Handbuch aus dem Jahre 1875 nur noch eine vorsintflutliche Geburtszange lag. Angesichts dieser medizinischen Tasche schluckte er die Anwandlung hinunter, seine Erfahrungen in Antiochia preiszugeben.

»Nichts Besonderes«, antwortete er wegwerfend.

Altouni befestigte die Laterne an seinem Gürtel und schnallte ihn um:

»Ich habe mir mindestens siebenmal im Leben einen neuen Teskeré erbitten müssen. Sie nehmen ihn wegen der Taxe fort, die sie bei der Neuausstellung jedesmal gewinnen. Es ist eine bekannte Sache. Von mir aber bekommen sie nichts mehr. Ich brauche auf dieser Welt keinen neuen Paß ...«

Und schartig fügte er hinzu:

»Und früher hätte ich ihn auch nicht gebraucht. Denn seit vierzig Jahren bin ich nicht weggekommen von hier.«

Bagradian wandte den Kopf zur Tür: »Was sind wir für ein Volk, daß wir alles schweigend hinnehmen?«

»Hinnehmen?« Der Arzt kostete das Wort aus: »Ihr Jungen wißt nichts mehr vom Hinnehmen. Ihr seid in anderen Zeiten groß geworden.«

Gabriel aber blieb bei seiner Frage:

»Was sind wir für ein Volk?«

»Du, liebes Kind, hast dein Leben in Europa zugebracht. Und auch ich, wäre ich damals nur in Wien geblieben! Es ist mein großes Unglück, daß ich nicht in Wien geblieben bin. Aus mir hätte vielleicht etwas werden können. Aber, siehst du, dein Großvater war der gleiche Narr wie dein Bruder und hat von der Welt dort draußen nichts wissen wollen. Ich habe mich schriftlich verpflichten müssen, zurückzukommen. Das war mein Unglück. Besser wär's gewesen, er hätte mich nie fortgeschickt ...«

»Man kann nicht immer nur als Fremder unter Fremden leben.«

Der Pariser Gabriel wunderte sich über seine Worte. Altouni lachte heiser:

»Und hier, hier kann man leben? Wo das Ungewisse immer hinter uns her ist? Du hast es dir wohl anders zusammengeträumt.«

Da ging es Bagradian durch den Kopf: Irgendwelche Vorbereitungen müssen getroffen werden. Altouni aber legte seine Tasche auf den Stuhl zurück:

»Verflucht! Was für Sachen reden wir da? Du ziehst heute die alten Geschichten aus mir heraus. Ich bin Mediziner und hab niemals besonders stark an Gott geglaubt. Und doch habe ich früher deshalb mit Gott oft und oft gehadert. Man kann Russe sein und Türke und Hottentotte und Gott weiß was, aber Armenier kann man nicht sein. Armenier sein ist eine Unmöglichkeit ...«

Er riß sich mit einem Ruck von dem Abgrund los, an dessen Rand er geraten war:

»Schluß! Lassen wir das! Ich bin der Hekim. Alles andere geht mich nichts an. Eben hat man mich aus dieser angenehmen Gesellschaft zu einer Frau gerufen, die in den Wehen liegt. Immer wieder, siehst du, werden armenische Kinder zur Welt gebracht. Es ist verrückt.«

Er packte grimmig seine Tasche. Dieses Gespräch zwischen Tür und Angel, das um die Grundlagen ging, schien ihn erbittert zu haben:

»Und du, was willst du! Du hast eine wunderschöne Frau, einen geratenen Sohn, keine Sorgen, bist ein steinreicher Mann, was willst du? Lebe dein Leben! Kümmere dich nicht um die faulen Dinge! Wenn die Türken Krieg haben, lassen sie uns in Ruhe, das ist eine alte Erfahrung. Und nach dem Krieg wirst du nach Paris zurückkehren und von uns und dem Musa Dagh nichts mehr wissen.«

Gabriel Bagradian lächelte, als nehme er seine Frage selbst nicht ernst:

»Und wenn sie uns nicht in Ruhe lassen, Väterchen?«

Gabriel stand einen Augenblick unbemerkt in der Tür des großen Gesellschaftsraumes. Etwa ein Dutzend Menschen waren versammelt. An einem kleinen Tischchen saßen drei ältere Frauen schweigend beieinander, zu denen sich, wahrscheinlich in Juliettes Auftrag, der Student Awakian gesellt hatte. Doch auch er bemühte sich nicht, eine Unterhaltung in Gang zu bringen. Eine dieser Matronen, die Frau des Arztes, war eine der überlebenden Gestalten aus Gabriels Kindheit. Mairik Antaram, Mütterchen Antaram, nannte er sie. Sie trug ein schwarzes Seidengewand. Ihr aus der Stirn gestrichenes Haar war noch nicht ganz ergraut. Das breitknochige Gesicht hatte einen kühnen Ausdruck. Wenn sie auch nicht sprach, so saß sie gelassen da und ließ ihren frei beobachtenden Blick auf den Menschen ruhen. Das gleiche konnte man von ihren beiden Nachbarinnen, der Frau des Pastors Harutiun Nokhudian aus Bitias und der Frau des Schulzen, des Muchtars von Yoghonoluk, Thomas Kebussjan, nicht behaupten. Man sah ihnen an, daß sie sich angestrengt und nicht frei fühlten, obgleich sie aus ihrer Garderobe so manches Prachtstück hervorgeholt hatten, um vor den Augen der Französin in Gnaden zu bestehen.

Frau Kebussjan hatte es am schwersten, denn obgleich sie auch zu jenen gehörte, welche bei den amerikanischen Missionaren in Marasch zur Schule gegangen waren, verstand sie kein Wort Französisch.

Sie blinzelte zu dem verschwenderischen Kerzenlicht der Lüster und Appliken empor. Ah, Madame Bagradian hatte es nicht nötig, zu sparen. Wo bekam man solche dicke Wachskerzen her? Die mußten aus Aleppo oder gar aus Stambul bezogen sein. Der Muchtar Kebussjan war zwar der reichste Landwirt des Bezirks, in seinem Haus aber durften neben dem Petroleum nur dünne Talgkerzen und Lichte aus Hammelfett verwendet werden. Und dort neben dem Klavier brannten sogar in hohen Standleuchten zwei bemalte Wachsstöcke wie in der Kirche. Ob das nicht zu weit ging!?

Dieselbe Frage stellte sich die Pastorin, deren Selbstbewußtsein sehr gedrückt war. Doch muß zu ihrer Ehre gesagt werden, daß sich in ihre Gefühle kein Neid und keine Scheelsucht mischten. Die Hände der Frau lagen mit deutlichem Gewissenskummer im Schoß, weil sie zu Ehren dieses Abends ihre Handarbeit zu Hause gelassen hatte, die sie sonst nie beiseite legte. Die Pastors- und die Muchtarsfrau blickten nach ihren Männern hin und verwunderten sich über diese Alten.

Und tatsächlich, sowohl der zarte Pastor als auch der massive Muchtar waren in ihrem Wesen ganz verwandelt. Sie bildeten einen Bestandteil der Männergruppe, die sich um Juliette scharte. (Sie erklärte der Gesellschaft gerade einige der Antiken, die Gabriel entdeckt und in diesem Raum zur Schau gestellt hatte.) Die beiden gesetzten Herren drehten ihren Ehefrauen den Rücken, das heißt die Kehrseite ihrer altertümlichen Schlußröcke zu, die sich dienstfertig spannten. Insbesondere Pastor Nokhudian schien immerfort auf dem Sprunge zu sein, einen Befehl Juliettens, der aber nicht erfolgte, unerbittlich auszuführen. Er stand freilich in gemessener Entfernung von ihr, da ihn die jungen Leute abgedrängt hatten. Unter diesen fielen zwei Lehrer auf. Hapeth Schatakhian war der eine, der einst mehrere Wochen in Lausanne verbracht hatte und sich seither einer hervorragenden Aussprache des Französischen bewußt war. Er versäumte auch die herrliche Gelegenheit nicht, von seiner Kunst begeistert Zeugnis abzulegen. Der andere Lehrer hieß Hrand Oskanian. Ein Knirps, dem das Schwarzhaar tief in die Stirn wuchs. Er setzte der verschwenderischen Virtuosität seines Gefährten Schatakhian ein durchdringendes Schweigen entgegen. Dieses Schweigen war aufgebläht bis zum Platzen. Unausgesetzt schien es darauf hinzuweisen, wo die dreiste Oberflächlichkeit und wo der wahre Wert zu finden sei. Diesmal hatte Oskanians hochgradiges Schweigen seine verwirrende Macht über Schatakhian eingebüßt. Als Gabriel in den Raum trat, hörte er das lautschallende Französisch des akzentstolzen Lehrers:

»Oh, Madame, wie müssen wir Ihnen dankbar sein, daß Sie einen Strahl der Kultur in unsere Wüste gebracht haben!«

Juliette hatte heute einen kleinen inneren Kampf auszufechten gehabt. Es handelte sich dabei um das Kleid, das sie zum Empfang ihrer neuen Landsleute anzulegen gedachte. Bisher hatte sie sich zu dieser Gelegenheit stets besonders einfach gekleidet, denn es war ihr unwürdig oder überflüssig erschienen, diese »ahnungslosen Halbwilden« zu blenden. Doch schon das letztemal hatte sie bemerkt, daß der Zauber, den sie auf ihre Gäste ausübte, auf sie selbst zurückschlug. So widerstand sie denn der Versuchung nicht und zog ihr größtes Abendkleid hervor. (Ach, es ist vom vorigen Frühjahr, dachte sie bei der Musterung, und zu Hause dürfte ich es nicht wagen, mich darin zu zeigen.) Nach kurzem Zögern legte sie, was ja bei einer glänzenden Gewandung unerläßlich ist, auch noch ihren Schmuck an. Die Wirkung ihres absichtsvollen Entschlusses, dessen sie sich anfangs ein wenig geschämt hatte, überraschte sie selbst. Eine schöne Frau unter schönen Frauen zu sein, dies ist wohl ein hochgemutes Gefühl, doch es befriedigt nicht gar zu lange. Man ist ja nur eine unter vielen, man spielt auf den Promenaden, in den Theatersälen und Restaurants jener fernen westlichen Welt doch nur die Rolle einer hübschen Statistin in einem riesigen Chor. Aber hier, ein unerreichtes Gnadenbild zu sein unter fremdartigen Gläubigen, ein berückendes Palladium für diese schüchtern-großäugigen Armenier, die Einzigartige, die Goldblonde, die Herrin, das ist kein alltägliches Schicksal, das ist ein Erlebnis, das die Wangen jugendlich rötet, die Lippen glühen macht und die Pupillen erglänzen.

Gabriel sah seine Frau von demütig Geblendeten umschart, die gewiß keinen Wunsch zu ihr empor wagten. Er sah, daß ihre Wangen rot waren und daß ihre Lippen glühten wie die einer kaum Zwanzigjährigen. Wenn sich Juliette bewegte, erkannte er wieder ihren »funkelnden Schritt«, wie er ihn einst genannt hatte. Juliette schien hier in Yoghonoluk einen Weg zu seinen einfachen Volksgenossen gefunden zu haben, sie, die sich in Europa so oft gegen den Verkehr mit den gebildetsten und besten Armeniern gesträubt hatte. Und das Merkwürdigste: In Beirut von den Weltereignissen überfallen, ohne Möglichkeit zu einer Rückkehr, hatte Gabriel die Furcht gehegt, Juliette werde sich in Heimweh verzehren. Frankreich kämpfte den schwersten Krieg seiner Geschichte. Europäische Zeitungen verirrten sich in diesen Winkel nicht. Man wußte gar nichts. Man war gänzlich abgeschnitten. Auf langen Umwegen war bisher ein einziger Brief erst eingetroffen, der das Datum des Novembers trug. Von Juliettens Mutter. Es war noch ein Glück, daß sie keine Brüder besaß, um die sie hätte Sorge haben müssen. Mit ihren beiden Schwestern stand sie nur in sehr loser Beziehung. Die Ehe mit dem Fremden hatte sie von ihrer Familie entfernt. Wie dem auch sei, ihre Ruhe, ja ihr Leichtsinn kam für Gabriel ganz unerwartet. Sie lebte im Augenblick. Nur selten machte sie sich über ihre Heimat Gedanken. Im vierzehnten Jahr ihrer Ehe schien das Unerhoffte gelungen zu sein. Hier in dem Haus von Yoghonoluk. Juliette war in Gabriels Welt eingegangen. Hatte sich die alte Spannung, die sie beide verband und trennte, an diesem Abend gelöst?

Und wirklich, es war etwas Neues in ihrem Wesen, als sie ihn umarmte:

»Endlich, mein Freund, ich war schon sehr unruhig.«

Sie sorgte sogleich in beinahe überschwenglicher Weise für seinen Hunger und Durst. Gabriel aber fand keine Zeit zum Essen. Alles umdrängte ihn, damit er über seine Erfahrungen in Antakje berichte. Der Muchtar Kebussjan neigte den Kopf weit vor, um kein Wort zu verlieren. Dadurch, daß er ein wenig schielte, wurde der mißtrauisch furchtsame Zug seines Bauerngesichtes noch verstärkt. Man darf natürlich nicht glauben, daß die behördliche Maßnahme des heutigen Morgens spurlos an den Gemütern vorübergegangen war. Schon die Tatsache, daß die türkische Obrigkeit dafür den Sonntag, und zwar die Stunde vor dem Hochamt, gewählt hatte, konnte als vertrackte Absicht und feindliches Zeichen aufgefaßt werden. Wohl war die Siedlung am Musa Dagh von den blutigen Ereignissen der Jahre 1896 und 1909 nahezu verschont geblieben. Doch Männer wie Kebussjan und der kleine Pastor von Bitias waren hellhörig genug, um bei jedem verdächtigen Laut die Ohren zu spitzen. Sie hatten den Tag nicht ganz ohne Sorgen verbracht. Erst der Abend und die strahlende Gegenwart Juliettens wußte die Trübung ihrer Ruhe zu zerstreuen. Als aber Bagradian, seines Versprechens eingedenk, die Angaben des Müdirs wiederholte, es handle sich nur um eine allgemeine, dem Kriegszustand entspringende Verfügung – da hatten alle, Nokhudian, Kebussjan, die Lehrer, des Rätsels Lösung längst gekannt und vorhergesagt. Ein heller Optimismus breitete sich nunmehr aus. Sein überzeugtester Vertreter war Lehrer Schatakhian. Er reckte sich hoch. Das Mittelalter sei vorüber, meinte er, sein glühendes Wort an Madame Bagradian richtend. Die Sonne der Zivilisation werde nun auch über der Türkei aufgehen. Der Krieg sei nur ihre blutige Morgenröte. Jedenfalls aber hätten Unterdrückung, Greuel, Massaker für alle Zeiten ein Ende gefunden. Die fortgeschrittene Welt würde dergleichen nicht mehr dulden. Und die türkische Regierung stehe unter der Aufsicht ihrer Verbündeten. Schatakhian sah Juliette erwartungsvoll an. Hatte er nicht in tadellosem Französisch dem Fortschritte gehuldigt? Die Anwesenden schienen, soweit sie ihn verstanden hatten, seine Ansichten zu billigen. Nur Lehrer Oskanian, der Schweiger, grunzte verächtlich. Jedoch dies tat er immer, wenn sich Freund Schatakhian von seiner Beredsamkeit hinreißen ließ. Da ertönte eine neue Stimme:

»Laßt die Türken! Reden wir von wichtigeren Dingen!«

Diese Worte hatte Apotheker Krikor gesprochen, die denkwürdigste Erscheinung in dieser Gesellschaft.

Daß er eine unverwechselbare Persönlichkeit sei, bewies Apotheker Krikor schon durch seinen Anzug. Während alle Männer, auch der Muchtar, europäisch gekleidet waren (in Yoghonoluk lebte ein aus London rückgewanderter Schneider), trug Krikor eine Art russischer Bluse, jedoch von feinster hellgelber Rohseide. Das trotz seiner sechzig Jahre gänzlich faltenlose Gesicht mit dem weißen Bocksbärtchen und den etwas schiefliegenden Augen hatte die Farbe tief vergilbten Papiers und hätte weit eher einem weisen Mandarin angehören können als einem Armenier. Er sprach mit einer hohen, dabei sonderbar hohlen Stimme, die durch allzu großes Wissen erschöpft schien. Und wirklich, der Apotheker von Yoghonoluk besaß nicht nur eine Bibliothek, dergleichen es in Syrien gewiß keine zweite gab – Krikor war selbst eine Bibliothek in Person, ein Mann der Allwissenheit in einem der unbekanntesten Täler der Erde. Ob es sich um die Flora des Musa Dagh handelte, um die geologische Beschaffenheit der Wüsten, um eine ausgefallene Vogelart im Kaukasus, um Kupfergewinnung, um Meteorologie, um Kirchenväter, um den Koran, um Fixsterne, um die Ausfuhrziffern von Kamelmist, um die Geheimnisse des persischen Rosenöls und um Kochrezepte – die hohle Stimme Krikors vermochte immerdar Auskunft zu geben, und zwar in leise-nachlässiger Form, als sei es jeweils eine respektlose Zumutung, die Lösung so geringfügiger Aufgaben von ihm zu fordern. Vielwisserei ist weitverbreitet. In ihr allein hätte sich die schöpferische Eigenart des Apothekers nicht bewähren können. Nein, es stand um Krikor ähnlich wie um seine Bibliothek. Diese setzte sich zwar aus einigen tausend Bänden zusammen, jedoch der weitaus größte Teil war in Sprachen abgefaßt, die er nicht zu lesen verstand. So zum Beispiel gleich das deutsche Konversationslexikon von Brockhaus eines verschollenen Jahrganges. Er mußte sich mit einem spärlichen armenischen Kenntnisbrunnen abfinden. Die Vorsehung hatte seiner Leidenschaft schwere Hindernisse in den Weg gelegt. Die armenischen und französischen Werke, die ihm zugänglich waren, bildeten die schwächste Partie seines Bücherschatzes. Krikor aber war nicht nur ein Gelehrter, er war ebensosehr ein Bibliophile. Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muß es erst gar nicht lesen. (Verhält es sich nicht mit jeder großen Liebe ähnlich?) Der Apotheker war kein reicher Mann. Er konnte es sich nicht leisten, den Buchhandlungen und Antiquariaten in Stambul oder gar im Ausland kostspielige Aufträge zu geben. Er hätte kaum die Kosten der Fracht aufgebracht. So mußte er denn nehmen, was ihm in den Wurf kam. Den Grundstock, behauptete er, habe er schon in seiner Kindheit und seinen Wanderjahren gelegt. Nun hatte er Agenten und Gönner in Antiochia, Alexandrette, Aleppo, Damaskus, die ihm von Zeit zu Zeit ein großes Paket zuschickten. Welch ein Feiertag, wenn solche Gaben einlangten! Mochten es arabische oder hebräische Folianten sein, französische Romane, allgemeine Makulatur, gleichviel, es waren Bücher, bedrucktes Papier. Selbst Tageszeitungen hob er auf und katalogisierte peinlich Preislisten und Prospekte. In diesem Mann war die ganze Zärtlichkeit der armenischen Rasse für den Geist zusammengedrängt, das Geheimnis aller uralten Völker, welche die Zeiten überdauern. Wie der Same einer Steinnelke auf dem nackten Felsen Wurzel schlägt, so hatte Krikors Bibliothek in Yoghonoluk Wurzel gefaßt. Diese sonderbare, in der Hauptsache ungelesene Bibliothek hätte nun kaum hingereicht, die Grundlage für des Apothekers Riesenwissen zu bilden. Hier aber half ihm der schöpferische Mut über alle Lücken hinweg. Krikor ergänzte seine Welt. Alle Fragen von der Theologie bis zur Statistik beantwortete er aus eigener Machtvollkommenheit. Dabei fühlte er sich keineswegs als Fälscher. Das unschuldige Glück des Dichtertums durchströmte ihn, wenn er die großen Worte der Wissenschaft durcheinanderwarf. Daß ein solcher Mann Jünger hatte, ist selbstverständlich. Daß diese Jüngerschar sich aus der Lehrerschaft der sieben Dörfer zusammensetzte, ebenfalls. Die Lehrer verehrten in Krikor das Wunderorakel, und nicht einmal der boshafte Oskanian dachte daran, die Stichhaltigkeit dieses Orakels anzuzweifeln. Apotheker Krikor war der Sokrates vom Musa Dagh, wenn er mit diesen seinen Jüngern zumeist bei Nacht philosophische Spaziergänge unternahm. Dabei bot sich Gelegenheit, die Verehrung der Jünger immer wieder zu vertiefen. Ein Fingerzeig auf den gestirnten Himmel: »Hapeth Schatakhian, kennst du jenen rötlichen Stern dort?« – »Welchen? Diesen dort! Das muß ein Planet sein. Wie?« – »Falsch, Lehrer! Es ist der Stern Aldebaran! Und weißt du, warum er rötlich scheint?« – »Warum? Vielleicht ... unsere Lufthülle ...« – »Falsch, Lehrer! Der Stern Aldebaran besteht aus geschmolzenem Magneteisen, und davon ist er rötlich. Dies ist ebenfalls die Meinung des berühmten Camille Flammarion, die er mir in seinem letzten Brief schreibt.«

Auch der Brief des großen Astronomen war kein leerer Schwindel. Er bestand wirklich. Nur hatte ihn Krikor in der Person Camille Flammarions selbst an sich gerichtet. Solche Post freilich erledigte er nur höchst selten und in feierlichsten Stunden. Die Jünger erfuhren meist nichts von diesen Briefschaften. Es waren jedoch nicht nur zeitgenössische oder jüngstverstorbene Geistesriesen, die er zu Partnern seines Briefwechsels machte, sondern auch Voltaire und der große armenische Dichter Raffi hatten ihm mehrmals schon umgehend ein Schreiben erwidern müssen. So lebte in Krikor ein korrespondierendes Mitglied des Olymps.

Erstaunlich war's, daß bei seiner geistigen Weitläufigkeit der Apotheker seit Menschengedenken Yoghonoluk nicht verlassen hatte. Alle gebildeten Leute vom Musa Dagh unternahmen mindestens einmal jährlich eine Reise, und sei es nur nach Aleppo oder Marasch, um dort die amerikanischen, deutschen, französischen Missionsschulen zu besuchen, wo sie den höheren Unterricht empfangen hatten. Nicht wenige unter den Alten des Volkes waren erst in späten Jahren aus Amerika zurückgekehrt, um das Erworbene in Ruhe zu verzehren. Und knapp vor Kriegsausbruch war wiederum ein Schub von Wandersüchtigen über den Ozean gegangen. Nur Apotheker Krikor vermied den geringsten Ortswechsel. Selbst ein Besuch in den Nachbardörfern gehörte zu den größten Seltenheiten. In seiner Jugend, so behauptete er, habe er von den Merkwürdigkeiten des Erdballs mit eigenen Augen genug gesehen. Manchmal machte er denn auch Andeutungen über diese Fahrten, die sich weit im Westen und im Osten verloren, bei denen er aber aus Prinzip niemals eine Eisenbahn benützt habe. Ob es sich damit so verhielt wie mit Flammarions Brief, bleibe dahingestellt. Nichts an Krikors Reden und Erzählungen roch auch nur im entferntesten nach Aufschneiderei und Phantasie. Seine Berichte waren von anschaulicher Gründlichkeit durchtränkt, so daß selbst ein Mann wie Gabriel Bagradian keinen Argwohn gefaßt hätte. Bei jeder Gelegenheit aber beteuerte der Apotheker sein Unverständnis für alle Reiselust. Mochte Altouni, der allbekannte Nörgler, herbe Klagen führen, weil er sein Leben in einem syrischen Dorf verloren habe. Krikor war zufrieden in und mit Yoghonoluk. Alle Orte gelten gleich, denn die äußere Welt war in der inneren enthalten. Der Wissende sitzt, ohne sich zu bewegen, wie eine Spinne inmitten des Strahlennetzes, das er über das Universum spannt. Aber wenn das Gespräch auf Politik, auf den Krieg, auf brennende Gegenwartsfragen kam, wurde der Apotheker unruhig. Dergleichen Dinge liebte er nicht zur Kenntnis zu nehmen. Die Welt als Spielball äußerer Abhängigkeit und innerer Teilnahme bildete eine erniedrigende Störung. Erst in die selbstlose Ferne der Betrachtung gerückt, bekam sie Wert. Letzter Hochmut des Geistes! Was gingen ihn die Ereignisse des »Hinterlandes« dort an, die sich zwischen Stambul, Aleppo und Mesopotamien abspielten? Kriege, die nicht schon zu Büchern geworden waren, mißachtete er. Aus diesem Grunde hatte der Apotheker auch die politischen Ausführungen Lehrer Schatakhians gerügt. Jetzt vollendete er:

»Ich verstehe nicht, warum man immer und immer wieder zu den andern hinüberschielt. Krieg, Verordnungen, Wali, Kaimakam. Laßt dort die Türken machen, was sie wollen! Wenn ihr euch nicht um sie kümmert, so kümmern sie sich nicht um euch. Wir haben unsere eigene Erde hier. Und sie findet sogar verwöhnte Liebhaber ... Bitte ...«

Damit stellte Krikor dem Hausherrn einen fremden Gast vor, der sich bisher hinter den anderen Männern verborgen hatte oder ihm nicht aufgefallen war. Der Apotheker ließ den tönenden Namen des Fremden auf der Zunge zerfließen: »Gonzague Maris!«

Der junge Mann war, nach der Art wie er aussah und wie er sich trug zu schließen, ein Europäer oder zumindest ein stark europäisierter Levantiner. Das schwarze Schnurrbärtchen in dem blassen und höchst aufmerksamen Gesicht war so französisch wie der Vorname. Das auffälligste Merkmal bildeten seine Augenbrauen, die in einem stumpfen Winkel gegeneinander standen. Krikor spielte weiter den Herold des Fremden:

»Monsieur Gonzague Maris ist Grieche.«

Sogleich aber verbesserte er sich, als wolle er den Gast nicht herabsetzen:

»Nicht türkischer Grieche, sondern Reichsgrieche, Europäer.«

Der Fremde hatte sehr lange Augenwimpern. Er lächelte jetzt, wobei er die frauenhaften Wimpern tief über die Augen senkte:

»Mein Vater war Grieche, meine Mutter Französin, ich bin Amerikaner.« Die bescheidene, ja fast scheue Art des jungen Menschen wirkte auf Gabriel angenehm. Er schüttelte den Kopf:

»Was ist das für ein verrückter Zufall, verzeihen Sie, der einen Amerikaner, dessen Mutter Französin ist, hierher führt, gerade hierher?«

Gonzague lächelte wieder, die Wimpern senkend:

»Sehr einfach! Ich habe mehrere Wochen in Alexandrette zu tun gehabt. Dort bin ich erkrankt! Der Arzt hat mich in die Höhe nach Beilan geschickt. In Beilan aber habe ich mich nicht wohl gefühlt ...«

Apotheker Krikor hob mahnend den Zeigefinger:

»Der Luftdruck! In Beilan ist der Luftdruck immer unter dem Niveau.«

Gonzague Maris neigte seinen sorgfältig gescheitelten Kopf verbindlich gegen den Apotheker:

»In Alexandrette hat man mir so viel vom Musa Dagh gesprochen, daß ich neugierig geworden bin. Es war eine große Überraschung für mich, im trostlosen Orient solch eine Schönheit zu finden, so gebildete Menschen und eine so gute Unterkunft wie bei meinem Wirt, Herrn Krikor. Ich liebe alles Unbekannte. Läge der Musa Dagh in Europa, wäre er eine große Berühmtheit. Nun, ich freue mich, daß er Ihnen allein gehört.«

Der Apotheker verkündete mit dem gleichgültig hohlen Ton, den er bei bedeutsamen Mitteilungen anwandte:

»Er ist Schriftsteller und wird hier in meinem Haus seinen Studien obliegen.«

Gonzague schien sich dieser Ankündigung zu schämen:

»Ich bin kein Schriftsteller. Ich schicke hie und da einer amerikanischen Zeitung kleine Berichte. Das ist alles. Ich bin nicht einmal wirklicher Journalist.«

Mit einer unbestimmten Geste deutete er an, daß diese Beschäftigung keinem andern Ziel als dem Broterwerb gelte. Krikor aber ließ von seinem Opfer nicht, das ihm zum Stolze dienen mußte:

»Sie sind doch auch Künstler, Musiker, Virtuose, Sie haben Konzerte gegeben, nicht wahr?«

Der junge Mann hob abwehrend die Hand:

»Das ist alles nicht richtig. Ich bin unter anderem auch Klavierbegleiter gewesen. Man muß vieles probieren.«

Sein Blick suchte bei Juliette um Hilfe. Sie wunderte sich:

»Die Welt ist klein. Ist es nicht sonderbar, daß sich hier zwei Landsleute begegnen? Zur Hälfte sind Sie ja mein Landsmann.«

Lehrer Schatakhian aber konnte seine Schwärmerei wieder einmal nicht zügeln:

»Und ist es nicht sonderbar, daß wir uns in einem so gewählten Kreis befinden dürfen, daß wir armen armenischen Bauern durch die Güte von Madame uns nun einer feinen Geselligkeit erfreuen?«

Der gereizte Oskanian aber ließ sein Schweigen noch mehr anschwellen und nahm abseits von den anderen mit düsterer Hoheit Platz. Dadurch gab er zu erkennen, daß er es keineswegs für sonderbar halte, daß eine Persönlichkeit wie die seine an dieser Stätte mit gebührender Achtung begrüßt werde. Denn Oskanian war nicht nur ein gesuchter Dichter im Umkreis des Musa Dagh, der seinen Landsleuten für alle Festlichkeiten heiterer und trauriger Natur die bestellten Verse lieferte, er betätigte sich auch für ähnliche Zwecke als Kalligraph und Maler. Apotheker Krikor jedoch erteilte seinem Jünger Schatakhian abermals eine leichte Zurechtweisung:

»Wir Armenier haben einen verhängnisvollen Fehler, den Kleinmut. Er verleitet uns oft zur Selbsterniedrigung. Wir vergessen, daß wir eines der ältesten Kulturvölker der Erde sind. Madame, als die Gattin unseres Gabriel Bagradian, weiß es ja, daß wir als allererste Nation, lange vor Rom, das Christentum als Staatsreligion angenommen haben. Wir haben ein glänzendes Reich besessen, die Hauptstadt Ani mit ihren tausend Kirchen wie ein anerkanntes Weltwunder. Könige von armenischem Blute regierten Byzanz. Zu einer Zeit, da Frankreich noch in tiefer Barbarei schlief, hatten wir eine klassische Literatur. Ich selbst besitze Auszüge von markigen Autoren wie Lazar von Pharpi und Moses von Chorene. Doch auch heute müssen wir uns nicht verstecken. Selbst in diesem Nest hier, das nicht einmal eine anständige Straße besitzt, ist im Laufe der Zeit eine namhafte Bibliothek angewachsen ... Madame wird uns also gestatten, daß wir uns vor ihr nicht schämen.«

Diese würdige Rede brachte der Apotheker mit seiner ungerührten Mandarinenruhe vor. Dabei sah er Juliette nicht an. Als echt sokratischer Weiser war Krikor gegen Frauen sehr züchtig und zurückhaltend. Dafür aber versammelte er um sein Licht die männliche Jugend, soweit sie nicht geistig stumpf war. Als Beweis für diese seine Anziehungskraft kann es vielleicht auch gelten, daß der junge Gonzague Maris bei ihm Quartier bezogen hatte, obgleich ihm auch ein schönes Zimmer im Hause des Muchtars angeboten worden war. Die selbstberauschte Juliette aber fing auf die Worte Krikors hin armenisch zu radebrechen an. Sie machte es reizend:

»Was wollen Sie denn? ... Ich bin doch selbst Armenierin, weil ich einen Armenier geheiratet habe ... Nach dem Gesetz ... Oder vielleicht Türkin ... Oh, ich kenne mich gar nicht aus ...«

Entzückter Beifall ringsum dankte diesem Sprachversuch. Gabriel hatte in seinem ganzen Leben nur sehr wenige armenische Worte aus dem Munde seiner Frau gehört. Er hätte über diesen neuen Fortschritt erstaunt und beglückt sein müssen. Leider war es ihm entgangen, denn er bestarrte, ohne der andern zu achten, einen Mithraskopf aus dem zweiten nachchristlichen Jahrhundert, der aus den Ruinen von Seleucia bei Suedja stammte. Doch seine Gedanken schienen sich mit dem Kopf nicht im geringsten beschäftigt zu haben. Keiner der Anwesenden verstand den Sinn dessen, was er mit zornigem Ton plötzlich sagte:

»Wenn ein Tier nicht mehr daran glaubt, daß es sich wehren kann, geht es zugrunde. So ist es in der Natur und in der Geschichte.«

Und er rückte ohne ersichtlichen Grund das Postament mit dem Mithraskopf ein wenig von seiner alten Stelle nach links.

Dank Juliettens Heiterkeit wurde es ein sehr gelungener Abend, gar nicht zu vergleichen mit den früheren Versammlungen in der Villa Bagradian. Die meisten Armenier führten hierzulande ein rein orientalisches Leben, das heißt, sie sahen einander nur in der Kirche und auf der Straße. Man besuchte sich bloß bei feierlichen Anlässen. Kaffeehäuser, wie sie sich in den kleinsten türkischen Dörfern finden, gab es nicht. In dieser häuslichen Abgeschiedenheit hatte das befangene Wesen der Frauen seine Ursache. Doch nun verlor es sich nach und nach. Die Pastorin vergaß, ihren Gatten, dessen Leben sie energisch zu verlängern gedachte und der deshalb in seinem Schlaf nicht verkürzt werden sollte, zum Aufbruch zu mahnen. Die Muchtarsfrau hatte sich Juliette genähert, um den Seidenstoff ihrer Robe zwischen den kostenden Fingern zu begutachten. Mairik Antaram aber war plötzlich verschwunden. Ihr Mann hatte sie durch einen kleinen Jungen abberufen lassen, damit sie ihm bei der schwierigen Entbindung Hilfe leiste und die alten Hexen verjage, die in solchen Fällen immer das Haus der Gebärenden belagern, um ihr mit Zaubermitteln beizustehn. Madame Altouni war im Laufe der Jahrzehnte eine vollwertige Gehilfin des Arztes geworden, dem sie einen großen Teil seiner Praxis abnahm. Sie taugt mehr als ich, pflegte er zu behaupten.

Nun sang man das Lob Mütterchen Antarams. Es habe mit ihr eine eigene Bewandtnis. Sie opfere sich auf. Allen Frauen in ihren Nöten, jungen und alten, stehe sie bei mit mütterlichem oder schwesterlichem Rat. Sie empfange sogar Briefe von auswärts. Das komme daher, weil sie Askanuwer Hajuhiaz Engerutiun, der Allgemeine Armenische Frauenverein, zu seiner Vertreterin in dem ganzen Bezirk gemacht habe. Nur Frau Kebussjan gab eine kritische Begründung für Antarams Seelengüte:

»Sie ist ja kinderlos.«

Der Muchtar aber lauschte mit seinem Schwerhörigenkopf und dem leicht schielenden Blick einem Vortrag des Apothekers, der die Vorzüge der chinesischen Seidenverarbeitung mit den genauesten Einzelheiten dem heimischen Gewerbe entgegenstellte. Kebussjan schlug sich aufs Knie:

»Unser Krikor, was!? Da geht man jahrzehntelang in seine Apotheke und kauft Petroleum und Magenpulver und weiß nicht, was das für ein Mann ist!«

Am längsten brauchte der Hausherr, um aufzutauen. Dies geschah aber von einem Augenblick zum andern. Unzufrieden musterte er den großen Tisch, auf dem Backwerkschüsseln, Tee-, Kaffeeschalen und zwei Karaffen mit Raki standen. Gabriel sprang auf:

»Meine Freunde! Wir müssen doch etwas Besseres zum Trinken bekommen.« Er ging mit Kristaphor und Missak in den Keller, um Wein zu holen. Awetis der Jüngere hatte für reichliche Einlagerung und Pflege der besten Jahrgänge gesorgt. Dem Verwalter war die Obhut übertragen. Die starken Weine des Musa Dagh freilich hielten sich nicht lange. Vielleicht kam das daher, weil sie anstatt in Fässern, der altertümlichen Sitte gemäß, in großen versiegelten Tonkrügen aufbewahrt wurden. Es war ein dunkelgoldner Tran, sehr schwer, den Weinen ähnlich, die in Xara am Libanon gedeihen. Als man die Gläser vollgeschenkt hatte, erhob sich Bagradian, um einen Trinkspruch voranzuschicken. Dieser geriet ebenso unbestimmt und düster wie alles, was heute von ihm gekommen war: Es sei schön, daß sie alle hier frohen Herzens beisammen säßen. Wer aber wisse, ob man auch das nächste oder übernächste Mal denselben leichten Sinn werde haben dürfen? Niemand jedoch möge sich in dieser Stunde durch solche Gedanken betrüben lassen, denn sie brächten nichts Gutes.

Diesen Trinkspruch, der eher eine umwölkte Mahnung war, brachte Gabriel in armenischer Sprache aus. Juliette grüßte mit ihrem Glas zu ihm hinüber:

»Ich habe dich genau verstanden, jedes Wort ... Aber warum so schwermütig, mein Freund?«

»Ich bin nur ein äußerst schlechter Redner«, entschuldigte sich Gabriel. »Vor ein paar Jahren hat man mir nach Paris geschrieben und eine Stellung in der Daschnakzapanpartei angetragen. Ich habe sie abgelehnt, nicht nur weil ich mit Politik nichts zu tun haben will, sondern weil ich vor einer großen Menschenversammlung kein Wort herausbrächte. Ein Volksführer ist an mir nicht verlorengegangen.«

»Rafael Patkanian« – der Apotheker wandte sich erklärend an Juliette –, »Patkanian war einer unserer größten Volksführer, ein wahrer Volkserwecker und doch der schlechteste Redner, der sich denken läßt. Er hat ärger gestottert als der junge Demosthenes. Dies aber war gerade die besondere Wirkung seiner Reden. Ich habe selbst in alter Zeit noch die Ehre gehabt, ihn zu kennen und zu hören. In Eriwan.«

»Sie meinen«, lachte Gabriel, »was nicht ist, kann noch werden.«

Der schwere Wein erfüllte seine Pflicht. Die Stummen wurden beredt. Lehrer Hrand Oskanian allein wahrte das bittere Schweigen, das er seiner Bedeutung schuldig war. Der Mann Gottes, Nokhudian, der nicht viel vertrug, verteidigte sein Glas gegen die Angriffsversuche der Gattin, die es ihm entreißen wollte. Dabei wiederholte er mehrmals:

»Es ist doch ein Fest, Frau! Nicht wahr?«

Als Gabriel eines der Fenster öffnete, um einen Blick in die Nacht zu werfen, fühlte er Juliette hinter sich.

»Nun, ist es nicht recht hübsch?« flüsterte sie.

Er legte die Hand um ihre Hüfte:

»Wem habe ich es zu verdanken, wenn nicht dir?«

Doch zu diesen liebenden Worten paßte der verzerrte Ton nicht. Im Gefolge des Weines wurde der Wunsch nach Musik rege. Einige wiesen auf einen jungen Menschen hin, der zu den Lehrern gehörte. Er war einer aus Krikors Jüngerschaft namens Asajan. Der zwirnsdünne Mann sollte Inhaber einer guten Stimme und eines guten Gedächtnisses für die heimische Liederwelt sein. Nach Sängerart sträubte sich Asajan. Ohne Begleitung könne man nicht singen und seine Wohnung liege zu weit, den Tar zu holen. Juliette dachte schon daran, ihr Grammophon herunterbringen zu lassen. Gewiß kannten die wenigsten der Bewohner von Yoghonoluk dieses Wunder der Technik. Apotheker Krikor jedoch entschied die Frage, indem er seinem Hausgast einen bedeutungsvollen Blick sandte.

»Wir haben ja einen Künstler unter uns.«

Gonzague Maris setzte sich ohne viel Widerstreben an das Piano.

»Eines der zwölf Klaviere in Syrien«, verkündete Gabriel, »es wurde vor einem Vierteljahrhundert für meine Mutter aus Wien bezogen. Kristaphor aber hat mir erzählt, daß mein Bruder Awetis aus Aleppo einen Fachmann kommen ließ, um es instand zu setzen. In den letzten Wochen seines Lebens hat er oft gespielt. Und ich wußte gar nicht, daß er musikalisch war ...«

Gonzague griff ein paar Akkorde. Aber wie es schon geht, der Künstler fand nicht den rechten Ton für die späte Stunde, für die ungewohnten Ohren und das Erfrischungsbedürfnis seiner Zuhörer. Nachlässig, den Kopf über die Tasten gebeugt, die Zigarette im Mund, saß er da – seine Finger aber gerieten immer tiefer in makabre Weisen. »Verstimmt, schrecklich verstimmt«, murmelte er und konnte sich vielleicht deshalb nicht von dem klagenden Tongeschlecht losreißen. Ein Schleier von Langweile und Abspannung legte sich auf sein vorhin noch so hübsches Gesicht. Bagradian betrachtete von der Seite dieses Gesicht, das ihm jetzt nicht mehr knabenhaft schüchtern, sondern zweideutig und abgelebt erschien. Er sah sich nach Juliette um, die ihren Stuhl in die Nähe des Klaviers geschoben hatte. Ihr Gesicht war plötzlich alt und verfallen. Auf seine fragende Miene gestand sie leise:

»Kopfschmerzen ... Von diesem Wein ...«

Gonzague brach unvermittelt ab und schloß den Deckel: »Verzeihen Sie bitte«, sagte er.

Obgleich Lehrer Schatakhian, um seine musikalische Weihe zu beglaubigen, das Klavierspiel des Fremden in Fachausdrücken pries, war die Heiterkeit dahin. Kurz nachher eröffnete Frau Pastor Nokhudian den Aufbruch. Man übernachte zwar bei Freunden in Yoghonoluk, müsse aber schon bei Sonnenaufgang den Weg nach Bitias antreten. Am längsten zögerte Oskanian, der Schweiger. Als die andern schon in den Park traten, kehrte er noch einmal zurück, ging mit seinen kurzen Beinen streng und zu allem entschlossen auf Juliette zu, so daß diese leicht erschrak. Er überreichte ihr aber nur einen großen, in armenischer Schrift mit verschiedenfarbigen Tinten herrlich beschriebenen Bogen, ehe er verschwand.

Es war ein schwungvolles Gedicht verehrender Liebe.

Als Juliette in der Nacht jäh erwachte, sah sie Gabriel im Bette neben sich starr aufrecht sitzen. Er hatte seine Kerze angezündet und mußte die Schläferin schon lange beobachtet haben. Sie spürte deutlich, daß nicht die Flamme, sondern sein Blick sie aus dem Schlafe gerissen hatte.

Er berührte ihren Arm:

»Ich wollte dich nicht wecken, habe mir aber gewünscht, daß du von selbst aufwachst.«

Sie schüttelte das Haar zurück. Ihr Gesicht war frisch und freundlich:

»Du hättest mich ruhig wecken können. Mir macht das nichts. Du weißt es ja. Für nächtliche Plaudereien bin ich immer zu haben.«

»Ich habe hin und her gedacht ...«, erklärte er ungenau.

»Und ich habe göttlich geschlafen. Meine Kopfschmerzen kamen also nicht von eurem armenischen Wein, sondern vom Klavierspiel meines – comment dire? – demi-compatriote. Komischer Einfall! Yoghonoluk als Kurort zu benutzen und zu Herrn Krikor in Pension zu gehen. Das Komischste aber ist der kleine schwarze Lehrer, der mir das zusammengerollte Plakat übergeben hat. Und auch der andre Lehrer, der so langsam durch die Nase bellt! Er hält das wahrscheinlich für besonders vornehmes Französisch. Wie eine Mischung von Steineklopfen und Hundewinseln klingt das. Ihr Armenier habt alle eine sonderbare Aussprache. Selbst du bist nicht ganz frei davon, mein Freund. Nun, man muß nicht gar zu streng sein. Es sind doch recht liebe Leute.«

»Arme, arme Menschen sind es!«

Dieser Ausbruch rasselte gequält aus Gabriels Brust. Juliettens Stimme wurde weich:

»Ich habe mich gekränkt, daß du weggeritten bist, ohne mir ein Wort zu sagen. Ich hätte dir auch Proviant mitgegeben ...«

Er schien ihre fürsorglichen Worte gar nicht zu hören:

»Keinen Augenblick habe ich geschlafen. Mir ist so vieles eingefallen. Das Diner bei Professor Lefevre, damals. Und mein erster Brief an dich.«

Juliette hatte an Gabriel niemals auch nur die geringste Sentimentalität bemerkt. Um so mehr setzte er sie jetzt in Erstaunen. Schweigend blickte sie zu ihm hinüber. Die Kerze hinter seinem Rücken bewirkte, daß des Mannes Gesicht unsichtbar blieb und nur sein Oberkörper wie ein großer schwarzer Block sich abzeichnete. Gabriel aber sah – da nicht nur die Kerzenflamme, sondern das erste sternhafte Morgenzwielicht auf Juliette fiel – ein zartschimmernd helles Wesen sich gegenüber: »Vierzehn Jahre waren es im Oktober. Das größte Geschenk meines Lebens. Und doch, es war eine schwere Schuld. Ich hätte dich nicht losreißen, nicht in ein fremdes Verhängnis stürzen dürfen ...«

Sie griff nach den Streichhölzern, um nun auch ihre Kerze anzuzünden. Er haschte nach ihrer Hand und verhinderte es. So traf sie seine Stimme wieder aus der gestaltlosen Schwärze:

»Es wäre das beste, du würdest dich retten ... Wir sollten uns scheiden lassen!«

Sie schwieg lange. Es fiel ihr nicht ein, daß dieser tolle, ganz und gar unbegreifliche Antrag mit ernsten Dingen im Zusammenhang stehn könnte. Sie rückte näher zu ihm:

»Hab ich dir weh getan, dich gekränkt, dich eifersüchtig gemacht? ...«

»Nie bist du gütiger zu mir gewesen als heute abend. Seit Jahren schon hab ich dich nicht so lieb gehabt ... Doch um so schrecklicher!«

Er stützte sich höher auf, wodurch der dunkle Block seiner Gestalt noch fremder wurde:

»Juliette, du mußt ernst nehmen, was ich sage. Ter Haigasun wird alles tun, um unsere Scheidung so schnell wie möglich durchzuführen. Und die türkische Behörde macht bei solchen Dingen keine Schwierigkeiten. Dann bist du frei, keine Armenierin mehr, und kannst dich lossagen von dem grauenhaften Volksschicksal, in das du durch meine Schuld geraten bist. Wir reisen nach Aleppo. Dort stellst du dich als Europäerin unter den Schutz eines Konsuls, des amerikanischen, des schweizerischen, gleichviel. Dann bist du in Sicherheit, was auch hier und dort geschehen mag. Stephan kommt mit dir. Ihr werdet ungehindert die Türkei verlassen dürfen. Mein Vermögen und meine Einkünfte werde ich natürlich auf euch überschreiben ...«

Er hatte krampfhaft und schnell gesprochen, damit sie ihn nicht unterbreche. Juliettens Gesicht aber kam dem seinen ganz nahe:

»Und diesen Wahnsinn meinst du wirklich ernst?«

»Wenn alles vorüber ist und ich noch lebe, dann komm ich ja wieder zu euch.«

»Und gestern haben wir doch in aller Ruhe besprochen, was geschehen soll, wenn du einberufen wirst ...«

»Gestern? Gestern war alles falsch. Unterdessen aber hat sich die Welt verändert.«

»Was hat sich verändert? Die Geschichte mit den Pässen? Wir werden neue bekommen. Und du selbst sagst doch, daß du in Antiochia nichts Schlimmes erfahren hast.«

»Ich habe zwar manches Schlimme erfahren, aber darauf kommt es nicht an. Was sich tatsächlich verändert hat, ist vielleicht sehr wenig. Aber das kommt plötzlich wie ein Wüstensturm. Die Väter in mir, die namenlos gelitten haben, spüren es. Der ganze Lebensstoff spürt es. Nein, das kannst du nicht begreifen, Juliette. Wer niemals um seiner Rasse willen gehaßt worden ist, kann das nicht begreifen.«

Juliette sprang aus dem Bett, setzte sich zu ihm, nahm seine Hände:

»Du bist genau wie Stephan. Wenn der einen schweren Traum gehabt hat, erwacht er auch nur halb und ist eine Stunde lang verstört. Warum sollten denn gerade wir in Gefahr sein? Ich denke an deine türkischen Freunde, an diese reizenden feinen Menschen, die wir in Paris bei uns so oft zu Gast gehabt haben. Und das sollten auf einmal heimtückische Bestien geworden sein? Nein! Ihr Armenier habt den Türken immer unrecht getan.«

»Ich tue ihnen nicht unrecht. Es gibt unter ihnen wunderbare Leute. Ich habe schließlich im Krieg auch das niedre Volk kennengelernt, in seiner Geduld und Güte. Sie sind nicht schuld und wir sind nicht schuld. Aber was hilft das?«

Das Morgengrauen wuchs, und die Linie des Musa Dagh, der in das Schlafzimmer schaute, begann schärfer zu werden. Die Augen Gabriels hingen an dem Berg:

»Ich habe darüber nachgedacht, wie sonderbar es doch ist, daß wir Awetis nachgereist sind und er sich mir immer wieder entzogen hat. Als wenn er mich durch seinen Tod hätte nach Yoghonoluk locken wollen ... Nein! Eigentlich hast du ja darauf bestanden, hierherzugehn.«

Es wurde kalt. Juliettens nackte Füße froren. Friedfertig stimmte sie bei:

»Siehst du? Es war mein Eigensinn. Das kann dich doch beruhigen.«

Gabriels Gedanken aber hatten ein anderes Ziel:

»Gestern habe ich einen Augenblick lang das felsenfeste Gefühl gehabt, daß eine höhere Macht mich leitet, daß Gott irgend etwas mit mir vorhat. Es war wirklich ein felsenfestes Gefühl, wenn es auch schnell vorübergegangen ist ... Das Leben, das ich geführt habe, war wohl nicht das rechte. Es ist so angenehm, sich einzubilden, man sei eine außergewöhnliche Persönlichkeit, ein hervorragendes Staubkorn, das an die Schwerkraft nicht gebunden ist und ohne Verpflichtung im Weltraum vagabundieren darf ... Da hat mich Gott durch Awetis und durch seinen Willen in das alte Land zurückgeführt ...«

Er schwieg. Juliette aber forschte lange in seinen undeutlichen Zügen:

»Ich sehe das erstemal an dir Angst.«

Noch immer wandte er die Augen nicht von dem wachsenden Musa Dagh ab:

»Angst? Wie vor etwas Übernatürlichem! Als Kind habe ich mir oft vorgestellt, daß ein kleines Sternchen am Himmel plötzlich größer wird, anschwillt, näher und näher kommt und die Erde zerdrückt ...«

Er schüttelte sich, um seiner endlich Herr zu werden:

»Juliette! Nicht um mich geht es. Es geht um dich und Stephan.«

Da wurde sie endlich sehr böse:

»Ich glaube an all deine Gefahren nicht. Wir leben im Jahre 1915. Ich habe in der Türkei wie überall in der Welt nur Freundlichkeit und Galanterie erlebt. Ich fürchte mich nicht vor den Menschen. Aber selbst wenn eine Gefahr droht, glaubst du wirklich, ich würde so feig und gemein sein, davonzulaufen und dich sitzenzulassen? ... Das täte ich nicht einmal dann, wenn ich dich nicht mehr gern hätte.«

Er sagte nichts mehr und schloß die Augen. Juliette wollte sich schon leise erheben. Gabriel aber ließ den Kopf in ihren Schoß gleiten. Seine Stirne war kalt und naß. Jäh mit einem Schlag begannen die Vögel ihr morgenschrilles Durcheinander.

Franz Werfel - Die vierzig Tage des Musa Dagh

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