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drei Stunden später

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Kommissarin Günnur Meier starrte mit schreckgeweiteten Augen auf die junge Frau, die vor ihr auf dem Boden lag – oder besser, auf das, was von ihr übrig geblieben war.

Zu einem Mordopfer zu kommen, war für sie immer mit einer Portion Schrecken und natürlich auch Trauer verbunden. Blut war für sie, anders als für ihren berühmten Kollegen Klufti, dessen Fälle sie in den Büchern lachend und kopfschüttelnd verschlungen hatte, kein Problem. Als Problem erwiesen sich eher junge Opfer oder auch Frauen. Junge Menschen erregten im ersten Moment ihr Mitleid, weil sie das gesamte Leben noch vor sich gehabt hätten und einfach so viel Schönes verpassten. Bei Frauen regte sich Günnurs Gerechtigkeitssinn, vor allem, wenn sich herausstellte, dass der Frau brutale Gewalt angetan wurde. Hier war das Opfer eine junge Frau, also besonders dazu geeignet, Günnurs geballtes Mitleid zu haben. Berufsbedingt hatte sie glücklicherweise genügend Methoden, ihr eigenes subjektives Mitleid in konstruktive Arbeit umzulenken, um den Mord aufzuklären und somit dem Opfer posthum gerecht zu werden. Mehr konnte sie für diese armen Menschen nicht mehr tun.

Die Frau lag rücklings in einer Lache aus Blut, die Arme rechtwinklig weit von sich gestreckt und Günnur fühlte sich irgendwie an den gekreuzigten Jesus erinnert. Äußerlich sah sie unversehrt aus. Ungewöhnlich war die Masse von Blut vorne auf ihrer Bluse.

Torsten, der genau wie sie Überziehplastikschuhe und natürlich die obligatorischen Tatortgummihandschuhe trug, ging vorsichtig einen Schritt vorwärts und hob die Bluse, die blutverkrustet bereits Widerstand leistete, an. „Oh Gott!“, sagte er sofort leise. Günnur konnte nicht sehen, was ihn zu dieser Schreckensäußerung trieb, denn er stand mit seiner gesamten Körpermasse, und das war nicht wenig, vor der Leiche und versperrte ihr den Blick komplett. Als sie herumging, sah sie, was Torsten zu der Äußerung gebracht hatte: Die Frau hatte im Bauchraum zwei sehr tiefe kreuzförmige Schnitte, die sie anscheinend hatten verbluten lassen.

Günnur atmete tief durch. „Was ist denn hier nur passiert?“, fragte sie mit gedämpfter Stimme. Das sah fast nach einer Art theologisch motiviertem Mord aus – das Kreuz auf dem Bauch, die Lage des Opfers – , als ob jemand ein Zeichen oder einen Anstoß geben wollte, in eine christliche Richtung zu denken. Umso ungewöhnlicher, weil das Opfer eindeutig eine Asiatin war. Chinesin, wie sie bereits beim Eintreffen im Studentenwohnheim erfahren hatten. Als Günnur und Torsten aus dem Auto stiegen, waren bereits zwei Polizisten vor Ort und sie wurden schon am Eingang von aufgeregten Studenten empfangen, die fast allesamt asiatische Züge trugen. „Was ist passiert?“ „Ist was mit Zhang Li?“ „Ist sie verletzt?“ „Ist sie tot?“ „Können wir was machen?“ umschwirrten Günnur die Sprachfetzen der Menschen um sie herum.

„Bleiben Sie erst mal ruhig!“, versuchten die beiden Kollegen auf die besorgten jungen Menschen einzuwirken und sie zurückzuhalten, sodass Günnur und Torsten mit einem Kollegen alleine in den Aufzug steigen konnten.

„Ich komm mal lieber mit hoch, oben ist auch die Hölle los.“, sagte der und zuckte bedauernd mit den Schultern. „Bleibt ja nicht aus. In so einem großen Haus spricht es sich schnell rum, dass hier was passiert ist.“

Als sie im fünften Stock aus dem Fahrstuhl stiegen, bot sich ihnen ein ähnliches Bild wie unten. Eine Traube von Studierenden stand sofort um sie herum und bombardierte sie ähnlich wie unten mit Fragen und Bemerkungen. Ein weiterer Kollege stand an einem provisorisch angebrachten Absperrband, sodass die Studierenden wenigstens nicht direkt zum Appartement der Toten vordringen konnten. Neben ihm saß ein junger Chinese auf dem Boden und weinte.

„Gut, dass Sie kommen!“, raunte der Kollege ihr zu. „Das ist hier ein Taubenschlag, so viele Leute, wie hier wohnen. Und alle kennen die Tote und wollen was wissen. Und er“ – er deutete auf den Mann am Boden – „hat sie gefunden und jetzt natürlich einen Schock weg.“ „Arzt ist benachrichtigt?“ fragte sie. „Kommt in ein paar Minuten“, erwiderte ihr Kollege.

Günnur stellte sich dem weinenden Mann kurz vor, strich ihm über die Schulter und versprach, kurze Zeit später zu ihm zu kommen.

Als sie 20 Minuten später Hannah und Felix von der Spurensicherung benachrichtigt hatte und aus dem Appartement trat, saß er noch genauso da wie vorher und weinte nach wie vor. Der Arzt war noch nicht eingetroffen. Sie hockte sich zu ihm auf den Boden – obwohl das Linoleum weder warm noch sauber aussah – und atmete tief durch.

„Es tut mir leid, dass Sie das als Erster sehen mussten“ sagte sie zu ihm gewandt. „So etwas gehört zu dem Schwersten, was ein Mensch ertragen kann.“ Er sah zu ihr, schluchzte und sagte: „LiLi war die Frau meines besten Freundes HaiPing. Wo ist er nur? Er wird das nicht ertragen, was da passiert ist. Wer macht so was? Er liebt seine Frau so sehr...“ Er wurde wieder von einem Weinanfall geschüttelt.

Aus dem Augenwinkel sah Günnur, dass ein Arzt den Gang entlang kam. Zum Glück. Der junge Mann tat ihr unendlich leid. „Wo ist denn HaiPing?“ fragte sie ihn. „Ich weiß nicht...er hat vielleicht noch Uni. Ich hab ihn schon angeschrieben, dass er nach Hause kommen soll. Das wird er nicht ertragen...“ antwortete der. Er hieß ShenHui. Diese Namen führten schon jetzt dazu, dass Günnur eine leichte Verwirrung in sich spürte. Einmal Hui, einmal Hai, einmal vorne, dann wieder hinten... Die klangen alle so ähnlich. Und sie spürte, dass da noch eine Menge chinesischer Namen auf sie warteten. Sie würden eine Liste führen müssen, um die Namen auseinander halten zu können. Man müsste sich da mal schlau machen, um sich nicht zu blamieren.

Sie sagte dem Arzt, der jetzt neben ihr stand, leise, dass er bitte möglichst bleiben sollte, bis der Ehemann der Toten wiederkäme. Wenn schon der Freund der beiden so heftig reagierte, wie dann erst der Ehemann?

Torsten trat zu ihr und sagte: „Also, ich hab gar nichts gefunden, was nach einer Tatwaffe aussieht. Da müssen dann die Kollegen von der Spusi ran. Wie es scheint, müssen wir hier alle öffentlichen Räume erst mal absperren lassen, also die nächste Zeit kein Küche und kein Gemeinschaftsraum für die Bewohner dieser Etage...“

Er grinste. „Man gut, dass die in ihren Appartements eigene Klos und Duschen haben, sonst würde es hier bald stinken...“ „Na, jetzt mach mal unsere Spusi nicht madig!“, sagte Günnur und stieß ihm in die Seite. „Die werden doch wohl hoffentlich innerhalb kürzester Zeit was rausfinden, bevor hier alle verdrecken oder verhungern!“

Das ständige Gemurmel vor der Absperrung, das sie gar nicht mehr wahrgenommen hatten, wurde lauter, und als Günnur hinsah, bemerkte sie, dass eine Gasse gebildet wurde, durch die ein junger Mann hastete. Die Panik in seinen flackernden Augen war deutlich zu erkennen, als er auf Günnur und Torsten zustürzte und hervorstieß: „Wo ist LiLi? Was ist mit meiner Frau? Ich will zu ihr!“ „Geh da nicht rein!“ schluchzte ShenHui. „Es ist grauenvoll!“ und ein Schwall Chinesisch folgte.

HaiPing schien nicht wirklich zu hören, was ShenHui sagte und ihn auch nicht wirklich wahrzunehmen. Torsten hielt ihn an den Schultern fest. „Sie sind HaiPing?“, fragte er. Dieser nickte und wollte schon in Richtung Appartementtür gehen, als Torsten den Druck auf seine Schultern verstärkte. „Ich weiß nicht, ob das jetzt wirklich so gut ist, wenn Sie da rein gehen.“ versuchte er ihm ruhig zu sagen. „Mit Ihrer Frau ist etwas sehr Schlimmes passiert und ganz bestimmmt ist ihr Anblick jetzt nicht gerade gut für Sie.“

„Ich will sie sehen und ich will wissen, was passiert ist!“, sagte HaiPing heftig und schüttelte Torstens Hand ab. Torsten und Günnur folgten ihm in das Zimmer, in der die tote LiLi lag. HaiPings schreiendes Weinen zu hören war grauenvoll für sie. Die Trauerqualen der Hinterbliebenen am Tatort waren auch für die beiden hartgesottenen Polizeibeamten immer wieder schrecklich zu ertragen und beiden schoss das Wasser sekundenlang in die Augen, als sie HaiPing sanft davon abhalten mussten, sich über seine Frau zu werfen und sie mit Küssen zu bedecken. Er sank vor seiner Frau auf den Boden, schlug die Hände vor die Augen und zitterte am ganzen Körper. Sein Freund ShenHui, der den dreien ins Zimmer gefolgt war, setzte sich neben ihn und nahm ihn fest in die Arme. HaiPing schluchzte etwas auf Chinesisch und ShenHui antwortete ebenfalls auf Chinesisch. Die beiden sahen sich äußerlich sehr ähnlich. Schwarze, glatte, kurz geschnittene Haare und beide trugen eine modische Brille. Günnur fand, dass es nicht einfach war, männliche Asiaten zu unterscheiden. Sie schienen alle ähnliche Gesichtszüge zu haben, hatten eine ähnliche Statur und Größe und wirkten auf sie seltsam alterslos. Es fiel ihr wirklich schwer, markante äußerliche Merkmale zu beschreiben. Wenn sie auch noch Nationalitäten unterscheiden müsste, wäre sie wohl hoffnungslos aufgeschmissen gewesen. Ob nun Chinese, Japaner, Vietnamese, Koreaner oder Thailänder, das verschwomm für sie alles zu einem äußerlichen Einheitsbrei. Ob es den Asiaten mit ihnen als Europäern wohl ähnlich ging? Nicht uninteressant, das herauszufinden im Laufe dieses Falles. Solange sie sich erinnern konnte, war das der erste Fall mit einer chinesischen Toten. In diesem Kulturkreis kannte sie sich überhaupt nicht aus. Mal sehen, was da auf sie zukam.

Die zwei Freunde saßen immer noch auf dem Boden und schluchzten und redeten stoßweise miteinander oder vielleicht auch nebeneinander her. So genau konnte Günnur das nicht beurteilen, da war der Schock und da war das Chinesisch. „Passen Sie auf die beiden auf“, raunte sie dem Arzt zu. „Sie kriegen das hin! Und sagen Sie den beiden, dass ich sie morgen noch einmal kontaktieren werde.“

Der Arzt hob den Daumen und die Augenbrauen. „Denke schon, dass ich das hinkriege, auch wenn es immer wieder Mist ist.“

„Pffhhhh...“, seufzte Günnur tief, als sie mit Torsten das Appartement verließ. Sofort wurden sie auf dem Flur von den hinter der Absperrung stehenden Studierenden umringt. „Was ist passiert?“, „Was ist mit LiLi?“, „Ist sie tot?“, prasselten die Fragen auf sie ein. Günnur atmete tief ein und bevor sie zum Sprechen ansetzen konnte, kam Torsten ihr zuvor: „Ja, leider ist es so, dass Ihre Kommilitonin tot ist.“ In die darauf folgenden Entsetzensausbrüche sagte er etwas lauter: „Bedauerlicherweise müssen wir auf unbestimmte Zeit auch Ihre Gemeinschaftsräume sperren, also den Aufenthaltsraum und die Küche, aber bestimmt sind die anderen Etagen gerne bereit, für Sie etwas zusammenzurücken.“

Es schien, als ob das eh niemand gehört hatte oder hören wollte, denn die nächsten Fragen stürzten schon auf sie ein: „Ist sie umgebracht worden?“ „Was ist mit HaiPing?“ „Ist unter uns ein Mörder?“ „Warum denn LiLi, die keiner Fliege was zu Leide tun konnte?“ „Können wir sie sehen?“

„Wir können momentan noch nichts zu den genauen Todesumständen sagen. Das wird sich aber bestimmt bald ändern, wir arbeiten hart daran.“, beschwichtigte Günnur die Umstehenden.

Im Erdgeschoss mussten sie noch einmal ähnliche Fragen und das gleiche Statement abgeben, bevor sie erleichtert aufatmend ins Auto steigen konnten. „Oh, Torsten, ich brauch jetzt emotionalen Abstand und was zu essen, und zwar NICHT das Kantinenessen! Ich lad dich zu einem Lahmacun ein, einverstanden?“ Natürlich wusste sie, dass Torsten NIEMALS nein sagen würde zu der typisch türkischen Pizza. Torsten konnte man eigentlich mit allem kommen, was essbar war. Ihr gemütlicher beleibter Kollege war da gar nicht wählerisch. „Also, du weißt ja, dass ich Lahmacun gerne esse, da sag ich nicht Nein. Außerdem,“ er grinste tückisch, „es gibt da so einen Schnack über Chinesen und ihr Essverhalten. Der fällt mir gerade ein, passt zur Situation und zu mir: Ein Chinese isst alles, was Flügel hat, außer Flugzeuge und alles, was vier Beine hat, außer einem Tisch.“ Er grinste, Günnur lachte und stieß ihm in die Seite: „Wer weiß, in was du schon so alles reingebissen hast mit deinem Appetit! Und jetzt schmälere mal das türkische Essen nicht so, also mit Tischen und Flugzeugen ist das nun echt nicht vergleichbar!“

Das stimmte, denn in dem kleinen Restaurant im Norden der Stadt, natürlich in Bahnhofsnähe, wie so oft bei den Spezialitätenrestaurants der Einwanderergeneration, gab es das beste Lahmacun der Stadt. Und diese Köstlichkeiten gab es auch noch kostengünstig. Dafür saß man recht karg auf Plastikstühlen an Kunststofftischen, von denen es auch nur fünf gab. Die Atmosphäre glich einem Wartesaal oder einem öffentlichen Büro, aber das war in der Türkei oft so, erklärte Günnur Torsten. „Das beste Essen gibt es meistens in den einfachsten Büdchen. Nur in den großen Städten zählt langsam auch das Innenambiente mehr. Und die hier machen sowieso ihr Hauptgeschäft mit Take away“, erläuterte Günnur, „also die Leute holen sich ihr Essen nach Hause oder kriegen es sogar für die ganz Faulen dorthin geliefert.“

Torsten biss in die weiche gerollte Hefeteigpizza, genoss den guten Geschmack nach Tomaten, Zwiebeln, Knoblauch, Gewürzen und Hackfleisch und spürte die angenehme Schärfe, die sich in seinem Mundraum verteilte. „Ist doch eigentlich schlimm, dass wir nach so grauenvollen Fällen immer schon wieder essen und genießen können, oder?“ fragte er Günnur mit vollem Mund.

„Freu dich doch!“, sagte sie zu ihm. „Das zeigt, dass du nach wie vor eine gesunde Psyche hast, nicht zu unserer lieben Simone musst und in der Lage bist, das Ganze hochprofessionell anzugehen!“ Torsten nickte, schluckte seinen letzten Bissen Lahmacun herunter und wischte sich mit einer Minipapierserviette die vom Tomatenmark leicht geröteten Mundwinkel ab. Simone war ihre hochgeschätzte Polizeipsychologin, die immer mal wieder mit Rat und Tat zur Seite stehen musste, wenn ihnen etwas auf der Seele brannte. „Ablenkung ist immer gut, wie sie so schön zu sagen pflegt.“, ergänzte er. „Aber ich denke, wir müssen mal wieder los. Hannah hat sich gemeldet, die haben was gefunden.“

Wieder am Studentenwohnheim beim Campus im Süden der Stadt angekommen, registrierten die beiden mit Erleichterung, dass sich die Trauben von Studierenden verflüchtigt hatten. Das Studentenwohnheim war ein eher hässlich zu nennender Bau aus den siebziger Jahren, der wie ein großer Klotz wirkte. Günnur zählte zehn Stockwerke und schätzte, dass nach den Briefkästen zu urteilen ungefähr 300 Studentinnen und Studenten dort wohnten. Nicht gerade wenig, was durchaus zur Anonymität beitrug. Umso schöner eigentlich, dass sich so viele Kommilitonen für Zhang Lis Schicksal zu interessieren schienen.

Im fünften Stock angekommen, trafen sie gerade noch auf den Notarzt Dr. Schnellinger, den Günnur bereits von früheren Einsätzen dieser Art kannte. „Wie geht es den beiden?“, fragte sie ihn.

„Naja, ich würde mal sagen, den Umständen entsprechend. Ich habe beiden ein leichtes Beruhigungsmittel gegeben. HaiPing schläft in der Nacht bei ShenHui, weil das Appartement der beiden noch für die Spusi gersperrt ist. Ich finde das auch besser, da ist er nicht allein. Eventuell könnt ihr sogar versuchen, ein erstes Gespräch mit ihm zu führen. Ist im siebten Stock, Nummer 734.“

„Frau Helmer und Herr Beimann sind noch oben, oder?“ fragte Torsten. „Jaja, gehen Sie nur hoch. Die Leiche ist vorhin abtransportiert worden. So gesehen haben Sie da jetzt freie Bahn...“. Er lachte mit einem bitteren Unterton. „O.k., danke, schaun wir mal“, sagte Günnur und sie wandten sich zunächst in Richtung des Appartements der Toten. Dort stand Hannah im Zimmer, in der sie LiLi gefunden hatten.

Für das Appartement hatte Günnur bisher noch keine Augen gehabt. Es war ein Doppelappartement mit einem kleinen Flur und einem kleinen Bad mit Dusche und WC. Die zwei Zimmer hatten die beiden augenscheinlich in ein Schlaf- und das Arbeitszimmer umgewandelt, in dem LiLi gelegen hatte. Alles machte einen blitzsauberen Eindruck und war schlicht, aber geschmackvoll eingerichtet. Das Arbeitszimmer hatte zwei Schreibtische, die gegenüberstehend an die Wände gerückt waren. Die Regale standen voll mit Büchern. Günnur schritt sie langsam ab und ertappte sich dabei, wie sie am liebsten mit der Hand über die Buchrücken gestrichen hätte. Sie liebte Lesen und Bücher und konnte der digitalen Lesewut nach wie vor nichts abgewinnen. Lieber hielt sie ein „analoges Buch“ in der Hand, das sie anfassen und vor allem riechen konnte. Jedes Buch roch anders, fand sie und manchmal dachte sie, dass sie die gängigen Buchverlage sozusagen „erriechen“ konnte. Damit wäre sie gerne schon als Kind bei „Wetten, dass...“ aufgetreten, aber ihre Eltern machten ihr einen Strich durch die Rechnung. Nun hatte sie weder Zeit noch Lust und außerdem war dieser Fernsehdino inzwischen leider eingestellt. Die Buchauswahl war ihr in Bruchteilen von Sekunden klar. Sie sah in einem Regalfach Titel wie den Pschyrembel und Sobotta, was dafür sprach, dass einer der beiden eindeutig Medizin studierte. Gegenüber standen Bücher zur organischen und anorganischen Chemie, der Mortimer und andere Bücher, aus denen man unschwer erkennen konnte, dass hier ein Chemiestudierender wohnte. Ebenfalls sah sie viele chinesische Titel. Denen konnte sie nicht mal interpretativ entnehmen, worum es hier gehen könnte. Diese Schriftzeichen zu lernen musste ein hartes Brot sein, dachte sie anerkennend und fast ehrfürchtig. Kein Wunder, dass viele Chinesen so schlau sind, bei dem, was die lernen müssen, um allein nur richtig lesen und schreiben zu können...

In einem unteren Regal entdeckte sie wieder Bücher auf Deutsch, unter anderem die Bibel, ein Gesangbuch mit weinrotem Einband und mehrere Gebetbücher. Daneben wieder chinesische Bücher. Eins war besonders dick und hatte einen festen schwarzen Einband. Musste wohl die Bibel sein. Seltsam. Sie dachte an die Stellung der Toten zurück. Hieß das, dass die beiden oder einer von ihnen Christen waren? Das musste sie im Gespräch mit HaiPing unbedingt herausbekommen. Warum tötet jemand durch ein Kreuz im Bauch und drapiert dann die Tote in dieser Art und Weise?

Ihr Blick fiel auf den linken Schreibtisch. Dort war eine begonnene Kalligrafie zu sehen, die das Pergament bereits zur Hälfte bedeckte. Schön sah es aus und Günnur war sich sicher, dass ZhangLi daran gearbeitet hatte. Neben der Kalligrafie lag ein kleiner Notizzettel mit einem Spruch auf Deutsch: „Niemals werde ich dir meine Hilfe entziehen, niemals dich im Stich lassen. Josua 1,5.“ Daneben chinesische Schriftzeichen, die den großen sehr ähnelten. Ein stärkender Spruch, fand Günnur. In ihrem Leben an der Schule hatte sie regelmäßig am evangelischen Religionsunterricht teilgenommen, weil es keine Islamkunde gab. „Ist schade, aber Religionsunterricht schadet nie, du gehst da hin!“, hatte ihr Baba, ihr Vater, gesagt. Es hatte ihr auch in der Tat nie geschadet. Sie bekam Einblicke in eine andere Religion, die sehr interessant und hilfreich, manchmal auch widersprüchlich zum Islam waren. Immer mal wieder gab es Diskussionen mit Lehrern und Mitschülern, weil Günnur, die alles immer ganz genau wissen wollte, bestimmte Dinge nicht verstand oder hinterfragte. Insgesamt hatte der Religionsunterricht dazu beigetragen, dass Günnur merkte, wie viele Aspekte der Religionen sich ähnelten. Außerdem brachte es sie dazu, sich selbstständig über ihre eigene Religion zu informieren, sodass sie sich nach einiger Zeit dort recht zuhause fühlte. Das gefiel vor allem ihrem Baba sehr, der sie immer wieder ermunterte, sich mit dem Islam zu beschäftigen, weil er selbst sehr gläubig war und eine tolerante liberale Einstellung zum Glauben hatte.

Der Spruch würde Baba auch gefallen, dachte sie, aber vielleicht kannte er ihn auch, denn er war im Alten Testament, aus dem das Buch Josua stammte, durchaus belesen. Nur schade, dass ZhangLi in dem Moment des Todes nun doch von Gott im Stich gelassen wurde. Aber auch das war das Mysterium des Glaubens. Nur weil man glaubte musste ja nicht das gesamte Leben glatt gehen. Glaube war leider keine automatische Lebensversicherung. Aber er tat gut, das konnte Günnur aus eigener Erfahrung sagen.

„Hannah, habt ihr schon irgendwas Brauchbares rausgefunden?“, fragte Torsten, der sich im Schlafzimmer der beiden umgesehen hatte, seine Kollegin. „Ja, wie man’s nimmt...“, sagte die mit schiefem Blick. „Dass die Wunde am Bauch die Todesursache zu sein scheint, war mir eigentlich klar, obwohl das natürlich die Pathologie bestätigen muss. Aber sie hatte auch am Hinterkopf eine dicke Beule. Vielleicht ist sie mit einem stumpfen Gegenstand zunächst bewusstlos geschlagen worden, bevor ihr die Wunde im Bauchraum zugefügt wurde. Aber auch das soll der Rechtsmediziner untersuchen. Dann wissen wir Genaueres und kommen aus dem Bereich der Spekulationen raus.“ Hannah deutete auf die Bücher. „Vorstellbar ist etwa ein dickes Buch.“ Ihr Blick fiel auf den Pschyrembel, den sie aus dem Regal zog. „Wenn du etwa mit dem heftig zuhaust, beförderst du jemanden in Millisekunden in die Bewusstlosigkeit. Das Problem ist nur, dass hier in diesem Appartement und am gesamten Inventar -zig verschiedene Fingerabdrücke und Spuren zu finden sind. Das hier war wohl ein sehr offenes Haus, in dem sich viele Menschen bewegt haben. So kann es im Prinzip jeder gewesen sein, der seine Spuren hier hinterlassen hat. Und es wird noch schlimmer, aber da gehen wir mal zu Felix in die Küche.“

Günnur zog die Augenbrauen hoch. Es war immer das Gleiche mit ihren Ermittlungen, sie gleichen leider nur zu oft einem Puzzle mit mindestens 10.000 Teilen. Das schien wieder so eins zu sein, an dem sie im übertragenen Sinne wieder mit dem gesamten Team um den Tisch mit dem Riesenpuzzle sitzen würden. Nur gut, dass sie Puzzles schon immer gerne mochte.

Sie folgten Hannah in die Gemeinschaftsküche und grüßten Felix, der sich über eine Schublade beugte und in ihr kramte. Hier zeigte sich, dass das Studentenwohnheim für eine andere Zeit gebaut worden war. In den siebziger Jahren waren noch keine Küchen in den Zimmern angedacht. Heute gehörte das eigentlich zum Standard der Wohnheime. Hier konnten sie froh sein, dass immerhin jedes Zweierappartement ein eigenes Bad und ein eigenes WC hatte - war beim Bau wahrscheinlich topmodern gewesen. Das war auch längst keine Selbstverständlichkeit, wie sie von ihrem Mann Tobias wusste, der in einem Wohnheim aus den sechziger Jahren ohne diesen Komfort untergebracht war. Aber auch das war schon wieder Jahre her.

In der Küche sah es so aus, wie es jedem Klischee einer Wohnheimküche entsprach. Zuständig für das Putzen und Aufräumen war offensichtlich wie immer keiner, trotz eines Putzplanes, der wie anklagend mit Eselsohren an einem Schrank hing. Dementsprechend klebten die Herdplatten unter einer mehr oder weniger braunen Schicht. Die Griffe der Schränke klebten ebenfalls und das Geschirr machte keinen sehr vertrauenerweckenden Eindruck. Günnur schluckte. Hier hätte sie als Bewohnerin entweder ihr eigenes Geschirr in ihrem Zimmer gehabt oder vor jedem Kochen und Essen eine Abwaschorgie eingeleitet. Ähnlich sahen die Sitzecken aus, die vielleicht mal Gemütlichkeit ausgestrahlt hatten. Heute strahlten sie mehr Unhygiene und Staub aus. Die Stühle waren eine bunt zusammengewürfelte Mischung aus diversen Modellen und das Sofa schrie mit seinen Kissen förmlich: „Mach mich sauber, ich stinke und bin dreckig!!!“ Die Tische waren zerkratzt und verklebt. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass hier ernsthaft Leute mit Appetit essen würden. Aber Studenten waren vielleicht hartgesottener als sie dachte.

Hannah deutete auf einen Gegenstand, der auf der Arbeitsfläche lag. „Wir sind uns ziemlich sicher, dass an diesem Messer Reste von Blutspuren zu sehen sind.“, sagte sie zu Günnur und hob das Messer hoch. Die zog die Nase kraus und schaute sich das Messer mit zusammengekniffenen Augen genau an – was gar nicht so einfach war, denn ohne ihre geliebte Lesebrille sah sie nur eine verschwommene Oberfläche. Nix mit irgendwelchen Blutspuren. Aber sie hatte einfach keine Lust, jetzt auch noch bei einer Tatwaffenbetrachtung am Tatort ihre Brille zu zücken und verließ sich zunächst mal auf die Beobachtungen der Kollegen. Das würde ja noch weiter untersucht werden und die beiden waren kompetent genug, wesentliche Dinge zu erkennen. „Naaa, soll ich dir mal wieder mein Nasenfahrrad leihen?“, frotzelte Torsten und hielt ihr seine Brille vor das Gesicht. „Ach, du....“, wollte sie gerade ansetzen, aber Torsten drohte ihr spielerisch mit dem Entzug der Brille, woraufhin sie beherzt zugriff. Aha. Schon besser und schärfer.

So ein Messer hatte sie bisher nur beim Schlachter gesehen. Der benutzte das zum Durchhacken der Lammkeulen, die sie manchmal kaufte. Es sah aus wie ein Hackbeil mit einem Holzgriff. Die Klinge war relativ kurz, weniger als 20 Zentimeter, schätzte sie. Dafür war es ungeheuer breit, fast 10 Zentimeter. Rechts oben am Schaft waren in der Tat ganz hellbraune Flecken zu sehen, durch Torstens Brille sogar richtig scharf, wie sie begeistert feststellte. Sie sahen eher aus wie Spritzer. Bei der Hygiene der Küche wäre Günnur das komplett als Unsauberkeit durchgegangen. Aber dazu hatte sie ja aufmerksame Kollegen wie Felix und Hannah. Für sie sah es aus wie ein oberflächlich dreckig gebliebener Abwasch nach einer gemeinsamen Kochaktion. Sie schluckte und sah die Salmonellen aus allen Ecken und Schubladen nahezu auf sich zu springen. Besser, hier nie eine Brille zu tragen oder fast blind zu sein. Sie schüttelte sich innerlich, gab Torsten seine Brille zurück und war froh, von einem Blick in die Kühlschränke verschont zu bleiben.

„Ist das ein Schlachtermesser oder was? Sieht ja wirklich aus wie ein Mordinstrument.“, fragte Torsten die beiden. „Das ist ein ganz normales gängiges chinesisches Küchenmesser“ erläuterte Felix. „Kannst du googlen, findest du sofort. Ich denke, dass das in dieser Küche zur normalen Ausstattung gehört, weil viele chinesische Studierende hier wohnen. Macht unsere Arbeit natürlich auch nicht leichter, so ein Gemeinschaftsmesser, das jeden Tag wahrscheinlich durch Dutzende von Händen geht und jeder hinterlässt seine Spuren darauf. Aber schauen wir mal, was sich machen lässt. Ich hab noch ein anderes normales deutsches Messer gefunden, bei dem wir uns nicht sicher sind, ob das wirklich Blut ist, was dran klebt. Das nehmen wir auch mit.“ Er zog zwei Plastiktüten aus seiner Tasche, beschriftete sie und steckte beide Messer hinein.

„Habt ihr noch was rausgefunden?“, fragte Günnur. „Nee, das waren die zwei wichtigsten Sachen“, antwortete Hannah. „Wir sperren hier bis morgen erst mal alles vorsichtshalber ab. Bis dahin wissen wir Genaueres. Das Appartement bleibt sowieso gesperrt, bis wir wissen, wie genau ZhangLi gestorben ist. Falls sich eines der beiden Messer als Tatwaffe herausstellt, kann der Betrieb hier normal weitergehen. Naja...“, sie schaute sich um und rümpfte die Nase „was man sich so als normal vorstellt. Ein kulinarischer Genuss wäre mir bei diesem appetitlichen Ambiente hier jedenfalls nicht vergönnt.“, sagte sie sarkastisch und traf damit den Nagel auf den Kopf. Gut, dachte Günnur, dass sie schon hygienisch und lecker gegessen hatten.

„Torsten und ich gehen nochmal zu HaiPing. Der Arzt meinte, dass er in Maßen schon vernehmungsfähig ist.“, sagte sie zu Hannah und Felix.

„Ja, macht mal, wir sehen uns später, wir sind auch bald fertig. Ich mach hier noch einen letzten Rundgang.“, erwiderte Felix.

Die zwei Stockwerke bis in die siebte Etage erledigten sie ohne Fahrstuhl, was Torsten zum Schnaufen brachte. „Naaaa, länger nicht mehr gecacht oder was?“, frotzelte Günnur. „Als ob ich da meine physische Kondition trainieren würde!“, schnaufte Torsten. „Die Kinder haben keinen Bock mehr auf längere Wandercachertouren, also machen wir nur die Drive-ins bei denen man direkt an die Dose ranfahren kann. Nix mit Training für Papa...“

„Tja“, brüstete sich Günnur - „meine Löwenfamilie ist ganz scharf auf längere Wandercachertouren. Gerade letztes Wochenende sind wir wieder zwölf Kilometer mit 24 Dosen abgelaufen. Macht richtig Spaß, Torsten. Wir sind dir ewig dankbar für den Tipp!“

Vor einigen Monaten hatten die beiden einen Fall eines toten Cachers zu bearbeiten, bei dem Günnur durch Torsten, der schon lange Geocaching als Hobby hatte, in die Geheimnisse des Cachens eingeweiht wurde und gleichzeitig ihre Familie angesteckt hatte. Inzwischen waren sie bei gutem Wetter richtig oft unterwegs. Ihren drei Kindern Serdar, Lale und Beyza machte es ungeheuren Spaß, die versteckten Dosen mit ihrem GPS zu suchen. Tobias hatte als Stubenhocker auch Gefallen daran gefunden und sie machte gute Miene zum bösen Spiel, denn eigentlich war sie durch ihren Beruf oft genug draußen und zog ein gepflegtes Daheimsein einer Wandertour mit entsprechendem Outfit vor. Aber die Freude, die sie in den Gesichtern ihrer Kinder sah, war durch nichts zu ersetzen – und wer weiß, wie lange es noch diese tollen gemeinsamen Ausflüge als komplette Familie geben würde. Irgendwann würde es den Kindern in jedem Fall zu blöd werden, mit den eigenen Eltern durch den Wald zu ziehen und Plastikdosen zu suchen. Die Pubertät nahte mit Riesenschritten und war durch nichts aufzuhalten, wie jedes Elternteil wusste. Also sollte man diese Zeit einfach genießen.

Inzwischen waren sie vor dem Appartement 734 angekommen und Torsten klopfte. ShenHui öffnete mit kleinen roten Augen die Tür und bat die beiden herein. Er wohnte im linken Zimmer. HaiPing saß, ebenfalls mit roten dicken Augen und trübem Blick auf ShenHuis Bett. Der bot den beiden die einzigen beiden Stühle im Zimmer als Sitzgelegenheit an. „Möchten Sie einen Tee?“, fragte er. Als beide bejahten, bekamen sie in einer Porzellanschale ein paar grünliche große Teeblätter und ShenHui goss aus einer überdimensionalen Aluminiumthermoskanne heißes Wasser darüber. Günnur konnte die Schale ohne Henkel kaum festhalten, so heiß war sie. Sie stellte sie sich einfach auf die Oberschenkel, hielt sie am oberen Rand locker fest und ließ den Tee ziehen - beziehungsweise abkühlen.

„Wir wollten einfach noch einmal schauen, wie es Ihnen geht und ob Sie vielleicht schon bereit sind, uns ein paar Fragen zu beantworten, denn je eher wir mit Ihnen sprechen, umso größer sind die Chancen, dass wir uns einer Aufklärung nähern.“, sagte Günnur zu HaiPing gewandt. „Ja, geht schon“, sagte der tonlos. „Ich will auch, dass der Mord schnell aufgeklärt wird.“

„Sie studieren Medizin?“, fragte Torsten. „Nein, Chemie“, antwortete HaiPing. „LiLi hat Medizin studiert. Das war immer ihr Herzenswunsch gewesen, seit ihrer Kindheit. Ihre Mutter ist an einem Hirntumor gestorben, als sie vier Jahre alt war und seitdem wollte sie Ärztin werden, um den Menschen zu helfen, damit das weniger oft passiert.“ Er wischte sich über die Augen. Dabei bemerkte Günnur, dass er in der anderen Hand ein winzig kleines Holzkreuz hielt, eine Art Handschmeichler, das er im folgenden Gespräch wie meditativ in der Hand drehte. „Wir haben uns erst in Deutschland kennen gelernt. Ich bin seit vier Jahren hier und LiLi seit drei. Wir haben beide in China angefangen mit dem Studium und sind dann nach Deutschland gewechselt. Vor einem Jahr haben wir hier geheiratet. Wir wollten nach dem Studium nach China zurück, um dort zu arbeiten.“ Er stützte seinen Kopf in die Hände. „Und um dort zu leben.“ Er fing bitterlich an zu weinen. „LiLi war schwanger im dritten Monat. Wir wussten das erst seit fünf Wochen.“ ShenHui nahm ihn in die Arme. Günnur spürte einen leichten Druck in der Magengegend. Wie furchtbar! Da sind auf einen Schlag wissend oder unwissend zwei Menschenleben geraubt worden und das eine hatte nicht einmal den Hauch einer Chance, das Leben zu erleben. Auch Torsten sah sehr betroffen aus. „Das tut uns doppelt Leid.“, sagte er leise. Das musste auch er erst mal verdauen.

Nach einer endlos wirkenden Schweigezeit, in der HaiPing leise schluchzte, fasste sich Günnur ein Herz und fragte: „Wissen Sie, Herr HaiPing oder Herr ShenHui, ob LiLi irgendwelche Feinde hatte?“

ShenHui lächelte fein, bevor er sagte: „Ähm, also Herr Hai und Herr Shen, denn das sind unsere Nachnamen, Ping und Hui sind unsere Vornamen. Im Chinesischen steht immer der Nachname vorne und man sagt im Normalfall auch beide Namen, wenn man jemanden ruft. Aber wenn man es im Deutschen korrekt machen will, sagt man natürlich nur die Nachnamen.“

„Dann ist also Zhang der Nachname und Li der Vorname?“, fragte Torsten.

„Ja, genau“, sagte ShenHui. „Und LiLi ist sozusagen der Kosename, mit dem sie schon als Kind von ihren Eltern gerufen wurde und natürlich auch hier von ihren engen Freunden oder auch den Verwandten in China. Aber einige haben sie hier auch ZhangLi genannt. Das geht alles. Ist eigentlich ganz einfach, auch wenn es sich vielleicht jetzt nicht so anhört.“ Er lächelte wieder leicht. „Aber zurück zu Ihrer Frage. Ich kann mir nicht vorstellen, dass LiLi hier irgendwelche Feinde hatte. Sie war einfach ein Sonnenschein und hat sich mit jedem verstanden. Allerdings...“ er zögerte etwas, „vielleicht hat sie sich gerade dadurch Feinde gemacht.“

„Das müssen Sie uns genauer erklären, Herr Shen – war doch richtig, oder?“, fragte Torsten nochmal nach und als der bestätigend nickte, antwortete HaiPing, der vorher tief durchatmete und die letzten Schluchzer unterdrückte: „Ja, Sie müssen wissen, dass LiLi sehr gläubig war. Sie stammt aus einer Familie, die seit Generationen katholisch ist. Sie haben ihren Glauben immer praktiziert, auch im Geheimen. Das war in Zeiten der Kulturrevolution und auch danach sehr schwer. Jetzt ist es viel leichter, offen gläubig zu sein in China. Aber das hat sich in bestimmten Kreisen hier in Deutschland wohl noch nicht herumgesprochen...“. Sein Gesicht verdunkelte sich.

„Was heißt das?“, fragte Günnur, neugierig geworden. Sie nahm einen Schluck des Tees, der inzwischen eine annehmbare Trink- und Festhaltetemperatur angenommen hatte. Er schmeckte sehr angenehm nach Jasmin. Sie musste nachher mal fragen, wo ChenHui den kaufte. Wäre mal eine gesunde und leckere Alternative zu ihrem ständigen türkischen Tee, den natürlich alle in der Familie gerne tranken, aber Eintönigkeit konnte auch langweilig werden.

„Es gibt hier eine chinesische Community, weil wirklich viele Chinesen an der Uni studieren.“, erläuterte HaiPing. „Die meisten sind atheistisch, einige sind buddhistisch, wenige Christen. Es gibt aber eben auch die, die atheistisch UND kommunistisch sind und das auch mehr oder weniger offen zeigen. Ich weiß nicht genau, wie sie ihren Aufenthalt hier finanzieren. Bei vielen Kommilitonen zahlen das die Eltern. Es gibt glücklicherweise eine Menge Stipendien. Wir haben zum Beispiel eins vom DAAD, also hart erarbeitet durch gute Leistungen. Aber da gibt’s noch andere Quellen und darüber wird geschwiegen. Nur wenn jemand wie LiLi offen zeigt, was sie denkt und vor allem glaubt, passt das anscheinend nicht allen. Was weiß ich, welche Gründe sie in dieses intolerante Verhalten drängen.“

„Können Sie noch konkreter werden?“, bohrte Torsten nach. HaiPing und ShenHui wechselten einen Blick. „Also,“, hob ShenHui an, „ich bin atheistisch, aber absolut tolerant allen Menschen gegenüber, die eine Religion, welche auch immer, ausüben. Deshalb habe ich auch überhaupt kein Problem mit dem Glauben von meinen Freunden, im Gegenteil, ich rede und diskutiere gerne mit ihnen und bin immer wieder fasziniert, manchmal auch neidisch auf diesen festen Glauben. Ich kann auch verstehen, dass Ping sich durch LiLis Vorbild überzeugen ließ, sich taufen zu lassen.“

Ein Spätgetaufter, schoss es Günnur durch den Kopf. Leuten, die konvertierten oder einen anderen Glauben annahmen oder vom Atheisten zum Gläubigen mutierten, stand sie bis zu ihren eigenen Erfahrungen immer etwas skeptisch gegenüber. Oft wurden sie dann extrem gläubig. Außerdem hatte sie den Standpunkt, dass Glaube auch immer etwas mit der häuslichen Erziehung zu tun hatte. Wenn man aus einer gläubigen Familie stammte, war es eigentlich egal, welchen Glauben man hatte, von daher gesehen war ein Glaubenswechsel ihrer Ansicht nach überflüssig – denn man wuchs ja in den Traditionen und Riten seines eigenen Glaubens auf. Das war das kulturell-religiöse Gerüst, das man nicht abbauen sollte. So sah sie es, aber dann verlangten ihre Eltern, dass Tobias vor ihrer Heirat Moslem werden sollte. Sie selbst fand das komplett schwachsinnig, beugte sich aber dem absoluten Willen ihrer Eltern, die damit argumentierten, dass eine Muslima angeblich nicht von einem Christen geheiratet werden könnte, denn das wäre gegen das islamische Recht, das die Frau im Fall einer Scheidung oder des Todes des Mannes schützen würde. Sie fand nach wie vor, dass das völliger Schwachsinn war. Sie würde immer selbst für sich sorgen können, das wusste sie und das wussten auch ihre Eltern. Zum Glück war dieses Verbot auch im Islam inzwischen Auslegungssache. Da es aber genügend Schwierigkeiten vor ihrer Eheschließung gegeben hatte, hatte sie keine Kraft mehr, sich in diesem Punkt gegen ihre Eltern aufzulehnen. Verwunderlicherweise hatte Tobias, der eigentlich nur noch auf dem Papier evangelisch war, sich immer eingehender mit dem islamischen Glauben und auch dem Glauben an sich beschäftigt, mit ihr geredet und diskutiert, aber auch mit anderen Moslems und war tatsächlich ein überzeugter Konvertit geworden. Aber eben nicht zu überzeugt, sondern nach wie vor offen und tolerant allem gegenüber. Das gefiel ihr.

„Ich weiß nicht, warum das so ist, aber es gibt nach wie vor Leute in der chinesischen Gesellschaft, die große Vorbehalte gegenüber Glauben jeglicher Art haben.“ , ergänzte HaiPing. „Vor allem gegenüber Christen. Das hat eine historische Dimension. Seit Jahrhunderten gibt es Christen in China, aber deren Religionsausübung wurde vor allem in der Zeit zwischen 1949 und der Kulturrevolution massiv unterdrückt. Jetzt ist das viel besser, aber Sie wissen ja...“, er sah Günnur und Torsten in die Augen, „viele Vorbehalte und Vorurteile halten sich über Generationen. Das Misstrauen, das dort unter dem Deckmäntelchen des Glaubens und der Kirche irgendwelche okkulte Riten gepflegt werden, sektenartige Strukturen herrschen oder sogar Verbrechen begangen werden ist nach wie vor bei vielen groß. Man glaubt einfach nicht, dass der Glaube an Gott reicht, um sich zu versammeln und daraus Kraft zu schöpfen. Man denkt, da steckt etwas anderes dahinter. So erklären sich immer wieder Durchsuchungen, Verhaftungen, Landenteignungen und Einkassieren von Vermögen von Gemeindemitgliedern. Nichtsdestotrotz hat die Kirche seit Jahren einen enormen Zulauf in China.“ Er lächelte leicht. „Und das läuft eben oft durch positive Vorbilder – wie bei mir und LiLi.“

„Das mit den Sekten stimmt übrigens manchmal“ ergänzte ShenHui. „Schwarze Schafe gibt es ja leider überall auf der Welt, auch in Sachen Glauben. Bei mir zu Hause in meinem Dorf gibt es eine evangelisch freikirchliche Gemeinde, die ist total abhängig von ihrem sogenannten Pfarrer gewesen, gab ihm all ihr sauer erspartes Geld und der machte sich damit ein gutes Leben. Letztes Jahr ist er aufgeflogen und im Gefängnis gelandet. Das ist natürlich Wasser auf den Mühlen der Atheisten.“

Torsten hatte aufmerksam zugehört und fand das alles zwar hochinteressant, wollte aber langsam auf den Punkt kommen. „Was ist denn nur vorgefallen, dass Sie denken, dass LiLi Feinde haben könnte aus dem Bereich der, ich will sie mal nennen, kommunistischen Atheisten?“

„Naja, sie war Sprecherin der katholischen Hochschulgemeinde hier“, sagte HaiPing. „Dadurch bedingt stand sie immer ein wenig mehr in der Öffentlichkeit als jeder andere. Lesen Sie mal so einige Bemerkungen in den sozialen Netzwerken und in ihren Mails“, fuhr er in bitterem Ton fort. „Das war Mobbing und Diffamierung, was da abging. Meistens auf Chinesisch, aber oft auch auf Deutsch. Manches konnten wir rückverfolgen, einiges war aber auch anonym. Das machte die ohnehin schon zeitraubende Arbeit nicht gerade leicht für sie.“ Er ergänzte leise: „Eigentlich wollte LiLi auch angesichts der Schwangerschaft von dem Posten als Sprecherin zurücktreten. Aber dazu kam es dann ja nicht mehr...“ Er knetete sein Holzkreuz heftig.

Torsten fragte HaiPing nach LiLis Handy und ihren Passwörtern. Da gab es wohl einiges, was zu recherchieren war. Das Handy hatte Hannah schon mitgenommen, wie HaiPing ihr sagte. „Können Sie uns denn einige Leute sagen, die besonders schlimm waren?“ Wieder tauschten HaiPing und ShenHui einen Blick. „Ja, da waren besonders YingYing und XiaoLi, die haben richtig gehetzt. XiaoLi wohnt auch auf unserer Etage, Nummer 534“, sagte HaiPing.

Günnur musste sofort an das chinesische Messer in der Gemeinschaftsküche denken. Wäre ja in greifbarer Nähe gewesen. Dem jungen Mann mussten sie noch einen Besuch abstatten.

„Und YingYing? Wo wohnt die?“, fragte sie. „Die wohnt in einer WG in der Stadt, ich glaube in der Oststadt, so genau weiß ich das nicht“, antwortete HaiPing. „Das kriegen wir raus“, sagte Torsten. „Aber wo wir schon mal dabei sind, können Sie uns bitte alle relevanten Namen mal aufschreiben? Aussprechen kann ich die ja jetzt, aber ich glaube, geschrieben sieht das noch etwas anders aus, oder?“ Er grinste schief.

Seine Befürchtung stellte sich als richtig heraus. „Dschang“ schrieb man „Zhang“, „Sjao“ schrieb man „Xiao“. Alles andere war einigermaßen erträglich in der Lesbarkeit. „Auch nicht schlimmer als Türkisch, oder?“, frotzelte Torsten in Richtung Günnur, die das mit einem „Pfff“ kommentierte. „ Aber dass Sie mir hier bloß nicht mit chinesischen Schriftzeichen kommen“ drohte er den beiden spielerisch. „Da hört mein Lesespaß komplett auf!“ „Nein, keine Angst, das ist mit den 26 Buchstaben so ganz gut lesbar“, lächelte ShenHui. „Allerdings ist natürlich vieles auf LiLis Handy auf Chinesisch...“, ergänzte er mit gerunzelter Stirn.

„Macht nichts, für so was haben wir Dolmetscher“, antwortete Günnur. Sie würde sich zwar schlau fragen müssen, da sie ja noch nie einen chinesischen Fall hatten. Aber die Kontaktliste der Dolmetscher in fast allen erdenklichen Sprachen wurde regelmäßig aktualisiert. Außerdem gab es ja auch für schnelle Recherchen die Internetübersetzungsmöglichkeiten, die sie durchaus auch als ersten Notnagel nutzten, wenn es notwendig war.

„Woher kommen Sie eigentlich aus China?“, fragte sie HaiPing zum Abschied. „Aus einem Dorf in der Nähe von Suzhou“, antwortete er. Günnur guckte leicht irritiert. Leider hatte sie keinen blassen Schimmer von der Geographie Chinas. Erdkunde war für sie nicht gerade das Vorteilsfach gewesen, anders als bei ihrem Mann, der als Geograph an der Uni arbeitete. War klar, was heute abendfüllendes Programm werden sollte. HaiPing hatte ihren Blick bemerkt und schob lächelnd hinterher: „Suzhou ist eine Stadt in der Nähe von Shanghai und ist in China und inzwischen auch im Ausland sehr bekannt für seine Gärten. Jedes Jahr kommen wirklich viele Touristen. LiLi stammt direkt von dort.“ „Und ich komm ganz einfach aus Peking. Leicht zu merken.“, sagte ShenHui zum Schluss.

Als sie auf dem Flur standen, kamen Stimmen und Gelächter aus der Richtung der Gemeinschaftsräume. „Also, ich weiß nicht, wie es dir geht, Torsten, aber es juckt mich in den Fingern. Ich muss einfach mal um die Ecke schauen, wie es so im Normalbetrieb in diesen Räumen aussieht“, sagte Günnur und schlug schon den Weg dorthin ein. Sie warfen einen längeren Blick um die Ecke. Die Räumlichkeiten waren identisch mit denen aus der fünften Etage, nur hier pulsierte das studentische Leben geradezu. An den drei Herden standen insgesamt sechs Personen, die sich alle mehr oder weniger über das zu Kochende oder bereits Gekochte beugten und schnippelten oder in Töpfen und Pfannen rührten. Auch hier wirkte alles ähnlich schäbig oder dreckig wie unten. In der Sitzecke saßen bereits vier junge Leute und aßen eine undefinierbare Masse von ihren Tellern, während sie redeten und lachten und sie freundlich grüßten. „Ist wohl sowas wie Risibisi oder Ravioli, kenn ich noch von damals“, raunte Torsten ihr etwas angeekelt zu, der sich mit leichtem Schaudern an seine eigene recht schmale Studentenkost erinnerte. „Nee, ist eine vegane Gemüsepfanne mit Tofu, schmeckt super“, antwortete eine junge Frau schlagfertig, die Torstens Gemurmel wohl gehört hatte. Der wurde etwas rosa und wünschte allen einen guten Appetit. Günnur schloss sich dem an. Das „Danke“ erscholl auch vom Herd und ließ in beiden einen den positiven Eindruck eines freundlichen Miteinanders zurück.

„Naja. Der Miniausflug hat sich ja durchaus gelohnt.“, sagte Torsten, als sie gemeinsam wieder in den fünften Stock gingen. „Hat sich wohl doch einiges getan bei den Studierenden von heute, was Kochkünste angeht im Vergleich zu mir früher. Ich wusste perfekt, wie man eine Dose aufzwickt oder sich in die Mensaschlange anstellt.“ Günnur lachte laut. „Männer und Kochen, da bist du wohl ein ganz schlechtes Beispiel, oder? Tobias hat mich schon immer richtig gut bekocht. Hab ich wohl das große Los gezogen!“ „Aber nur, was das Kochen angeht!“, sagte Torsten im Brustton der Überzeugung und grinste diebisch. Günnur machte eine wegwerfende Handbewegung – sie wusste natürlich nur zu gut, was für ein toller Ehemann Torsten war, der sagte: „Übrigens, Thema China: Peking krieg ich gerade noch so hin. Aber ansonsten ist China für mich ein Buch mit sieben Siegeln. Kommt wohl auch noch aus der Zeit, des eisernen Vorhangs. Da war man ja als Westler so einigem an Vorbehalten aus höheren Ebenen inklusive Medien ausgesetzt. War schwer, sich dem zu widersetzen. Meine Eltern haben mir immer eingeimpft, dass diese Kommunisten alle unsere Feinde sind. Da hat die Westpropaganda ganze Arbeit geleistet. Man, war ich nach dem Mauerfall erstaunt, dass da in der DDR auch Leute lebten, die zufrieden waren!“ Er grinste. „Inzwischen zählen so einige total nette sogenannte Ossis zu unserem Freundeskreis. Gut, dass diese Zeit des Kalten Krieges vorbei ist!“ „Ja, jetzt musst du nur noch deinen Freundeskreis in Richtung China erweitern, um komplett global zu sein, Torsten“, frotzelte Günnur, als sie auf dem Flur in Richtung des Appartements 534 gingen. „Och, die Osterweiterung, naja, besser Südosterweiterung habe ich durch dich doch ganz gut abgedeckt, meine Liebe“, konterte der und fing wieder mal einen Seitenknuff seiner Lieblingskollegin ein. Die klopfte und ein eindeutiger Nichtchinese öffnete ihr die Tür. Laut Klingelschild musste das David Mahnkopf sein. „Ja?“, fragte der. Günnur stellte sich und Torsten vor. „Wir wollen eigentlich zu XiaoLi“, sagte sie dann. „Der ist nicht da, wohl noch in der Uni“, informierte David sie. Günnur drückte ihm ihre Visitenkarte in die Hand und bat ihn, XiaoLi auszurichten, dass er sich mit ihnen in Verbindung setzten solle.

„Hat eigentlich eine Befragung der Etagenbewohner stattgefunden?“, fragte sie Torsten auf dem Weg zum Auto. „Ja, negativ bisher“, antwortete Torsten. „Haben die Kollegen schon heute Morgen gemacht. Es waren nicht alle zu Hause und die, die sie erwischt haben, haben weder was gesehen noch gehört. Die restlichen werden, denke ich, heute noch oder morgen befragt. Aber ehrlich gesagt“, er runzelte die Stirn. „viel erhoffe ich mir davon nicht. Erstens sind die Zimmer durch die äußere Appartementtür richtig gut isoliert, da hätte ZhangLi schon laut kreischen müssen und ich denke, dass sie dazu gar nicht gekommen ist, wenn die Theorie mit dem Buch stimmt. Zweitens sind hier so viele „Fremde“ zu Besuch, dass der eine oder andere gar nicht aufgefallen wäre – zudem der Täter oder die Täterin vielleicht gar keine Fremden sind und demnach überhaupt nicht aufgefallen wären.“


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