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Borowski

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Eine heftige Brise fegte die Straßen und peitschte den Regen vor sich her. Nass bis auf die Knochen erreichte Schroeder das Tejo, vertrautes Eiland in aufgewühltem Meer. Luis rauchte und grinste. Schroeder verlangte einen Capataz, den preiswerten Rotwein des Hauses.

„Wie könnt ihr Portugiesen eigentlich so einen dünnen Wein machen...“ fragte er Luis, um den Ärger über seine Nässe ein Ventil zu geben.

„Na ja“, Luis grinste immer noch, „du leistest dir ja keinen besseren!“

„Du hast gut reden, weißt du, was ich letzten Monat eingenommen habe?“, Schroeder erhob die übliche Klagemelodie. Berichtete von den aussichtslosen Stellenangeboten, von seiner Arbeit mit Ausländern, die keinen Pfennig einbrachte.

„Du hast es geschafft“, er zeigte auf Luis, „hast ‘ne Kneipe und brauchst nicht bei euch da unten am Tejo Wassermelonen pflanzen...“

„Hab‘ ich nie gemacht, ich war Stierkämpfer,“ und Luis streifte seinen T-Shirt Ärmel hoch. Die Narbe sah aus wie ein dicker, weißer Wurm.

So ging das Geplänkel über den Tresen hin und her. Schroeder war an diesem Sautag der einzige Gast. Bei dem Wetter saß alle Welt wahrscheinlich vor dem Fernseher, denn gerade lief wieder eines dieser hoffnungslosen Hertha Spiele. Für Schroeder waren diese Kneipenaufenthalte nicht das Non plus Ultra, immerhin kam er hier auf andere Gedanken.

Die Gedanken an einen Job. Es wurde eng, das merkte er. Schon musste er sich die verbilligten Kinotage aussuchen, wenn er einen Film sehen wollte. Zeitung las er nur noch im Lesesaal der Bibliothek. Und mit dem Rest der kubanischen Zigarren aus seinem Umzugsgut musste er eisern haushalten. Bald würde er in der U-Bahn Schwarzfahren. Es fehlte einfach an Geld. Mit jedem Euro, den er von seinen Ersparnissen abzog, kam das Verfallsdatum seiner Existenz näher.

Dann kam ihm die Idee. Frührente! Hatte er nicht gehört, dass man mit sechzig Rente beantragen konnte? Das war nicht mehr lange hin. Schroeder schüttelte sich beim Gedanken an ein Rentnerdasein, denn das war für ihn gleichbedeutend mit endgültigem Alter und Abschied von Reiseplänen. Er beantragte einen Termin bei der Bundesversicherungsanstalt. Sämtliche Nachweise und Unterlagen über seine Versicherungsbeiträge hatte er vor Jahren, nachdem er den letzten Angestelltenjob geschmissen hatte, bei der Behörde eingereicht. Die hatten alles im Computer.

Der Termin kam vier Wochen später. Schroeder war so gespannt auf das Ergebnis, dass er sich um einen Tag vertat und zu früh vorsprach. Das ließ ihm eine Galgenfrist, um sich auf den Wind, der nun die Richtung wechseln würde, einzulassen. Er sah sich als Frührentner, mit ein paar hundert Euro jeden Monat, die ihm Luft für andere Aktivitäten geben würden. Zum Beispiel für ein Buch. Er wollte über sein Leben in der Fremde schreiben.

Dann saß er in dem kleinen, warmen Kabuff vor dem Beamten der Rentenversicherungsanstalt. Ein jovialer Mensch, in Schroeders Alter. Ein Verbündeter womöglich.

„Schroeder, Schroeder mit oe“ stellte er sich vor.

Sein Gegenüber kam gleich zur Sache. „Ich weiß was Sie wollen“, sagte der Mann freundlich, „Sie wollen bestimmt wissen, wie viel Rente Sie einmal bekommen werden!“

Der Mann sprach Schroeder aus dem Herzen. Jetzt würde alles gut werden. Schroeder dachte einen Augenblick daran, ihn nach dem positiven Bescheid, der nun mit Sicherheit über den Tisch gereicht würde, zum Wein ins Tejo einzuladen.

Da sagte der Mann: „Es gibt drei Möglichkeiten, wie Sie Rente bekommen können. Erstens, Frührente mit dreiundsechzig. Kommt für Sie nicht infrage, Ihnen fehlen achtzig Monate Beiträge. Zweitens: Sie werden arbeitsunfähig, dann könnten Sie sofort Rente beantragen. Käme aber für Sie auch nicht infrage, Ihnen fehlen ein paar Jahre Beiträge. Drittens: Rente mit fünfundsechzig. Die ist Ihnen sicher, wenn in dem Bereich überhaupt etwas sicher ist,“ der Beamte lächelte hinterlistig, „aber da haben Sie ja noch Zeit. Sie sind ja noch jung, versuchen Sie irgendwie Arbeit zu kriegen...“

Schroeder fragte noch dies und jenes, der Mann gab unmissverständliche Auskunft. Jetzt wusste er aus erster Hand: Weitere Jahre Arbeitssuche. Unerwarteter Weise war er erleichtert. Es war, als wäre er jünger geworden, drohendem Alter und damit verbundenem Siechtum entkommen. Sofort machte er Reisepläne für Venezuela. Die reichten bis ins Tejo.

„Siehste“, trumpfte er vor Luis auf, „ich krieg wenigstens Rente! Du, als Stierkämpfer, habt ihr so was wie eine Rentenversicherung?“ Luis verstand nicht.

„R e n t e n v e r s i c h e r u n g“ buchstabierte Schroeder.

„Nö, hab‘ ich nicht. Ich hab‘ ja ‘ne Kneipe“, Luis ließ seine Arme durch den Raum gleiten, „alles bezahlt!“

„Ich brauch einen Job“, Schroeder hatte Venezuela vergessen, „weißte nicht was?“

Luis sah ihn an, als warte er auf den in die Arena hereinbrechenden Stier. „Geh doch mal zum Arbeitsamt!“

Daran hatte Schroeder bislang nicht gedacht. Zwar hatte er hier und da gehört, es gäbe auch dort keine Stelle, aber wieso eigentlich nicht? Mit seinen Kenntnissen! Marketing aus dem FF, Erfahrung in Beruf und im Leben, Englisch, Spanisch und Französisch! Hatte diese Kombination nicht Seltenheitswert? Wurde nicht nach diesem Profil geradezu gefahndet?

Schroeder holte sein second hand Jackett aus dem Schrank, öffnete das Fenster und begann, das Jackett auszubürsten. In der Tasche klimperten noch zwei vergessene Pesetenstücke, die nahm er als gutes Ohmen. Gegenüber war das Zebra in Aktion. Auf der Anrichte türmten sich belegte Platten, und sie war dabei, Käse zu schneiden. Im Fenster stand ein Strauß Flieder, Schroeder konnte ihn förmlich riechen. „Die hat Geburtstag und macht heute Abend ‘ne Party, ‘ne Party wäre jetzt nicht schlecht...“. Wie konnte er, verdammt noch mal, mit dem Zebra in Kontakt treten?

Er erinnerte sich an die Zeit bei seinem Freund Pablo in Hamburg. Damals hatte es eine ähnliche Situation gegeben: Gegenüber hatten sie zwei junge Frauen in einer Küche hantieren sehen. Es war eine frauenlose Zeit und sie waren scharf auf jede Bekanntschaft, gleichgültig welcher Art. Nur Frauen sollten es sein. Die beiden Frauen wurden auf das Gehampel der beiden Freunde aufmerksam und grinsten herüber. Klar, das Telefon! Pablo schrieb seine Nummer überdimensional auf einen DIN A 3 Bogen und hielt ihn den Damen entgegen. Sie brauchten nicht lange zu warten, und das Telefon klingelte. Die Nacht endete in einer wilden Party.

Hier lag der Fall anders. Schroeder hätte die Telefonnummer in haushohen Ziffern schreiben und ans Fenster hängen können, das Zebra schaute nicht einmal zu ihm hinauf. Sie strich Brote. Und schnitt Käse, Scheibe um Scheibe. Dumme Kuh, brummte Schroeder und verließ das Haus in Richtung Arbeitsamt.

Das Arbeitsamt nannte sich nun Agentur für Arbeit. Oder hieß es Jobcenter? Schroeder, der jahrelang in einer Werbeagentur seine Arbeitskraft zu Markte getragen hatte, war gespannt darauf, was eine Agentur für Arbeit mit einer für die Werbung gemein hätte.

Offensichtlich ging es irgendwie um Menschen. Jetzt, nach der Umbenennung waren die Gänge nicht mehr mit Wartenden bevölkert. Die standen nun verteilt auf den verschiedenen Stockwerken, von denen jedes für drei oder fünf Buchstaben des Alphabetes zuständig war. Das heißt, die S-Schlange, zu der Schroeder gehörte, baute sich vor einem Schalter im Flur, im vierten Stock des Gebäudes auf.

Die Abfertigung an diesem Schalter ging zügig vonstatten. Man nahm die persönlichen Daten auf, Geburtsdatum, Beruf, Tätigkeitswunsch, Schulbildung und so fort. Die Wartezeit begann danach: „Gehen Sie durch die Tür dort hinten, dann den Flur links bis zu Zimmer 32. Sie werden aufgerufen!“ Immerhin, so wie auf spanischen Ämtern war es hier nicht. Dort kam man erst an die Reihe, wenn sich das Personal ausführlich über die letzten Wochenendgeschehnisse ausgetauscht hatte, oder eben „mañana“, sprich morgen.

Der Raum war mit Ansichtskarten aus Amerika, der Türkei, Italien und Spanien geschmückt. Auch eine einsame Karte aus Ladakh hatte Urlaubsgrüße eines Kollegen herbei getragen. Der Fenstersims war ein einziger Wald von Gummibäumen, Ficus ficus. Doch schon beim Anblick dieser hybriden Blattgebilde musste er schlucken.

„Bitte, was wünschen Sie?“ Schroeder wurde von einer Frau in mittlerem Alter angefahren. Sie war dick und schaute zunächst nicht hoch. Fleischige Arme quollen aus einem T-Shirt hervor, unter den massigen Brüsten wellten sich Gürtel wie beim Michelinmännchen.

„Guten Tag, Schroeder mein Name, Schroeder mit oe!“ Er grüßte extra laut, mit der Absicht, dem Menschen Manieren beizubringen. Doch die Dicke dachte gar nicht daran, sich belehren zu lassen, etwa aufzuschauen. Schroeder spürte aufkommende Trockenheit im Hals.

„Also, dann nicht Guten Tag“, blaffte er patzig.

Sie bestand darauf, dass er sagen solle was er wünsche.

„Ich weiß nicht“, Schroeder tat unwissend, „ich bin hierher geschickt worden. Ich suche Arbeit“, fügte er forsch hinzu, und, „darf ich mich setzen?“

Die Dicke antwortete nicht und schaute auf den Bildschirm, nachdem sie einige Tasten gedrückt hatte. „Schroeder“, brummte sie vor sich hin.

„Mit oe“ betonte Schroeder. „Ahh“, dachte er, die hat mich schon auf dem Computer...

„Sie haben keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld, Sie sind doch freiberuflich.....“ jetzt blickte sie das erste Mal auf, schaute Schroeder an. Sie trug eine Brille von der Stärke, die ihr Augen eines Seehundes verlieh. Die glänzenden Blätter der Gummibäume nahmen Fratzen an. Sie hatten die Züge der Dicken, jedes Blatt, dicke Lippen, über die eine fette Zunge kreiste, grinsend bewegten sie sich auf Schroeder zu. Er machte eine abwehrende Bewegung.

„Ich weiß“, beeilte sich Schroeder zu sagen, er wollte nur raus hier, „ich möchte nur diese Bescheinigung, dass ich hier vorgesprochen habe. Soll gut sein für meine Rente, oder haben Sie einen Job für mich?“

„Für Journalisten sind wir nicht zuständig!“

„Und haben Sie was anderes, ich könnte Stadtführungen machen!“

„Nein, nichts. Ich schreib‘ Ihnen jetzt diese Bescheinigung, Sie müssen sich damit alle drei Monate hier melden!“

Sie schlug ein paar Tasten an und aus dem Drucker quollen einige Seiten, auf denen festgehalten war, dass er keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld habe, nach Paragraf soundso.

Das war es also. Oft schon hatte Schroeder vom Service auf diesen Ämtern gehört. Immer hatte er an Übertreibungen geglaubt, nun das hier. Schroeder wurde von einer Art Jagdeifer befallen. Am liebsten hätte er der Dicken seine Meinung über die Arbeitsmarktsituation mitgeteilt, doch er wusste, sie war völlig unschuldig, wahrscheinlich selbst ein Opfer der Zeiten.

Er betrachtete die bunten Ansichtskarten, zeigte auf eine mit dem Zuckerhut Rios und sagte zu der Dicken: „Dann kann ich dort ja hinfahren, werde dort ‘ne Weile bleiben, bevor ich mich hier wieder melden muss.“ Er schloss die Tür betont leise hinter sich.

Vom Fenster aus sah Schroeder das Zebra in der Küche stehen. Sie hatte ein Glas Rotwein in der Hand und, Schroeder rieb sich die Augen, vor ihr stand ein Mann. Aber mehr noch. Die Jalousien der übrigen Fenster ihrer Wohnung waren hochgezogen, und so konnte er einige Leute auf einem Sofa sitzen sehen. Schroeder, der nach dem Besuch auf dem Arbeitsamt allen Grund zu haben glaubte eine Flasche zu öffnen, trat mit dem Glas ans Fenster und prostete dem Zebra zu: „Meinen Glückwunsch! Du hast doch sicherlich Geburtstag. Wenn die Gäste gegangen sind, ruf‘ mich doch ‘mal an. Ich bring‘ dir ein Geschenk!“ Das Zebra hörte ihn nicht. Sie bemerkte ihn nicht einmal.

Nicht nur die Blindheit des Zebras frustrierte Schroeder. Nun war er schon einige Monate in dieser Stadt, ihm fehlte eine Frau. Bei der InPla hatte er eine Kolumbianerin kennen gelernt und sie zu einem abendlichen Treffen überredet. Sie saßen in einer Kneipe mit dem Namen „Anker“, doch bevor er seinerseits Anker werfen konnte, war es schon wieder vorbei. Nach dem zweiten Bier fragte sie ihn: „Bist du Alkoholiker?“ Schroeder wand sich in überflüssigen Rechtfertigungen, und am nächsten Tag rief ihn die Südamerikanerin an: „Ich möchte keinen Kontakt mehr mit dir haben!“

Und dann der Job. Noch immer gab es keine Aussicht. Irgendwas lief falsch. Er ahnte, es war eindeutig sein Alter! Selbst Constanze hatte geklagt, und die war fünfzehn Jahre jünger als er. Gab es keinen Job, in dem das Alter ein Plus war? Er fiel nun ja schon in die Kategorie „Senioren“. Bald würde er bei Museums- und Kinobesuchen den Seniorentarif in Anspruch nehmen können.

Senioren. Das brachte ihn auf eine neue Idee. Im Internet fand er diverse Senioren Reiseveranstalter. Den nächstgelegenen schickte er ein freundliches Schreiben: War Reiseleiter, spreche Spanisch, bin selbst (bald) Senior, rüstig und motiviert. Wünsche Honorarjob als Reiseleiter.

Die Antwort kam prompt übers Telefon. Vorstellung in Brandenburg, soundso Straße um 9 Uhr. Schroeder triumphierte, trat ans Fenster. Das Zebra stand vor Ihrem Abwasch. „Siehste, du musst spezialisiert sein. Senioren und Sprache, eine zugkräftige Kombination!“

Im Hausflur stand Riedemeier mit einem Lappen in der Hand und putzte die Türklinke. „Biste och schon uff?“ schrie er Schroeder an.

„Und du, warst du bei der Seefahrt, dass du deine Türklinke wie ‘ne Schiffsglocke polieren musst?“ Er drückte sich an Riedemeier vorbei und wünschte ihm einen schönen Tag, „hab‘ keine Zeit, muss arbeiten!“

„Arbeitest du och ma?“ rief Riedemeier ihm nach. Schroeder war gekränkt.

Er fuhr mit dem Regionalzug. Er genoss es, zwischen morgendlichen Pendlern zu sitzen, die Zeitung aufzuschlagen und die anderen im Waggon über den Rand zu beobachten. Jetzt war er ja schon selbst fast ein Pendler auf dem Weg zur Arbeitsstelle. Er kuschelte sich, wie der britische Komiker Mr. Bean die Schultern verdrehend, in den Sitz. Alles schwieg, die meisten waren ebenfalls mit Zeitungen beschäftigt, wurde auch er beobachtet? Er sah an sich herunter. Weißes Hemd, ein Sakko. Die Laptoptasche, die den zu erwartenden Arbeitsvertrag aufnehmen sollte, sah wichtig aus. Er war einer von ihnen. Von denen, die alles geregelt hatten, von der Führerscheinprüfung bis zu den Einladungskarten zur Silberhochzeit.

Ein Sommermorgen in Lissabon. Die Straßenbahn, von den Häusern der engen Straße das Echo melodischen Gerumpels. Richtung Zentrum. Nur Männer in diesem Waggon. Berufspendler. Bis zu den Türen Büroangestellte. Ledertaschen unter dem Arm. Geruch nach Rasierwasser, kaltem Tabak, abgestandenem Kaffee und gegrillten Sardinen. Zeitungsgeraschel. Müde Wortfetzen zwischen älteren Herren. Stationshalt. Die blonden Locken der jungen Frau fallen über nackte, braune Schultern. Ein BH-Träger in rosa. Passend zum luftigen Kleid. Lippen wie pralle Kirschen. Mandelduft. Schwarze Augen über rotem Mund. Lange, nackte Beine in hinten offenen high heel sneakers. Nackte Fersen nach dem Vorbild antiker Göttinen modelliert. Ihre Finanzzeitung raschelt beim Umblättern. Totenstille im Abteil. Nur das Schlucken in fünfzig Männerkehlen wie Brandung auf Fels.

Auf dem Hauptbahnhof musste er in die Straßenbahn umsteigen. Die rumpelte gen Osten und bald kam es Schroeder vor, als ginge es zurück in die DDR. Häuser und Menschen, Straßenschilder und die wenigen Geschäfte auf der Strecke vermittelten Trübsinn und spießige Geborgenheit bis hin zu den Gartenzwergen in den Vorgärten.

Das Büro des Reiseveranstalters lag im zweiten Stock eines Einkaufszentrums für Ramschprodukte, wo es T-Shirts für 80 Cents gab. Komische Adresse, dachte Schroeder. Im zweiten Stock drückte er auf die Klingel. Es war Punkt zehn, er war pünktlich, seine Gesprächspartner nicht. Allein diese Tatsache verursachte eine leichte Schwellung im Hals. Er versuchte es noch einmal. Wieder nichts. Dann sah er das kleine Schild: „Reisen mit Herz und Verstand, wir sind jetzt im 3. Stock!“

Eine Frau in seinem Alter öffnete und führte ihn in das Büro. „Partner“, sagte sie.

„Wie, Partner?“

„Mein Name ist Partner...“

„Ah, ich bin Schroeder, Schroeder mit oe!“

Er hatte schon geglaubt, er wäre bereits eingestellt und sie begrüßte ihn als ihren Partner. Sie bat ihn Platz zu nehmen, der einzige freie Stuhl stand vor ihrem Schreibtisch. Da klingelte das Telefon. „Moment bitte,“ dann konzentrierte sich Frau Partner auf das Telefonat. Schroeder sah sich um. Ein Chaos aus Papieren, Zeitschriften, Formularen und Aktenordnern türmte sich auf einem zweiten Schreibtisch. Sein neuer Schreibtisch? An den Wänden, wie zum Beweis, dass hier Reisen verkauft wurden, hingen Plakate von den Azoren, dem Kolosseum in Rom und die Panorama Ansicht einer mittelalterlichen Stadt, womöglich Rothenburg ob der Tauber.

„Natürlich“, hörte er nun Frau Partner sagen, „ es wird wie letztes Mal. Diesmal vielleicht noch besser. Wir haben nämlich eine neue Kapelle engagiert....Nein, kostet nicht mehr, Sie wissen ja, Frau Mertens, für unsere Stammgäste tun wir alles was in unserer Kraft steht....Klar, na ja, ist doch so....Gut dann, kommen Sie irgendwann vorbei...Ja, das wünsche ich Ihnen auch...und wie geht’s Ihrem Mann?....“ und so ging es noch eine Weile weiter.

Schroeder griff zu dem Reisekatalog, der auf dem Tisch lag. „Reisen mit Herz und Verstand“, so lautete die Überschrift. Er staunte, mit denen konnte man nach Brasilien fahren, nach Ägypten, Spanien und Madeira. Die Angebote waren auf ältere Menschen, auf „Senioren“ abgestellt. Offensichtlich waren auch Heilbäder und Kurzentren irgendwo im neuen Osten Europas der Hit. Das waren nun nicht unbedingt die Reisen, die Schroeder hätte begleiten wollen, da wäre er ja um einen Schlag um zehn Jahre gealtert! Frau Partner hatte fertig telefoniert. Nun würde sie ihn nach Kaffee fragen. Aber nichts da.

„Ja“, begann Frau Partner, „Ihre e-mail hat uns interessiert! Sie sprechen ja Spanisch und hin und wieder brauchen wir schon einen Reiseleiter mit Spanischkenntnissen. Wissen Sie, die älteren Herrschaften wollen eben auch ein bisschen betütelt werden....“

Schroeder dachte an seine Zeit als Reiseleiter zurück. Drei Monate lang hatte er Reisegruppen betreut, auf den Kanarischen Inseln. Hatte in einem noblen Hotel gelebt und sich um alles kümmern müssen. Vom Flughafentransfer bis hin zu den Eintrittskarten für die Besichtigung des Loro Park auf Teneriffa. Das meinte sie wohl mit „betüteln“. Es war ein aufreibender Job mit sechzig und mehr Wochenstunden gewesen. Kaum Zeit, um eines der kanarischen Serviermädchen mit aufs Zimmer zu nehmen. Er kannte das Thema, und er sagte es Frau Partner. Er war bereit. Er wollte nur anfangen, sein Kontostand bei der Bank saß ihm im Nacken.

Nach einigem Geplänkel über Reiseziele, die Bedürfnisse älterer Menschen auf Reisen und das Unternehmen „Reisen mit Herz und Verstand“, wollte Schroeder zur Sache kommen. Ihm war es egal, auf was er sich einließe. Das Büro gefiel ihm nicht, Frau Partner eben sowenig, der Job höchstwahrscheinlich auch nicht. Wenn er erst einmal unterwegs wäre, mit einem Flugzeug voll mit Schlager singende und schunkelnde Senioren, würde sich alles finden.

„Nun“, Frau Partner senkte die Stimme, „Sie können es sich überlegen. Sie können bei uns anfangen. Nur, ich muss Ihnen etwas zur Bezahlung sagen: Unsere Reiseleiter arbeiten ehrenamtlich. Pro Tag bekommen sie eine Aufwandsentschädigung von zehn Euro. Aber die Reise haben sie natürlich umsonst!“

Welch ein Trost, die Reise umsonst! Schroeder dachte an das rausgeschmissene Fahrgeld und dankte Frau Partner, dass sie sich so viel Zeit genommen hatte.

„Ich arbeite bereits ehrenamtlich“, sagte er und ging.

Was für eine Welt, dachte er. Die verkaufen Reisen, für hunderte, ja tausende von Euros und die Reiseleiter haben die Ehre, den Senioren das Gepäck ins Hotel zu schleppen und ihnen bei Bedarf die Teebeutel in den Thermoskannen zu wechseln. Danke Männer. Schroeder fühlte sich gedemütigt. „Was hat sie gesagt, die Reise haben Sie natürlich umsonst!“

Zuhause angekommen, schickte er Constanze eine SMS: „Wann können wir uns treffen?“ Es war Zeit, auf den im Raum schwebenden Plan einer gemeinsamen Selbständigkeit zurückzukommen. Nach dem Mittagessen, er hatte das Lieblingsgericht seiner aus Berlin stammenden Großmutter aufs Neue entdeckt, nämlich Pellkartoffeln mit Quark und Leinöl – die Flasche Rotwein dazu war ein spanisches Relikt - legte er sich aufs Bett. Die Börsennachrichten kamen um kurz nach halb zwei. Da war er bereits eingeschlafen. So wurde er von den üblen Nachrichten vom „Frankfurter Parkett“ bis auf weiteres verschont.

Er wachte mitten in einem Interview auf. Es war Teil einer Serie über außergewöhnliche Berufe. Heute war eine Toilettenfrau dran. Eine Toilettenfrau im “Three corners“, dem früheren Lokal eines alternden Playboys der zweiten Liga, von dem gesagt wurde, er habe sich den Arsch liften lassen.

Lore Fischer, die Toilettenfrau. Sie sprach nicht so, wie man sich eine Toilettenfrau sprechen vorstellte. Rasch wurde klar, woher sie ihre gewählte Aussprache hatte. Sie hatte Pädagogik studiert. Eine studierte Toilettenfrau. Schroeder dachte an die Müßiggänger in den Straßencafés seines Viertels. Deren Glauben, vom Leben alles zu kennen, hätte Frau Lore Fischer sicherlich stark erschüttert.

„Oh“, sagte Frau Fischer gerade, „ ich habe ja an der Humboldt Uni studiert, und später, Sie werden es vielleicht nicht glauben“, der Interviewer gab ein „hmm“ von sich, „später war ich dann Referentin für Bildung! Natürlich, das war in der DDR, na ja, und danach“, sie meinte offensichtlich die Wende, „da war ich sowieso Rentnerin!“

Und sie erzählte, nachdem ihr Mann gestorben und die Kinder aus dem Haus waren, habe sie einen Job gesucht, in dem sie mit Menschen zu tun haben würde. „Und ich kann Ihnen sagen, die Männer hier, die sind so nett, manchmal schenken sie mir Blumen oder Pralinen!“

Und sie berichtete, wie sie manches Mal ein mit Rotwein beflecktes Hemd auswechseln müsse, „ich hab‘ ja immer eine Kollektion frischer Hemden hier, auch Deos für die Damen, und anderes, Typisches für Damen, na ja, Sie wissen ja...“

„Und“, wollte der neugierige Radiomann wissen, „was ist, neben den Menschen das Schönste an ihrem Job?“

„Am schönsten ist“, kam nach kurzer Überlegung, „wenn ich morgens um fünf meine Arbeit beendet habe, wir vom Personal noch ein bisschen zusammen gesessen haben und ich in die frühe Sonne hinausgehe!“

Auf Schroeder hatte das Interview die Wirkung eines Joints. Wenn, so sagte er sich, Frau Lore Fischer als Rentnerin, als studierte Rentnerin zumal, einen Job gefunden hatte, dann konnte es sich bei ihm nur noch um eine Frage der Zeit handeln, bis auch er einen Job haben würde. Am liebsten wäre er ins „Three corners“ gestürmt und hätte Frau Fischer rote Rosen gebracht!

Schon am Zeitungstag darauf erfuhr Schroeder erneut das aufregende Prickeln, vor einer neuen Chance zu stehen. Eine neue Chance, in Telefonreichweite. Zwei knappe Zeilen hatten seine Aufmerksamkeit geweckt: Vertretung für 3 Monate im Bereich Management gesucht. Dazu zwei Telefonnummern, eine davon eine Mobilfunknummer. Er zögerte nicht einen Moment und wählte das handy an.

„Borowski“ meldete sich eine Stimme wie aus geschliffenem Glas. Borowski mit rollendem „r“.

„Guten Tag, Schroeder. Schroeder mit oe. Ich rufe wegen Ihrer Anzeige an, „Managementvertretung“.

„Guten Tag. Was sind Sie von Beruf?“

„Na ja,“ Schroeder musste die Dinge etwas zurecht biegen, „ich bin studierter Marketingexperte, zur Zeit Journalist, ich mein‘ als Journalist freiberuflich tätig...“

„Sehrr gutt“. Schroeder bemerkte die zwei r’s in „sehr“ und t’s in „gut“. Zusammen mit dem rollenden „r“ in „Borowski“, zeichneten sie für Schroeder das Bild einer sibirischen Winterlandschaft.

„Was ich noch sagen möchte“, Schroeder wollte sich diesmal Überraschungen ersparen, „ also, ich bin über 50, nur damit Sie....“

„Macht gar nichts“, sagte die gläserne Stimme, „ich bin auch nicht merr der Jüngste, also wann können Sie kommen?“

Schroeder sah sich in die Zielgerade einbiegen. Noch nie, außer von Frau Partner, hatte er eine derart spontane Einladung zur Vorstellung erhalten.

An der Tür deutete kein Schild auf ein Unternehmen hin. An den etwa einem Dutzend Klingeln standen nur Namen von Privatpersonen. Alle klangen deutsch, sogar ein Namensvetter war darunter, allerdings mit normalem „ö“. Er sollte bei Büttner klingeln. Büttner im zweiten Stock. Das Haus, in einer Gegend von Charlottenburg, wo einstiger Glanz wie bei einem alten Stück Käse vom Rande her bereits aufgeweicht war, zeigte Risse im Gemäuer. Der Treppenläufer war durchgetreten, die Türen in den einzelnen Stockwerken mehrmals überstrichen worden, so dass der dicke Farbauftrag sich zu verselbständigen drohte. Die Stuckbordüren an der Decke hatten bereits Federn gelassen. Immerhin es roch nicht, wie in vielen Altbauten seines Kreuzberger Kiezes, nach abgestandenem Essen und feuchtem Moder.

Die Tür bei Büttner sprang auf, bevor er den Klingelknopf drücken konnte.

„Herr Schröder?“ eine ultracoole Blondine lächelte ihn mit falscher Freundlichkeit an.

Er nickte, „ja, Schroeder mit oe“ und wurde in einen Flur gebeten, der groß wie ein Tennisplatz, mit einigen Sesseln bestückt war.

„Warten Sie bitte einen Moment, Herr Borowski hat gerade noch einen anderen Bewerber drin!“

Einen anderen Bewerber? Schroeder wurde unruhig. Klar, hätte er sich ja denken können, dass er nicht der Einzige auf der Welt mit Managementqualitäten war. Noch bevor er sich umsehen konnte, kam schon wieder die Blonde und führte ihn in ein winziges Zimmer.

„Nehmen Sie Platz, Herr Borowski kommt gleich!“

Der Raum: Ein enger Schlauch mit stumpfem Parkett. Nur ein Fenster. Auf dem Fensterbrett ein Strauß dunkler, bereits im Zustand des Vergehens befindlicher Rosen. Links hinter dem Eingang ein Schreibtisch aus Metall. Darauf eine kleine Lampe, ein PC, ein Telefon, ein Bierglas in dem diverse Schreiber standen und ein silbergerahmtes Foto einer jungen blonden Frau mit zwei ebenso blonden Mädchen. An der Wand ein Stadtplan von Berlin. Einige Straßen waren rot angekreuzt.

„Borowski“, eine schmale Hand mit gut geformten Fingern streckte sich Schroeder entgegen. Er hatte ihn nicht kommen hören, wegen der Kreppsohlen, die jeden Laut erstickt hatten. Schroeder sprang auf und nannte ebenfalls seinen Namen. Sie taxierten sich. Schroeder, selbst eins achtzig groß, wurde von Borowski um einen halben Kopf überragt. Der Mann, Schroeder schätzte ihn auf vierzig Jahre, sah nach Tennisspieler aus. Alles war sehnig an ihm, bereit, auf jede Bewegung seines Gegenübers reflexartig zu reagieren. Borowski trug Jeans, Designerjeans, bemerkte Schroeder, der sich nur second hand Lee’s leisten konnte. Ein dunkelblaues Sweatshirt, an dessen linker Seite ein Wappen mit einer Krone darin prangte, unterstrich, genauso wie die Baseballmütze der San Francisco Giants, die sportliche Note. Borowski’s kantiges Kinn war glatt rasiert. Seine Nase schien etwas zu lang, aber gerade, der Mund darunter war schmal wie ein Lineal. Das störte die Proportion zur Nase. Was am meisten hervorstach, waren Borowski’s blaue Augen. So blau wie unterseeisches Eis. Schroeder kam die Titanic in den Sinn.

„Nehmen Sie Platz“, er schwang sich auf seinen Stuhl, fast sprang er hinein. Da sie sich wegen der Enge des Raums nicht gegenüber setzen konnten, drehte sich Borowski mitsamt Stuhl zu Seite. Die Distanz von Gesicht zu Gesicht betrug weniger als eine Tischbreite.

„Erzählen Sie mal, was Sie können!“

Schroeder hatte sich einen Plan zurechtgelegt, um dieses Interview zu meistern, doch die knappe Impulsivität Borowski’s verwirrte ihn. Er begann sich zu verhaspeln.

„Ähh, ich bin eigentlich freier Journalist, das heißt, eigentlich habe ich Marketing studiert, ist aber schon lange her...“

Er hätte sich am liebsten die Zunge abgebissen, was für ein Blödsinn, das sah man ja wohl, dass er schon vor langer Zeit studiert haben musste. Borowski’s blauer Eisbergblick ließ ihn nicht los. Zum Glück wurde Schroeders Gestammel unterbrochen, durch ein „Daddada dada dada“. Von irgendwoher kamen Klaviertöne. Schroeder sah Borowski fragend an. Der griff in die Tasche und holte ein handy heraus, drückte auf einen Knopf, und die Melodie erstarb.

Was Borowski in den nächsten fünf Minuten sprach, konnte Schroeder nicht verstehen, bis auf zwei Wörter, die verrieten, dass hier Russisch gesprochen wurde: „Da“ und „Njet“, ja und nein.

„Entschuldigung“, Borowski hatte das Gespräch beendet und wandte sich erneut seinem Gast zu. Der hatte zu alter Form zurückgefunden.

„Ich habe lange in internationalen Werbeagenturen als Kundenberater gearbeitet!“

„Gutt“, hörte er Borowski sagen.

„Seit einiger Zeit arbeite ich aber als freier Journalist, ich verfasse Reisereportagen...“

„Sehrr gutt!“ steigerte Borowski seine Zustimmung.

„Ich spreche Spanisch und natürlich auch Englisch!“ Schroeder wartete auf eine weiteres gutt.

„Noch besser!“ Borowski fing an, Interesse zu bekunden. „Ich zeig‘ Ihnen hierr etwas“, er nahm ein Blatt vom Schreibtisch und reichte es Schroeder. Es war ein Textmanuskript einer Angelgeschichte an irgendeinem Russisch klingenden See. Die Überschrift lautete: „Fischen fangen in wunderbaren Naturgebieten!“

„Das ist eine Übersetzung aus dem Tschechischen“, Borowski nahm das Blatt wieder an sich, „ich weiß, die Übersetzung ist nicht korrekt, liegt am Computerprogramm. Können Sie solche Reportagen schreiben?“

„Das ist genau, was ich immer mache,“ Schroeder begeisterte sich, „da bin ich genau der richtige Mann. Ich mach ja nichts anderes, schreibe für die FAZ, die Zeit, den....“

„Wunderbarr“, Borowski stoppte Schroeders Begeisterung, „solche Aufgaben würden auf Sie warten!“ Borowski lehnte sich zurück, schaute auf das Foto im Silberrahmen.

„Ich sage Ihnen jetzt, womit und mit wem Sie es zu tun haben. Hierr! Übrigens meine Frau und meine Töchter“, Borowski, auf einmal ganz Mensch, strich über das Foto.

„Ich bin Gynäkologe. Mirr fehlt noch ein letztes Examen, das lege ich in Kürze in Moskau ab. Deshalb brauche ich in der Zeit hierr eine Vertretung.“ Er wechselte von „Ich“ auf „Wir“.

„Wirr haben in Prag ein Reiseunternehmen, wirr machen Naturreisen, Angeln, Jagen in der Hohen Tatra und so was. Wirr haben ein eigenes Reisemagazin, das kann ich Ihnen noch zeigen, dafürr müssen wirr schreiben und natürlich auch unsere Reisen verkaufen. Dazu wären Sie derr richtige Mann, sie müssten auch überall hinreisen um sich vorr Ort zu informieren...“

Schroeder konnte es kaum glauben. Hier lag der Job aller Jobs vor ihm, genau das hatte er immer gewollt. Unumschränkter Schreiber für ein Reisemagazin!

„Wissen Sie, das ist aberr nur eine von vielen Aufgaben. Könnte sein, dass bald mehrr Arbeit auf Sie zukommt. Je nachdem, wie wirr zusammen uns verstehen!“ Borowski lüftete die Baseballkappe, es erschienen militärisch kurz geschnittene, blonde Haare. Er strich sich über den Kopf, setzte die Kappe wieder auf und nahm, als ob er vor einem sagenhaften Endspurt stehen würde, neuen Anlauf.

„Ich habe nicht nurr ein Reiseunternehmen, ich bin auch im Kunstgeschäft tätig. Demnächst eröffne ich eine Galerie in Prag, moderne Kunst und so was. Daneben brauche ich auch eine rechte Hand fürr meine Teppichhandlung. Wussten Sie, dass es in Usbekistan herrliche Teppiche gibt?“

„Das war doch eine Sowjetrepublik,“ warf Schroeder ein.

“Macht nichts“, sagte Borowski, Teppiche gibt es immer noch da, ich kenn da ein paarr gute Leute....

Dann gibt es noch was.“

Schroeder kam es allmählich unheimlich vor, der Gynäkologe Borowski hatte wohl überall mit seinen Fingern drin, nicht nur in Frauenkörpern. Schroeder wartete auf die Fluglinie, die Borowski nun aus dem Hut ziehen würde. Aber es handelte sich nur um eine Tageszeitung, die er noch gründen wollte, zweisprachig, Russisch und Deutsch.

Sie waren fast zum Abschluss gekommen, als Borowski sagte: „Ich glaube, Sie sind derr richtige Mann für mich. Ich werde das Thema mit Frau Büttner besprechen, sie ist meine Chefin, ich rufe Sie bald an. Sei denn, Sie haben jetzt noch Fragen...“

Er wollte nicht gehen, ohne zum Abschluss dieses denkwürdigen Gespräches bei Borowski mehr zu hinterlassen, als dass er nur ein Schreiber war. Schließlich war er weit herumgekommen, Prag und Moskau, Kiew und Odessa, da war er schon gewesen, als Borowski wahrscheinlich noch gar nicht an Berlin gedacht hatte. Also fragte Schroeder, der gerade eine Biografie des in der Sowjetära umstrittenen Schriftstellers Jewtuschenko gelesen hatte, was er, Borowski, von Jewtuschenko halte.

„Werr ist das?“ fragte Borowski.

Und Schroeder berichtete, bereits mit sich anbahnender Begeisterung in der Stimme, von dem Dichterrebell.

„Ohhh“, antwortete Borowski, „den kenn ich nicht. Ich kümmerr mich nicht um Politik, jeder soll leben wie err will.“

Dann erhob sich Borowski, die Audienz war endgültig zu Ende. „Eins noch“, Schroeder beeilte sich, „mir gefällt Ihr handy Klingelton, was ist das für eine Melodie?“

Borowski blieb stehen, holte sein handy heraus und drückte auf die Tastatur: „Dadada dada dada...“ Zum ersten Male grinste Borowski: „Ist Rachmaninovs zweites Klavierkonzert, das Allegro Scherzando. Vielleicht mach‘ ich noch ‘mal ein Musikgeschäft auf...“

„Oder einen handy Laden“ grinste nun Schroeder, ermuntert durch Borowski’s menschliche Seite. Sie verabschiedeten sich mit einem komplizenhaften Nicken.

Im Flur saß ein Mann mit Bart. Wahrscheinlich ein Bewerber für die „Vertretung im Bereich Management“. Die ultracoole Blonde mit dem falschen Lächeln begleitete ihn zur Tür.

Draußen holte er die Visitenkarte heraus, die Borowski ihm gegeben hatte. Die Hälfte der Karte war von rot gedruckten Buchstaben FC bedeckt, die großspurig zwischen „Import-Export“ und „International BBC“ prangten. Es folgte, „Sergej Borowski“. Darunter eine Anschrift in Odessa. Odessa? Ja, Odessa. Die Karte, so sagte sich Schroeder, ist so aussagefähig wie einen abgestempelte Briefmarke, und er begann, das geführte Gespräch kritisch zu sehen. Es gab einige Ungereimtheiten, besonders die verschiedenen Geschäftsbereiche Borowski’s kamen Schroeder nicht geheuer vor. Kunsthandel und Teppichhandel gingen ja noch zusammen, der Gynäkologe passte nicht ins Bild. Und wer war jene mysteriöse Frau Büttner, Borowski’s Chefin? Ob womöglich die russische Mafia hinter allem steckte?

Für Schroeder begann eine Zeit des Wartens. Wohin er auch ging, selbst zu seiner morgendlichen Sitzung auf der Toilette, sein handy hatte er immer dabei. Auch im Tejo hielt er sein handy nun in Hörweite, er legte es neben die Flasche Capataz.

„Was’n mit dir los? Haste ‘ne neue Frau, oder was?“ fragte Luis.

„Klar“, meinte Schroeder lässig, „sie heißt Borowski!“

„Hört sich nach Osten an“, erwiderte Luis.

„Nee, oder ja, ist Russin!“ und er schob sein handy von einer zur anderen Seite. Doch im Tejo klingelte es nicht.

Ausgerechnet, in der U-Bahn, er war auf dem Wege zum monatlichen Treffen der InPla, begann das Ding zu läuten. Schroeder, vertieft in ein Gespräch zweier Latinas in engen Pullis, wovon sich die eine beschwerte dass ein gewisser Juan ein Lahmarsch sei, nestelte nach seinem handy. Da war’s. Auf dem Display erschien Borowski’s Nummer. „Schroeder...“, er versuchte die richtige Lautstärke in seine Stimme zu legen, Zeugen seines Gesprächs waren ihm peinlich. Vom anderen Ende kam ein Hüsteln.

„Herrr Schroeder?“

„Ja, hier Schroeder, Herr Borowski?“

„Ja, Borowski. Wie geht’s Herrr Schroeder?“ Ohne eine Antwort abzuwarten fuhr Borowski fort: „Herrr Schroeder, noch ist nichts entschieden. Nurr eine Formsache noch. Frau Büttner...ich melde mich nächste Woche wieder...Also, auf Wiederhören Herr Schroeder!“

Dann machte es „klack“ und das Gespräch war beendet. Schroeder’s Blick verhakte sich in die engen Pullis der Latinafrauen ohne wirklich zu sehen. So ein Scheiß, dachte er, wie lange will der mich denn noch hinhalten!

Das Treffen der InPla war spärlich besucht. Er setzte sich neben Constanze und griff zur Teekanne. „Was macht die Jobsuche?“ Constanze blickte ihn herausfordernd an.

„Hör bloß auf“, maulte Schroeder, „da wirste nur verarscht!“

Leise erzählte er Constanze von Borowski. Als die Sitzung begann, musste Schroeder sich konzentrieren, er war dran mit dem Protokollschreiben. Das Herausragende war die Klage von Herrn Rademann, der sich wieder einmal beschwerte, zu wenig Unterstützung für die Betreuung seiner drei Roma Familien zu bekommen.

„Ich schaff das nicht mehr, und alles ohne Geld...“

Nun, Geld gab es nicht, hier saßen nur Ehrenamtliche, oder, wie es neuerdings hieß, Leute mit „Bürgerschaftlichem Engagement“.

Später, nebenan beim Italiener, brüteten Schroeder und Constanze über eine Idee. Die EU war erweitert worden. Polen, Tschechien, die Slowakei und die Baltischen Länder waren jetzt an Bord.

„Da gibt’s Arbeit“, meinte Constanze, „was hältste denn davon, wenn wir eine Beratungsstelle für Arbeitssuchende aus den neuen Mitgliedsländern aufmachen, Du im Marketing, ich im Rechtswesen!“

Er war skeptisch. Die hatten bestimmt kein Geld für Beratungen. Außerdem, sie sprachen keine der neuen Sprachen. Wie sollten sie an Kunden herankommen? Und da war noch die offene Akte Borowski.

Nach einigen Bieren sah die Sache indes anders aus. Constanze berichtete von einer kleinen Messe für polnische Unternehmer, die demnächst in einem Einkaufszentrum der Stadt stattfinden sollte.

„Da treffen wir unsere potentiellen Kunden!“ schwärmte sie.

„Bist ja richtig gut im Marketingdenken“, sagte Schroeder gnädig.

Sie verabredeten sich zu einem Brainstorming mit dem Ziel, mögliche Kunden auf der polnischen Messe anzubaggern.

Im Tejo war Hochbetrieb. Luis hatte alle Hände voll zu tun und keine Zeit für kurzweiliges Geplänkel. „Ist’ne Geburtstagsfeier hier“, er deutete auf eine platinblonde Frau, die am Kopfende einer langen Tafel saß. Sie war um die fünfzig, drall, mit aufgeworfenen roten Lippen, braunem Teint. Aus ihrem Angorapullover stachen spitze Brüste hervor, jedenfalls wollte Schroeder es so sehen, weil plötzlich aus der Tiefe seines Frusts die Lust auf eine schnelle Affäre hochstieg. Der Wunsch, Borowski’s langen Entscheidungsprozess etwas Erfolgreiches entgegenzusetzen. Der ging ihm nicht aus dem Kopf. Was hatte der bloß noch zu zögern? Hatten sie nicht ein einvernehmliches Gespräch gehabt?

Das blonde Geburtstagskind streifte an ihm vorbei. Als sie von der Toilette zurückkam, sprach er sie an. „Ich hörte, Sie haben heute Geburtstag, ich gratuliere Ihnen ganz herzlich!“

„Oh“, seufzte sie, „hier bleibt ja wohl gar nichts geheim! Aber danke, möchten Sie nicht an unseren Tisch kommen?“

Schroeder sah sich in eine neue Zielgerade einbiegen, diesmal in einer ganz anderen Disziplin als der Jobsuche. Er rückte einen Stuhl heran, nahm Platz neben einer jungen Frau, die ihn mit verschleiertem Blick ansah.

„Ach“, meinte sie, „Sie erinnern mich an meinen zukünftigen Mann!“

„Wieso zukünftig?“

Sie erzählte ihm von dem Portugiesen, den sie im Sommer kennen gelernt habe und nun demnächst heiraten werde.

„Er ist Weinhändler!“ betonte sie in einer Art, als sei dieser Beruf Garantie für eine erfolgreiche Ehe. Schroeder erfuhr, dass die Hochzeit nach einem vierwöchigen Urlaub an der Algarve beschlossen worden war.

„Ich kenn‘ ihn zwar noch nicht genau, aber das wird schon noch kommen! Er war so lieb und aufmerksam...!“

Da mischte sich das Geburtstagskind ein: „Du spinnst, meine Liebe! Wie kannst Du nach vier Wochen heiraten, noch dazu einen Portugiesen! Ich kenne meine Landsleute zur Genüge, nach vier Wochen Ehe wirst du dem Macho die Schuhe putzen müssen, und der Schwiegermutter gleich mit!“

Damit war ein Thema eröffnet und die pros und contras schossen über die Tafel. Am Ende blieb die künftige Braut voller Zweifel zurück und der Abend ertrank in Wein und Fadomusik. Schroeders Lust auf eine schnelle Affäre ließ angesichts der mehr und mehr nach saurem Wein riechenden Eheaspirantin nach, und er schlich nach Hause.

Im Briefkasten fand er zwei Umschläge, einen davon ohne Absender. Mögliche überfällige Post schoss ihm durch den Kopf. An wen hatte er Artikel verschickt, wo stand eine Antwort noch aus? An wen Bewerbungen? Letzteres lag lange zurück, er erinnerte sich nicht mehr. Beim Treppensteigen öffnete er den Umschlag. Tatsächlich, es war die Antwort auf eine Bewerbung, und nun erinnerte sich Schroeder. Eine Eventagentur hatte einen Marketingexperten gesucht, der auch „sicher im Umgang mit Printmedien“ sein sollte. Lag Wochen zurück, Schroeder überflog die vier Zeilen, die mit „..wir wünschen Ihnen viel Erfolg auf Ihrem weiteren Berufsweg“ endeten. Die können mich ‘mal, dachte er und warf den Brief in den Papierkorb.

Der andere Umschlag enthielt einen Scheck. Rückzahlung an zu viel gezahlten Heizkosten über 190 Euro. Schroeder jubelte und ging im Geiste lang ersehnte Anschaffungen durch, die er nun realisieren könnte. Neue Jeans? Endlich mal wieder kubanische Zigarren? Opernbesuch? Oder die lange geplante Stellenanzeige im Magazin der Industrie und Handelskammer?

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