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Alte Freundschaft

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Es schrillte laut und anhaltend. Der Ton drang schmerzhaft in sein Bewusstsein. Marko Geiger tauchte aus den Tiefen eines Traums auf, den er im gleichen Moment wieder vergaß. Fast orientierungslos tastete er nach dem Wecker auf seinem Nachttisch. Der Raum lag noch in vollkommener Dunkelheit, sodass er nichts sehen konnte. Endlich bekam er das Gerät zu fassen. Er drückte den Knopf, der das Wecksignal beenden sollte. Es funktionierte nicht. Erst nach dem zweiten Versuch erstarb der Ton.

Was war los? Marko drehte sich stöhnend auf den Rücken. Warum klingelte der Wecker mitten in der Nacht? Nicht einmal der zarteste Lichtschimmer erhellte das Zimmer. Wieso hatte er den Wecker gestellt? Es gab doch keinen Termin am nächsten Morgen.

Es schrillte erneut. Er war jetzt immerhin so weit wach, dass er realisierte, dass es nicht der Wecker, sondern die Türklingel war, die dieses schreckliche Geräusch produzierte. Im nächsten Moment begann es auch noch zu klopfen und zu hämmern, als wolle jemand die Wohnungstür einschlagen.

Marko stieg vorsichtig aus dem Bett. Automatisch zog er sich einen Morgenmantel über und schlich zur Tür. Er überlegte, womit er sich bewaffnen könnte. Sollte dort ein wütender Ehemann vor der Tür stehen? Er hatte so etwas einmal erlebt. Aber seine letzte Affäre lag schon Monate zurück und die junge Frau besaß keinen Ehemann, zumindest nicht zum Zeitpunkt der Liaison.

Ohne Licht zu machen, spähte er durch den Türspion. Er sah zwar keinen betrogenen Ehemann, aber der Anblick, der sich ihm bot, begeisterte ihn auch nicht gerade. Wütend riss er die Tür auf.

»Was willst du denn hier?«, schnauzte er zur Begrüßung den späten Gast an. Oder handelte es eher um einen frühen Gast? Marko hatte noch nicht auf die Uhr gesehen.

Sein Besuch ließ sich nicht beirren, stieß die Tür ganz auf und marschierte an ihm vorbei. Marko sah ihm hinterher, als er mit seinen ungepflegten Straßenschuhen ins Wohnzimmer auf den hellen Langhaarteppich marschierte.

Einen halben Kopf kleiner als er selbst, leicht übergewichtig, die dünn gewordenen Haare zu lang und zu ungepflegt und graugrüne, unstete Augen, die ängstlich und unermüdlich den ganzen Raum absuchten: Olli Vogt, wie er leibte und lebte. Marko verspürte große Lust, ihn einfach am Kragen zu packen und aus der Wohnung zu werfen. Aber man benahm sich ja zivilisiert und Marko war dann doch eher ein Mann des Wortes. Er wollte auch gerade ansetzen, etwas zu sagen, etwas Vernichtendes, versteht sich, da kam ihm Olli zu vor.

»Du must mir helfen!«, bat er nachdrücklich und sah Marko aus flehenden Augen an.

»Ich muss dir helfen? Warum sollte ausgerechnet ich dir helfen?« Vor Wut war Marko jetzt immerhin hellwach.

»Vielleicht, weil wir gute alte Freunde sind?« Olli klang schüchtern und alles andere als sicher.

»Du meinst, weil ich so ein Idiot bin und einem Penner wie dir vertraut habe«, presste Marko zwischen den Zähnen hervor. Er musste seine ganze Kraft zusammennehmen, um den Kerl nicht anzubrüllen. Für eine ausgewählte Wortwahl reichte die Kraft allerdings nicht mehr.

»Hör mal, du spielst doch nicht auf diese alte Geschichte von damals an. Das ist doch schon ewig her«, wehrte Olli ängstlich ab.

»Lange her?« Markos Stimme klang jetzt wirklich gefährlich. Außerdem machte er unwillkürlich einen Schritt auf seinen Besucher zu. An dem ängstlichen Blick und daran, dass Olli in die hinterste Ecke des Sofas rutschte, auf das er sich mittlerweile gesetzt hatte, erkannte Marko, dass er tatsächlich wütend aussah.

»Lange her?«, fragte er noch mal. »Wenn ich in der Redaktion aufkreuze, lachen die immer noch. Jedes Mal, wenn ich denen eine Story verkaufen will, fragen die mich grinsend, ob das wieder so ein Tipp von diesem Computergenie ist, das ich doch so gut kenne.«

»Ich habe mich geirrt damals. Das kann doch mal passieren«, erwiderte Olli kleinlaut.

»Geirrt?« Marko gab jetzt jeglichen Versuch, die Kontrolle zu behalten, auf. Seine Stimme wurde leise und klang gefährlich. Er stand mittlerweile direkt vor Olli, der noch immer ängstlich auf dem Sofa saß. »Mir haben Fachleute – und ich meine: richtige Fachleute – erklärt, dass so etwas, wie du behauptet hast, technisch nicht möglich ist. Sie haben gesagt, jeder, der auch nur ein bisschen Ahnung von der Materie hat, weiß, dass so etwas nicht geht! Du weißt genau, dass ich mich mit diesen technischen Dingen nicht auskenne. Ich habe mich auf dich verlassen! Ich wusste ja nicht, dass du auch keine Ahnung hast! Wie bist du bloß an deinen Job gekommen? Oder hast du mich ganz bewusst verarscht?«

»Hör mal, das …«

»Ich habe dich für diesen Tipp bezahlt. Ging es nur darum?«

»Du, diesmal …«

»Was ist? Bist du wieder pleite? Willst du mir Blödmann noch ein paar Euro aus der Tasche ziehen oder was?« Marko packte Olli am Kragen und zog ihn auf die Beine. »Es ist jetzt besser, du gehst, bevor ich richtig sauer werde.«

»Nein Marko, warte! Es geht um etwas ganz anderes. Es geht um mein Leben. Die wollen mich umbringen«, rief Olli ängstlich. Marko zerrte ihn schon in Richtung der Haustür.

»Ach, hast du auch noch andere verarscht. Richte ihnen aus, dass ich ihnen viel Glück wünsche. Sie sollen es schön langsam machen und möglichst schmerzvoll«, erwiderte Marko leichthin. Er hatte eine Hand an der Türklinke.

»Marko, hör mir zu!« Olli drückte sich neben der Haustür mit dem Rücken an die Wand. »Das ist kein Spaß. Das sind Profis. Und ich hab mit der Sache nichts zu tun. Sie werden mich trotzdem umbringen.«

»Olli, du hast deine Chance gehabt. Du glaubst doch nicht, dass ich noch mal auf eine von deinen Geschichten hereinfalle.«

Marko packte ihn fester.

»Bitte Marko, du musst mir helfen! Das ist wirklich ernst. Vielleicht springt für dich auch 'ne Story raus.«

Das hätte Olli nicht sagen sollen. Marko zog kräftiger und öffnete die Tür, aber Olli konnte sich im letzten Moment so dagegenstemmen, dass sie wieder ins Schloss fiel.

»Bitte Marko. Was willst du hören? Ja, ich habe einen Fehler gemacht. Ich zahle dir alles zurück. Sobald ich es zusammengekratzt habe, heißt das. Aber du musst mir helfen, bitte.«

Vielleicht beschwichtigte ihn dieser ängstliche Blick. Marko hatte schon immer ein zu großes Herz besessen, vor allem für solche Spinner. Wahrscheinlich überzeugte ihn aber das Angebot, die zu unrecht erhaltene Summe zurückzuzahlen. Auf so eine Idee war Olli bisher noch nie gekommen. Es musste ihm wirklich dreckig gehen.

»Gut!«, lenkte Marko grimmig ein. »Du hast genau fünf Minuten, mich von deiner Geschichte zu überzeugen. Aber denk dir was Gutes aus, sonst bist du danach draußen!«

Er ließ Olli, der seine Jacke wieder zurechtrückte, los.

»Können wir uns da rein setzen? Hast du was zu trinken?«

»Nein! Die ersten dreißig Sekunden sind rum!«

»OK, OK!« Olli schluckte hart. »Sie haben zwei Kollegen von mir umgebracht. Dahinter muss die Software-Mafia stecken, die NSA oder der BND. Vielleicht auch alle zusammen.«

Marko sah ihn stumm an. Seine Geduld neigte sich dem Ende zu. Er hätte seinem ersten Impuls folgen und den Spinner rausschmeißen sollen.

»Ich weiß, das klingt komisch«, sagte Olli. Panik stand in seinen Augen. »Kannst du dich noch an meine beiden Kollegen erinnern, Thomas Krüger und Frank Becker. Thomas ist letzte Woche bei einem Autounfall umgekommen. Jedenfalls ist das die offizielle Version. Heute Nacht ist die Wohnung von Frank in die Luft geflogen, Gasexplosion. Komischer Zufall, oder?«

»Es gibt manchmal komische Zufälle«, erwiderte Marko. Sein Ärger legte sich.

»Waren das Freunde von dir?«, fragte er mitfühlend.

»Na ja, Freunde nicht direkt. Es waren eben Kollegen. Aber das kann kein Zufall sein. Die beiden waren an einer ganz großen Sache dran, das kannst du mir glauben.«

»An was für einer Sache?« Marko wurde wieder misstrauisch.

»Um was es genau ging, weiß ich auch nicht. Die beiden haben mir nichts erzählt.« Olli sah nicht besonders glücklich aus.

»Redet ihr bei euch auf dem Amt nicht miteinander? Wie viele seid ihr eigentlich bei euch in der Abteilung?«

»Also wir sind zu dritt in der Gruppe, die sich direkt mit Angriffen von außen beschäftigt.« Olli machte den Eindruck, als verstärke sich sein Unwohlsein noch.

»Und von euch Dreien arbeiten zwei zusammen und du als Dritter weißt von nichts?« Marko sah ihm fest in die Augen.

»Lass uns mal da rein setzen«, schlug Olli unbehaglich vor. Er marschierte wieder ins Wohnzimmer und setzte sich auf die Couch. »Hast du nicht doch was zu trinken?«

Marko schüttelte ungläubig den Kopf. Der Kerl sah ihn so bittend an, dass er schon wieder weich wurde. Außerdem bekam er langsam selbst Durst. Er holte zwei Flaschen Bier aus dem Kühlschrank, öffnete sie und stellte eine vor Olli auf den Tisch. Er selbst nahm einen Schluck aus der anderen.

»Also, was ist?«, fragte er, während Olli die Hälfte seiner Flasche in einem Zug leerte.

»Ich bin in den letzten Monaten nicht so richtig in Form gewesen«, wich Olli aus. Als Marko ihn nur fragend ansah, fügte er hinzu: »Na ja, ich hatte einfach eine schlechte Zeit. Und ich bin auch nicht so richtig mit den beiden klargekommen. Thomas war ein totaler Streber, so einer im Anzug und mit Sportwagen. Du verstehst schon.«

»Ja, du meinst einer, der auf sein Äußeres achtet und sein Leben im Griff hat.« Marko konnte sich ein ironisches Grinsen nicht verkneifen. Er selbst zog sich ganz gerne gut an.

»Nein, so meine ich das nicht!«, protestierte Olli. »Ich meine, er war ein Wichtigtuer, der sich bei der Chefin eingeschleimt und sich bei allem vorgedrängelt hat, was den eigenen Aufstieg fördert. Ich meine jemanden, der seine Großmutter verkauft hätte, wenn er dadurch eine Stufe höher auf der Gehaltsleiter geklettert wäre.«

»Klingt nach 'nem wirklich guten Freund von dir«, bemerkte Marko trocken. »Und was ist mit dem anderen?«

»Der war sozusagen das Gegenteil. Der arbeitete und lebte völlig chaotisch. Hat kaum geredet. Keine Freunde, keine Frauen, wenn du verstehst, was ich meine. Wenn der überhaupt mit jemand ins Bett gegangen ist, dann garantiert mit seinem Rechner.«

»Deine Trauer scheint sich wirklich in Grenzen zu halten. Wie passt du da rein? Wieso haben die beiden zusammengearbeitet und du nicht mit ihnen?«

Olli fuhr sich unsicher durch die dünnen Haare. »Weißt du, ich habe einfach gemerkt, dass der Job nicht so ganz das Richtige für mich ist. Der Thomas war doch nur geil drauf, irgend so einen armen Schlucker zu erwischen, der sich einen Spaß draus gemacht hat, so ein kleines Programm einzuschleusen. Das sind doch alles Schüler oder andere kleine Wichte.«

»Die einen gewaltigen Schaden anrichten, wenn ich mich nicht irre«, ergänzte Marko kopfschüttelnd. Er ging zum Kühlschrank holte ein weiteres Bier heraus.

»Und was ist mit diesem Frank Sowieso. Warum hast du zu dem keinen Kontakt?«, fragte er, während er die Flasche öffnete.

»Der? Das ist doch ein totaler Spinner! War, heißt das. Dem hat doch nur die Jagd im Netz Spaß gemacht. Über Konsequenzen und daran, was das für die Kids bedeutet, wenn er sie erwischt, hat der keinen Gedanken verschwendet.«

Marko stellte die Flasche vor Olli auf den Tisch. Seine eigene war noch immer zu mehr als der Hälfte gefüllt.

»Du willst doch sicher noch eine, oder?« Er erwartete keine Antwort. »Du hättest es ihm doch erklären können«, nahm Marko das Thema wieder auf.

»Dem? Du hast Frank nicht gekannt«, antwortete Olli empört. »Den hat so etwas nicht interessiert. Der hat dir gar nicht zugehört. Den interessierte nur, was auf seinem Bildschirm abgelaufen ist.«

»Gut, aber was machst du denn so den ganzen Tag, wenn dich dein Job nicht interessiert?«, fragte Marko grinsend.

»Also ich ...« Olli fuhr sich nervös durch die Haare und rutschte unruhig auf der Couch herum. »Also, ich war doch in diesem Hackerklub und dann habe ich damals diesen Wurm programmiert. Naja, und dann haben sie mich erwischt. Sie haben mir diesen Job angeboten. Für mich war es damals die einfachste Möglichkeit, aus dem Schlamassel wieder herauszukommen. Ich dachte, es wäre sicher ganz lustig, mal auf der anderen Seite zu stehen. Aber es ist nicht lustig. Es ist langweilig und ich habe auch ein schlechtes Gewissen meinen alten Freunden gegenüber.«

»Wie? Sind da denn noch Leute von damals dabei? Das muss doch schon Jahre her sein, mindestens ein ganzes Jahrzehnt.«

»Das sind natürlich nicht mehr die gleichen Personen, aber es ist doch noch dieselbe Szene, du verstehst?«

Marko verstand gar nichts. Er kannte sich in dieser Szene nicht aus und wollte, wenn er ehrlich war, mit diesen Spinnern auch nichts zu tun haben. Er nickte trotzdem. Olli nahm einen kräftigen Schluck aus seiner Flasche.

»Gut, jetzt weiß ich wenigstens, woran ich bin mit dir«, sagte Marko nachdenklich. Er starrte stumm auf den Boden.

»Wie meinst du denn das?«, fragte Olli ängstlich nach.

»Du hast in Wirklichkeit keine Ahnung. Du tust nur so und quatschst dummes Zeug.«

»Also, so kann man das auch nicht sagen. Ich bin nur ein wenig aus der Übung«, protestierte Olli.

»Damals mit dieser Sache, die du mir verkauft hast, warst du sicher auch ›ein wenig aus der Übung‹.« Markos Stimme troff vor Spott. Dann wurde er wieder ernst. »Warum hast du mir damals nicht einfach gesagt, dass du von der ganzen Sache keine Ahnung hast?«

»Ich habe mich einfach nicht getraut«, erklärte Olli kleinlaut.

Marko starrte eine Weile stumm auf den Boden und schüttelte den Kopf. Da hatte er ja damals wirklich eine Super-Niete gezogen. Er wollte einfach nicht mehr darüber nachdenken.

Ernst sah er Olli an.

»Und was haben deine beiden Kollegen herausgefunden, dass du glaubst, sie sind dafür umgebracht worden«, wechselte er das Thema.

»Das weiß ich doch nicht! Ich habe dir doch gerade erklärt, dass ich mit ihnen nichts zu tun hatte. Und sie wollten mich auch nicht dabei haben.«

»Und wie kommst du dann darauf?« Marko wurde langsam ungeduldig.

»Weil sie so geheimnisvoll taten. Es muss sich um ein ganz großes Ding gehandelt haben, so wie sie sich aufgeführt haben. Wenn ich auch nur in die Nähe ihrer Rechner gekommen bin, haben sie so getan, als wolle ich ihnen das Patent des Jahrhunderts klauen.«

»Du meinst, sie haben etwas Wichtiges entwickelt, irgend so ein Superprogramm, Wurm – oder wie ihr das nennt – geschrieben?«

»Quatsch! Das war doch nur so ein Spruch. Unser Job ist die Abwehr von Angriffen von außen auf unsere IT-Infrastruktur«, sagte Olli.

»Auf was?«, fragte Marko verständnislos.

»Na auf alles, was mit Rechnern, Rechnernetzen und dem Internet zu tun hat. Es geht darum, zu verhindern, dass hier alles von irgendeinem Spinner lahmgelegt wird.«

Olli nahm einen letzten kräftigen Schluck und stellte die leere Flasche auf dem Wohnzimmertisch ab. Das Bier schien ihm gut getan zu haben. Er sah mittlerweile ein ganzes Stück entspannter aus.

»Die beiden müssen irgendwas gefunden haben, irgendein echt großes Ding«, redete er weiter. »Sie haben so geheimnisvoll getan. Haben von einer großen Bombe gesprochen, die sie platzen lassen wollten. Muss wohl 'ne ganz große Bombe gewesen sein, wenn man sie dafür umgebracht hat.«

»Und dir haben sie nicht mal gesagt, um was es ging?«, fragte Marko vorsichtshalber noch einmal nach.

»Nee, kein Wort. Die wollten den Ruhm für sich allein kassieren. Super Kollegen, wirklich. Na ja, über Tote soll man ja nicht schlecht reden. Hast du noch 'n Bier?« Olli sah Marko erwartungsvoll an. Der war mit seinen Gedanken aber woanders. Außerdem fand er, Olli hatte genug für den Abend.

»Was ich nicht verstehe, ist deine Panik. Selbst wenn du mit deiner Verschwörungstheorie recht hast und es sich um keine normalen Unfälle handelt, dann hast du doch nichts zu befürchten«, sagte er.

Olli wurde wieder unruhig. Nervös fuhr er sich mit seinen Händen durch die Haare.

»Verstehst du das denn nicht? Unsere Arbeitsgruppe bestand aus uns drei. Zwei sind tot. Ich bin der Dritte«, sagte er verzweifelt.

»Wenn ich dich richtig verstanden habe, hatten die beiden etwas herausgefunden und du weißt von nichts. Also warum sollte jemand ausgerechnet dich umbringen wollen, außer vielleicht einer deiner Schuldner?« Marko grinste Olli gehässig an.

»Das ist nicht witzig!«, erwiderte Olli beleidigt. Er sah sich ängstlich nach allen Seiten um. »Was ich dir erzählt habe, weiß doch außer dir keiner. Ich habe mich die letzten Monate durchgemogelt. Nicht mal meine Chefin weiß, dass die Ergebnisse der letzten Zeit allein von Thomas und Frank stammen. Nach außen waren wir immer ein Team. Thomas hat zwar immer so getan, als wäre er unser Chef, hat die Ergebnisse der Arbeit vorgestellt und so, aber alle sind davon ausgegangen, dass wir alles zu dritt gemacht haben. Selbst Frank hat sich in den letzten Wochen ein wenig nach vorn gedrängelt, aber dass ich überhaupt nichts mitgekriegt habe, das weiß keiner.«

»Nun beruhige dich.« Marko stand auf und holte für Olli eine dritte Flasche, die er ihm geöffnet vor die Nase stellte. »Also, erstens ist es mehr als unwahrscheinlich, dass jemand wegen der Entdeckung eines Hackerangriffs umgebracht wird. Es gibt manchmal Zufälle, Dinge passieren gleichzeitig, obwohl wir das für unvorstellbar halten. Für jeden Einzelnen ist es auch völlig unwahrscheinlich, dass er sechs Richtige im Lotto zieht und trotzdem gewinnt jede Woche irgendwer. Und zweitens, wenn es so sein sollte, ist es ein gutes Zeichen, dass du noch lebst. Das zeigt, dass die Mörder wissen, dass du ihnen weniger gefährlich bist als die anderen beiden. Wenn jemand sich so viel Mühe wegen so einer Entdeckung macht, wird er doch wohl so gut informiert sein, dass er weiß, dass du keine Gefahr darstellst.«

Das Zweite hatte Marko nur gesagt, um Olli zu beruhigen. Die Geschichte hielt er für vollkommen abstrus. Er glaubte keinen Moment daran, dass es sich bei diesen beiden Todesfällen um etwas anderes als Unfälle handelte. Schon im nächsten Moment bedauerte er seine Nettigkeit. In Ollis Augen glomm Hoffnung auf.

»Das heißt, du hilfst mir?«, fragte er.

»Das heißt, ich schmeiße dich nicht sofort raus«, erwiderte Marko kalt.

Aber Olli hörte schon nicht mehr zu. Er sprang vom Sofa auf und griff sich seine Jacke, einen altmodisch aussehenden Parka, den er bei seiner Ankunft achtlos über eine Lehne geworfen hatte.

»Lass uns zu dem Haus gehen. Dann weißt du, zu was die fähig sind«, sagte Olli nervös, während er in die Jacke schlüpfte.

»Einen Moment mal! Was für ein Haus?« Markos Begeisterung hielt sich in Grenzen, mitten in der Nacht die Wohnung zu verlassen. Der Zeiger seiner Uhr stand auf zwei.

»Na was für ein Haus wohl? Das, das sie in die Luft gesprengt haben. Das, in dem Frank gewohnt hat«, erwiderte Olli aufgebracht. »Nun komm schon!«

***

Wieso hatte er sich bloß darauf eingelassen, dachte Marko, als sie vor der Ruine des Wohnhauses standen, in der sich die Wohnung von Frank Becker befunden hatte. Die Nacht war dunkel und kühl. Es schien kein Mond. Am Himmel hingen dicke, graue Wolken, die die Sterne verdeckten. Blaues Licht blinkte von Polizei- und Feuerwehrwagen. Die unterschiedlichen Frequenzen der einzelnen Lichter vermischten sich, sodass ein unregelmäßig flackerndes blaues Licht die dunklen Wände gespenstisch beleuchtete. An der Unfallstelle hatten sich etwa hundert Schaulustige versammelt, Marko und Olli fielen daher nicht weiter unter den anderen Menschen auf.

Das Haus war zur Hälfte eingestürzt und qualmte. Feuerwehrleute suchten nach letzten Feuernestern in der mittlerweile gelöschten Brandstelle. Dazwischen liefen Polizeitechniker in Plastikmänteln herum. Ein paar Leute vom Gaswerk versuchten mit gewichtiger Miene, den Gasanschluss des Hauses zu sichern.

Die Schaulustigen wurden von uniformierten Polizeibeamten hinter einer Absperrung aus Flatterband gehalten. In der Nähe der Ruine erkannte Marko auch einzelne Zivilbeamte, bei denen es sich wahrscheinlich um die untersuchenden Kommissare handelte.

Marko fröstelte. Er verspürte keine Lust, an diesem ungemütlichen Ort zu stehen. Auf der anderen Seite erwachte in ihm sein Journalisteninstinkt.

»Komm mit!«, sagte er zu Olli. Er zog seinen Journalistenausweis und drängelte sich durch die Menge zu einem der uniformierten Polizeibeamten durch.

Marko war Journalist. Bis vor einem Jahr war er bei der lokalen Tageszeitung fest angestellt. Nebenbei hatte er als freier Mitarbeiter für überregionale Zeitungen gearbeitet und Bücher geschrieben. Nach etlichen Versuchen gelang ihm vor einem Jahr ein Bestseller. Der Roman war nichts Weltbewegendes. Marko hatte sich einen fiktiven Kriminalfall ausgedacht, eine spannende Handlung hinzugefügt und dabei scheinbar das Glück gehabt, den Ton und den Geschmack der Leser zu treffen. Seitdem verkauften sich auch seine älteren Bücher ganz gut, die vorher doch eher unter die Kategorie ›Ladenhüter‹ gefallen waren.

Für Marko bedeutete der Erfolg vor allem, dass er frei und selbstständig arbeiten konnte. Seit seinem Durchbruch musste er nicht mehr darum fürchten, einen Verleger zu finden. Sein Bankkonto war gut gefüllt und er konnte es sich leisten, sich Zeit für ein neues Projekt zu nehmen. Auch einen ganzen Romanentwurf zu verwerfen, mit dem er nicht weiter kam, stellte kein Problem dar. Allerdings befand er sich jetzt schon seit Wochen in einem Zustand der Einfallslosigkeit und schon mehr als ein Ansatz war im Papierkorb gelandet. Vielleicht gab ihm gerade die Suche nach einem neuen Thema, einer neuen Idee, den Anstoß, sich Ollis Paranoia anzunehmen.

Der Presseausweis, den er dem Uniformierten unter die Nase hielt, stammte von einer der überregionalen Zeitungen, für die er hin und wieder einen Artikel schrieb.

»Könnte ich Herrn Werner sprechen?«, fragte Marko lächelnd und zeigte auf einen etwas fülligeren Herrn in Zivil, der sich mit zwei anderen Männern, die weiße Schutzkittel trugen, unterhielt.

»Kommen sie morgen zur Pressekonferenz, noch gibt es keine Erkenntnisse!« Der Uniformierte war ganz offensichtlich nicht gewillt, Marko und Olli zu den Ermittlern vorzulassen.

In diesem Moment drehte sich Kommissar Werner um. Marko und er kannten sich aus der Zeit, als Marko noch für eine Bonner Lokalzeitung gearbeitet hatte. Sie kamen seit dieser Zeit immer gut miteinander aus und arbeiteten, soweit so etwas überhaupt möglich war, fruchtbar zusammen. Kommissar Werner konnte sich darauf verlassen, dass Marko dafür sorgte, dass die Mitteilungen, die er platziert haben wollte, auch wie besprochen in der Zeitung erschienen. Dafür hatte Marko die Informationen bekommen, die er für seine Zeitungsartikel brauchte. Marko winke ihm freundlich zu. Kommissar Werner, der den Eindruck erweckte, als sei seine Pensionierung nicht mehr in allzu großer Ferne, kam zu ihnen herüber geschlurft.

»Ich dachte, sie sind nicht mehr beim ›Boten‹. Läuft es mit der Schreiberei nicht mehr?«, begrüßte der Kommissar Marko und reichte ihm die Hand. Der ›Bonner Bote‹ war die Zeitung, für die Marko gearbeitet hatte.

»Nein, nein, ich arbeite nur freiberuflich«, erwiderte Marko lächelnd.

»Na, für eine neue Story dürfte das hier nichts hergeben.« Kommissar Werner zeigte betrübt auf die Ruine. »Das war einfach ein tragischer Unfall.«

»Was ist denn da überhaupt passiert?«, fragte Marko. Vorsichtshalber warf er Olli einen warnenden Blick zu. Der stand zappelig neben ihm und sah aus, als würde jeden Moment eine Reihe von Fragen aus seinem Mund sprudeln.

»Eine Gasexplosion«, antwortete der Kommissar müde. »Wahrscheinlich war wieder die Installation veraltet oder ein Gerät defekt. Vielleicht handelt es sich auch um Suizid.«

»Ganz bestimmt nicht! Frank hätte sich nie umgebracht, schon gar nicht jetzt!«, platzte es aus Olli heraus.

Marko warf ihm einen warnenden Blick zu und fragte schnell: »Ist jemand verletzt worden?«

Kommissar Werner sah Olli stirnrunzelnd an. Er winkte die beiden durch die Absperrung. Sie gingen ein paar Schritte auf das Gebäude zu und blieben etwas abseits der schaulustigen Menge stehen. Erst jetzt beantwortete er Markos Frage: »Ja leider, der Bewohner der Wohnung, von der nach unseren Erkenntnissen die Explosion ausging, ist ums Leben gekommen. Die Familie darüber befand sich glücklicherweise zum Zeitpunkt des Unglücks nicht im Haus. Im zweiten Stock wohnte eine bettlägerige alte Frau. Sie ist mitsamt ihrem Bett durch die Decke gebrochen. Der Notarzt konnte nichts mehr für sie tun.«

Marko nickte ernst. Der Kommissar sah aber zu Olli, der nervös von einem Bein aufs andere trat.

»Sie kannten den Bewohner der Unglückswohnung, einen Herrn Becker?«

»Frank, ich meine Frank Becker, ist mein Kollege. Der hätte sich nie umgebracht!«

»Aha«, sagte Kommissar Werner und holte sein Notizbuch aus der Tasche. In aller Ruhe schlug er es auf und kritzelte etwas hinein. »Kannten Sie Herrn Becker gut? Waren sie mit ihm befreundet?«

»Wir waren Kollegen«, wiegelte Olli ab.

»Aber Sie kannten ihn so gut, dass Sie ausschließen können, dass es sich um einen Suizid handelt?«, fragte der Kommissar und sah Olli kritisch an. Olli wurde unsicher.

»Also ein enger Freund von mir war er nicht. Wir kannten uns so, wie man eben Kollegen kennt. Privat hatten wir eigentlich nichts miteinander zu tun.«

Der Kommissar sah ihn zweifelnd an.

»Und wie kommen Sie dann darauf, dass ein Suizid ausgeschlossen ist?«

»Weil er gerade etwas ganz Besonderes herausgefunden hatte. Der hätte sich nie umgebracht. Außerdem war er für so was nicht der Typ.« Olli klang trotzig.

»Wie meinen Sie das? Was für ein Typ nimmt sich nach Ihrer Meinung denn das Leben?«, fragte der Kommissar ruhig und sah Olli weiterhin ins Gesicht. Olli wurde noch unsicherer.

»Ich meine, der war nicht sensibel genug, um auf so eine Idee zu kommen. Der interessierte sich nur für seine Rechner, wenn sie verstehen, was ich meine.«

Kommissar Werner schüttelte zweifelnd den Kopf.

»Was meinen Sie, was ich schon erlebt habe. In jedem zweiten Fall behaupten alle Verwandten und Bekannten, dass es gar nicht sein kann, dass sich der betroffene Mensch das Leben nehmen könnte. Das Umfeld will es nicht wahrhaben. Viele haben ein schlechtes Gewissen, weil sie nicht gemerkt haben oder nicht merken wollten, dass es dem Betroffenen nicht gut ging. Glauben Sie mir, wenn Sie ihn nicht einmal privat kannten, können Sie das ganz bestimmt nicht beurteilen.«

»Und was ist mit Thomas? Den haben die auch um die Ecke gebracht!«, rief Olli aufgebracht.

»Von wem reden Sie und wer sind ›die‹?« Der Kommissar sah jetzt misstrauisch aus. Es wurde Zeit, dass Marko eingriff.

»Mein Freund hier, Herr Vogt, hat in kürzester Zeit zwei Kollegen durch tragische Unfälle verloren«, sagte er schnell, bevor Olli antworten konnte. Der Kommissar nickte Marko verständnisvoll zu. Da konnte jemand schon mal auf merkwürdige Gedanken kommen.

»Haltet ihr mich jetzt für verrückt, oder was? Die beiden hatten etwas herausgefunden und deshalb haben die sie um die Ecke gebracht!« Olli gestikulierte aufgeregt.

»Was haben sie herausgefunden?«, fragte Kommissar Werner.

»Irgendetwas mit Computer-Netzwerken«, erklärte Marko schnell, bevor Olli antworten konnte. »Die drei arbeiten im IT-Bereich. Irgendwas mit Computer-Sicherheit.«

»Computer! Meiner stürzt auch ständig ab!«, knurrte der Kommissar böse. »Aber wegen so etwas bringt doch keiner einen anderen um, obwohl ich manchmal nicht schlecht Lust hätte, meine Kiste aus dem Fenster zu schmeißen. Wer sind denn nun ›die‹?«

»Das weiß ich doch nicht. Ich weiß doch nicht, was die beiden herausgefunden haben«, gab Olli unglücklich zu.

Der Kommissar und Marko sahen sich vielsagend an. Kommissar Werner schüttelte den Kopf und steckte sein Notizbuch wieder ein.

Markos Aufmerksamkeit wurde von einer kleinen Gruppe von Leuten in Anspruch genommen, die am Rande der Ruine standen. Eine Gestalt löste sich aus der Gruppe und ging auf sie zu. Es handelte sich um eine Frau Anfang dreißig. Ihre dunkelblonden Haare waren streng nach hinten gebunden und dort von einem Zopfgummi achtlos zu einem Dutt zusammengeknotet. Mit müden Schritten kam sie auf sie zu. Trotz ihrer offensichtlichen Erschöpfung wirkte ihr Körper gut trainiert. Ihr Gesicht sah abgespannt und blass aus. Marko registrierte automatisch, dass es nicht seinem Schönheitsideal entsprach. Die Züge waren zu kantig, die Nase etwas zu groß und der Mund zu breit. Das leicht vorgestreckte Kinn verriet Entschlossenheit.

»Wie es aussieht, habt ihr wohl nichts für mich«, begrüßte sie die Gruppe. Dabei ließ sie ihren Blick abschätzend über Olli und Marko wandern. Kommissar Werner kannte sie offensichtlich.

»Nach jetziger Erkenntnis: Ein Unfall, kein Fremdverschulden«, antwortete Kommissar Werner.

»Das wird meinem Auftraggeber gar nicht gefallen«, stöhnte die junge Frau. »Das Haus war gut versichert. Dann werden die wohl zahlen müssen.«

»Du tust ja gerade so, als ob es dein Geld wäre. Lass die Versicherungen ruhig blechen«, meinte der Kommissar lächelnd.

»Was die bezahlen müssen, ist mir doch egal. Aber wenn ich nicht bald mal einen Erfolg vorweisen kann, kommen die sicher auf die Idee, dass sie sich mich sparen können. Der Job ist verhältnismäßig gut bezahlt und ich kann es mir im Moment nicht leisten, meinen Hauptauftraggeber zu verlieren.«

»Du weißt, was ich darüber denke. Wenn du nicht so starrköpfig wärst und mit diesem Privatdetektiv-Unsinn aufhören würdest, könnte ich versuchen, was für dich zu tun. Du bist eine gute Ermittlerin gewesen. Das sage nicht nur ich. Ich denke, dass ich es schon hinkriegen würde, dass du wieder eingestellt wirst.« Der Kommissar klang im Gegensatz zu vorher direkt engagiert.

Bevor Marko fragen konnte, was ihm auf der Zunge lag, hatte sich ein junger Mann in einem dieser weißen Schutzanzüge zu ihnen gestellt.

»Wir haben jetzt ein erstes, allerdings noch sehr oberflächliches Ergebnis. Könnte ich kurz mit Ihnen sprechen?«, fragte er den Kommissar.

»Natürlich, also was ist?«, entgegnete der, ohne sich von der Stelle zu rühren.

Der Kriminaltechniker sah vielsagend in die Runde.

»Nun sagen Sie schon. Ein Staatsgeheimnis wird es schon nicht sein«, blaffte der Kommissar. Besonderes Interesse schien er für diesen Fall nicht zu entwickeln.

»Wie Sie meinen«, entgegnete der Kriminaltechniker beleidigt. »Wie es aussieht, ist das Gas aus dem Ofen ausgetreten. Das Opfer betätigte den Lichtschalter, als der Raum schon mit einem Gasluftgemisch gefüllt war. Der Funken beim Schalten entzündete das Gas. Die Explosion breitete sich daraufhin vom Schalter in die Küche und in das dahinter liegende Zimmer aus. Die Leiche des Opfers wurde in den Raum hinter der Tür geschleudert.

Man kann die Ausbreitung der Druckwelle ganz gut aus den in der Küche geborgenen Gegenständen rekonstruieren, soweit sie in diesem Chaos zu bergen waren. Offensichtlich hatte das Opfer einen Kessel mit Wasser aufgesetzt. Der Ofen ist ausgegangen. Er kommt in die Küche, um den Tee aufzugießen, macht das Licht an und Bäng, der ganze Raum fliegt in die Luft.«

»Wieso Tee?«, rief Olli.

»Weil wir sogar noch Überreste einer Teekanne gefunden haben«, erwiderte der Techniker genervt.

»Seht ihr, es war Mord!«, rief Olli aufgeregt. Er zappelte dabei so, dass kein einziges Körperteil ruhig blieb. »Ihr kennt Frank nicht! Der war Kaffeetrinker. Der hat Tee verabscheut. Der hätte sich nie einen Tee gekocht!«

»Nun mal ganz ruhig, junger Mann«, redete der Kommissar mitfühlend auf ihn ein. »Was wissen Sie, was in dem Kopf Ihres Kollegen vorging. Vielleicht hatte er einfach Halsweh und wollte sich einen Erkältungstee machen.«

»Erkältungstee, Suizid? Das ist doch alles Unsinn! Der ist ermordet worden. Das ist so klar wie nur irgendwas!«, rief Olli.

»Komm, lass gut sein. Der Kommissar macht hier seine Arbeit. Du hast doch gehört, dass es keine Anzeichen für einen Mord gibt«, versuchte Marko Olli zu beruhigen.

»Und was ist mit Thomas? Das ist doch völlig unwahrscheinlich, dass zwei normale Unfälle so kurz hintereinander passieren«, rief Olli aufgebracht. »Dazu noch, nachdem sie dieses heiße Ding herausgefunden haben!«

»Sie sagten doch, Sie wissen nicht, was Ihre Kollegen herausgefunden haben?«, fragte Kommissar Werner skeptisch.

»Das weiß ich ja auch nicht, aber es war eine ganz große Nummer«, rief Olli verzweifelt.

»Sie behaupten also, bei den beiden Todesfällen Ihrer Kollegen handelt es sich nicht um Unfälle. Sie wurden stattdessen ermordet wegen einer Sache, von der Sie aber auch nicht wissen, was es ist?« Der Kommissar sah mittlerweile ärgerlich aus. Er schüttelte den Kopf und sah Marko an. »Hören Sie, Herr Geiger. Sie sollten Ihren Freund nach Hause bringen. Ich hoffe, seine Verwirrung wird sich legen, wenn er die Sache überschlafen hat. Ich muss jetzt jedenfalls ins Bett. Morgen, das heißt eher in ein paar Stunden, wartet ein harter Tag auf mich. Wir wollen doch schließlich diesen Fall aufklären.«

»Ich wollte die kleine Runde gerade auf ein Bier einladen«, erwiderte Marko lächelnd. Olli hatte den alten Kommissar wirklich verärgert und man sollte seine besten Quellen pflegen. Man wusste nie, wozu man sie noch einmal brauchen würde.

»Nichts für ungut, vielleicht ein andermal, aber für mich ist es heute wirklich zu spät«, erwiderte der Kommissar und verabschiedete sich mit einem gewunkenen Gruß. Der Kriminaltechniker schloss sich ihm wortlos an.

»Was ist mit Ihnen?«, fragte Marko die Privatdetektivin und setzte das Lächeln auf, das normalerweise für Frauen reserviert war, die ihn interessierten. »Kommen Sie noch mit auf ein Bier? Dahinten die Kneipe scheint noch auf zu sein.«

»Eigentlich müsste ich auch ins Bett, aber was soll's! Die Nacht ist soundso gelaufen«, erwiderte sie und lächelte müde zurück.

»Aber du kannst doch jetzt kein Bier trinken gehen nach allem, was passiert ist«, rief Olli.

»Was sollte ich denn sonst machen? Hier stehen bleiben und auf die Ruine starren?«, entgegnete Marko. »Mir ist kalt und ich habe Durst. Du kannst ja gerne hier bleiben, wenn du nicht mit willst.«

»Bist du verrückt! Ich schwebe in Lebensgefahr! Du kannst mich doch jetzt nicht allein lassen!« Ollis Stimme überschlug sich fast.

Die junge Frau sah irritiert von Marko zu Olli und wieder zurück. Der grinste nur und zuckte die Schultern. Er marschierte einfach in Richtung der Kneipe los, die er auf dem Weg zu dem zerstörten Haus gesehen hatte. Die anderen beiden gingen mit. Olli sah ängstlich in alle Richtungen. Man merkte ihm deutlich an, dass er sich bedroht fühlte. Die junge Privatdetektivin schloss zu Marko auf.

»Ich hatte gedacht, Sie wären die Neuen in Werners Team«, sprach sie Marko an.

»Nein, nein, ich kenne Kommissar Werner noch aus der Zeit, als ich für den ›Boten‹ gearbeitet habe. Da war ich auch für die lokalen Kriminalfälle zuständig.« Marko grinste sie schief an. Die Detektivin musterte ihn ernst.

»Hm, ich habe Sie noch nie gesehen. Ich gehörte früher auch mal zu seinem Team«, erwiderte sie nachdenklich.

»Ich war nur zwei Jahre dabei. Vor etwa einem Jahr habe ich aufgehört.«

»Das kommt hin. Es ist etwa drei Jahre her, als ich ausgestiegen bin.«

Marko hielt der jungen Frau die Eingangstür der Gaststube auf. Sie wollte zur Tür greifen, um sie selbst festzuhalten, aber Marko winkte ihr, einzutreten. Die Privatermittlerin sah nicht so aus, als sei sie gewohnt, dass Männer ihr die Tür aufhielten und auch nicht so, als wüsste sie es zu schätzen. Sie zuckte mit den Schultern und ging voran in die Kneipe. Ohne zu zögern, steuerte sie einen leeren Tisch am Fenster an. Olli trottete hinter ihr her. Marko folgte den beiden.

Die drei hatten gerade ihre Jacken abgelegt und sich gesetzt, als der Wirt schon vor ihnen stand. Marko bestellte drei Bier.

»Für mich ein alkoholfreies«, korrigierte die junge Frau. An Marko und Olli gewandt erklärte sie: »Ich muss noch fahren und ein Führerscheinverlust ist jetzt wirklich das Allerletzte, was ich brauchen kann.«

»Sie arbeiten als Privatdetektivin, wenn ich das richtig verstanden habe«, stellte Marko schmunzelnd fest. »Das hört sich spannend an.«

»Ja, das denken alle, die den Job nicht kennen«, antwortete die Ermittlerin. »Alle, die von meinem Beruf hören, denken sofort an die Lösung spannender Kriminalfälle. Leider sieht die Realität ziemlich langweilig aus. Die meisten Aufträge bekommt man als Kaufhausdetektivin. Da läuft man dann den ganzen Tag unauffällig durch einen Laden und fasst irgendwelche Hanseln, die irgendwas für ein paar Euro eingesteckt haben. Noch schlimmer sind Aufträge von irgendwelchen Privatleuten, die wissen wollen, ob sie von ihrem Partner betrogen werden. Man sitzt die meiste Zeit gelangweilt im Auto und schießt ein paar Fotos. Dazu wird das alles auch nicht besonders gut bezahlt. Da ist dieser Versicherungsjob schon besser. Dabei springen wenigstens ein paar Euro heraus. Allerdings erwarten die Herrschaften schon auch ein paar Ergebnisse zu ihren Gunsten. Leider scheinen die Häuser in letzter Zeit alle ganz ohne Fremdeinwirkung in die Luft zu fliegen. Wenn das so weitergeht, bin ich den Job bald los.«

Olli hatte das Gespräch über nur trübsinnig auf sein Bierglas gestarrt, das der Wirt unterdessen gebracht hatte und ausgesehen, als würde ihn das Gespräch nicht interessieren. Jetzt wachte er auf.

»Aber das stimmt nicht!«, sagte er mit Nachdruck. »Das war kein normaler Gasunfall! Frank ist umgebracht worden, genau wie Thomas!«

»Sie waren eng befreundet mit den beiden, nicht wahr?« Die junge Frau sah Olli mitfühlend an. Olli stierte wieder trübsinnig in sein Bierglas.

Die Detektivin füllte die Flasche alkoholfreies Bier, die ihr vom Kellner hingestellt worden war, in ein Glas um.

»Nee, unser Olli hat nur Angst, dass es ihm als Nächstes an den Kragen geht.« Marko grinste der jungen Frau ins Gesicht und erhob sein Glas. »Also ich heiße Marko Geiger. Prost!«

»Jana Brand«, erwiderte die Ermittlerin und prostete mit ihrem Glas.

Olli nahm sein Bierglas und stürzte den Inhalt zur Hälfte hinunter.

»Und mein Kumpel hier ist Oliver Vogt«, erklärte Marko grinsend.

»Mal im Ernst: Was ist denn das für eine große Sache, von der Sie da eben geredet haben?«, fragte Jana Brand Olli.

»Ich weiß es doch auch nicht! Die beiden haben es mir nicht erzählt, immer nur so Andeutungen gemacht. Es muss aber mit einem Hackerangriff in ganz großem Stil zusammenhängen«, antwortete Olli.

»Ich dachte, Hacker wären so pickelige Schüler, die den ganzen Tag bei Mutti hinter ihrem PC hocken und sich hin und wieder den Spaß gönnen, virtuell irgendwo einzubrechen oder anderen Menschen den Computer zu verseuchen. Ich habe noch nie gehört, dass solche Typen andere Menschen umbringen und ganze Häuser in die Luft jagen.« Jana nagelte Olli mit einem unnachgiebigen Blick aus ihren graublauen Augen fest.

»Nein, so etwas habe ich auch noch nicht gehört«, gab Olli zu. »Aber man hört so einiges nicht. Es ist nicht mehr so, dass nur gelangweilte Jugendliche Computersysteme hacken. Ganz abgesehen von Geheimdiensten, die alles Mögliche mithören, gibt es mittlerweile richtige Banden, die mit Computerkriminalität Geld verdienen. Vereinzelt hört man Berichte darüber, dass Großunternehmen und Banken erpresst werden. Die Unternehmen zahlen, damit sich nicht herumspricht, dass ihre Systeme gehackt wurden und sie damit als unsicher eingestuft werden. Es soll da eine sehr hohe Dunkelziffer geben. Aber genau weiß man das natürlich nicht.«

»Das hört sich alles sehr spannend an, jedenfalls spannender als mein Job.« Jana Brand sah auf die Uhr und trank ihr Glas aus. »Leider muss ich morgen früh wieder heraus und es ist schon zu spät.«

»Und was ist mit den Morden?«, fragte Olli.

Jana grinste. »Wenn es sich wirklich um Morde handelte, ist die Gasexplosion vorsätzlich herbeigeführt worden und meine Auftraggeber bräuchten die Versicherungssumme nicht ausbezahlen. Wenn ich das herausbekäme, wären meine Auftraggeber begeistert. Sie würden mir auf die Schulter klopfen und ich hätte den Job für die nächsten Jahre sicher. Leider handelte es sich um einen Unfall. Sie haben doch gehört, was Kommissar Werner gesagt hat.«

»Der weiß doch gar nicht, was los ist«, ereiferte sich Olli.

»Na, na, na, ich habe früher mit ihm zusammengearbeitet. Auch wenn er nicht so aussieht, er ist der Beste. Wenn er sagt, es ist ein Unfall, dann ist es einer. Warten wir die kriminaltechnische Untersuchung ab. Vielleicht wissen wir dann mehr.« Jana stand auf.

»Vielleicht können Sie uns die Ergebnisse mitteilen«, warf Marko ein.

Jana Brand lächelte ihn an, sagte dann aber: »Am besten Sie fragen selbst beim Kommissariat nach.« Sie winkte einen Gruß und ging zur Theke.

Marko starrte ihr hinterher. Sie war zwar eigentlich nicht sein Typ, aber er fühlte sich in ihrer Nähe wohl. Er hätte sie ganz gerne wiedergesehen. Das schien allerdings nicht auf Gegenseitigkeit zu beruhen. Sie hatte nicht angebissen, den hingeworfenen Köder nicht geschluckt.

»Dann wollen wir mal«, sagte er zu Olli und leerte den Rest seines Glases in einem Zug.

Als er bezahlen wollte, berechnete der Kellner ihm nur die zwei Bier. Jana Brand hatte ihr Getränk selbst bezahlt. Marko zuckte mit den Schultern. Er hatte die Runde ausgeben wollen.

»Wer nicht will, der hat schon«, dachte er.

»Sag mal, wo willst du denn hin?«, fragte Marko, als sie aus der Gaststättentür traten und Olli den gleichen Weg einschlug wie er. »Deine Wohnung liegt doch in der entgegengesetzten Richtung.«

»Ich komme mit zu dir. Ich kann doch jetzt nicht in meine Wohnung. Du hast doch gesehen, zu was die fähig sind!«

»Oh nein, du übernachtest nicht bei mir!«

»Aber du kannst mich doch nicht in den Tod schicken«, jammerte Olli. »Die sprengen mich auch in Luft. Dann kannst du mich ja gleich umbringen.«

»Du kannst nicht bei mir schlafen. Ich brauche meine Ruhe!«, bekräftigte Marko noch einmal seine Entscheidung. Olli sah aber so ängstlich aus und sah ihn dermaßen bettelnd an, dass er doch sein Herz erweichte.

»Gut, ich bringe dich nach Hause und wir sehen gemeinsam nach, ob niemand den Gashahn aufgedreht hat«, lenkte er ein. »Da kannst du dich dann verbarrikadieren. Morgen früh gehen wir gemeinsam zum Kommissariat und fragen nach, was die Untersuchung ergeben hat.«

»Aber dann musst du mich morgen früh abholen, falls ich dann noch lebe.«

Marko verdrehte die Augen. Die beiden machten sich auf den Weg zu Ollis Wohnung.

Final Shutdown

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