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2.

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Der Wikinger rannte los wie ein Büffel. Erstaunte Blicke folgten ihm, wie er in Richtung der unterirdischen Schatzhöhlen davonstürmte.

Mary O’Flynn, geborene Snugglemouse, und Edwin Shane, der jüngste O’Flynn-Ableger, sahen dem Büffel nach, wie er tobend seinen Weg am Strand entlang nahm.

„Hat den Nordpolaffen was gestochen?“ fragte Edwin Shane. „Warum rennt der so?“

Mary O’Flynn seufzte ein bißchen und gab dem Bengel einen leichten Klaps.

„Du sollst nicht immer Nordpolaffe zu ihm sagen“, tadelte sie mit ihrer rauchigen Reibeisenstimme. „Er hört es lieber, wenn man ihn Wikinger oder Nordmann nennt.“

„Daddy sagt aber auch immer Nordpolaffe“, krähte das Söhnchen.

Martin Correa und die Rote Korsarin folgten dem Wikinger zu den labyrinthartigen Hohlen. Karl von Hutten, der hochgewachsene Sohn einer indianischen Häuptlingstochter und Sohn des Generalkapitäns vom deutschen Walser-Handelshaus Venezuelas, schloß sich ihnen an.

Vor den gut getarnten und nicht sichtbaren Höhlen blieben sie alle vier stehen.

„Ich kann mir schon denken, was passiert ist“, sagte Karl von Hutten. „Die Kerle haben sich an unserem Gold vergriffen, bevor sie von hier verschwanden. Also sehen wir nach.“

„Woher willst du das wissen?“ fragte Thorfin.

„Eine logische Vermutung. Ich wollte vorhin schon mal nachsehen.“

„Na klar“, tönte Thorfin. „Das war gleich mein allererster Gedanke. Gehen wir mal hinunter.“

Das Labyrinth, eine gigantische Tropfsteinhöhle, die einen riesigen Teil der Insel unterirdisch durchzog, nahm sie auf.

Diese Höhlen hatte Old O’Flynn durch einen reinen Zufall entdeckt, nämlich damals, als er mit Mary O’Flynn Streit gehabt und sie ihm kurzerhand eine Bratpfanne auf den sturen Schädel geschlagen hatte. Daraufhin war der „Admiral“ wütend und zugleich dösig über die Insel getaumelt und ganz plötzlich im Boden versunken. Dieser Zufall hatte ihnen die Höhlen beschert und Old O’Flynn eine alptraumhafte Nacht, denn hier unten gab es fürchterliche Gestalten aus Stalagmiten und Stalaktiten, die Geister und Gnomen, Riesen und Trollen ähnelten.

In der letzten Zeit war ein Weg in die Tiefe aus dem Gestein angelegt worden. Man sauste jetzt nicht mehr hinunter wie damals, sondern konnte über zwei lange Windungen nach unten gehen.

Kurze Zeit später standen sie in der riesigen Haupthöhle, einem Dom, in dem Kristalle in allen Farben glänzten und künstliche Seen und eine Himmelskuppe vorgaukelten.

Karl von Hutten entzündete eine Fackel.

In dem Labyrinth waren überall Halterungen für Fackeln angebracht worden. Eine weitere Höhle war zu einem Versteck umfunktioniert, falls Great Abaco ganz überraschend angegriffen werden sollte. Dann konnten sich hier vorerst einmal die Frauen und Kinder verstecken.

Als die Fackel brannte, sahen sie sich um.

„Genau das habe ich mir gedacht“, sagte Martin Correa in die Stille hinein. „Die Kerle haben kräftig abgeräumt.“

Er sagte es leidenschaftslos und ohne sich aufzuregen, aber den nordischen Oberschrat regte es mächtig auf, daß man nicht nur ihr Vertrauen mißbraucht, sondern sie auch noch so heimtückisch beklaut hatte.

„Diese Mistkerle“, ächzte er und hob drohend die Faust. „Diese Bande werde ich bis zum Jüngsten Tag jagen. Wir werden noch mehr Schiffe losschicken und alles absuchen.“

„Jean ist unterwegs“, sagte von Hutten ruhig. „Jerry Reeves geht ebenfalls auf Suche. Mit dir sind das drei Schiffe. Mehr können wir nicht abstellen, ohne unsere Kampfkraft zu schwächen. Zwei segeln Patrouille, und den Rest brauchen wir auf der Insel.“

Thorfin wollte das natürlich wieder nicht einsehen, doch schließlich gab er nach, als von Huttens Blick etwas kühler wurde. Der blonde und dunkeläugige Mann mit dem exotischen Aussehen hatte so eine Art, den Wikinger anzublicken, daß der ständig das Gefühl hatte, seine rauchgrauen Felle würden in Salzwasser schwimmen.

„Na gut“, knurrte er, „aber mich hält keiner auf. Ich werde …“

„Das wissen wir bereits“, sagte Siri-Tong knapp. „Du wirst sie bis zum Jüngsten Tag jagen. Jetzt wollen wir mal feststellen, was die Halunken mitgenommen haben.“

Kein Geringerer als ausgerechnet Don Antonio de Quintanilla, an dessen klebrigen Fingern früher viel Geld und Gold hängengeblieben war, hatte eine Aufstellung über die Schätze angelegt. Peinlich genau hatte er jede Kiste, Truhe oder Faß aufgeführt, und das alles noch einmal für die einzelnen Höhlen aufgegliedert.

Der Korsarin fiel es nicht schwer, genau festzustellen, was insgesamt fehlte. Die Kerle hatten in Eile gehandelt und sich daher in der großen Haupthöhle bedient.

Ein paar Minuten schwiegen sie, bis Siri-Tong alles verglichen hatte.

„Na, was fehlt nun?“ fragte Thorfin ungeduldig.

Das Gesicht der Roten Korsarin war ernst. Nicht aus dem Grund, weil etliche Truhen oder Kisten fehlten. Sie dachte viel weiter, behielt diese Gedanken aber vorerst noch für sich.

„Es fehlen sechs eisenbeschlagene Truhen. Drei davon waren mit indischem Schmuck aus Südamerika gefüllt, drei andere enthielten Silberbarren. Vierzehn Kisten, gefüllt mit Gold- und Silbermünzen, sind ebenfalls verschwunden. Und ein Fäßchen voller erlesener Perlen haben die Schnapphähne außerdem mitgenommen.“

„Ist das alles?“ fragte Thorfin.

„Ist das etwa nichts?“ entgegnete Siri-Tong.

„Einundzwanzig Kisten, Truhen und Fässer insgesamt“, zählte Thorfin auf. „Das ist nur ein Bruchteil, obwohl mich das mächtig ärgert.“

Siri-Tong sah sich noch einmal um, konnte aber nicht feststellen, daß noch mehr fehlte. In die hinteren Höhlen, wo ebenso kostbare Dinge lagerten, waren die Engländer jedenfalls nicht vorgedrungen. Das wäre viel zu zeitraubend gewesen. Also hatten sie sich beeilt und sich mit dem begnügt, was sie in der großen Höhle in aller Eile zusammenraffen konnten.

„Es geht nicht allein um ein paar Kisten mit Münzen“, erklärte die Rote Korsarin. „Es geht darum, daß diese Kerle Blut geleckt haben. Sie haben sich hier gründlich umgesehen, und jetzt, da sie einen Teil der Beute haben, wird ihre Gier die Oberhand gewinnen, wie das leider so üblich ist. Man gibt sich nicht mit ein paar Goldstücken zufrieden, wenn man weitere tonnenweise haben kann. Das ist es, was ich befürchte: Irgendwann, vielleicht schon bald, werden sie wieder aufkreuzen, geblendet von den Schätzen, unberechenbar, alles aufs Spiel setzend, auch ihr Leben.“

„Was wollen sieben Kerlchen gegen uns ausrichten?“ fragte Thorfin und schnippte mit den Fingern. „Nicht so viel!“

„Sie haben bereits eine ganze Menge gegen uns ausgerichtet“, sagte Karl von Hutten ernst. „Sie haben zwei Schiffe versenkt, zwei Männer getötet, uns bestohlen und sich die Lage des Stützpunktes gemerkt. Das sind sehr empfindliche Nadelstiche. Wir werden Mühe haben, diese Kerle zu erwischen, die längst über alle Wellen sind. Du vergißt, Thorfin, daß die Dreimast-Karavelle ein ungewöhnlich schnelles Schiff ist. Das holen wir mit den Galeonen oder deinem Viermaster niemals ein.“

„Der Meinung bin ich auch“, sagte Siri-Tong. „Diese Männer werden andere aufhetzen oder um sich scharen, seit sie wissen, was hier verborgen ist. Möglicherweise tun sie sich sogar mit den Spaniern zusammen, wenn das Erfolg verspricht.“

Wie recht die Rote Korsarin mit ihrer Vermutung hatte, ahnte zu diesem Zeitpunkt noch niemand. Ihre Besorgnis war daher echt, und auch der Poltermann wurde immer nachdenklicher.

„Martin vermutete, daß sie sich auf Andros verstecken oder aber direkt nach England zurücksegeln“, meinte Thorfin schwach. „Ist die ‚Empress‘ denn gut verproviantiert?“

Martin Correa nickte düster. „Leider, leider. Sie ist, wie immer bei unserer Genauigkeit, mit Trinkwasser und Proviant für mindestens einen Monat ausgerüstet. Und das für mindestens ein halbes Dutzend Männer. Die Kerle werden also für eine lange Zeit keine Not leiden.“

„Sie könnten, falls sie zurücksegeln, ihren Proviant auch für ein paar Goldmünzen auf Kuba ergänzen“, sagte Siri-Tong. „Aber das wissen wir eben nicht.“

„Was können wir denn tun?“ Thorfin Njal war merklich kleinlauter geworden, denn er sah wohl ein, wie aussichtslos es in Wirklichkeit war, die Kerle zu jagen, wenn ihnen nicht gerade ein Zufall half.

„Wir können nicht viel tun“, beantwortete Karl von Hutten die Frage des Nordmannes. „Genaugenommen können wir nicht mehr tun, als abzuwarten. Natürlich werden auch ein paar Schiffe alles absuchen, doch ob das Erfolg verspricht, steht auf einem anderen Blatt. Du hast aber doch die ‚Empress‘ noch gesehen, wie du sagtest. Welchen Kurs segelte sie da? Vielleicht erhalten wir so einen kleinen Anhaltspunkt.“

„Selbst wenn ich den Kurs wüßte, muß das nichts zu bedeuten haben. Ich habe den Schlorren ja auch nur im Morgennebel ganz flüchtig als Schatten gesehen, und da war er auch gleich wieder verschwunden. Schließlich hielt ich es für eine Sinnestäuschung.“

Thorfin ließ einen ellenlangen Fluch vom Stapel, den die anderen geduldig über sich ergehen ließen.

Sie betraten etwas niedergeschlagen noch ein paar weitere Höhlen, um sich dort umzusehen.

Aber die Schiffbrüchigen von der „Glorious“, wie die im Sturm gesunkene Galeone hieß, waren nicht weiter in das Höhlensystem vorgedrungen und hatten sich mit dem begnügt, was sie gleich am Eingang gefunden hatten. Immerhin war das auch eine ganze Menge.

Bedrückt darüber, daß die Lage des Stützpunktes jetzt ein paar absolut unberechenbaren Kerlen bekannt war, verließen sie die Grotte wieder.

An den aufgehäuften Schätzen hatte keiner mehr Freude. Außerdem war es nur ein Mittel zum Zweck, das sie den Spaniern abgenommen hatten, um deren Kampfkraft zu schwächen.

Jetzt hatten ein paar Kerle den Spieß einfach umgedreht.

Fast alles, was der Wikinger bei Diego auf Tortuga eingekauft hatte, war jetzt gelöscht. Ein riesiger Teil der Getränke, Bier, Wein, Rum und andere Köstlichkeiten, wurde in Old Donegals Kneipe verstaut.

Diese Kneipe hieß schlicht und einfach „Rutsche“, weil es in ihrem Innern einen versteckten Mechanismus gab. Wurde dieser ausgelöst, dann öffnete sich eine Art Falltür, die über eine Rutsche direkt ins Meer führte.

Diese Rutsche war für renitente Burschen vorgesehen, die kampflustig wurden, sobald sie einen über den Durst getrunken hatten. Die Rutsche brachte ihnen dann die nötige Abkühlung.

Natürlich kannte jeder dieses tückische Ding – aber nur solange er noch nüchtern war. In angetrunkenem Zustand dachte niemand mehr daran, und so passierte es sehr oft, daß einer der Zecher – großspurig und kampfeslustig – sich unversehens im Wasser befand.

„Alles verstaut, Mary?“ fragte der Wikinger.

„Alles bestens verstaut“, versicherte Mary O’Flynn. „Du mußt mir nur noch sagen, was du bei Diego ausgelegt hast.“

„Nicht der Rede wert. Darüber reden wir später. Erst will ich nach den verdammten Bastarden suchen. Gib mir bitte ein Bier!“

„Ein kleines?“

Diese Frage war eigentlich überflüssig, denn der Nordmann hatte von Diego einen ganz speziellen Humpen gekauft, und der faßte genau eine halbe Gallone. Dementsprechend groß war auch der Humpen.

Der Wikinger sah sie fast empört an.

„Ein großes natürlich, aber dafür nicht so einen kleinen Rum.“

In der Kneipe rannten die Zwillinge des Wikingers herum, das Söhnchen, das auf den Namen Thurgil hörte, und das blonde Mädchen Thyra. Sie spielten mit Smokys Sohn David und mit Edwin Shane, der sich als echter O’Flynn entpuppte und gern Streiche ausheckte.

Nach und nach fanden sich noch ein paar Leute in der Rutsche ein.

Hesekiel Ramsgate erschien, Hasards Vetter Arne von Manteuffel, Oliver O’Brien, Hein Ropers und der schwergewichtige Barba, Siri-Tongs Steuermann, der einem narbigen Ungeheuer glich und bei Schlägereien immer „die Kuh fliegen ließ.“

Jeder trank ein frisch gezapftes Bier. Das war immer so üblich, sobald frische Ware aus Tortuga gebracht wurde. Dann saßen die Männer bei einem kleinen Schnack zusammen, ehe sie wieder an die Arbeit gingen.

Heute war die Stimmung allerdings nicht gerade fröhlich.

„Martin vermutet, daß die Kerle Andros anlaufen werden, falls sie sich hier auskennen“, sagte der Wikinger nach einem langen Schluck. „Das bietet sich als gutes Versteck an.“ Thorfin setzte den Humpen ab und starrte auf den kümmerlichen Rest. Etwas Schaum bedeckte noch den Boden. „Aber der Vorstoß kann genausogut ins Leere gehen. Verdammt noch mal, wo sollen wir die Bastarde nur suchen?“

„Gezielt können wir nicht suchen“, sagte Arne von Manteuffel. „Um uns herum gibt es mehr als siebenhundert Inseln und Inselchen, abgesehen von den mehr als tausend Korallenbänken und Felsklippen, die wir selbst alle nicht kennen. Die Kerle können praktisch in alle Himmelsrichtungen gesegelt sein. Great Abaco können wir getrost ausklammern, denn sie nehmen sicher an, daß wir ihnen auf den Fersen bleiben und werden so schnell wie möglich eine größere Strecke zurücklegen.“

„Wo würdest du denn suchen?“ fragte der Wikinger und ließ sich noch einmal seinen Humpen füllen.

„Südlich des Nordost-Kanals“, erwiderte Arne. „Aber da gibt es allein im Exuma Sound zahllose Inseln. Andros würde ich natürlich auch nicht ausklammern. Aber das sind alles nur Vermutungen. Etwas Konkretes haben wir nicht in der Hand.“

„Ich werde es versuchen. Sollte ich die Kerle erwischen, habt ihr sicher Verständnis dafür, daß ich sie nicht zurückbringe.“

Alle nickten spontan. Sie wußten, was der Nordmann damit sagen wollte. Keiner würde seinen Zugriff überleben, denn da kannte Thorfin keinen Pardon, wenn es um die Existenz des Schlupfwinkels ging. Noch nie war die Bedrohung so groß gewesen.

Der Wikinger spendierte noch eine letzte Runde.

Von dem Stör ließ er sich danach sein „Messerchen“ bringen, ein mehr als yardlanges Schwert von beachtlichem Gewicht, und hängte es um.

Thorfin liebte Verharmlosungen, denn an Bord des Schwarzen Seglers hatte er auch noch ein „Sesselchen“ eine Art Thron, der fest in den Planken des Schiffes verbolzt war, und in dem er wie ein Gott im Walhall saß und per Handzeichen Ruderanweisungen gab.

„Barba nehme ich noch mit“, sagte er und zählte ein paar weitere Männer auf. Arne überstellte ihm noch Hein Ropers und Hanno Harms. Mehr konnte er nicht abgeben. Die anderen, ausnehmend eine deutsche Crew, mußten zur Bewachung auf der „Wappen von Kolberg“ bleiben.

Thorfin hatte jetzt eine Gallone Bier und eine Viertelgallone Rum getrunken, ohne daß er auch nur glasige Augen hatte. Das war einfach für ihn die Mindestmenge, die erforderlich war, um einen kleinen Durst zu löschen.

Aber er war jetzt in der richtigen Stimmung und hätte etwas darum gegeben, das Versteck der englischen Bastarde zu erfahren.

Alle guten Wünsche begleiteten ihn, als sich der Schwarze Segler von der Pier löste und Kurs auf die offene See nahm.

Was die anderen dann hörten, waren gebrüllte Kommandos mit einer Donnerstimme, die sogar Thor zur Ehre gereicht hätte.

An den vier Masten des Schwarzen Seglers „Eiliger Drache über den Wassern“ entfaltete sich immer mehr Tuch, das sich im Wind blähte.

Auf Backbordbug liegend entschwand das Schiff schließlich den Blicken der Zurückgebliebenen.

Seewölfe - Piraten der Weltmeere 701

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