Читать книгу Seewölfe - Piraten der Weltmeere 68 - Fred McMason - Страница 4
1.
Оглавление„Die Tante läuft einfach nicht mehr richtig“, stellte Ferris Tucker, der hünenhafte Schiffszimmermann, nun schon zum wiederholten Male fest. Aus zusammengekniffenen Augen blickte er vom Vorderkastell auf die schäumende Bugwelle, die die „Isabella VIII.“ vor sich herschob, und die so aussah wie ein weißer wallender Bart.
Smoky, der Decksälteste, hielt sich die Ohren zu.
„Mann, Ferris“, stöhnte er, „ich kann das bald nicht mehr hören. Du sagst es jeden Tag zehnmal. Klar, wir haben bei dem Gefecht den Besan eingebüßt, und jetzt ist er nur noch ein Stumpf, an dem sich höchstens noch die Hemden zum Trocknen aufhängen lassen. Aber ich kann doch schließlich auch nichts dafür, oder?“
„Irgendwer hat immer die Schuld“, murmelte Tucker. Er wandte Smoky sein breites Kreuz zu und ging vom Vorkastell in die Kuhl hinunter, um dort dem nächstbesten zu verkünden, daß die „Tante“, wie er den ranken Rahsegler liebevoll nannte, kaum noch Fahrt liefe.
Aber den Spruch kannten seit Tagen alle, und sie kannten auch Ferris’ schlechte Laune deswegen.
Hasard sah den Zimmermann auf sich zukommen. Sein Gesicht war ernst und verschlossen. Der Seewolf war in der letzten Zeit von harten Schicksalsschlägen heimgesucht worden. Er dachte nicht gern an die letzte Zeit zurück. Gwen, seine Frau, war tot. Sein Vater Godefroy von Manteuffel war hinterrücks von dem Spanier De Coria ermordet worden, ausgerechnet in dem Augenblick, als er ihn endlich gefunden hatte. Seine Kinder, die beiden Zwillinge Hasard und Philip, waren verschwunden. Buck Buchanan war tot. Als er sich rettend vor den Seewolf gestellt hatte, war er von De Coria erschossen worden.
Da war dieser zerschossene Besanmast eine Bagatelle.
Doch das Leben ging weiter, und Hasard blieb nichts anderes übrig, als sich mit seinem Schicksal abzufinden, so hart es auch war. Das hatte ihn reifen lassen, und in seinem dunkelbraunen Gesicht erschien jetzt auch kaum noch ein Lächeln.
Tucker blickte in die eisblauen Augen und räusperte sich. Er gab sich dem Seewolf gegenüber betont gleichmütig und ließ sich vor allem nicht anmerken, daß es ihm jetzt vordringlich um den zerfetzten Besanmast ging. Nur seine Augen waren vorwurfsvoll und betrübt auf den traurigen Stumpf des ehemaligen Mastes gerichtet.
Hasard bemerkte den Blick. Er spürte die innere Unruhe, mit der Ferris wie ein bettelnder Köter auf und ab schlich – und mußte ihm schließlich recht geben.
Klar, sie benötigten dringend einen neuen Besan. Solange das Wetter gut war, konnte nicht viel passieren. Gab es aber einmal Schlechtwetter oder harten Sturm, dann konnte die Lage für sie alle schnell kritisch werden.
Die schmalen Lippen des Seewolfs verzogen sich flüchtig. Es war kein Lächeln, es deutete lediglich ein Verstehen an, doch er sagte nichts.
Tucker räusperte sich lautstark. Betont gleichgültig sah er dann in den Himmel, an dem leichte Wolken entlangzogen. Man sah am Horizont die Küste von Syrien, wo sich schwach die Umrisse weißer Moscheen abzeichneten. Dazwischen kreuzten ein paar kleinere Segler, Kaikis, eine Dau und dicht unter Land eine Karavelle. Die „Isabella“ selbst fuhr Schlabbertörn, sie lief platt vor dem Wind her.
Wieder bemerkte Hasard den vorwurfsvollen Blick zum zerfetzten Besan, und diesmal stahl sich ein flüchtiges Lächeln auf sein Gesicht.
„Fehlt dir etwas, Ferris?“ fragte der Seewolf.
In Tuckers Augen glomm Hoffnung auf. Er kam näher aufs Achterdeck und zeigte anklagend auf den Stumpf des Besans.
„So geht das nicht mehr weiter, Hasard“, sagte er. „Ohne Besan ist das Schiff nur ein halbes Schiff. Sobald sich das Wetter ändert, kriegen wir Schwierigkeiten und Ärger.“
„Ich weiß. Wir werden irgendwo eine einsame Bucht anlaufen, eine Zeder fällen und daraus einen neuen Besan bauen. Das abgebrochene Ding ist mir schon lange ein Dorn im Auge.“
Tucker atmete erleichtert auf.
„Und wann laufen wir eine Bucht an?“
„So bald es geht.“
„Du willst erst den Malteserschatz heben?“
„Noch weiß ich gar nicht, wo sich dieser Schatz befindet, Ferris. Nein, erst zimmern wir einen neuen Mast, danach werden wir uns um den Schatz kümmern.“
Hasards Stirn umwölkte sich, wenn er an die letzten Worte seines sterbenden Vaters dachte. Er hatte kein einziges der Worte vergessen, die der sterbende Mann gesagt hatte.
„Ich weiß, wo der Schatz des Malteserordens liegt“, hatte sein Vater geflüstert, „die Kriegskasse – ich weiß, daß sie existiert, irgendwo – im Mittelmeergebiet – und du, mein Sohn, du – mußt sie suchen und finden.“
Das und noch ein paar andere Sätze waren seine letzten Worte gewesen, die jetzt wieder in Hasard nachhallten.
Sie befanden sich schon auf der Suche nach diesem Malteserschatz, aber sie hatten nur ganz vage Anhaltspunkte, genauer gesagt, so gut wie keine.
Doch jetzt ging erst einmal die Sicherheit der Mannschaft und des Schiffes vor.
Die Küste verschwand langsam und wurde zu einem flirrenden Strich fern am Horizont.
Tucker war zufrieden und teilte seine Zufriedenheit der ganzen Crew mit, indem er grinsend an Deck herumschlich. Ja, bald schon würden sie einen neuen Mast haben, das Lateinersegel hochziehen und wieder gute Fahrt laufen können.
Doch es kam anders, als die meisten sich das vorgestellt hatten.
Gegen Mittag hallte Dans Ruf aus dem Großmars. Zwei Gesichter lugten aus luftiger Höhe hinter der Segeltuchverspannung hervor. Das eine gehörte Dan O’Flynn, das andere dem Schimpansen Arwenack.
„Guckt mal, wie die beiden Affen sich ähneln“, sagte Blacky laut lachend und wies mit der Hand nach oben. „Die werden sich jeden Tag ähnlicher, und bald schon wird sie keiner mehr auseinander halten können. Ruft man einen, dann kreuzen prompt alle beide auf.“
Blacky wollte sich ausschütten vor Lachen, und auch die anderen stimmten ein, denn wenn es etwas zu hänseln gab, brachte das Abwechslung, und die wollte sich niemand entgehen lassen.
Dan O’Flynn schwoll in solchen Situationen auch immer sofort der Kamm, doch diesmal ließ er die Hänseleien verachtungsvoll über sich ergehen und ignorierte sie.
„Karavelle Backbord voraus!“ schrie er zum Deck hinunter. „Könnte einer dieser verdammten Piraten sein!“
Hasard hob die Hand, zum Zeichen, daß er verstanden hatte. Er war von Piraten gründlich bedient. Uluch Ali war ihm noch unangenehm in Erinnerung und auch die anderen, die sie immer wieder gejagt hatten.
Er schob das Spektiv auseinander und blickte in die von Dan angegebene Richtung.
Mit dem Auge war kaum etwas zu sehen, dazu mußte man schon die Adleraugen eines Dan O’Flynn haben. Aber das Spektiv holte die Karavelle deutlicher heran.
Backbord voraus lief eine zweimastige Karavelle auf Parallelkurs. Sie lief unter wenig Zeug, obwohl der Wind handig wehte. Bei diesem Wetter hätte sie alle Segel setzen können.
Hasard reichte das Spektiv an Ben Brighton, der vergeblich versuchte, mit dem bloßen Auge nähere Einzelheiten zu erkennen. Auch er blickte angestrengt hindurch, ehe er den Kieker wieder zusammenschob.
„Nun – was hältst du davon?“ fragte der Seewolf. Er lehnte mit dem Ellenbogen auf dem Holz der Schmuckbalustrade.
„Anscheinend Piraten“, erwiderte Ben. „Und ich habe das Gefühl, als hätten sie uns längst entdeckt. Daher werden sie auch Segel weggenommen haben.“
„Ganz richtig, das sind auch meine Gedanken, Ben. Sie warten ab, bis wir auf gleicher Höhe sind, und dann wollen sie uns Zunder geben.“
Sein Gesicht verschloß sich und wurde finster.
„Wenn sie das wollen, werden wir ihnen die Freude natürlich nicht verderben. Sie sollen ihren Spaß haben. In einer halben Stunde wissen wir mehr.“
Die „Isabella“ blieb auf demselben Kurs. Etwas später war die Karavelle klar und deutlich zu sehen. Sie trieb mit nur zwei Segeln vor dem Wind, hatte aber etwas nach Steuerbord gedreht, wie Hasard erkannte. Außer den beiden Schiffen war weit und breit nichts zu sehen. Blieb die „Isabella“ auf dem jetzigen Kurs, dann mußten sie zwangsläufig aufeinander zulaufen.
„Laß das Schiff gefechtsklar machen, Ben!“ befahl der Seewolf. Er blickte wieder durch das Spektiv.
„Aye, aye! Schiff klarmachen zum Gefecht“, brüllte er. „Sand und Wasser an Deck. Die Stückpforten bleiben noch geschlossen, die Kerle sollen annehmen, wir sind völlig unwissend.“
Edwin Carberry, der Profos mit dem Rammkinn und dem zernarbten Gesicht, wirkte fast beleidigt, als er erwiderte: „Das Schiff ist gefechtsklar, Ben. Es ist nur eine Kontrolle erforderlich. Wir werden es diesen lausigen Kakerlaken schon zeigen!“
Natürlich, sie waren, seit sie hier im Mittelmeergebiet fuhren, immer gefechtsklar, denn die unangenehmen Überraschungen rissen so gut wie nie ab. Deshalb war auch wirklich nur eine Kontrolle nötig.
Um unliebsamen Zwischenfällen vorzubeugen, bewaffneten sich Batuti und Big Old Shane mit ihren verheerenden Brandpfeilen, die weiter schossen, als jede Culverine ihre Kugeln verfeuern konnte.
Der Kutscher brachte Sand nach oben, ein paar Pützen Wasser für die Wischer wurden gemannt und an Deck Schalen mit glühender Holzkohle aufgestellt, damit Batuti und Shane ihre Brandpfeile sofort schußfertig hatten.
Unterdessen holte die „Isabella“ immer mehr auf.
Durch das Spektiv sah Hasard Kerle einer bunt zusammengewürfelten Mannschaft, die geschäftig hin und her eilten, ihre Aktivität aber geschickt zu verbergen versuchten.
„Sechs Rohre auf jeder Seite“, sagte er zu Ben Brighton, „vorn und achtern starre Geschütze, keine Drehbassen. Scheint ein tollkühner Haufen zu sein. So wie es aussieht, wollen sie uns vorbeilaufen lassen, uns dabei eins mit dem Heckgeschütz verpassen und uns anschließend mit einer Breitseite beharken.“
„Ein paar der Kerle lungern an den Brassen herum“, sagte Ben Brighton. „Die haben innerhalb kürzester Zeit alles Zeug an den Masten. Und andere lauern hinter dem Schanzkleid. Es werden immer weniger Kerle, wie es aussieht.“
Brighton starrte verwundert den Seewolf an, denn er glaubte nicht richtig zu sehen, als sich auf dem sonnengebräunten Gesicht plötzlich ein Lächeln breit machte.
„Weshalb lachst du, Hasard?“ fragte er verwirrt.
Der Seewolf winkte ab. „Nichts Besonderes. Ich dachte nur daran, daß wir dringend einen neuen Besan brauchen.“
„Ja, aber – aber ausgerechnet jetzt …“, meinte Ben. Er begriff nicht, auf was Hasard hinaus wollte.
„Gerade jetzt“, sagte Hasard. „Wie sieht es da drüben aus, Dan?“ rief er zum Großmars hinauf.
„Die Kerle laden hinter dem Schanzkleid die Musketen!“ schrie Dan herunter. „Und die Lunten glimmen auch schon!“
„Na, dann ist ja alles in bester Ordnung. So, und nun werden wir diesen Halunken mal einen Denkzettel verpassen.“
Daß die „Isabella“ überlange Kanonenrohre hatte, ahnte zu dieser Zeit auf der Karavelle noch niemand. Wohl hatten sie die überlangen Masten gesehen und wußten, daß der Rahsegler eine Menge Zeug tragen konnte und dementsprechend schnell lief. Nur die Rohre sah noch niemand, und so erhoffte man sich leichte und schnelle Beute.
Al Conroy, der Waffenmeister an Bord der Galeone, zündete die Lunten aus den Töpfen mit glühender Holzkohle an. Die Männer standen auf dem Sprung. Geladene Musketen waren verteilt, die Brandpfeile, Entermesser, Morgensterne und Pistolen lagen bereit, und noch immer gab sich jeder den Anschein eines friedlichen Mannes. Sollten sie nur kommen, diese lausigen Mittelmeer-Piraten, sie würden die Hölle auf Erden erleben.
Die „Isabella“ näherte sich nun sehr rasch der Karavelle. Der Abstand betrug noch etwa fünfhundert Yards, als Hasard seine Befehle gab.
„Drei Strich nach Steuerbord abfallen, Pete“, sagte er zu dem Mann am Ruder. „Stückpforten hoch und Feuer frei für die vordere Drehbasse. Schießt ihm den einen Mast weg, aber laßt den anderen stehen! Sobald die Drehbasse geschossen hat, eine volle Breitseite!“
Die Stückpforten flogen in dem Augenblick hoch, als auf der Karavelle eine Gestalt hinter dem Schanzkleid auftauchte. Eine Hakenbüchse wurde über das Schanzkleid geschoben, eine andere erschien zwischen den Speigatten.
Zwei Schüsse krachten. Die Kugeln verschwanden wirkungslos in der See. Der Crew rang das nur ein müdes Grinsen ab.
Al Conroy senkte die Lunte auf die vordere Drehbasse, nachdem er das Geschütz peinlich genau ausgerichtet hatte. Knisternd fraß sich die Glut der Lunte durch den Zündkanal zum Zündkraut. Die Ladung explodierte schlagartig und raste zum Gegner hinüber.
Dort schlug es wenige Sekunden später brüllend und fauchend ein.
„Treffer!“ schrie Conroy und riß die Arme hoch.
Aber schon folgte der nächste Befehl zum Feuern.
Die Breitseite wummerte los. Acht Culverinen spuckten ihren tödlichen Hagel zu der Karavelle.
Jeder Schuß saß. Zwei Siebzehnpfünder zerfetzten den Mast, der sich hoch in die Luft hob, als wolle er tanzen, und dann über Bord ging. Spieren flogen an Deck herum, das stehende Gut auf der Backbordseite raste wie wildgewordene Schlangen durch die Luft und riß ein paar Männer von den Beinen.
Innerhalb kürzester Zeit herrschte bei den Piraten das perfekte Chaos an Bord.
Ein Geschütz wurde abgefeuert, die Kugel klatschte weit vor der „Isabella“ in die See und versank.
„Klar zum Entern!“ rief der Seewolf.
Die „Isabella“ schwang leicht nach Backbord und näherte sich der angeschossenen Karavelle. Ein paar Piraten lagen schreiend und fluchend unter den zerfetzten Segeln und konnten sich nicht befreien.
Auf der Galeone wurde alles klargemacht zum Entern. Ein paar Männer waren damit beschäftigt, die Schothörner mittels der Geitaue zu den Rahen aufzuholen, um dem Schiff einen Teil seiner Geschwindigkeit zu nehmen.
Enterhaken, Morgensterne, Beile, Messer und Pistolen lagen bereit.
Ferris Tucker schwang sein Mordinstrument, die riesige Axt. Fender wurden außenbords angebracht, um den Anprall zu mildern. Und dann war es soweit.
Die Schüsse aus den Culverinen und der Drehbasse hatten ausgereicht, die Piratencrew zu zermürben. Sie waren so mit sich selbst beschäftigt, daß an große Gegenwehr nicht zu denken war. Nur ein paar von ihnen stellten sich zum Kampf, ein großer Teil war verletzt oder versuchte noch immer, sich von dem Segel und dem laufenden und stehenden Gut zu befreien.
Carberry warf den Enterhaken hinüber, als die beiden Bordwände sich berührten, ein zweiter und ein dritter Enterhaken hakten sich hinter dem Schanzkleid fest. Taue wurden belegt und spannten sich straff, als sie die langsamere Karavelle mitzogen.
Tucker sah sich einem wild aussehenden Kerl gegenüber. Er war dicklich, hatte eine spiegelblanke Glatze und einen wüsten Schnauzbart. Mit einem Morgenstern rückte er auf Tucker zu, schwang ihn hoch über seinen Schädel und zielte nach dem Kopf des rothaarigen Riesen.
Noch bevor Ferris Tucker mit seiner Axt zuschlagen konnte, jagte Batuti dem Schnauzbart einen Pfeil in die Brust.
Tucker schnappte sich den nächsten Mann. Der Seewolf säbelte gerade einen mit dem Degen nieder. Dan brüllte „Ar-we-nack“, und das gab anscheinend den Ausschlag, dazu kamen die vier Toten, die blutend an Deck lagen.
Ein scharfes Kommando ertönte in das Arwenackgebrüll hinein. Entermesser und Pistolen fielen auf Deck. Die Piraten drängten sich auf der Backbordseite ans Schanzkleid und hoben die Arme.
Der Kampf war zu Ende, noch bevor er richtig begonnen hatte.
„Wir geben auf“, sagte eine kalte Stimme.
Vom Achterkastell näherte sich ein Mann in weißen türkischen Hosen, die ihm bis an die Waden reichten. In den Knien lief die Hose sackartig zusammen und gab den notwendigen Gesprächsstoff für Dan und Morgan.
„Mindestens fünf Pfund“, sagte Dan grinsend.
„Vor Angst natürlich“, meinte Luke Morgan.
Der Mann in den türkischen Hosen erkannte den Seewolf auf Anhieb als den Kapitän der Galeone. Sein Oberkörper war muskulös und nackt. Dicke Muskelstränge zogen sich von den Schultern bis zum Hals. Im Hosenbund trug er einen Krummdolch mit reich ziselierter Scheide. Seine Oberlippe zierte ein mächtiger Bart. Seine Augen waren kalt und ausdruckslos auf Hasard gerichtet.
Hasard betrachtete ihn ebenso kühl und abschätzend. Die blutige Degenspitze wippte leicht vor den Türkenhosen des Mannes hin und her.
„Es war ein Irrtum“, sagte er in einem so schauderhaften Englisch, daß Hasard das Gesicht verzog. „Wir wollten nicht überfallen Sie, sondern anderes Schiff. Wir nicht kämpfen gegen Sie!“
Hasard lachte verächtlich.
„Ihr habt wohl gemerkt, daß ihr an die Falschen geraten seid, was?“
„Es war ein Irrtum“, beharrte der Pirat. In seinen kalt blickenden Augen glaubte Hasard jedoch Angst zu erkennen, und als er sich umsah und die anderen Gestalten musterte, las er in jedem Gesicht das gleiche: Angst, erbärmliche Angst. Die Treffsicherheit und das harte Entern hatten ihren Mut gebrochen, und die Toten, die es gegeben hatte, nervten die Feiglinge total. Obwohl die Seewölfe noch nicht richtig losgelegt hatten, waren die anderen schon erledigt. Sie wußten, daß sie keine Chance hatten.
„Was tun wir jetzt mit den Kerlen?“ fragte Ben Brighton, der die Angst in den Gesichtern ebenfalls überdeutlich las. „Sollen wir sie an der nächsten Rah aufhängen, einen nach dem anderen?“
Das war natürlich nicht ernst gemeint, doch der Anführer der Bande verstand die Worte, und seine Hände hoben sich entsetzt noch höher.
„Nicht hängen!“ rief er schrill. „Ich bin ein ehrlicher Kaufmann. Ich werde Ihnen geben Seide, Gewürze …“
Die Seewölfe lachten ungeniert über den ehrlichen Kaufmann, der jetzt verzweifelt versuchte, seine Haut zu retten.
„Wo hast du denn Seide und die Gewürze, du ehrlicher Kaufmann?“ fragte Hasard. „Einem anderen Schiff abgekauft, was!“
„Alles an Land, Captain, ich lasse holen.“
Hasard winkte verächtlich ab. Er sah Tucker an, und wieder erschien das rätselhafte Lächeln auf seinem Gesicht.
„Sieh dir das Schiff an, Ferris. Gibt es nicht etwas, das wir gebrauchen können?“
Tucker betrachtete das Deck, das zum größten Teil zu Kleinholz verwandelt war. Er wußte nicht, auf was der Seewolf hinauswollte.
„Den Mast, Ferris“, erinnerte Hasard, „deshalb habe ich diesen ehrlichen Kaufmann doch kapern lassen. Wir ersparen uns damit eine Menge Arbeit.“
Der Fockmast stand noch, er war heil und unversehrt, und er würde einen guten Besan für die „Isabella“ abgeben.
Tucker begann dröhnend zu lachen. Sein mächtiger Körper schüttelte sich, er lachte und lachte.
„Das habe ich auch noch nie gehört, daß man ein Schiff entert, nur um ihm den Mast zu klauen. Ein Witz ist das, ein Witz!“ schrie er und schlug sich auf die Schenkel.
Nach und nach fiel die ganze Crew in das Gelächter ein. Die Piraten standen dümmlich daneben und wußten nicht, was sie von der ganzen Sache halten sollten. Die meisten begriffen die englische Sprache ohnehin nicht, und selbst ihr Kapitän konnte mit den paar Worten nicht viel anfangen.
Er sah die wilde Horde nur lachen, immer lauter, immer schrecklicher, und als das Gelächter kein Ende nahm, wurde er kreidebleich und schluckte hart. Wahrscheinlich lachten sie jetzt darüber, wie sie einen nach dem anderen aufhängen würden, dachte er. Schließlich hätte er es ja selbst so gehalten, wäre er Sieger geblieben.
Hasard ging ein paar Schritte auf den zurückweichenden Mann zu.
„An dem Mast da vorn“, sagte er klar und deutlich.
Sofort kriegte der Kapitän das große Zittern.
„Nicht an den Mast“, schrie er wild.
„Laß mich doch ausreden, du ehrlicher Kaufmann“, sagte Hasard. „An dem Mast da vorn hätten wir unsere helle Freude! Kapiert?“
Ein angstvolles Kopfschütteln war die Antwort. Der Kerl verstand immer noch nicht, was Hasard wollte. Er sah nur immer die Hand, die auf den Fockmast deutete, und das konnte seiner Ansicht nach nichts Gutes bedeuten. Klar, da wollten sie ihn aufhängen, an dem Mast da vorn, und ihre helle Freude hatten sie auch noch daran. Der kalte Angstschweiß brach ihm aus, er wich noch weiter zurück. Längst war jede Härte aus seinen Augen verschwunden. Und als der Seewolf nach ihm griff, schlotterte er an allen Gliedern.
„Los, Freundchen, jetzt hat der Spaß ein Ende!“ fuhr Hasard ihn an. „Ihr werdet jetzt den Fockmast abbauen und zwar so, daß er nicht beschädigt wird. Hast du das verstanden?“
„Nicht hängen, Captain?“ wimmerte der Mann.
„Nein, verdammt, wir brauchen euren Mast! Und ihr Rübenschweine werdet jetzt alle an die Arbeit gehen, sonst lasse ich euch wirklich noch hängen!“
Zwei Augen starrten Hasard an, die nichts mehr begriffen.
„Ihr nur wollen unseren Mast?“ fragte er gebrochen. Das würde er nie überwinden. Er, der andere überfiel, ausplünderte und ermorden ließ, war jetzt selbst das Opfer. Ein lächerliches Opfer. Sie schossen sein Schiff zusammen, schlugen ein paar Leute tot und klauten ihm den Fockmast. Mehr wollten sie nicht! Nur den Fockmast! Deshalb hatten sie ihn in Grund und Boden geschossen. Diese Schmach würde er sein ganzes Leben lang nicht verwinden.
„Den Mast“, ächzte er. „Nur den Mast!“
„Na los, gib deinen Leuten endlich den Befehl, mit der Arbeit zu beginnen“, brüllte der Profos. „Oder muß ich dir Rübenschwein erst die Haut in Streifen von deinem Affenarsch ziehen?“
Des Profos’ Lieblingsspruch, über den die Crew nur noch grinsen konnte und der bei ihnen keine Wirkung mehr zeigte, kam hier ganz anders an, als Carberry sich das vorgestellt hatte.
Dieser Piratenknüppel nahm alles für bare Münze, was die Männer sagten. Und was seinen Affenarsch betraf …
Entsetzt hielt er sich mit zwei Händen den Hintern fest, blickte angstvoll auf den Profos und wich bis zum Schanzkleid aus.
„Nicht in Streifen abziehen“, radebrechte er entsetzt. „Das ist Barbar, nicht mit Chamdullah, nicht Streifen schneiden.“
„Was hat er denn bloß?“ fragte Ed verwundert.
„Er hat Angst um seinen Affenarsch“, erwiderte Dan lakonisch. „Du hast es ihm doch eben selbst gesagt.“
Chamdullah, wie der Pirat hieß, stieß ein paar schnelle Sätze auf Arabisch hervor, die panisches Entsetzen bei den anderen Piraten hervorriefen. Anscheinend nahm jeder an, jetzt würde ihm die Haut in Streifen von seinem verdammten Affenarsch gezogen.
Hasard, den die Abwechslung insgeheim amüsierte, unterbrach das Theater mit einer herrischen Geste.
„Fang an!“ befahl er Chamdullah. „Barra, barra!“
Das „rack dich“ auf arabisch brachte alle Mann augenblicklich auf die Beine. Es war ein Zauberwort, das Hasard einmal bei Uluch Ali gehört hatte.
Ferris Tucker konnte sich immer noch nicht beruhigen. Kopfschüttelnd sah er zu, wie die Kerle daran gingen, den Mast abzubauen.
Der Profos trieb sie an. Sobald einer nicht spurte, ließ er seinen Lieblingsspruch ab — und der bewirkte hier wahre Wunder. Und Carberry bereitete es Spaß, den Burschen kräftig einzuheizen. Die waren so verschüchtert und ängstlich, daß er sich direkt für die ganze Piratenmeute schämte.
Inzwischen segelten die beiden Schiffe weiter, fest miteinander vertäut, bis die Arbeit erledigt war.
Und die Kerle schufteten wie die Wilden, damit sie endlich ihren Fockmast loswurden.
„Ein feiner Gedanke war das“, lobte Ferris Tucker den Seewolf. „Wir hätten sonst irgendwo im Libanon eine Zeder fällen müssen, und das wäre sicher nicht ohne Schwierigkeiten gegangen.“
„Ganz zu schweigen von der langen Arbeit“, sagte Hasard. „Das dauert erfahrungsgemäß immer einige Tage.“
„Aha, die Burschen kriegen den Mast nicht ’raus“, schnaubte der Profos. „Willig, willig, ihr Rübenschweine, nehmt die Äxte und haut die Planken kaputt. Das Deck könnt ihr später reparieren, das ist jetzt nicht wichtig.“
Unter Tränen hieben sie die Äxte und Beile in die Planken. Auf der angeschossenen Karavelle häufte sich das Kleinholz.
Chamdullah konnte kaum noch hinsehen, wie sie das Schiff zerhackten, sein schönes stolzes Schiff, wie es in Trümmer ging, seines Mastes beraubt wurde. Und nur weil dieser Kerl einen neuen Besan benötigte. Beim Scheitan, hätte er sich den nicht irgendwo genauso gut an Land holen können?
Verbissen und voller Wut, gepaart mit Angst vor diesem narbengesichtigen Kerl mit seinen wilden Drohungen, hieb er Planke um Planke heraus, verwandelte das Schiff in ein Wrack und mußte noch froh sein, daß diese Barbaren ihn am Leben ließen.
Und sie hatten so verteufelt gut geschossen, daß seine Karavelle nicht das kleinste Leck hatte.
Immer wenn er zögerte, erschien dieser Narbengesichtige und faselte etwas davon, daß er ihm die Haut abziehen würde. So ging es eine ganze Weile weiter, unter Fluchen, Ächzen und Stöhnen.
Die Seewölfe sahen nur zu. Niemand rührte eine Hand. Sollten diese hinterhältigen Schufte sich einmal so richtig austoben, es geschah ihnen nur recht. Vielleicht brachte sie das auf andere Gedanken.
Hasard und Ben inspizierten inzwischen die Laderäume der Karavelle. Mit der Beute war es schlecht bestellt. Außer ein paar stinkenden Schafsfellen befand sich nichts darin.
Sie ließen auch die Kammer des Kapitäns Chamdullah nicht aus. Aber auch dort gab es nicht viel zu holen, außer ein paar Flaschen Boucha, einem aus Feigen gebrannten Schnaps von angenehmem Duft.
„Die Flaschen nehmen wir mit, zur Feier des Tages“, erklärte der Seewolf. „Eine wahrhaft schwache Prise, aber wir können uns mit dem Mast trösten, das erspart uns einige Tage Aufenthalt.“
Er und Ben klemmten sich ein paar Flaschen unter die Arme und stiegen wieder an Deck.
Der Mast lag schon flach. Unter den anfeuernden Rufen Carberrys hatten die Kerle geschuftet wie noch nie in ihrem lausigen Piratenleben.
Es würde ein guter Besan werden, stellte Tucker insgeheim fest, ein Besan aus allerbestem beständigen Zedernholz.
„Hievt an, und auf die Galeone damit“, schrie Carberry. „Und daß ihr mir das Ding ja nicht beschädigt.“
Fäuste griffen widerwillig zu, hievten den Mast an und bugsierten ihn unter verhaltenem Stöhnen auf die Galeone hinüber.
In Chamdullahs Augen glaubte Hasard Tränen zu erkennen. Diese entehrende Schmach war einfach zu viel für ihn. Wenn es sich an den arabischen Küsten herumsprach, daß man ihn geentert hatte, nur um seinen Mast zu klauen, dann war er erledigt. Von Gibraltar bis zum Libanon würde man über ihn lachen.
„Wie ich jetzt kommen an Land, Captain?“ fragte er mit gebrochener Stimme den Seewolf.
„Pullen“, erwiderte Hasard lakonisch. „Aus den Trümmern könnt ihr euch Riemen zimmern und dann immer fröhlich drauflos!“
„Mein Schiff ist ein Wrack“, jammerte Chamdullah.
„Ja, genauso sieht es aus. Aber noch schlimmer wäre es, euer Mast stünde noch, und ihr würdet alle daran hängen.“
„Nicht murksen ab Leute, Captain?“
Hasard würdigte den Pirat keiner Antwort mehr, er ging zum Achterkastell hoch. Statt seiner gab Carberry Antwort, und er tat das auf seine Art.
„Hör zu, du Sohn einer syrischen Wanderhure“, raunte er, „den Mast haben wir doch nur mitgenommen, damit euch keiner daran aufhängen kann. Kapierst du das, du Rübenschwein, was, wie?“
Chamdullah starrte ihn verständnislos an. Was hier vorging, schien er immer noch nicht richtig zu begreifen. Er faßte sich an die Stirn, sah den Profos an und schüttelte den Kopf.
„Du bist auch kein Schnellmerker“, tadelte Carberry. „Werft die Leinen los, sonst muß ich dir doch noch deine Haut in Streifen von deinem verdammten Affenarsch …“
Chamdullah und ein paar andere spritzten angstvoll zur Seite. Im Nu wurden die Leinen losgemacht. Wie begossene Hunde standen die Piraten an Deck und starrten der „Isabella“ nach, die jetzt rasch Fahrt aufnahm und davonglitt, immer schneller, nachdem sie ihr ganzes Zeug setzte.
Zurück blieb ein total verwüstetes Schiff, ohne Masten, zu Kleinholz verarbeitet, von acht Siebzehnpfündern getroffen, ein Schiff, das nicht mehr segeln und nicht mehr steuern konnte. Und zurück blieben Chamdullahs Piraten, mit dummen, verkniffenen Gesichtern standen sie da. Das Unwetter in Gestalt der Seewölfe war über sie gekommen, und dieses Unwetter hatte sie geschafft und entnervt. Das war schlimmer als ein Orkan gewesen.
„Was soll denen schon passieren“, sagte Hasard. „Der Wind hat leicht gedreht und ist fast auflandig. Nicht mehr lange, und sie treiben an die Küste zurück.“
Weit hinter ihnen verschwand das halbe Wrack am Horizont. Die „Isabella“ segelte jetzt mit guter Brise über Steuerbordbug weiter. Die Seewölfe suchten nach einer stillen Bucht, in der sie den Mast aufriggen konnten.
Am späten Nachmittag begann der Wind erneut zu drehen, und gleichzeitig wurde er auch schwächer. Von See her, aus Richtung der Insel Zypern, ballten sich Nebelbänke zusammen. Zuerst waren es nur Schwaden, die sich an der Kimm auftürmten, dann wurden es wolkenähnliche Gebilde und schließlich Nebelbänke, die schwerfällig über das Wasser krochen.
Und sie fraßen den leichten Wind, der noch wehte.
Hasard blickte zur syrischen Küste hinüber. Steile Felsen ragten dort auf, dazwischen gab es flache Stellen, Buchten, die bewohnt waren und lange felsige Strände.
Mit dem Spektiv suchte er das Land ab.
„Es wird Zeit, daß wir eine Bucht anlaufen, Ben“, sagte er. „Nicht mehr lange und der Nebel hat uns eingeholt. Ich denke, wir werden dort drüben die felsige Bucht anlaufen. Die scheint unbewohnt zu sein. Kurs auf die Bucht, Pete“, befahl er dem Rudergänger Pete Ballie.
„Aye, aye, Sir, Kurs auf die Bucht“, wiederholte Pete.
Aber der Nebel war schneller. Er hüllte die „Isabella“ von allen Seiten ein, waberte um sie herum, verzerrte die Geräusche und griff mit tausend weißlichen, kriechenden Armen nach dem Schiff. Er schwebte zum Land, legte wabernde Schleier und kroch auf die Felsen hinauf.
Die Galeone lief jetzt auf direktem Kurs mit schwach auflandigem Wind auf die Bucht zu.
„Hoffentlich schaffen wir es noch“, sagte Ben. „Soll ich Tiefe loten lassen?“
Immer schwächer wurde der Wind. Die Blinde vor dem Bugspriet fiel schlaff in sich zusammen und auch die Segel am Hauptmast sahen so aus, als atmeten sie tief aus.
„Ja, Smoky soll loten. Vermutlich gibt es hier Unterwasserfelsen.“
Smoky warf den vier Kilo schweren Lotkörper über Bord. Vorher hatte er die Lotspeise, etwas Talg, in die Vertiefung des Lotkörpers gedrückt. Auf diese Art ließ sich gleich die Beschaffenheit des Meeresgrundes feststellen.
Die Leine verschwand bis zum ersten Lederstreifen, der mit einem Loch markiert war. Das entsprach einer Wassertiefe von mehr als fünf Faden.
Daran änderte sich auch nichts, als das Schiff weiter in die Bucht hineinlief. Die Wassertiefe blieb fast konstant.
Smoky holte das Lot ein und untersuchte die Lotspeise. An dem Talg haftete heller Sand, es gab keine Felsen unter Wasser.
Hasard war zufrieden, so waren sie wenigstens die Sorge los, auf einen Felsen aufzulaufen.
Die Bugwelle verschwand, es gab keinen Schaum mehr. Mit der letzten Restfahrt glitt die „Isabella“ zum Land hin, das jetzt ebenfalls im Nebel verschwunden war. Die Segel hingen schlaff herunter.
„Fallen Anker!“ rief Ben Brighton. Und zum Seewolf gewandt, sagte er:
„Ich glaube, wir befinden uns keine hundert Yards mehr vom Strand entfernt. Das sagt mir ganz einfach mein Gefühl.“
„Richtig, Ben, das muß man im Gefühl haben. Und wir wollen bei diesem Nebel nichts riskieren, vielleicht gibt es doch noch ein paar Felsen dicht am Ufer.“
Der Anker klatschte ins Wasser, die Trosse lief aus. Eine letzte Lotung ergab vier Faden Wassertiefe. Sanft schwang die „Isabella“ in einem Bogen an der Ankertrosse herum, bis sie still lag.
Von Land her waren keine Geräusche zu hören. Zu sehen gab es auch nichts, es herrschte eine gespenstische Ruhe.
Hasard reichte Ben Brighton eine der erbeuteten Flaschen.
„Jeder soll einen kräftigen Schluck trinken, Ben, danach beginnen wir mit dem Aufriggen. Es wird noch eine verdammte Knochenarbeit werden.“
Nachdem jeder einen kräftigen Schluck des Feigenschnapses genommen hatte, scheuchte Tucker die Männer an die Arbeit. Der Mast mußte aufgerichtet werden, und es war fraglich, ob sie den Besan an Bord überhaupt hochbrachten. Neue Wanten mußten angebracht und das laufende Gut eingeschert werden.
Es war eine Heidenarbeit, die den Seewölfen bevorstand, aber sie gingen mit Freude und Eifer an die Arbeit heran, denn den Mast hatten sie schon, der mußte nicht erst mühselig an Land gefällt und geschält werden.
Das Aufriggen begann.
Tucker und Shane leisteten den Großteil der Arbeit, die anderen halfen mit, wo immer sie benötigt wurden, und selbst der Seewolf legte Hand mit an.
Einmal lichtete sich der Nebel etwas, und Hasard konnte einen kleinen Teil der Bucht überblicken. Sand, ein paar größere Steine dazwischen, dahinter begannen Felsen, die in schwindelerregender Höhe standen. Ganz oben befand sich eine Art Plateau, ein gigantischer überhängender Felsbrokken.
Der Seewolf kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können.
Ben Brighton trat neben ihn und starrte ebenfalls in die Höhe.
„Das ist doch …“, sagte er leise. „Oder trügt mich mein Blick?“
„Bestimmt nicht“, versicherte Hasard. „Vier Augen können sich bestimmt nicht so irren. Es scheint sich um eine alte Tempelruine zu handeln.“
Noch bevor sie genauere Einzelheiten erkennen konnten, schob sich wieder der Nebel dazwischen. Aber die Ruinen hatten sie alle beide ganz deutlich gesehen. Ein paar Säulen, vom Zahn der Zeit angenagt und leicht verwittert – es mußte sich wirklich um die Ruine eines alten Tempels handeln.
„Das sehen wir uns später an“, sagte der Seewolf leise.
„Und wie kommen wir da hinauf? Das ist reiner Selbstmord.“
Der Seewolf winkte ab.
„Wir haben schon viele Selbstmorde hinter uns“, sagte er, „und jedesmal haben wir sie überlebt.“
Jetzt war von der Ruine nichts mehr zu sehen. Der Nebel hatte sie endgültig verschluckt.
Hasard wandte sich ab. Er verspürte plötzlich eine innere Unruhe. War es der Anblick dieses geheimnisvollen Tempels gewesen oder etwas anderes?
Seine beiden Kinder vielleicht, an die er in diesem Augenblick ebenfalls dachte?
Er war ihnen so dicht auf der Spur gewesen, an Bord der „Harknes“, als er Sir Freemont bewußtlos gefunden hatte. Die Kinder waren noch an Bord gewesen, aber Samuel Stark und Isaac Henry Burton waren mit ihnen in dem kleinen Beiboot verschwunden.
Und Baldwyn Keymis, der ziegenbärtige Friedensrichter von Falmouth, hatte sein Ende gefunden, ein schreckliches Ende. Beim Anblick des Seewolfes war er vor Angst über Bord gesprungen – und die Beute eines Hammerhais geworden, ein Tod, vor dem er schon immer eine panische Angst empfunden hatte.
Wo mochten die Kinder sein, überlegte Hasard. Vielleicht befanden sie sich gar nicht so weit weg, vielleicht aber waren sie auch schon tot wie Gwen, seine Frau.
Tief in Gedanken versunken schritt er auf dem Achterkastell auf und ab. Ein ruheloser Mann, vom Schicksal gezeichnet.
Die Mannschaft ließ ihn in Ruhe. Sie wußten, daß er grübelte, nachdachte, überlegte, und da war es besser, man ging ihm aus dem Weg.
Ab und zu trafen den Seewolf scheue Blicke, der seine ruhelose Wanderung auf dem Achterkastell wieder aufgenommen hatte.