Читать книгу Seewölfe - Piraten der Weltmeere 94 - Fred McMason - Страница 4
1.
ОглавлениеFerris Tucker, den hünenhaften Schiffszimmermann der „Isabella“, hatte eine eigenartige Lähmung erfaßt. Total verkrampft blieb er am Rand der Eisfläche stehen und wäre fast noch in das eisige Wasser gestürzt, wenn Edwin Carberry ihn nicht schnell am Arm ergriffen hätte.
Der Seewolf und Matt Davies waren fast gleichzeitig unten angelangt und starrten über die See.
An den unbekannten Toten in der Eishöhle dachte in diesem Augenblick niemand mehr.
„Ich habe es gewußt“, stammelte Tucker entsetzt. „Ich habe es die ganze Zeit geahnt. Die ‚Isabella‘ ist weg!“
„Ja, sie ist weg“, murmelte Hasard tonlos. „Sie ist abgedriftet, der Wind hat sie weitergetrieben, aber Ben wird es schon schaffen, er kehrt zurück.“
Der Seewolf versuchte, auf die drei Gefährten beruhigend einzuwirken, aber die hatte alle die gleiche Angst erfaßt wie Ferris Tucker.
Die Situation war auch geradezu makaber.
Da standen sie, einsam und verlassen auf einem mittelgroßen Eisberg, irgendwo in einem eisigen Meer, und vor ihnen auf der Eisschwarte lag ihr Boot, die Schaluppe, mit der sie von der „Isabella“ zu dieser Eisinsel gepullt waren.
Vom Schiff aus hatten sie ein Boot gesehen, eingeschlossen in das treibende Eis, und diese Entdeckung hatte sie vermuten lassen, daß zu dem Boot auch ein Mensch gehörte, der sich hierher verirrt hatte.
Deshalb waren sie losgepullt, und etwas später hatten sie einen Mann gefunden. Er hockte hoch über ihnen, in einer Grotte aus Eis, neben angekohlten Holzplanken, die er aus seinem Boot geschlagen hatte, um sich zu wärmen.
Doch dieser Mann war seit Ewigkeiten tot. Das Eis hatte seinen Körper für alle Zeiten konserviert. So hockte er stumm vor seinem längst erloschenen Feuer, mit weitaufgerissenen eiserstarrten Augen und einem wilden Bart, der ebenfalls nur noch aus Eis bestand. Es war eine grausige Entdeckung gewesen.
„Ben wird nicht zurückkehren“, sagte Tucker hart. „Er kann es gar nicht, ohne das Risiko einzugehen, einen Totalverlust der ‚Isabella‘ zu riskieren. Sieh dich doch um, Hasard. Ringsherum gibt es immer mehr Eisberge, sie tauchen praktisch aus dem Nichts auf und scheinen sich rasend zu vermehren. Wie soll Ben uns da jemals finden?“
Hasard hatte das schon vorhin bemerkt.
Anfangs waren es nur einige kleine treibende Eisfelder gewesen, dann tauchten ganze Eisinseln auf, und jetzt waren sie von etlichen Eisbergen umgeben, die auf einem unbestimmbaren Kurs in irgendeine geheimnisvolle Richtung trieben.
„Wir versuchen, auf die andere Seite zu gelangen“, sagte der Seewolf, ohne auf Tucker einzugehen. Der Schiffszimmermann war nervös, Hasard hatte ihn selten so gesehen.
Aber auch er selbst war erregt, aufgeputscht und hatte ein banges Gefühl, das gab er vor sich selbst zu. Kehrte die „Isabella“ nicht zurück, dann würden sie zweifellos das erbärmliche Schicksal des toten Mannes teilen, der in seiner Grotte an der Wand lehnte wie ein Verfluchter des Eismeeres.
„Wenn wir mit dem Boot aus Leibeskräften pullen, dann müßten wir doch das Schiff finden“, sagte Matt Davies.
Carberry lachte unecht auf.
„Ha, wie stellst du dir das vor, Mann? Die ‚Isabella‘ befand sich vor einer Weile Backbord von uns, jetzt versperren Eisberge die Sicht, diese lausige Insel, auf der wir stehen, dreht sich um sich selbst, und unser Schiff driftet ab. Wir würden uns hoffnungslos verirren, außerdem haben wir keinen Kompaß im Boot, und an Bord haben wir ebenfalls keinen mehr. Hoffentlich geht das in deinen Schädel, Matt!“
„Verflucht“, sagte Matt Davies leise.
„Rüber zur anderen Seite, wir nehmen das Boot“, drängte Hasard. „Beeilt euch, jede Minute, die wir hier sinnlos verquatschen, verkürzt unsere Aussichten, die ‚Isabella‘ zu finden.“
Carberry packte den Anker, den sie aufs Eis gelegt hatten, damit das Boot nicht wegtrieb und legte ihn ins Boot.
Sie sprangen hinein, und der Seewolf drückte mit dem eisenbewehrten Haken die Schaluppe von der Eisinsel ab. Dann legten sie sich alle vier in die Riemen und pullten um den Eisberg, der sich wie ein atmender Mensch rhythmisch hob und senkte.
Die See war immer noch stark bewegt, der Himmel sah aus wie graues dickes Blei, und der Horizont wallte in kleinen weißen Schleiern aus Eisnebeln. Wo er begann, ließ sich nicht feststellen.
Es war eine unheimliche Welt, so still und ruhig mitunter, daß einem diese Stille schmerzhaft auf die Nerven ging. Dann wieder erklangen aus dem Eis knisternde und seufzende Geräusche, Risse bildeten sich in den treibenden Inseln, und ab und zu fielen mit Donnergetöse riesige Eisblöcke in sich zusammen.
Zum Glück waren die vier Männer dick vermummt, denn die lausige Kälte fraß sich durch alles hindurch, sie biß sich bis ins Knochenmark und ließ die Glieder taub und gefühllos werden.
Als sie die Eisinsel mit dem unheimlichen Toten darauf, zur Hälfte umrundet hatten, tauchten neue Hindernisse auf. Kleine Brocken aus Treibeis, mitunter nur faustgroß, schoben sich unmerklich zu großen Flächen zusammen und behinderten das Vorwärtskommen ganz beträchtlich.
Von der „Isabella“ war weit und breit nichts zu sehen. Keine Mastspitze zeigte sich, nichts verriet ihren Kurs. Die vielen treibenden Eisklötze versperrten die Sicht, und dazu kam noch eine diesige neblige Masse, die auf dem Wasser lag und wie glimmender Schwefel zu dampfen schien.
Die andere Seite „ihrer“ Insel wuchtete steil aufragend vor ihren Blicken annähernd achtzig Yards nach oben. Sie war so glatt, daß niemand sie besteigen konnte. Die höchste Erhebung wurde von einem glatten Buckel aus glänzendem weißblauen Eis gekrönt, das gefährlich glitzerte.
Hasards Sorge wuchs ganz beträchtlich. Er riß sich zusammen, um sich nichts anmerken zu lassen, denn er sah Tuckers zuckendes Gesicht, sah wie Carberry schluckte und Matt Davies mit großen, erschreckten Augen in die Wasserwüste blickte.
Sie hatten schon viel erlebt, doch ein Meer, das sich zusehends vor ihren Augen immer mehr mit Eis bedeckte, in dem riesige große Inseln aus blauweißem Eis trieben, das hatten sie noch nie erblickt.
Daher wuchs spürbar die Panik, in dieser absolut fremden Umgebung ganz allein zu sein, einem ungewissen Schicksal ausgesetzt, verhungern, verdursten oder erfrieren zu müssen – wie jener Mann, der vor seinem erloschenen Feuer hockte.
Unheimlich und beängstigend war diese Welt des Schweigens, diese tote Einsamkeit, diese von keinem Menschen bewohnte eisigkalte und lebensfeindliche Todeszone.
Hier war der Mensch allein, dachte Hasard, hier war er in einem schweigenden Nichts verloren, einer Natur ausgesetzt, die ihn gleichgültig behandelte, die seine Existenz nicht duldete.
„Merkt euch die Form dieser Eisinsel gut“, sagte Hasard, „es ist der einzige Anhaltspunkt, den wir in dieser Wüste haben. Ben wird unter allen Umständen versuchen, zurückzu …“
Der Seewolf schwieg, als er die Blicke sah, die die drei Männer ihm zuwarfen.
Tucker entblößte seine Zähne und lachte grollend. Wütend hieb er mit dem Riemen in eine kleine Eisfläche, die sich auf dem Wasser zusammenschob. Es gab knisternde Geräusche.
„Gleich lach ich mich tot“, sagte er grollend. „Wir sind keine kleinen Kinder mehr, wenn ich auch vor Angst bald in die Hosen scheiße, das kann ich nicht verschweigen. Aber verschone uns bitte mit liebevoller Fürsprache, Hasard, und mach uns keine Hoffnungen, wo es keine mehr gibt.“
Ferris’ Panik wurde immer offensichtlicher, dachte der Seewolf bestürzt, er, der sonst immer ruhig und besonnen war, schien den Gefahren dieser trostlosen Einöde nicht gewachsen zu sein. Aber war er selbst das eigentlich, jetzt, seit sie die „Isabella“ aus den Augen verloren hatten?
Tucker mußte man anders anpakken, da halfen keine bösen Worte. Den brachte nur noch Spott auf die Beine.
„Seit wann bist du unter die Hosenscheißer gegangen, Ferris?“ fragte er höhnisch, „und seit wann wirfst du die Riemen gleich ins Wasser? Bist du nicht der Schiffszimmermann der ‚Isabella‘, an dem die meisten anderen sich ein Beispiel nehmen, weil du durch nichts aus der Ruhe zu bringen bist?“
Einen Augenblick glomm es dunkel in Tuckers Augen auf. Er hatte eine heftige Erwiderung auf der Zunge, doch der spöttische Blick des Seewolfs hielt ihn zurück.
Sein Gesicht verzog sich zu einer Grimasse, die ein Lächeln andeuten sollte, das aber kläglich mißlang. Erst nach und nach hellten sich seine Züge auf, und dann grinste er schwach.
„Ich glaube, jetzt ist es besser“, sagte er. „Natürlich wird Ben alles versuchen, um uns zu finden, ich weiß nicht, wie ich auf diesen blödsinnigen Gedanken verfallen bin.“
„Schon gut, vergiß es.“
Hasard legte den Riemen ins Boot zurück und richtete sich zu voller Größe auf. Angestrengt blickte er auf einen weit entfernten Eisberg von beachtlicher Größe, neben dem zwei kleinere trieben.
„Ist etwas?“ fragte Matt. „Siehst du sie?“
„Nein, es war eine Täuschung.“
Wieder verließ sie der Mut. Während sie weiterpullten, hing jeder seinen Gedanken nach und schwieg.
Fast eine Stunde lang pullten sie um kleinere Eisberge herum, dann begann es übergangslos zu schneien, die See beruhigte sich noch mehr, und der leichte Wind schlief fast ein.
Die Sicht wurde immer schlechter und trüber. Bald konnten sie keine zwanzig Yards mehr weit blicken.
Jeder begriff, was das bedeutete, aber jeder bemühte sich, sorglos zu erscheinen, denn schon wieder erschien das spöttische Lächeln im Gesicht des Seewolfs, der sie der Reihe nach anblickte und so tat, als wäre alles ganz normal.
Sein Blick suchte den Eisberg, den sie verlassen hatten, und seine Augen glitzerten fast wie das Eis, als er ihn nicht gleich fand. Doch etwas später entdeckte er den dunklen Fleck, das im Eis eingeschlossene Boot des Toten, das sich deutlich vor dem weißen Hintergrund hervorhob.
„Etwas mehr nach Backbord, wir rudern zu der Eisinsel zurück“, sagte er. „In einer knappen Stunde wird es dunkel, und dann ist es besser, wenn wir ein Dach über dem Kopf haben, auch wenn es nur ein Dach aus Eis ist.“
Der Gedanke, in jener Eisgrotte zusammen mit dem Toten zu übernachten, behagte ihnen ganz und gar nicht. Aber es gab keine andere Möglichkeit. Sie konnten nicht stundenlang umherirren, wenn die Dunkelheit hereinbrach. Dann nämlich würde auch der letzte Rest Hoffnung erlöschen, dann gab es keine Rettung mehr. Sie mußten überleben, auf Biegen und Brechen.
Das Schneetreiben nahm zu und wurde dichter, bis man kaum noch die Hand vor Augen sah. Hasard versuchte mit seinen Blicken die dichten Flokken zu durchdringen, die wie ein Vorhang vor ihnen in der Luft schwebten.
Die Eisinsel! Wo, zum Teufel, war sie jetzt? Sekundenlang wollte das gleiche Gefühl bei ihm aufflammen wie bei Ferris Tucker, doch gleich darauf sah er undeutlich den grauen Schatten, der aus der See aufragte, und atmete erleichtert auf.
Sie hatten es geschafft, obwohl sie sich in einer noch schlimmeren Misere als vorhin befanden. Aber dieses kleine Stückchen Insel aus gefrorenem Wasser vermittelte zumindest das Gefühl, etwas Bekanntes wiedergefunden zu haben.
Das Boot legte an, die Männer sprangen heraus, und der Profos wollte es ein Stück an „Land“ ziehen.
„Laß es im Wasser“, riet Ferris, „es friert noch immer, und später kriegen wir es nicht mehr aus dem Eis. Dann sieht es so aus wie das andere.“
Den Anker legten sie aufs Eis und sicherten ihn zusätzlich mit der langen Leine gegen Abtreiben.
„Rauf in die Höhle“, sagte der Seewolf, „da sind wir einigermaßen vor dem Schneetreiben sicher. Nehmt alles aus dem Boot, was sich darin befindet, vergeßt die Fackel nicht, nehmt auch das Segel mit.“
Nur ungern dachten sie daran, daß sie die Nacht zusammen mit einem längst Verstorbenen verbringen mußten, aber was blieb ihnen anderes übrig?
„Wir nehmen noch ein paar Planken mit“, murmelte Ferris. Er hob seine riesige Axt und schlug sie in die zersplitterten Planken des Wracks, bis die Holzteile nach allen Seiten davonflogen.
Zusehends wurde es jetzt dunkler. Dicke Schneeflocken fielen dicht an dicht vom unsichtbaren Himmel und deckten alles zu, als die vier Männer den gefahrvollen Aufstieg begannen.
Im Boot befand sich noch Proviant, Hartbrot und ein kleines Faß Wasser, das steinhart gefroren war. Wenigstens hatten sie für einen Tag oder auch zwei etwas zu beißen. Das Wasser war nicht so wichtig, sie konnten Schnee auffangen und ihn schmelzen, wenn sie ein Feuer in Gang kriegten.
Alles, was sie noch besaßen, wurde in die Höhle des Toten geschleppt und auf den Boden gelegt.
Als Hasard die Fackel entzündete, fiel ihr zuckender Schein auf den Mann im Eis, den erfrorenen Fremden, der in unveränderter Haltung an seiner eisigen Wand lehnte. Seine eiserstarrten Augen schienen wieder zu leben, sobald das Licht sich in ihnen spiegelte.
Tucker überwand das Grauen, das ihn wieder ansprang, und der Profos versuchte dem toten Blick der Eisaugen auszuweichen und die Leiche zu ignorieren. Doch das war nicht so einfach. Die anderen hatten ihn schon gesehen, Carberry noch nicht, und so war es für ihn noch unheimlicher.
Eine lausige Nacht stand ihnen bevor, die Nacht mit einem Toten, der sich an ihrem Feuer wärmte.