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Frederick Neuhouser. Kritik der Ungleichheit
Kritik der Ungleichheit
Inhalt
Abkürzungen der Schriften Rousseaus:
Einleitung
Kapitel 1. Die Natur ist nicht die Quelle sozialer Ungleichheit. Natürliche und soziale Ungleichheiten
Die Natur des Menschen und ihre zwei Bedeutungen
Die nicht-normative Auffassung von der ursprünglichen Natur des Menschen
Die Quelle der sozialen Ungleichheiten liegt nicht in der Natur des Menschen
Kapitel 2. Quelle der sozialen Ungleichheit ist deramour propre
Amour propre
Amour Propre als die Quelle sozialer Ungleichheit
Die zur Erklärung der sozialen Ungleichheit nötigen Hilfsbedingungen
Kapitel 3. Die normativen Mittel der Natur
Ist die soziale Ungleichheit vom Naturgesetz autorisiert?
Die normative Auffassung der Natur des Menschen
Freiheit als Fehlen von Herrschaft
Wohlergehen als Fehlen von Schmerz, enttäuschten Wünschen und unbefriedigten Bedürfnissen
Die wahre Natur des Menschen im erweiterten Sinn
Die Verbindung von beschreibender und normativer Auffassung der Natur des Menschen
Kapitel 4. Beurteilung der Legitimität sozialer Ungleichheiten
Die Beurteilung von Ungleichheit anhand ihrer Folgen
Soziale Ungleichheit und Freiheit (als Fehlen von Herrschaft)
Soziale Ungleichheit und Wohlergehen: Folgen des entfachten amour propre
Das Kriterium des Rechts in der Gesellschaft
Das Kriterium des gesellschaftlichen Rechts in Anwendung auf die ökonomische Ungleichheit
Coda: Genealogie und Kritik
Kapitel 5. Rousseaus Kritik und ihre Bedeutung für uns
Danksagungen
Anmerkungen. Einleitung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Personen- und Sachregister
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Frederick Neuhouser
Eine Rekonstruktion von
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Hier erklärt Rousseau in aller wünschenswerten Klarheit, dass der Naturzustand keine historische These ist, und sein anschließender Verweis auf die Physiker untergräbt nicht, was immer Gegenteiliges man denken mag, seine Leugnung des historischen Rangs des Naturzustands, vielmehr verstärkt sie diese. Bei den hypothetischen Überlegungen der Physiker, auf die Rousseau sich hier bezieht, handelt es sich um solche, wie sie Descartes in Die Welt und vielleicht noch andere Cartesianer des 18. Jahrhunderts angestellt haben, um kohärente Erzählungen zu konstruieren, die zwar nicht den Anspruch auf faktische Wahrheit erheben, wohl aber beschreiben wollen, wie eine geordnete Welt gleich der unsrigen im Prinzip aus den anfänglich chaotische Bedingungen entstehen könne, sofern sie nur mit einer vorgegebenen Reihe von mechanischen Bewegungsgesetzen übereinstimme. 27 Der Witz solcher Versuche bestand nicht darin, irgendeine These über den tatsächlichen zeitlichen Ursprung des Universums aufzustellen, sondern – ohne dabei eine Annahme über tatsächliche Anfangsbedingungen zu machen – darin, die Beziehungen zwischen unterschiedlichen Ordnungsebenen in der Welt zu untersuchen und zu zeigen, dass die Entstehung höherer Ebenen möglich war, selbst wenn es sich bei den einzigen die Natur beherrschenden Prinzipien um mechanische Bewegungsgesetze handelt. Mit anderen Worten: Der Witz solcher Hypothesen ist, wie Rousseau deutlich sagt, der, »die Natur der Dinge zu erhellen« – die Kontinuitätsbeziehungen zwischen mechanischen Phänomenen und denjenigen aufzudecken, die einer ganz anderen Ordnung anzugehören scheinen – statt dann »ihren wahren Ursprung aufzuzeigen«. Ähnlich unterfängt sich der Zweite Diskurs zu zeigen, dass die Bandbreite komplexer menschlicher Erscheinungen, die uns aus hochentwickelten Gesellschaften vertraut ist, sich durch die Annahme einer sehr kleinen Zahl »erster Prinzipien« erklären lässt, nämlich derjenigen, die in Rousseaus Darlegung der ursprünglichen Natur des Menschen enthalten sind, ergänzt, wie ich im folgenden Kapitel erklären werde, durch das im zweiten Teil vorgestellte grundlegende »Prinzip« des gesellschaftlichen Daseins, den amour propre. Diese Prinzipien sind – das werde ich weiter unten genauer ausführen – für Rousseau deshalb so wichtig, weil sie die fundamentalen »Bausteine« der menschlichen Wirklichkeit liefern und die sehr allgemeinen Grenzen angeben, welche die Natur der Veränderbarkeit des Menschen gesetzt hat. Formuliert man den entscheidenden Punkt so, dann liegt es nahe, die theoretische Aufgabe des Naturzustands noch auf eine andere Weise zu beschreiben, die in einem der oben zitierten Abschnitte anklingt: Hypothesen über unsere ursprüngliche Natur erfüllen eine analytische Aufgabe, nämlich die, »zu entwirren, was an der jetzigen Natur des Menschen ursprünglich und was künstlich [und der Gesellschaft geschuldet]28 ist« (DU, 67 / OC III, 123), oder – was auf dasselbe hinausläuft – »zu trennen, was der göttliche Wille geschaffen hat und was die menschliche Kunst geschaffen zu haben vorgibt« (DU, 75 / OC III, 127), selbst wenn in der Wirklichkeit weder das Natürliche noch das Künstliche je von seinem Gegenstück losgelöst auftritt.
Jedenfalls müssen wir unbedingt erkennen, dass es kein Widerspruch ist, die historische Wahrheit des ursprünglichen Naturzustands zu bestreiten und dennoch, wie ich es tue, mit diesem einen Wahrheitsanspruch zu verbinden, ja sogar den Anspruch, in einem gewissen Sinn empirisch wahr zu sein. Denn der erste Teil des Zweiten Diskurses bezweckt, die Wahrheit über die grundlegenden Elemente der Natur des Menschen aufzudecken, auch wenn diese Elemente nicht durch die Sinneswahrnehmung allein erfassbar sind – da das Objekt unserer Untersuchung, die »ursprüngliche« Natur des Menschen, in der Wirklichkeit nie in dieser Reinform anzutreffen ist. Das bedeutet nun nicht, die These sei in dem Sinn metaphysisch, dass man sie empirisch nicht widerlegen kann – prinzipiell ist es immer möglich, auf menschliche Phänomene zu stoßen, die auf der Grundlage der von Rousseau der Natur des Menschen zugeschriebenen Minimalelemente nicht erklärbar sind –, es bedeutet bloß, dass es sich nicht um eine unmittelbare Tatsache der Sorte handelt, für deren Kennzeichnung man ›Der Baum vor mir ist grün‹ halten könnte. (Erinnern wir uns in diesem Zusammenhang an Rousseaus Aufforderung, bei der Betrachtung des Naturzustands »alle Tatsachen auszuschalten« (DU, 81 / OC III, 132).) Ebenso wenig sind Behauptungen über die ursprüngliche Natur des Menschen in dem Sinn unwissenschaftlich, dass sie Hypothesen einer völlig anderen Art als die von der Naturwissenschaft aufgestellten sind. Darum ist der Vorschlag, »Versuche« im denkbar weitesten Sinn könnten mithelfen, die Frage nach unserer ursprünglichen Natur zu entscheiden, für Rousseau nicht völlig abwegig (DU, 67 / OC III, 123 f.). Tatsächlich ist es wahrscheinlich – um eine weitere Analogie zur Physik anzuführen –, dass Rousseau seinen Thesen über die Natur des Menschen einen ähnlichen theoretischen Rang zuweist, wie ihn Newtons erste Bewegungsprinzipien genießen: Obwohl es sich weder um empirische Verallgemeinerungen noch um unmittelbar beobachtbare Fakten handelt, beziehen Rousseaus Thesen ihre Unterstützung aus dem Erfolg, mit dem sie, unter Hinzuziehung der Annahme von ein paar weniger grundlegenden Prinzipien der »ersten und einfachsten Regungen der menschlichen Seele« (DU, 71 / OC III, 125), die vielfältigen Formen menschlichen Verhaltens begreifbar machen, die wir sowohl aus eigener Erfahrung als auch aus anderen empirischen Quellen kennen, etwa aus der Biologie, der Geschichte und der, wie wir heute sagen würden, Anthropologie. (Und das erklärt, warum die im Zweiten Diskurs erbrachten empirischen Belege für die große Verschiedenheit menschlicher Lebensformen, seien sie ›primitiv‹ oder entwickelt, für Rousseaus Unterfangen relevant sind, auch wenn der ursprüngliche Naturzustand nicht als ein historischer postuliert wird. Auf diese Frage komme ich im Anhang zum 4. Kapitel zurück.)
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