Читать книгу Lydia - Frieda Hartmann - Страница 6

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Wieder blühte der alte Kirschbaum hinter dem Hause, schon zum achten Mal seit Lydias Hirtenzeit, und auf der Wiese weideten die Kühe und Ziegen; aber statt der beiden Mädchen sass ein Bub dabei, den der Mattes auf den Hof genommen. Sonst schien die Zeit wenig geändert zu haben, die Ziegen waren naschhaft und wandersüchtig wie ehedem, und der kleine Geissbub hatte einen heillosen Respekt vor der Nachbarin, die noch jeden Frühling und Herbst die Geissen zum Kuckuck wünschte.

Trat man aber in die grosse, helle Stube, gewahrte man sofort eine Veränderung. Da, wo früher die Diplome für gute Viehzucht und Alpwirtschaft gehangen, hing jetzt das Bild der verstorbenen Mutter. Ja, sie war tot, die gütige, unscheinbare Frau, seit sechs Jahren schon. Im Hochsommer hatte sie sich hingelegt, nachdem sie schon lange so müde und matt gewesen war. «Mein Herz ist nicht mehr in Ordnung; ich muss einmal zum Arzt»; und zum erstenmal in ihrem Leben ging sie zum Doktor. Grosse Herzschwäche hatte die Diagnose des Arztes gelautet, nichts, gar nichts mehr schaffen, ruhen sollte sie. «Ruhen, ich? Nichts mehr schaffen? Zusehen, wie die andern jetzt im Hochsommer schinden und schaffen müssen? Nein, Herr Doktor, das kann ich nicht, es wird schon noch gehen.» Aber es ging nicht mehr. Niemand wollte dies glauben, nicht der Gatte, nicht die Kinder, am wenigsten aber sie selbst, die bis jetzt immer und immer nur an ihre Familie gedacht und für sie gelebt. Der Gedanke, dass die Mutter von ihnen gehen könnte, schien allen einfach unfassbar, und doch rückte das Ende mit jedem Tag, mit jeder Stunde näher, und keines konnte sich dieser fürchterlichen Wahrheit verschliessen.

Da war es wieder die Mutter, die sich zuerst durchgerungen, die die Ihren aufrichtete und tröstete, die trotz langen, langen Stunden der Todesnot nur darauf bedacht war, sie auf den rechten Weg zu weisen, um sie dereinst wiederzusehen. Eine Heldin war sie im Leben, eine noch grössere im Sterben; denn obschon sie sehen musste, wie nötig sie Mann und Kind noch wäre, sie fügte sich ohne Murren und Klagen in den Willen ihres Gottes und befahl ihre Familie seiner treuen Hut. Als dann die Sterbestunde nahte und die ganze Kinderschar um ihr Bett versammelt war, da legte sie auf jedes Kindes Haupt segnend die treuen Hände, mit einem Blick voll unendlicher Liebe umfasste sie die Ihren, und ein glückliches Lächeln umspielte die blassen Lippen der Sterbenden.

«Wie bin ich doch so glücklich», sagte sie, «mit keinem König tauschte ich, ihr alle habt mich lieb und werdet mich nie vergessen, und dereinst werde ich euch wiedersehen. Herrgott, lass keines meiner Kinder verlorengehen! Herr, hilf! Herr, stehe mir bei!» Ein kurzer Todeskampf, dann war’s vorbei. Eine einfache, schlichte Bauernfrau war aus dem Leben geschieden; aber im Herzen der Ihren lebte sie fort, und ob auch manches stürzte und strauchelte, verloren konnte keines gehen, denn das Gebet und der Segen einer frommen Mutter hat Riesenkräfte, die alle Zeiten überdauern.

*

Im weissen, gestickten Zwilchkittel, roter Scharlachweste und braunen Halbleinhosen, dem rotbraunen Samthut auf dem fast kahlen Kopf und dem selbstgeschnittenen Haselnussstecken in der sehnigen Faust, trat der Hof-Mattes aus seinem Hause. Er hatte wohl etwas gealtert, aber noch war sein Gang elastisch, und hell und scharf der Blick. Ein paar Schritte machte er, dann kehrte er um: «Lydia!» Kurz und herrisch wie früher klang seine Stimme. Am Fenster erschien eine schlanke Mädchengestalt. «Ja, Vater.»

«Es ist möglich, dass ich am Abend nicht heimkomme, vielleicht schlafe ich auf der Alp, schaut gut zur Sach. Leb wohl.»

«Leb wohl, Vater, komm bald wieder.» Lydia sah dem Vater nach, bis er um die Wegbiegung war, dann atmete sie tief auf, und in übersprudelnder Fröhlichkeit die Schwester umfassend, wirbelte sie in der Stube herum und sang: «Ist d’Katz us em Hus, so tanzet d’Mus.»

Lachend machte sich Anny frei. «Hast ein Rädlein zu viel oder freust dich so, dass dein Freund kommt?»

«Mein Freund?» echote Lydia, «ich denk, er ist der deine so gut wie meiner, oder eigentlich müssen wir sagen, Freund Max ist mir so lieb als Freund wie als Vetter.»

«Ob Hans uns nicht bald vergisst, wenn er in der Fremde ist», meinte Anny nachdenklich. Einen raschen Blick warf Lydia auf der Schwester ernstes Gesicht, dann lächelte sie zuversichtlich und froh.

«Wo denkst du hin, so ist denn doch Hans nicht, dies wär’ ja eine heitere Freundschaft; aber du, ich geh’ ein wenig hinter das Haus, komm mit!

«Geh nur, ich komme bald nach.»

«Bist etwa noch nicht hübsch genug für deinen Max?», neckte Lydia, machte sich aber gleich aus dem Staube, als sie den erzürnten Blick der Schwester sah. Spähend blickte sie nach der Anhöhe, wo die beiden herkommen sollten, denn sie kamen gewiss wieder zu Fuss; aber niemand zeigte sich. Mit einem wohligen Seufzer streckte sie sich auf dem Liegestuhl aus, und ihre Gedanken gingen zurück zu der Zeit, als ihr Vetter zum ersten Mal mit seinem Freunde erschienen war. Sie hatte sich bis dahin sehr wenig um die jungen Burschen bekümmert. Nicht dass ihr nicht dieser oder jener ein wenig gefiel; aber sie hatte trotz dem fröhlichen Übermut ihre ganz bestimmten Grundsätze, denen sie um jeden Preis treu bleiben wollte. Sie hatte sich fest vorgenommen, nie einen Mann zu küssen, bis sie sich verlobte, ihr Verlobungskuss sollte der erste sein, den sie verschenkte. Sie wollte ihre Liebe nicht vergeuden und verzetteln, bald an diesen, bald an jenen; nein, aufpassen wollte sie auf sich selbst und warten, bis der Rechte kam, und diesem allein sollte ihre ganze, grosse Liebe gehören, ungeschwächt.

O, sie hatte ein Ideal, die junge, fröhliche Lydia, niemandem verriet sie dies, aber so, ganz so, wie sie es meinte, sollte er einmal sein, gross, blond und stark, so stark, dass man sich ein bisschen vor ihm fürchten musste; lieb und gut, natürlich, aber manchmal, wenn sie ihm etwa trotzte, dann müsste er sie ganz fest und streng ansehen und sagen: «Da hindurch geht’s jetzt, Kleines», und sie, sie würde sich fügen müssen, eben weil er der Stärkere war.

Keinem hatte sie bis jetzt Interesse entgegengebracht, bis dann Vetter Max vor bald einem Jahr mit seinem Freunde auf der Bildfläche erschien. Nicht dass dieser Freund mit ihrem Ideal Ähnlichkeit gehabt hätte, o nein, nicht die Spur, wenigstens nicht äusserlich; aber er gefiel ihr trotzdem ganz gut. Der junge Mann, der trotz seiner Jugend so ernste, ja strenge Ansichten vertrat, imponierte dem frohen Mädchen. Nicht mit faden, schmeichelnden Worten hatte er sich den beiden Schwestern genähert, nein, ruhig und ernst, wohl zum Teil eine Folge seiner harten Jugend, war er fast immer auch in der Nähe der oft ziemlich übermütigen Lydia.

Schon beim zweiten Besuch mit seinem Freunde hatte er sein Verhältnis zu ihr klargelegt. – Keine Liebeleien wollten sie haben und keine Heimlichkeiten. «Freundschaft», hiess die Parole. Begeistert, mit dem gläubigen Vertrauen ihrer achtzehn Jahre, nahm Lydia die Sache auf. Ja, das war das richtige. Sie hatte sich eigentlich schon manchmal nach einem ernsten, klugen Menschen gesehnt, aber keiner der Burschen hätte sie ja verstanden; entweder man hätte über sie gelacht oder dann mehr erwartet, als sie zu geben gewillt war. Nun war er ja gekommen, ihr Freund, ihm vertraute sie schrankenlos, mit ihm konnte sie ernste und heitere Gespräche führen, wie es gerade kam, konnte ihn, wenn sie der Übermut plagte, auch etwa necken und ein wenig quälen, ohne zu fürchten, missverstanden zu werden. Spaziergänge und Bergtouren hatten sie schon eine ganze Menge gemacht, manch fröhlichen, genussreichen Spaziergang verdankten sie den Freunden, und nichts hatte bis jetzt ihre Freundschaft getrübt. Nun kam Hans heute zum letzten Male, wohl für lange Zeit. Er hatte anderswo eine Stellung gefunden; und wie es sie auch um seinetwillen freute, leid tat es ihr eben doch. Nun würde es wohl wieder recht langweilig werden. Max allein machte gewiss den Weg nicht so oft.

In diesem Augenblick ertönte von der Höhe herab ein heller Jauchzer und noch einer. Mit einem Ruck richtete sich das Mädchen auf, und schon kamen die beiden in langen Sprüngen, wie zwei übermütige Jungen, von der Höhe herab, nahmen mit flottem Sprung den hohen Lattenzaun und begrüssten in strammer, militärischer Haltung das lachende Mädchen, das als Willkommensgruss jedem einen kleinen Nasenstüber verabreichte.

«Wo ist Anny?», fragte Max.

«Sie ist noch im Haus, geh, führ sie hinaus, ich glaube, sie ist eingeschlafen.»

«Ja, das hättest du wohl nicht fertig gebracht», neckte Max, «ganz sicher hast du fast geweint vor Angst und Heimweh.»

«Du Grosshans, hast scheint’s wieder nichts als Dummheiten im Kopf, geh und hole die Schwester und etwas für den Durst auch noch.»

Hans zog den Kittel aus. «Du erlaubst, gelt, es hat heiss gemacht.»

«Bitte, mache es dir bequem; nicht wahr, es ist schön unter dem blühenden Baume?» Der junge Mann atmete tief auf. Mit innigem Blick umfasste er die schmale Mädchengestalt.

«Ja, es ist schön hier, und das Schönste und Lieblichste von allem bist du, Lydia.»

Schnell wandte Lydia dem Freunde den Kopf zu, dann lachte sie froh und ungezwungen. «Heiliges Gewitter, Hans, fängst du in deinen alten Tagen noch an, Komplimente zu machen, gelt, das lässest bleiben, es steht dir nicht gut.»

Mit einer erregten Gebärde fuhr sich Hans durch den dunklen Haarschopf. «Aber mir ist wirklich ernst, Lydia, ich –»

«Ich glaube, ich muss dir etwas zu trinken holen, du phantasierst vor lauter Durst», und lachend eilte sie ins Haus.

Mit heissem Blick sah Hans der Enteilenden nach, dann liess er sich schwer seufzend in den Lehnstuhl fallen: Sie merkt es nicht, sie ist noch ein Kind und glaubt an den albernen Quatsch von Freundschaft und dergleichen, und ich als einfältiger Narr habe ihr dies Zeug in den Kopf gesetzt und mich selbst belogen.

In diesem Augenblick erschien Max unter der Türe, hinter ihm die beiden Mädchen. Ein grosses Servierbrett mit Gläsern und Flaschen vor den Freund hinstellend, gebot er: «Trink, alter Freund, und schluck deinen Abschiedsschmerz noch für einige Stunden hinunter.» – «Gut wäre dies schon für den Durst», meinte der lustige Max nach einiger Zeit, «aber für den Hunger ist’s halt nicht.» Ein wenig betreten sah Lydia die Schwester an, ihr Blick schien zu fragen: Was machen wir nun? Geheimnisvoll lächelnd verschwand Anny im Haus und kam mit einem goldenen Kuchen zurück.

«Wann hast du den gemacht?», staunte Lydia. Max aber lachte.

«Ja, weisst, unser kleines Anneli ist halt ein heimlicher Engel, darum ist sie auch so lieb und rund; aber gelt, so ein Kuchen könnte dem Hof-Mattes seine Jüngste nicht machen.»

«Was, ich?» Lydia stellte sich in Positur. «Du täuschest dich gewaltig, mein Kleiner. Ein ganzes Jahr habe ich in der Fremde ausgehalten, alles habe ich gelernt, rein alles, sogar das Kuchenbacken, gerade der erste ist mir so gut geraten, dass ich ihn ganz allein essen durfte.»

Alle lachten, Max aber neckte: «Da hat’s ein Mann bei dir einmal gut; pass auf, Hans, dass du dir nicht später mal den Magen überladest. – Machen wir denn heute keinen Spaziergang? Ich möchte so gerne noch ein bisschen klettern.»

«Wohin denn?»

«Ach, irgendwo hin, es ist einerlei, nur nicht immer stillsitzen; komm, Hansel, reg dich! Bist ein Duckmäuser heute.» Unter Plaudern und Scherzen stiegen die vier die Anhöhe hinauf, nur Hans blieb wortkarg. Nach und nach blieben Max und Anny etwas zurück. Jetzt war der Wald erreicht.

«Was hast du denn heute nur?», fragte Lydia, sich umwendend, den Freund, als sie immer nur einsilbige Antworten erhielt. «Habe ich dich erzürnt, du bist gar nicht wie sonst.»

Mit einem raschen Schritt trat er neben das Mädchen und ergriff ihre Hand: «Lydia, macht’s dir denn gar nichts, dass ich fortgehe, ist’s dir denn ganz gleich?» Heiss, fordernd, senkte sich sein Blick in die unschuldigen Mädchenaugen. Verwirrt über diesen Blick senkte Lydia den Kopf, während ihr ein heisses Rot in die Wangen stieg. «Sag, dass es dir ein bisschen weh tut, dass du es nicht gern hast, wenn ich gehe», bat Hans.

Lydia atmete tief auf, ihr war plötzlich so beklommen zumute, und ganz entgegen ihrer frischen Art meinte sie kleinlaut: «Du weisst doch, dass es mir nicht gleichgültig ist, wenn du gehst, du wirst mir oft genug fehlen; aber das Jammern hilft ja nichts, du gingest auch so.» Schweigend durchschritten die beiden den Wald. Hans behielt die Mädchenhand in der seinen, und Lydia wagte nicht, sie ihm zu entziehen. Der Wald war zu Ende, die Höhe erreicht. Neben einem blühenden Schlehenbusch liess sich das Mädchen nieder. «Ist’s nicht schön hier, Hans? Siehst du unser Haus?»

«Ja, Lydia, an die lieben Stunden bei dir, an euer liebes, altes Bauernhaus werde ich oft genug denken, wenn ich einsam und allein in der Fremde bin. Ich habe ja gar niemand sonst, nicht Vater, nicht Mutter, niemand, der bei meinem Abschied nur ein feuchtes Auge bekommt und sich nach mir sehnt.» Schwer aufseufzend liess er sich neben dem Mädchen nieder.

«Ich werde sehr oft an dich denken, Hans», tröstete Lydia, «besonders an schönen Sonntagen, wir haben es so schön gehabt beisammen. Siehst du, wie tief der Säntis noch im Schnee steckt; wie lange geht’s wohl, bis ich wieder dort hinaufkomme?»

«Wer weiss, ob du nicht dieses Jahr mit einem andern da hinaufgehst.»

«Ich? Mit wem denn?» Lydia lachte belustigt. «Nein, Hans, das glaube ich nun gar nicht, so einen guten Freund, wie du mir warst, finde ich gewiss keinen mehr; überhaupt, ich finde, man kann nur einen Freund haben, meinst du nicht?»

«Ja, jetzt sagst du, ich sei dein Freund, du wirst mir eine Zeit lang schreiben, dann plötzlich heisst es: Die Lydia hat einen Schatz.»

Halb belustigt, halb bestürzt sah Lydia den Freund von der Seite an, dann schüttelte sie den feinen Kopf. «Was sollte ich denn mit einem Schatz anfangen?», meinte sie lächelnd, «ich, mit meinen achtzehn Jahren? Vater hat gesagt, bevor wir vierundzwanzig wären, kriegen wir keine Aussteuer. Glaubst, ich hätte Lust, sechs Jahre glückliche Braut zu spielen?» Schwer stützte Hans den Kopf in die Hände.

«Was hast du, Hans, ist dir nicht gut? Du bist gar nicht wie sonst.»

«Ich habe Kopfweh, lass mich ein wenig schlafen, auf deinem Schoss, Lydia», bettelte er. Lydia legte ihre kühle Hand auf des Freundes Stirne.

«Ja, da du Kopfweh hast, schläfst halt ein bisschen und nachher bist wieder munter.»

Hans nahm ihre Hand und presste sie an seine Lippen. «Mädchen, liebes, wenn ich dich mitnehmen könnte!»

Mit fast mütterlicher Gebärde strich ihm Lydia die dunklen Haare aus der Stirn. «Du kannst mir ja schreiben, sehr oft, und ich schreibe dir auch wieder, dies ist auch schön.» Keinen Augenblick kam ihr der Gedanke, dass Hans anders als sie fühlen könnte.

Der süsse Duft blühender Veilchen vermischte sich mit dem kräftigen Harzgeruch des nahen Waldes. Eine Amsel sang ihr schmelzendes Lied, und bald da, bald dort erschallte heller Kuckucksruf.

Die Hände leicht um den Kopf des schlafenden Freundes geschlungen, sass Lydia und träumte. Träumte von einem grossen, blonden Jüngling, der nach drei, vier Jahren vielleicht hier neben ihr sitzen würde. Küssen würde er sie und ihr all die lieben Worte geben, die sie etwa in Büchern gelesen; für diesen einen einzigen wollte sie alle ihre Liebe und Zärtlichkeit aufsparen. Dass ihr Zukünftiger schwarz statt blond, klein statt gross sein könnte, daran dachte das schwärmerische junge Mädchen keinen Augenblick. Aus dem Wald ertönte Maxens Ruf.

«Hans, wir müssen heim!» Hans fuhr empor und strich sich die Haare aus der Stirn. «Hast du gut geschlafen?», neckte Lydia.

«Jetzt, ja, wie lange weiss ich nicht, und von dir habe ich geträumt.»

Neugierig wandte sich Lydia zu ihm: «Etwas Schönes hoffentlich?»

«Auf dem Säntis sind wir gestanden, du und ich ganz allein. Ich sah die Sonne aufstehen, du warst ganz eingehüllt in Licht und Glanz, und dann –»

«Und dann?», frug Lydia neugierig.

«Dann habe ich dich geküsst und du mich», sagte Hans langsam und schwer.

Lydia wandte sich ab, um die brennende Röte zu verbergen, die langsam in ihr Gesicht stieg. Ton und Blick des Freundes verwirrten sie. «Ja, es träumt einer oft dumme Sachen», bemerkte sie, nur um etwas zu sagen; damit wollte sie dem Walde zueilen; aber mit einem Satz war Hans neben ihr und zwang sie stillezustehen.

«Es sind keine dummen Sachen, Lydia, ich habe davon geträumt die letzten Wochen und Monate; und einmal, bevor ich gehe, muss ich dich küssen, du Liebes, du!» Ehe sich Lydia von ihrem Schreck erholt, riss er sie in seine Arme und bedeckte ihr glühendes Gesicht mit Küssen. Lydia wehrte sich nicht. Noch nie hatte ein Mann sie geküsst, sie fühlte, wie ein heisser Strom durch ihren Körper rann. Sekundenlang gab sie sich diesem beglückenden Gefühl hin, dann schoss ihr mit Blitzesschnelle durch den Sinn: Er ist dein Freund, und Freundschaft und Küssen gehört nicht zusammen, er hat dich getäuscht.

Mit einem wilden Ruck riss sie sich los. «Hans, was hast du getan?» Fast wie ein Schrei klang es von den Mädchenlippen, während grosse Tränen aus ihren Augen rollten. Bleich stand der junge Mann vor ihr.

«Verzeih, Lydia, ich hätte es nicht tun dürfen, aber ich habe dich halt so lieb!» Lydia zuckte bei diesen Worten zusammen, als hätte sie einen Schlag ins Gesicht bekommen. «Also war’s nicht Freundschaft. Du hast es nur gesagt, damit du zu mir kommen darfst.»

Hans ergriff die Hände des Mädchens und presste sie fast schmerzhaft. «Nein, Lydia, nein, es ist nicht Freundschaft, jetzt nicht mehr. Freundschaft in unserem Alter ist Unsinn. Überhebung, nichts als tolle Schwärmerei und Selbstbetrug.»

Mit einem zornigen Ruck entriss ihm Lydia die Hände, sie wusste und fühlte nur eins: Er hat dich betrogen, zum Narren gehalten. «Also hast du mich belogen, angeschwindelt die ganze Zeit, nur damit du mit mir sein durftest, hast vielleicht noch gelacht über die dumme Gans, die solchen Unsinn glaubte», ihre Stimme überschlug sich vor Zorn und Schmerz.

«Aber Kind, Lydia, das ist doch gar nicht wahr», beschwor der Erregte, «komm, sei lieb, ich will dir alles sagen.» Hans ergriff die Hände und wollte sie an sich ziehen, sie beruhigen. Doch sie entriss sie ihm, und im nächsten Augenblick traf ein klatschender Schlag seine Wange. Hoch aufgerichtet, mit Zorn sprühenden Blicken, aus denen die ganze Empörung loderte, der ein temperamentvolles 18-jähriges Mädchen fähig ist, sah sie den armen Sünder an. – «Da hast den Lohn und die Antwort, das steht wohl nicht in deinen Grundsätzen, aber das andere ist auch nicht darin gestanden.» Dies sagend, wandte sie sich aufschluchzend um und rannte in den Wald hinein.

Bleich bis in die Lippen stand Hans da, dann lachte er kurz und bitter auf. Minutenlang stand er auf demselben Fleck, ohne sich zu rühren. Aus dem Wald klang des Freundes Ruf. Schwer atmete er auf, dann wandte er sich und trat den Heimweg an. Planlos stürzte Lydia in den Wald hinein. Irgendwo ein einsames Plätzchen suchen und recht nach Herzenslust weinen können, dies war ihr einziger Gedanke. Doch da erschallte ganz in der Nähe Maxens Stimme. «Hans, Lydia, wo seid ihr, Donner und Doria, es ist Zeit auf den Zug.» Jetzt tauchte er zwischen den Bäumen auf. «Wo steckt ihr auch, suchen muss man euch wie Stecknadeln. Wo ist Hans?»

«Hans ist vorausgegangen», log Lydia. «Wo ist Anny?»

«Sie ist heim, kochen müsse sie», und der lustige Max lachte gezwungen.

Max war verstimmt, dies sah Lydia sofort. Ob wegen Anny oder ihretwegen? Als sie den Waldsaum erreichten, sahen sie Hans mit weitausholenden Schritten auf einem näheren Weg heimzu eilen. Widerwillig, erst auf Maxens wiederholtes Rufen und Pfeifen, wartete er auf die beiden, und ziemlich wortkarg wurde der Heimweg zurückgelegt.

Sofort begab sich Lydia in die Küche. Der Kaffee war bereits fertig; aber Anny hatte Sturm, dies sah Lydia sofort, und sie selbst war nicht in der Stimmung, ihn, wie es ihr schon oft gelungen, durch ein paar Scherzworte zu vertreiben. Einsilbig wurde das Essen eingenommen. Scheu sah Lydia zu Hans hinüber, die Sache tat ihr schon furchtbar leid. Den ganzen Weg hatte sie gegrübelt, und der bittere Zorn war gänzlich verflogen. Hans hatte ja Unrecht getan, er hätte sie nicht küssen dürfen; aber sie hatte ihn doch zu hart angefahren und ihm sogar in ihrem schrecklichen Zorn eine Ohrfeige gegeben, dies tat ihr schon bitter leid. Wenn er doch nur den Anfang machen wollte. Sie würde es ihm ja gar nicht schwer machen. Dass er sie geküsst, war im Grunde genommen gar nichts Böses; ganz heiss überlief es sie im Gedanken daran, und dass er sie liebhatte, war ja kein Verbrechen, gewiss hatte er es mit der Freundschaft ganz aufrichtig gemeint, und das andere war erst nach und nach gekommen, und sie hatte ihm ganz zu Unrecht solch bittere Vorwürfe gemacht. Aber ach, sie war so sehr erschrocken, so ganz überrumpelt worden. Wie finster und verschlossen er vor sich hinsah. Wenn es nun zu keiner Aussprache kam, wenn er im Groll von ihr ging! Heiss stiegen ihr die Tränen in die Augen, die sie mühsam mit einem Brocken hinunterschluckte.

Max drängte: «Es ist Zeit auf den Zug!» Und als die beiden Schwestern keine Anstalten machten mitzukommen, fuhr er gereizt auf: «Sapprament, ihr tut alle, als hättet ihr Essig getrunken, was ist denn auch heute Nachmittag, macht doch vorwärts, wir müssen pressieren!»

Mit trotziger Miene räumte Anna den Tisch ab; unsicher sah Lydia zu Hans hinüber, der am Fenster stand und nervös auf das breite Sims trommelte. «Ich glaube, es ist besser, ihr geht allein», sagte sie halblaut, «es ist ja doch ungemütlich.»

«Das wäre noch schöner», fuhr Max auf, «kennt man sich ein Jahr lang, und alles ist in schönster Ordnung, und zuletzt beim Abschied schneiden wir uns solch blöde Gesichter; ihr kommt mit oder ich werde fuchsteufelswild.»

Schweigend machte sich die kleine Gesellschaft auf den Weg. Ganz absichtlich liess Hans Max und Lydia den Vortritt und wartete auf Anny, die zögernd und trotzig folgte.

«Was hast du auch mit Anny gehabt?», fragte Lydia leise.

«Ach, nichts Wichtiges. Eine kleine Meinungsverschiedenheit; aber sie war am Mittag schon ein bisschen rapplig, da hat’s wenig mehr gebraucht; aber, wenn man fragen darf, was habt ihr gehabt? Hans hat Sturm im höchsten Grad.»

«Ja», zürnte Lydia, «er tut grad, als ob ich allein schuld wäre, und den Anfang hat doch er gemacht; aber flattieren tu ich ihm nicht, wenn ihn die Worte reuen, reuen sie mich auch.»

Max lächelte: «Du, Lydia, ich hätte noch ein Anliegen. Wir machen nächstens einen Bummel und nehmen die Mädchen mit. Kommst mit mir? Es wird sicher lustig.»

«Ich?» Lydia stand still, dann lachte sie spöttisch: «Aha, hat unser Mäxel einen Korb geholt bei meiner Schwester?»

Max wehrte sich: «Nein, du kannst Anny fragen, noch kein Wort habe ich deswegen zu ihr gesagt, wir haben uns wegen etwas anderem erzürnt.»

«Aber ich glaube, wenn ich mitkäme, hätte es Anny ungern, frag sie zuerst einmal.»

«Ganz ausgeschlossen, entweder du kommst, oder ich gehe überhaupt nicht», ereiferte sich Max.

«Ich weiss nicht», sann Lydia vor sich hin, «wenn Hans –»

«Wenn Hans wieder lieb ist, komm’ ich nicht, gelt, das hast sagen wollen; geh, flattiere ihm doch, dem Setzkopf, der wird dann lachen, wenn ihm die stolze Lydia aus der Hand frisst.»

Trotzig warf Lydia den Kopf zurück: «Ich hab’ noch keinem flattiert und tu’s auch in Zukunft nicht. Wenn Hans sein Unrecht einsieht und wieder gut ist, bin ich’s auch, sonst – o Herrjeh, wegen dem Mannenvolk krieg’ ich keine grauen Haare.» Sie lachte spöttisch und überlaut. «Also kommst?», drängte Max.

«Ich sag’s dann auf dem Bahnhof, ’s wird nicht so pressieren, komm, wir singen noch eins!» – «Ja, grad z’leid!», nickte Max, und mit heller Stimme sang Lydia: «Das Lieben bringt gross Freud.»

«Singt doch auch!», rief sie bei der zweiten Strophe über die Achsel zurück, aber ihr war gar nicht wohl dabei, viel lieber hätte sie geweint.

Endlich hatte man den Bahnhof erreicht, noch etwas zu früh sogar. Max traf einen Bekannten und liess sich in ein Gespräch ein. Lydia trat etwas zurück.

Jetzt, wenn Hans käme und sie bei der Hand nähme, ein paar Worte nur, dann wäre alles wieder gut. Doch die paar Worte, auf die Lydia so sehnsüchtig wartete, blieben unausgesprochen, langsam ging Hans an ihr vorbei zum Kiosk und brachte Anny einige Bananen. Für sie hatte er weder Wort noch Blick. Da grub sich eine scharfe Falte in die weisse Mädchenstirn; gut denn, er mochte trotzen, sie tat es auch.

Während Anny zurückblieb, begleitete sie die beiden bis zum Bahnwagen. «Leb wohl!» Hans streckte ihr die Hand hin. Da zwang sie ein spöttisches Lächeln auf die zuckenden Lippen: So, bin ich doch noch so viel wert? «Leb wohl!» Flüchtig nur berührte sie seine Hand, ihr ganzer Trotz und Stolz war aufgestachelt. Dann wandte sie sich an Max, der sie fragend ansah: «Ich komm’ dann am Sonntag, mach, dass es lustig wird!» Unnötig laut sagte sie es. Hans wandte sich auf dem obersten Tritt jählings um, ein Blick voll Zorn und Schmerz traf sie, dann verschwand er im Wagen.

Lydia wandte sich hastig um, kein einziges Mal sah sie dem Zug nach. Ob Hans am Fenster stand, sie wusste es nicht, sie wusste nur eines, sie hatte den Freund verloren, durch seine und ihre Schuld.

*

Schweigend, tief verstimmt legten die beiden den ziemlich weiten Heimweg zurück. Lydias Herz war schwer, sie hatte ein stetes Würgen im Halse, aber trotzig schluckte sie die aufsteigenden Tränen hinunter. Weinen wegen einem Manne? Nein, grad z’leid nicht, sie würde denn doch noch ohne Tränen fertig werden. Aber das Fertigwerden ging nicht so leicht, wie sie sich’s vorgestellt, ihr fröhliches Singen und Lachen war verstummt, und auf den Sonntag freute sie sich schon gar nicht. Viel lieber wäre sie überhaupt nicht gegangen, aber selbstverständlich konnte sie ihr Versprechen nicht brechen. Es war denn am Sonntag auch die erste Frage an Max: «Du, sag, was hat Hans am Sonntagabend noch gemacht?» Max zuckte bedauernd die Schultern: «Kleine, mit seiner Freundschaft ist es wohl für immer fertig. Im Bahnwagen hat er kein Wort gesprochen, ohne dass ich’s aus ihm herausgeklaubt hätte, beim Abschied hat er mir ganz flüchtig die Hand gegeben und gesagt: ‹Macht euch lustig am Sonntag, und deiner Lydia kannst sagen, wenn sie eine alte Jungfer werden wolle, müsse sie es nur allen machen wie mir, sie bleibe dann schon sitzen›.» Lydia presste die Lippen zusammen vor Zorn und Schmerz. Aus, also abgetan hatte er die Sache; ohne nur den kleinsten Versuch, wieder Frieden zu schliessen, war er gegangen für immer. Aber so waren die Männer, immer mussten die Frauen die Schuld tragen. Max sah Lydia von der Seite an; er sah, wie sie Mühe hatte, die Tränen zu verbergen. «Nimm es doch nicht so tragisch, Lydia», tröstete er gutmütig, «weisst, ich habe schon lange gemerkt, dass Hans dir gegenüber andere Gefühle hegte, aber was wollte ich machen? Bist wahrscheinlich doch auch etwas grob mit ihm verfahren.»

Lydia warf den Kopf zurück: «Was geschehen ist, ist geschehen. Hans sieht sein Unrecht nicht ein, oder ist zu trotzig, es sich einzugestehen, so mach’ ich es halt gleich. Alles war Blödsinn und Überspanntheit.» Heimlich aber dachte sie doch nicht ganz so, zu schön und sonnig waren die Sonntage gewesen, die sie an seiner Seite verlebt hatte. Voll Bitterkeit dachte sie an das Verlorene, während sie schweigend an der Seite ihres Vetters dem Versammlungsort des Vereins zuschritt.

Das Wetter war wunderschön, und der Humor der Gesellschaft liess nichts zu wünschen übrig. Ein fröhlicher Handörgeler war engagiert, ein richtiger Spassmacher mit tausend guten Einfällen. Lydia fand auch bald Gefallen an einem ziemlich gleichaltrigen Mädchen, das, fremd wie sie selbst, sich doch etwas verlassen vorkam. Droben, in dem prächtig gelegenen Gasthaus wurde nach einem kräftigen Imbiss gespielt und getanzt, und tanzen tat Lydia fürs Leben gern.

Was wohl Hans sagen würde, wenn er mich in dieser übermütigen Gesellschaft tanzen sähe, dachte Lydia, er hatte nie viel für das Tanzen übrig gehabt und sie immer möglichst davon zurückgehalten. Gegen Abend freilich, als sich der ziemlich reichlich genossene Wein bei mehreren Burschen, und, wie es schien, bei einigen Mädchen, geltend machte, bereute Lydia, dass sie gekommen war. Nicht nur zweideutige, nein, schmutzige Witze wurden von einigen gerissen, und dabei lachten die Mädchen. Scheu sah Max zu ihr hinüber. Lydia aber wunderte und ärgerte sich auch über ihn. Er hielt ja ziemlich zurück, gewiss, nie beteiligte er sich an schmutzigen Reden, aber was brauchte er aus vollem Halse zu lachen, warum erklärte nicht er oder einer der besser gesinnten Burschen, dass solche Sachen um der Mädchen willen nicht geduldet würden.

Zornig zerknüllte Lydia das Taschentuch. Hingehen dürfen, diesen Burschen und Mädchen eine rechte Ohrfeige geben können, oder aufstehen und erklären, dass dieses Benehmen gemein sei; aber nein, hier musste sie sitzen und zuhören und fand nicht den Mut zu handeln, sowenig wie ihn die andern Mädchen fanden.

Max sah den Zorn in ihrem jungen Gesicht. Beruhigend strich er ihr über die verkrampften Hände. «Es ist scharfer Tabak für dich, gelt Kleines», sagte er fast weich; «aber weisst, so wie du es hier siehst, ist halt die Welt, du wirst es schon noch anders erfahren.» Als Max zu einigen Burschen trat, erhob sich Lydia und suchte möglichst unauffällig den Ausgang zu gewinnen. Im Bestreben, einige Zeit allein zu sein, ging sie um das Haus. Ein Fussweg führte eine ziemlich steile Halde hinauf, von droben klangen Herdenglocken. Fast hastig erklomm sie den Weg. Auf der Höhe liess sie sich neben einem Grünhag nieder. In einiger Entfernung weideten ein paar Kühe. Tief aufatmend strich sie sich die Haare aus der erhitzten Stirn. Ja, hier war’s ihr wohl, hier war die Luft rein; einsam und verlassen war sie sich drunten vorgekommen, hier aber schien ihr ein Stück Heimat zu sein. «Mäh!», klang dicht neben ihr eine Stimme, «mäh!» Über Lydias Gesicht ging ein Freudenstrahl. Dort, zwischen die Stauden zwängte sich der Kopf einer Geiss. «Gitz, Gitz, komm, Geissli!», lockte Lydia, und das Geisslein kam herangesprungen, rieb seinen Kopf an Lydias Knie, und das Mädchen tätschelte und streichelte sie und freute sich wie ein Kind.

Ein Lachen klang neben ihr. Erschrocken wandte sie den Kopf. Max und ein anderer Bursche standen beim Gatter, neben dem Grünhag. «So, bist zu den Geissen gegangen, gefällt’s dir hier besser als bei uns?» Halb lachend, halb ärgerlich sagte es Max.

«Ja, hier gefällt’s mir besser», gestand Lydia unumwunden, «die Geissen ärgern mich nicht, wohl aber die Leute.»

«Hat’s Ihnen denn nicht gefallen?», fragte der andere etwas empfindlich.

«Zuerst schon, gewiss, aber nachher, nein, lieber daheimbleiben, als solche Sachen hören müssen.»

«Komm, wir haben dich gesucht, wir gehen jetzt.» Gott sei Dank. Eine Viertelstunde vom Dorf entfernt wurde der letzte Halt gemacht. Lydia drängte auf den Zug. Von einigen verabschiedete sie sich freundlich, die andern übersah sie. Max war dies nicht recht. – «Die Hand hättest ihnen doch geben können», tadelte er.

«Nicht um alles in der Welt», fuhr Lydia auf. «Gemein haben sie sich benommen, ein anständig denkendes Mädchen muss Ekel bekommen vor solchen Menschen.» «Aber bitte, gar so gefährlich war’s denn doch nicht», beschwichtigte Max.

«Nicht gefährlich, so, das nennst du nicht gefährlich, wenn die Mädchen zu allen gemeinen Witzen lachen wie diese? Pfui Teufel!»

Max schwieg; nach einiger Zeit ergriff er den Arm der Empörten. «Komm, Kleines, lass dir nicht den schönen Abend verderben. Sei jetzt noch ein bisschen lieb, gelt!» Schweigend überliess Lydia dem Vetter den Arm, ihre Gedanken waren weit weg. – Wo war jetzt Hans? Was trieb er? Was hätte er wohl gesagt, wenn er alles mit angesehen und gehört hätte? Dieser Gedanke trieb ihr das Blut in den Kopf. Hans hätte ihnen den Rücken gekehrt, ganz sicher, er hätte ihre Empörung verstanden. Max begriff sie nicht oder zu wenig; ach, vielleicht war er überhaupt nicht der, als den sie ihn bisher gesehen, sie hatte sich wohl getäuscht, in beiden. «Weisst, was einer meiner Kameraden zu mir gesagt hat?», fragte Max unvermittelt.

«Wie sollte ich?»

«Er hat gesagt, ich hätte das schönste, aber auch das stolzeste Mädchen.»

Lydia lachte leise: «Hochmütig und wunderlich hat er wohl gesagt, nicht stolz.»

«Nein, das hat er nicht gesagt», gab Max zurück, «aber weisst, ich war wirklich stolz auf dich, du bist ein prächtiges Mädchen und hast etwas an dir, was vielen abgeht, bist halt so ein Blümlein Rührmichnichtan.» Schmeichelnd legte er den Arm um ihre Hüfte: «Gelt, Lydia, ein Küsschen krieg’ ich heute Abend noch.»

Unwillig machte sich Lydia los: «Was fällt dir ein, Max, hast wohl auch ein bisschen zu viel Wein im Kopf.» «Ich bin ganz sicher heute Abend der Einzige, der nicht einmal einen Kuss bekommt von seiner Tänzerin», empörte sich Max.

«So bist du halt eben der Einzige», gab Lydia brüsk zurück. «Du bist ja mein Freund und Vetter, und das Küssen gehört weder zum einen noch zum andern.» Max schwieg, und, was er oft tat, wenn ihn etwas recht ärgerte, er fing an, leise vor sich hin zu pfeifen. Misstönend, dachte Lydia, aber das passte ja zu ihrer jetzigen Stimmung. – Gerade so ein Misston war durch ihre vertrauende Seele gegangen, Misstrauen blieb zurück und ein leises, heisses Weinen um einen schönen, lieben Traum. Schweigend reichte sie auf dem Bahnhof dem Vetter die Hand; es war auch zwischen ihnen aus, sie beide würden einen Strich unter die Vergangenheit machen; dies war ihre erste Freundschaft gewesen.

Lydia

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