Читать книгу Toni der Hüttenwirt 252 – Heimatroman - Friederike von Buchner - Страница 3

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Wilhelm Wetter fuhr den Lieferwagen auf den Hof und parkte ihn unter dem Dach des Unterstandes.

Seine Frau Elisabeth, die Elli gerufen wurde, putzte das Schaufenster des Ladengeschäftes im Hinterhof. Sie stieg von der Leiter herab.

»Grüß dich, Willi!«, rief sie. Sie schaute auf die Uhr. »Mei, bist du heute früh dran! Ich dachte, von der weit entfernten Baustelle, kommst du erst später. Aber du hast Glück, ich bin gerade fertig geworden und kann gleich abschließen.«

Wilhelm legte den Arm um die Schultern seiner Frau und drückte ihr einen Begrüßungskuss auf die Wange. Sie waren über fünfundvierzig Jahre verheiratet und ihr Alltag war immer noch voller kleiner Zärtlichkeiten.

»Wir waren mit dem Material zu Ende, da haben wir früher Schluss gemacht. Morgen ist auch noch ein Tag. Unsere Arbeiter hat es gefreut. Laut gejodelt haben sie. Sie freuten sich auf den längeren Feierabend. Mei, das kann ich verstehen. Die einen gehen mit Freunden in den Biergarten. Mein Vorarbeiter will seine Familie ins Auto packen und noch schwimmen gehen.«

Wilhelm lächelte seine Frau an.

»Und was unternehmen wir, Elli? Wollen wir in den Biergarten?«

»Na, ich bin gern mit dir daheim, Willi. Das weißt du doch. Ich räume noch schnell die Putz-Sachen weg, dann schließen wir ab. Ich backe ein paar Brezeln und wir trinken zusammen ein Bier auf der Terrasse.«

»Lass mich dir helfen!«, sagte Wilhelm.

Er räumte die Leiter fort. Dann machte er die Kassenabrechnung für den Tag, während Elisabeth die Putztücher am Wasserhahn im Hof auswusch.

Ein kleines schwarzes Auto, das schon einige Jahre auf dem Buckel hatte, fuhr auf den Hof. Eine ältere Frau in Ordenstracht stieg aus. Sie schaute auf die Uhr und ging mit eiligen Schritten zur offenen Ladentür.

»Grüß Gott!«, sagte sie. »Der Beschreibung nach sind Sie Elisabeth und Wilhelm Wetter. Wie schön, dass ich Sie noch antreffe! Charlotte meinte, Sie machen meist pünktlich zu.«

»Sie kennen unsere Enkelin?«, fragte Elisabeth Wetter erstaunt.

Wilhelm Wetter kam dazu und grüßte.

»Die Schwester wird aus dem Kloster kommen, wo unsere Lotte jetzt dem Adam Mayerhofer bei der Restaurierung hilft.«

»Das stimmt. Ich bin Justina, die Leiterin des Klosters.«

»Es ist mit unserm Lottekind doch nichts passiert oder?«, fragte Elisabeth Wetter besorgt.

Die Mutter Oberin legte ihr die Hand auf den Unterarm.

»Sie können ganz beruhigt sein, Frau Wetter. Ihrer Enkelin geht es gut. Adam Mayerhofer, der bei uns die Restaurierungen durchführt, ist des Lobes voll. Sie ist sehr begabt. Im Augenblick bessert sie bei uns im Kloster eine Stuckdecke aus. Sie macht das sehr gut. Und dabei sieht man ihr die Freude an der Arbeit an.«

»Das freut mich«, strahlte Charlottes Großvater. »Des Madl hat schon immer viel Freude an dem Handwerk gehabt.«

»Es war ein Glücksfall, dass Sie ihr Talent unterstützt haben. Schließlich hat sie sich ja entschlossen, einen Beruf zu ergreifen, der vorwiegend von Männern ausgeübt wird.«

»Des hab ich gern getan, Schwester Justina. Genau wie meine Elli, habe ich mich nie gefragt, ob des wirklich ein sogenannter Männerberuf ist. Sicher, früher war es mal ein reiner Männerberuf, doch die Zeiten ändern sich. Es gibt immer mehr Madln, die das Stuckateur-Handwerk erlernen. Außerdem hätte niemand unsere Lotte davon abbringen können.«

Er schaute die Mutter Oberin fragend an.

»Sind Sie gekommen, um uns von Lottes guter Arbeit zu berichten, oder haben Sie ein bestimmtes Anliegen?«

»Das eine hat mit dem andern etwas zu tun, Herr Wetter. Ich will eine große und damit meine ich lebensgroße Skulptur eines Engels in Auftrag geben. Mit Charlotte habe ich schon darüber gesprochen.«

»Mei, da wird sich unser Madl gefreut haben. Wissen Sie, sie hat neulich zwei kleine Engel kreiert und dann noch eine etwas größere Engel-Figur.«

»An genau so etwas habe ich gedacht. Den größeren Engel konnte ich mir ansehen. Er ist wunderschön.«

»Dann wissen Sie, wo er steht?«, fragte Wilhelm Wetter.

Justina sah ihm die Überraschung an und war nicht verwundert. Sie ließ sich aber nichts anmerken.

»Ja, das weiß ich, ich war dort«, sagte sie, möglichst beiläufig.

»Wo?«, riefen Charlottes Großeltern wie aus einem Mund.

Die Ordensfrau lächelte geheimnisvoll. Sie ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.

»Davon erzähle ich Ihnen gern später. Können wir vorher den Auftrag abwickeln? Charlotte ist bereit, die Skulptur zu fertigen. Wegen der Rechnung sollte ich mich an Sie wenden. Und hier bin ich.«

Wilhelm Wetter rieb sich das Kinn.

»Ja, ja, natürlich! Aber bitte verstehen Sie: Die Lotte hat ein großes Geheimnis aus der größeren der drei Figuren gemacht. In der letzten Woche war sie hier und hat sie mitgenommen, nachdem Hans Jäger sie aus Metall gegossen hatte. Meine gute Elli und ich rätseln, was das Madl damit vorhatte. Sie hat uns kein Sterbenswörtchen verraten.«

»Willi, hast du nicht gehört, dass die Mutter Oberin erst später drüber reden will«, tadelte ihn seine Frau.

Sie wandte sich an Justina.

»Wir wollten hier gerade alles dicht machen und rauf zu uns gehen. Wir könnten uns einen Augenblick auf die Terrasse setzen, auf ein Bier und Brezeln. Darf ich Sie dazu einladen? Dabei können wir dann den Auftrag bereden.«

Justina nahm die Einladung gern an. Sie folgte Wilhelm und Elisabeth in die Privatwohnung im oberen Stockwerk. Von dort ging es hinaus auf die Terrasse. Bier lehnte sie ab, da sie noch Auto fahren musste. Sie trank einen Saft und ließ sich die ofenwarmen Brezeln schmecken, die Elli immer auf Vorrat zubereitete und einfror, um immer schnell ein paar davon aufbacken zu können, wenn sie welche brauchte.

»Ja, kommen wir zum Geschäft, Herr Wetter. Der Engel soll gut zwei Meter hoch sein, von den Füßen bis zum Scheitel. Wobei die Flügel natürlich darüber hinausragen.«

Justina entnahm ihrer Tasche ein Blatt Papier.

»Hier, das ist die Skizze, die Charlotte gemacht hat«, sagte sie.

Wilhelm und Elisabeth Wetter betrachteten den Entwurf.

»Da hat sich Lotte wieder selbst übertroffen«, sagte Charlottes Großmutter.

»Des stimmt, Elli.«

Wilhelm Wetter wandte sich an die Mutter Oberin.

»Ich bin nicht unbegabt. Meine Kunden sind mit meinen Stuckarbeiten sehr zufrieden. Aber wenn des Madl etwas macht, hat der Betrachter beim Ansehen das Gefühl, es ist kein toter Gips. Da ist irgendwie Leben drin. Wie das Madl des hinbekommt, ist mir ein Rätsel.«

»Vielleicht kann ich es Ihnen erklären, Herr Weller. Ich habe Charlotte die letzten Tage heimlich beobachtet. Sie lächelt, wenn sie arbeitet. Sie sieht so glücklich aus. Sie geht ganz in dem auf, was sie tut. Es ist für Lotte nicht nur Handwerk, es ist mehr. Sie legt ihre Gefühle und all ihre Liebe hinein, ihr ganzes Herz. Sie wird Erfolg haben in ihrem Leben, wenn sie so weitermacht. Wenn jemand etwas mit den Gefühlen in seinem Herzen tut, mit guten Gefühlen und mit Freude daran, wird er erfolgreich sein.«

»Des haben Sie schön gesagt. So ist es«, sagte Wilhelm Wetter.

»Also, was den Auftrag betrifft – die Rechnung und so, das kommt nicht in Frage. Meine Frau und ich stiften die Figur gern.«

»Das ist wirklich sehr großzügig von Ihnen. Da kann ich nur sagen, ein herzliches Vergelt’s Gott, liebe Frau und Herr Wetter!«

»Gern geschehen!«, sagte Wilhelm.

Er trank einen Schluck Bier und sah seine Frau an. Sie wusste, dass sie jetzt das Gespräch führen sollte.

»Schwester Justina«, sagte Elisabeth, »wir waren der Meinung, wir hätten ein sehr gutes Verhältnis zu Lotte. Sie ist unser einziges Enkelkind. Sie hatte immer Vertrauen zu uns. Wenn sie mal in der Schule getadelt wurde, hat sie es uns zuerst erzählt, bevor sie mit ihren Eltern sprach. Die meiste Zeit, als sie bei meinem Mann in der Lehre war, wohnte sie hier bei uns. Es ist wichtig, dass ich Ihnen das sage. Denn wir wundern uns doch sehr in letzter Zeit. Lotte machte ein großes Geheimnis um den dritten Engel. Sie verriet uns nicht, für wen er war, wie sehr wir auch versuchten, es ihr zu entlocken. Irgendwann gaben wir es auf. Lotte war eigentlich immer sehr sanft. Ja, sie hat ein liebes und sanftes Wesen, war nie frech und ungezogen. Doch sobald wir auf den Engel zu sprechen kamen, wurde sie ungehalten.«

»Elli, es war mehr als ungehalten«, ergänzte Wilhelm. »Erinnerst du dich? Gebrüllt hat sie, dass wir aufhören sollten, sie auszufragen. Der Engel sei ihre Angelegenheit und sie würde mit niemanden darüber sprechen. Dabei sind ihr richtig die Nerven durchgegangen. Wir waren richtig erschrocken, über ihre ungewohnt harte Reaktion. Das können Sie sicherlich verstehen.«

»Ja, ich kann verstehen, dass sie von Charlottes Verhalten überrascht waren«, sagte Justina milde. »Kreiden sie es dem Madl bitte nicht an. Sie hat mir viel von Ihnen beiden erzählt und sie liebt sie sehr. Sie hängt innig an Ihnen. Vielleicht wollte sie Ihnen keinen Kummer machen? Vielleicht dachte sie, es sei besser, wenn sie nichts davon wissen.«

»Warum denn? Mei, das Madl konnte doch immer über alles mit uns sprechen«, seufzte Elisabeth. »Das klingt, als wollte Lotte uns schonen.«

»Liebe Frau Wetter, ich kann über Charlotte nur sagen, dass sie eine sehr kluge junge Frau ist, die weiß, was sie tut und sich jeden Schritt genau überlegt.«

Wilhelms Nerven waren sehr angespannt.

»Wollen Sie uns nicht endlich sagen, wo sie die Engelskulptur gesehen haben? Oder dürfen Sie es uns nicht sagen?«, fragte Wilhelm sehr nervös.

»Oh, das kann ich Ihnen sagen. Das ist kein Geheimnis. Ich habe vor einigen Tagen einen Geistlichen besucht, zu dem unser Orden eine enge Verbindung hat. Gemeinsam haben wir schon viele Kinder aus dem Kinderheim in gute Familien vermittelt. Von Zeit zu Zeit treffen wir uns bei Kaffee und Kuchen. Dieses Mal fuhr ich zu ihm. Wir sprachen darüber, was es Neues gab. Unter anderem erzählte ich von der begabten Praktikantin Charlotte Holzer. Das Gespräch ging hin und her, und es stellte sich heraus, dass es sich dabei um die gleiche junge Frau handelte, die ihn aufgesucht hatte. Sie hatte ihn um Hilfe gebeten, bei der Aufstellung einer Engelsfigur auf dem Friedhof des Ortes und hat ihn um den kirchlichen Segen gebeten. Selbstverständlich kam er der Bitte der jungen Frau nach. Er lud sie zum Kaffee ein und fand sie ganz reizend. Pfarrer Zandler war begeistert von der Skulptur und zeigte sie mir. Ich gestehe, ich war beeindruckt. Nein, es war viel mehr. Ich war tief berührt. Danach sprach ich mit Lotte, ob sie eine ähnliche Skulptur machen könnte, wie die Figur auf dem Friedhof, einen Engel mit einem großen Rucksack zwischen den Flügeln, der ihn am Fliegen hindert.«

Wilhelm Wetter trommelte nervös mit den Fingern auf die Tischplatte und erntete tadelnde Blicke von seiner Frau.

»Und wo war das? Sie haben den Ort nicht erwähnt, Schwester.«

»Tatsächlich nicht? Ich rede von Waldkogel. Das ist ein kleiner Ort unterhalb des alten Pilgerwegs, der über die Berge nach Rom führt. Waldkogel liegt am Ende eines ruhigen Tales. Waldkogel ist ein sehr idyllischer Ort, mit einer wunderschönen Barockkirche. Es liegt unweit von Kirchwalden. Aber Kirchwalden ist sehr viel später entstanden, als Waldkogel.«

»Kann sein, dass ich den Namen Waldkogel schon einmal gehört habe«, sagte Wilhelm Wetter leise. Dabei tat er so, als versuche er sich zu erinnern.

Oberin Justina überging seine Reaktion kommentarlos. Sie vermutete, dass die Wetters den Geburtsort ihres Schwiegersohns kannten und auch über den Bruch von Charlottes Vater mit seiner Familie wussten. Sie sah Charlottes Großvater an, welche Gedanken durch seinen Kopf gingen. Er vermutete jetzt bestimmt einen Zusammenhang zwischen Charlotte und Alois Holzer, ihrem Großvater väterlicherseits. Ihm dämmerte wohl, dass Charlotte herausgefunden hatte, dass es da einen Großvater gab, der ihr bisher verschwiegen wurde.

Ja, Elisabeth und Wilhelm wussten von dem großen Schweigen darüber. Ihre Tochter Monika, Charlottes Mutter, war darüber nicht glücklich, dass ihr Mann so tat, als gäbe es keine Verwandten von seiner Seite, bis auf Harald, seinen älteren Bruder, und dessen Familie, seine Frau Karola und die Kinder Kuno und Sophie.

Schweigen lastete auf der kleinen Runde.

»Es fällt Ihnen bestimmt wieder ein, Herr Wetter«, bemerkte Justina höflich. »Und vielleicht fahren Sie einmal zusammen mit Ihrer Frau hin und schauen sich die Arbeit ihrer Enkelin an? Es ist wirklich eine außergewöhnlich beeindruckende Skulptur. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen. Vielleicht klärt sich alles, wenn sie hinfahren und sich die Skulptur ansehen?«

Justina schaute auf die Uhr. Sie stand auf.

»Oh, ich muss fahren! Meine Mitschwestern warten auf mich. Es war schön, Sie kennenzulernen. Ich bedanke mich noch einmal für Ihre großzügige Spende.«

Wilhelm und Elisabeth Wetter standen auf.

Justina sah, dass sie sich fragende Blicke zu warfen. Das bestärkte sie in ihrer Annahme, dass ihre unausgesprochene Botschaft, in Form eines sanften Hinweises auf Waldkogel, angekommen war.

Elisabeth und Wilhelm begleiteten die Klosterleiterin zu ihrem Auto.

»Vielen Dank, für Ihren Besuch!«, sagte Wilhelm Wetter.

Die Mutter Oberin lächelte Lottes Großeltern an.

»Haben Sie Geduld mit Charlotte! Vielleicht muss sie noch viele solche Engel formen, bis sie die Kraft hat, über etwas zu sprechen, was sie tief in ihrem Herzen bewegt. Geduld fordert viel Kraft, das weiß ich. Aber mit Geduld kommt man oft schneller zum Ziel, als mit Ungeduld.«

Die Ordensfrau ließ den Motor an und wendete. Das Autofenster war heruntergekurbelt. Sie winkte den Wetters zu und wollte abfahren.

Wilhelm Wetter rief: »Noch einen Augenblick, bitte!«

Sein Herz klopfte. Seine Frau und er hielten sich an den Händen, als sie neben dem Auto standen.

»Frau Oberin, können Sie sich an die Gräber erinnern, die in der Nähe des Platzes sind, an dem Charlotte die Engelsfigur aufgestellt hat?«

»Sie hat sie nicht auf einem Platz aufgestellt, sondern auf einem Familiengrab.«

»Sage Sie bitte, wer ist da beerdigt?«, brach es aus Wilhelm hervor.

»Ich erinnere mich nur an einen Namen. Die Frau ist erst vor einigen Jahren gestorben. Die goldene Schrift auf dem Grabstein war noch gut zu lesen. Es ist eine sehr gepflegte Grabstätte. Der Name der Verstorbenen war Hedwig Holzer.«

Wilhelm und Elisabeth Wetter schauten sich betroffen an.

»Holzer, sagen Sie, und Hedwig der Vorname?«, fragte Wilhelm nach, so als hätte er es nicht verstanden.

Die Mutter Oberin lächelte, wie jemand, der mehr wusste, aber schwieg. Justina wünschte den beiden Gottes Segen und drehte das Autofenster hinauf, obwohl es ein sehr warmer Sommerabend war. Es war die deutliche Geste, dass sie nichts mehr zu dieser Angelegenheit sagen wollte. Wilhelm und Elisabeth warfen sich Blicke zu und nickten. Sie hatten verstanden.

Mutter Oberin Justina fuhr davon. Wilhelm legte den Arm um seine Frau. Sie sahen dem Auto nach. Dann gingen sie wortlos zurück ins Haus.

Sie setzten sich auf die Terrasse und schwiegen, denn sie waren noch nicht in der Verfassung, darüber zu sprechen. Sie waren sehr aufgewühlt.

*

Doktor Martin Englers Frau Katja und die alte Schwanniger Bäuerin saßen in der großen Wohnküche des ehemaligen Schwanniger Hofs am Tisch und putzten gemeinsam Bohnen aus dem Garten.

»Mei, ist das schön, Katja, dass du den Garten und die ganze Vorratshaltung so machst, wie ich es mein ganzes Leben gemacht habe! Das freut mich«, sagte Waltraud Schwanniger, die Walli gerufen wurde.

Dabei strahlte sie Katja an. Katja lächelte zurück.

»Wir sind dir auch sehr dankbar, dass du uns den Hof so günstig gegen eine Leibrente überschrieben hast.«

»Hör auf von Dankbarkeit zu reden, Katja! Ich gebe zu, dass mich das freut. Aber es ist für mich ein großes spätes Glück mit Martin und dir so etwas wie eine Familie zu haben. Ich danke dem Herrgott jeden Tag dafür. Es ist ein schönes Familienleben mit euch. Leider blieb meine Ehe kinderlos. Als mein guter Mann, Gott hab ihn selig, nimmer war, war es sehr einsam. Und weit und breit keine Erben. Sollte der schöne Hof an den Staat fallen oder an weitläufige Verwandte, die ich nie gesehen habe? Naa, so ist es besser. Ihr seid beide wie meine Kinder.« Lachend fügte sie hinzu: »Na ja, eher wie Enkelkinder. Aber das spielt keine Rolle.«

Katja legte das Messer hin und wischte die Hände an der Küchenschürze ab. Sie stand auf und setzte sich für einen Augenblick neben die alte Walli. Katja legte den Arm um Wallis Schultern und neigte einen Augenblick den Kopf an den ihren.

»Walli, du weißt, Martin und ich haben dich tief ins Herz geschlossen. Ich hoffe, der Herrgott schenkt dir noch viele glückliche und gesunde Jahre.«

»Das hoffe ich auch. Der Martin sorgt schon dafür, dass es mir gutgeht. Dein Mann ist ein guter Doktor. Außerdem hat er das Herz am rechten Fleck. Wir Waldkogeler können uns glücklich schätzen, dass er, als echter Waldkogeler Bub, nach den Studium die Praxis von unserem alten Doktor übernommen hat.«

»Martin liebt seine Heimat. Er sagt mir immer wieder, dass er niemals woanders Arzt sein wollte. Seit er die Praxis hier auf dem Hof hat, mit der kleinen Bettenstation, ist er sehr glücklich. Martin sagt immer, es ist nicht gut, einen alten Baum zu verpflanzen. Es belastete ihn sehr, wenn er jemand ins Krankenhaus überweisen musste, weil es keine andere Möglichkeit der Betreuung gab. Sicher, bei schweren Erkrankungen müssen die Patienten nach Kirchwalden ins Krankenhaus. Doch bei kleineren Sachen können sie sich hier auskurieren.«

»Genauso ist es, und dafür sind alle dankbar. Sie sagen, dem Martin seine Bettenstation ist wie eine weitere Schlafstube.«

Katja setzte sich wieder gegenüber an den Tisch und sie machten weiter.

»Martin ist in den letzten Tagen sehr still, Katja«, bemerkte Walli. »Sonst erzählt er gerne von der Sprechstunde. Er kann sich freuen wie ein kleiner Bub, wenn er jemand helfen konnte. Doch seit letzter Woche ist er ziemlich einsilbig, finde ich. Weißt du, was er hat?«

Katja nickte.

Wie aufs Stichwort kam Martin in die Küche.

»Fertig mit der Sprechstunde?«, fragte Katja.

Martin gab ihr einen Kuss.

»Ja!«

»Und wie ist es mit den Hausbesuchen?«

»Vielleicht?«

Katja und Walli schauten sich an.

»Des ist eine sehr seltsame Antwort, Martin«, bemerkte Walli. »Was heißt vielleicht?«

»Vielleicht heißt, dass ich heute Morgen bereits alle Hausbesuche erledigt habe. Ich mache mir aber Gedanken, ob ich noch bei der Rosel Horbach vorbeischaue. Sie war nicht in der Sprechstunde.«

»Bist du beunruhigt?«, fragte Katja.

Martin holte einen Becher Kaffee und setzte sich an den Tisch.

»Die Rosel macht mir seit einigen Wochen Kummer. Sie kam fast täglich in die Sprechstunde und klagte jeden Tag über neue Beschwerden und Schmerzen. Sie hat wirklich so empfunden. Das nehme ich ihr ab. Also habe ich alles untersucht, was ich untersuchen konnte, Blut, allerlei Tests. Ich habe sie von Kopf bis Fuß geröntgt. Alles ohne Befund. Die Rosel ist gesund. Ich bin mir auch sicher, dass sie mir nix vormacht. Sie leidet wirklich und sieht elend aus. Ich frage mich, was ich noch tun kann? Habe ich etwas übersehen? Bin ich betriebsblind? Soll ich sie an Fachkollegen nach Kirchwalden oder sogar nach München überweisen? Gestern habe ich sie darauf angesprochen. Sie will nicht überwiesen werden. Sie weigert sich, zu einem anderen Arzt zu gehen. Jetzt kam sie heute nicht in die Sprechstunde, da mache ich mir Sorgen.«

»Dann musst du einen Hausbesuch bei ihr machen, Martin«, sagte Katja.

»Ja, ich werde bei ihr vorbeigehen. Ich mache noch eine Runde mit dem Hund. Mia liegt an der Haustür und wartet. Da gehe ich bei Rosel vorbei. Dann sieht es nicht so offiziell aus. Schließlich hat sie mich nicht um einen Hausbesuch gebeten. Wenn ich nur herausfinden könnte, was sie hat!«

Walli legte das Gemüsemesser hin, griff über den Tisch und tätschelte Martins Hand.

»Du bist ein guter Doktor, Martin«, sagte Walli. »Manchmal macht Kummer die Leute krank. Das hast du schon oft selbst gesagt.«

Martin schüttelte den Kopf.

»In dem Fall kann ich mir das nicht vorstellen, Walli. Rosel Horbach hat keinen Kummer. Sie lebt auf dem wunderschönen Hof, den sie letztes Jahr von ihrem Vater geerbt hat. Sie ist finanziell abgesichert. Manchmal wünsche ich mir, anderen würde es nur ein bisserl so gehen wie der Rosel. Sie hat keine Sorgen. Trotzdem geht es ihr nicht gut.«

»Depressionen?«, fragte Katja.

»Wenn, dann versteckt sie sie gut. Ich habe Tests mit ihr gemacht, weil ich auch den Verdacht hatte. Aber es ergab sich keine Diagnose.«

Die alte Walli seufzte.

»Martin, du bist bestimmt ein guter Doktor und hast dich bemüht. Ich verstehe nix von Medizin. Aber mein gesunder Menschenverstand sagt mir, dass die Rosel ein ganz bestimmtes Problem hat. Du hast es bei anderen gut diagnostiziert. Nämlich bei Leuten, die in Rente gegangen sind und kurz danach jedes erdenkliche Zipperlein bekommen haben. Des haben sie bekommen, weil ihre Aufgabe weggefallen ist. Viele Menschen kommen schlecht damit klar, dass die berufliche Aufgabe wegfällt.«

»Des stimmt, Walli. Aber bei Rosel kann es das nicht sein. Dazu ist sie zu jung. Sie ist fünfzig und hat nie irgendwo gearbeitet.«

»Des hat nix zu sagen, Martin. Ich will dir jetzt mal etwas über die Rosel erzählen.«

Walli putze weiter Bohnen, als sie über Rosel Horbach sprach.

»Die Rosel war ein fesches Madl. Und sie war nicht nur fesch, sondern auch eine gute Partie. Ihr Vater war in Gelddingen immer sehr geschickt gewesen. Er hat Anteile von Firmen in München gekauft. Das weiß ich nur, weil Rosels Vater und mein Mann befreundet waren, obwohl Rosels Vater viel jünger war. Das sichert Rosel jetzt ein gutes Leben. Sie hätte heiraten können. Fesche Burschen, die sich um sie bemühten, gab es genug. Aber sie wollte nicht. Es waren alles Hoferben. Somit hätte Rosel eingeheiratet und ihren frühverwitweten Vater allein lassen müssen. Des wollte sie nicht. Sie war sicher mehr als einmal verliebt. Aber sie entschied sich jedes Mal gegen die Liebe und für ihren Vater. Sie sorgte für ihn und pflegte ihn voller Hingabe, bis der Herrgott ihn zu sich rief. Du weißt das besser als ich, wie liebevoll Rosel sich um ihren Vater gekümmert hat. Aber das Leben ging an ihr vorbei. Sie verzichtete auf die Liebe und auf eine eigene Familie. Ihr ganzes Leben hatte sie auf ihren Vater ausgerichtet. Nach seinem Tod hat sie keine Aufgabe mehr. Ich vermute, Rosel hat nicht einmal ein Hobby, das sie ablenkt. Sie ist einsam, Martin. Da ist dieser große wunderschöne Hof, den sie jetzt ganz allein bewohnt. Sie hat auch wenig Kontakt, so viel ich weiß. Sie war vierundzwanzig Stunden am Tag um ihren Vater herum. Jetzt ist sie fünfzig und weiß nicht, wie sie den Tag herumbringen soll, ohne Aufgabe, ohne Beruf. Ihr Beruf war, Tochter zu sein. Schön und gut. Aber ganz richtig war des vom alten Horbach nicht, seine Rosel so an sich zu binden. Er hätte dafür sorgen müssen, dass sie sich ein eigenes Leben aufbaut. Sicher träumte Rosel davon, hatte wahrscheinlich eigene Wünsche und Sehnsüchte. Die hat sie unterdrückt, weil dafür kein Platz war. Sie war die aufopfernde selbstlose Tochter. Jeder Mensch hat Sehnsüchte, Träume und Wünsche. Wenn die ein ganzes Leben, meinetwegen Jahrzehnte lang, wie bei der Rosel, unterdrückt werden, dann kann des schon sein, dass sie jetzt als Schmerzen aus der Tiefe der Seele kommen.«

Martin schaute Walli nachdenklich an.

»Du hast recht, Walli. Rosel leidet an Einsamkeit. Sie wird mit der Leere in ihrem Leben nicht fertig. Geld hat sie genug, sodass sie nicht arbeiten muss. Da sind, in gewissem Sinn, andere besser dran, die ihrem Beruf nachgehen müssen und ihren Mann oder ihre Frau stehen müssen. Mei, Walli, warum habe ich das nicht so gesehen?«

»Mach dir keine Vorwürfe! Die Rosel ist eine sehr schöne Frau, war immer gut angezogen. Sie hat nie geklagt, hat sich mit ihrem Leben abgefunden und nach außen hin immer so getan, als wäre alles in Ordnung. Da lässt man sich leicht blenden.«

Martin rieb sich das Kinn.

»Du hast recht, Walli! Jetzt muss ich mir eine Therapie überlegen. Sie braucht eine Aufgabe. Vielleicht rede ich mal mit Marie Weißgerber. Es gibt immer Engpässe bei den Gemeindehelferinnen. Marie ist sicher froh, wenn sie in Urlaubszeiten oder wenn eine der Dorfhelferinnen krank ist, einen Ersatz hat. Rosel Horbach würde sich bestimmt dafür eignen.«

Katja stimmte zu. Aber in ihren Augen war das zu wenig.

»Rosel braucht eine Aufgabe, die sie jeden Tag fordert. Sie sollte mehr Kontakt zu anderen Menschen haben, Martin«, sagte Katja.

»Du meinst, im Grunde fehlt ihr jetzt die eigene Familie, die sie nie hatte.«

»Genau das denke ich, Martin. Andere Frauen in ihrem Alter haben Kinder, vielleicht schon Enkelkinder. Was weißt du über irgendwelche Verwandte?«

Doktor Martin Engler zuckte mit den Schultern. Er wusste darüber nicht Bescheid.

Walli vermutete, dass es keinen näheren Angehörigen gab. Der alte Horbach hatte keine Geschwister. Sicher gab es noch Seitenlinien der Verwandtschaft, aus der Generation der Urgroßeltern. Doch zu den weitläufigen Verwandten hatte Rosel keinen Kontakt. Katja, Martin und Walli erinnerten sich an die Beerdigung des alten Horbachs. Da waren keine weiteren Verwandten gekommen.

»Katja, Walli, uns muss etwas einfallen«, sagte Martin.

»Zu dumm auch, das die Rosel so vermögend ist. Wenn sie wenigstens gezwungen wäre, Ferienwohnungen zu vermieten, dann wäre Leben auf dem Hof«, sagte Walli. »Aber so wie ich Rosel einschätze, würde sie den Vorschlag ablehnen. Ihr Vater wollte nicht an Feriengäste vermieten. Als braves Madl kommt sie auch noch nach dem Tode ihres Vaters seinem Willen und Wunsch nach. Es ist leider so, dass die nächste Generation die Träume ihrer Eltern verwirklicht und nicht ihre eigenen. Das habe ich oft erlebt.«

»Das ist eigentlich traurig, Walli«, seufzte Martin.

»Ja, das ist traurig«, stimmte Katja zu.

Dann hatte Martin eine Idee.

»Leute, mir kommt gerade ein Gedanke. Eines weiß ich mit Sicherheit, die Rosel hat ein großes, weiches Herz. Wir müssen bei ihr jemand einquartieren, am besten für längere Zeit, der Hilfe braucht. Vielleicht jemand, der sich aus gesundheitlichen Gründen eine längere Zeit in den Bergen erholen soll. Am besten jemanden, den Rosel richtig umsorgen kann. Essen kochen und zu Spaziergängen begleiten, so in der Art.«

»Bist du sicher, dass du sie dazu überreden kannst, Martin?«, fragte Katja.

»Ich appelliere an ihr gutes Herz. Ich bitte sie um Aufnahme der betreffenden Person, erst einmal nur für den Übergang. Sie wird mir die Bitte bestimmt nicht abschlagen, Katja.«

»Einen Versuch ist es wert, Martin«, stimmte Walli zu.

Katja und Walli hatten alle Bohnen geschnitten.

Katja räumte den Tisch ab.

»Mit den Bohnen machen wir nachher weiter. Erst überlegen wir, wie wir Rosel helfen können.« Katja hielt mitten in der Bewegung inne. »Und mir kommt gerade die Lösung, Martin.«

»So? Raus damit!«

»Wie lange ist es her, dass Felix dich besucht hat? Er hat damals von einer kleinen Patientin erzählt, deren Schicksal ihm sehr naheging. Wie war der Name des Mädchens gleich?«

»Lena«, sagte Martin.

Seine Gesichtszüge hellten sich auf. Er verstand Katja sofort, auch ohne viele Worte.

Martin ging zum Telefon. Die Telefonnummer seines Studienkollegen, der in München eine Kinderarztpraxis hatte, war einprogrammiert. Doktor Felix Linder hatte Abendsprechstunde. Es dauerte etwas, dann war er am Hörer.

»Grüß dich, Martin!«, sagte er. »Entschuldige, dass du einen Augenblick warten musstest. Ich hatte noch einen kleinen Patienten hier. Aber jetzt habe ich Zeit, Schluss für heute. Willst du mich an mein Versprechen erinnern, euch öfters zu besuchen?«

»Das natürlich auch, Felix. Aber ich rufe aus einem anderen Grund an. Katja, Walli und ich sitzen gerade zusammen und reden so über Patienten und dies und das. Da haben wir uns an deinen Besuch erinnert. Ja, wir sollten mal wieder eine schöne Wanderung oder eine Klettertour machen. Übrigens, ich soll dir Grüße von Toni ausrichten und von Anna. Wenn er rechtzeitig weiß, wann du kommst, wird er es einrichten, dass wir zusammen zum Gipfel des Engelssteigs klettern können.«

»Richte allen auf der Berghütte Grüße aus! Ich werde bald mal wieder kommen. Ich gebe rechtzeitig Bescheid. Also an den nächsten drei bis vier Wochenenden wird das schwierig werden. Du weißt, dass ich oft Wochenendvertretungen in der Kinderklinik außerhalb von München mache.«

»Das ist das Stichwort. Du hast uns damals von einem Mädchen erzählt, Lena. Wie geht es ihr?«

»Schön, dass du nach ihr fragst. Der Heilungsprozess ist so weit abgeschlossen. Die Krankenkasse hatte auch eine kurze Kur bewilligt. Aber das war in meinen Augen zu wenig. Sie ist noch ziemlich schwach und blass. Mir zerreißt es fast das Herz, wenn ich sie sehe und ihre Mutter. Die beiden sehen wirklich elend aus. Martin, ich frage mich, warum das Schicksal die einen so begünstigt und anderen so viel Leid aufbürdet?«

»Diese Frage kann dir kein Mensch beantworten, Felix. Damit schlage ich mich auch oft herum. Aber was die kleine Lena und ihre Mutter betrifft, habe ich eine Idee.«

»Ich höre!«

Martin erzählte von seiner Patientin Rosel Horbach und der Idee, Lena und ihre Mutter dort für eine Weile unterzubringen.

»Damit wäre beiden Seiten geholfen. Meinst du Lenas Mutter wäre damit einverstanden, Felix?«

»Das weiß ich nicht. Ich müsste mit ihr sprechen. Aber ich denke, dass sie das Angebot gern annimmt. Für ihre Tochter tut sie alles.«

Sie unterhielten sich noch eine Weile. Martin sagte, dass er mit seiner Patientin Rosel Horbach sprechen und dann zurückrufen werde. Sie verabschiedeten sich.

Da Martin das Telefon auf ›Laut‹ gestellt hatte, hatten Katja und Walli mithören können.

Nach dem Telefongespräch sah Martin Katja und Walli an.

»So, dann werde ich mit Mia einen schönen Abendspaziergang machen und Rosel Horbach besuchen. Haltet mir die Daumen!«

Katja und Walli nickten.

»Lass dir Zeit, Martin! Wir haben genug zu tun, die Bohnen einzukochen und einzulegen. Wir essen später zu Abend. Es gibt nix Warmes. Ich richte eine kalte Brotzeit.«

Martin holte die Hundeleine und verließ das Haus.

*

Doktor Martin Engler machte einen Spaziergang über die Wiesen und durch die Felder. Er ließ Mia, die Pointerhündin, von der Leine. Sie rannte fröhlich herum, schnüffelte hier und dort. Derweil war Martin in Gedanken. Er überlegte sich seine Worte, wie er Rosel die Sache nahebringen könnte.

Als Martin zum Horbach Hof kam, goss Rosel die Geranien vor den Fensterbänken.

»Grüß Gott, Rosel!«

»Grüß Gott, Herr Doktor!«

»Mei Rosel, wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du des mit dem ›Herr Doktor‹ lassen sollst. Schon als kleiner Bub hab ich Rosel zu dir gesagt und du Martin. Ich bin kein anderer Mensch, nur weil ich Medizin studiert habe und dein Doktor bin.«

»Schon gut, Martin! Ich nehme es zurück.«

»Gut so! Hast du mal ein bisserl Wasser für Mia? Sie hat Durst.«

»Sicher, kommt mit rein in die Küche!«

Martin und seine Pointerhündin folgten Rosel ins Haus. Er sah Rosel zu, wie sie Mia ein großes Gefäß mit Wasser hinstellte und liebevoll streichelte.

»Du hast gar keine Tiere auf dem Hof?«

»Nein, vor mehr als fünfzehn Jahren, als die Krankheit meines Vaters schlimmer wurde, hat er alle Tiere abgeschafft. Wir hatten noch einige Hühner, Hasen, eine Katze und einen alten Hund. Als die Katze und der Hund nicht mehr waren, wollte mein Vater keine Tiere mehr.«

»Du solltest dir einen Hund und oder eine Katze zulegen. Rede doch mal mit Beate! Als Tierärztin weiß sie immer, wenn Tiere ein neues Zuhause suchen.«

Statt einer Antwort zuckte Rosel mit den Schultern.

Martin seufzte innerlich, ließ sich aber nichts anmerken. Sie folgt immer noch den Wünschen ihres verstorbenen Vaters, dachte er.

»Rosel, um des gleich klarzustellen, das ist kein Hausbesuch. Es ist ein Freundschaftsbesuch.«

Er rieb sich das Kinn.

»Genauer gesagt, habe ich eine Frage, verbunden mit einer Bitte. Ich belästige dich damit, weil ich sonst keine Möglichkeit sehe. Ich kann mir denken, dass es für dich eine Umstellung wäre. Es ist auch nicht für lange, nur bis ich für Lena und ihre Mutter, Julia, eine Ferienwohnung gefunden habe. Es ist Hochsaison und alles belegt. Wenn die Schulferien in zwei Wochen zu Ende gehen, werden die Belegungszahlen zurückgehen. Ich werde morgen einen Zettel im Wartezimmer aushängen und bin sicher, dass ich ein Quartier finden werde, das auch nicht so teuer ist. Toni und Anna würden die beiden sofort auf der Berghütte aufnehmen. Aber für die kleine Lena wäre der Weg zur Oberländeralm herunter und wieder hinauf zu anstrengend. Und ich schaffe es zeitlich wohl nicht, fast täglich meine Runde der Hausbesuche auf die Berghütte auszudehnen. Lena braucht noch ärztliche Betreuung.«

An Rosels Blick erkannte Martin, dass er ihr Interesse geweckt hatte. Sie wusch sich die Hände, holte zwei Bier und zwei Gläser und bat Martin, sich zu setzen.

»Rosel, du bist die Einzige hier im Ort, die ich noch fragen kann. Du hast das große Haus. Lena ist ein stilles kleines Mädchen. Ihre Mutter soll eine ganz liebe junge Frau sein. Persönlich kenne ich die beiden nicht. Mein Studienfreund Felix Linder ist Kinderarzt in München und hilft an den Wochenenden in einer Kinderklinik außerhalb aus. So ist er auf das Schicksal von Lena und ihrer Mutter aufmerksam geworden. Er meint, Julia sei sehr bescheiden und ruhig. Sie würden dir keine Mühe machen.«

»Wie alt ist das kleine Mädchen?«, frage Rosel.

»Lena ist sechs geworden. Sie geht aber erst nächstes Jahr in die Schule. Die Zeit braucht sie auch, um sich noch besser zu erholen.«

»Was ist mir ihr?«, fragte Rosel.

Martin seufzte.

»Es ist schlimm, was Julia und Lena zugestoßen ist.«

Martin trank einen Schluck Bier.

»Am besten hole ich weiter aus. Ich erzähle es dir so, wie ich es von Felix weiß.«

Rosel nickte ihm zu.

»Also, Lenas Vater hatte einen schweren Autounfall und starb nach einer Zeit im Koma. Das war vor ungefähr achtzehn Monaten.

Danach hatten Julia und Lena nicht nur den Verlust des Ehemanns und des Vaters zu bewältigen, sondern noch viel mehr. Sie verloren das Haus. Julias Mann besaß eine Firma gemeinsam mit einem Partner. Für diese Firma hatte Julias Mann mit seinem Elternhaus, in dem er mit Julia und Lena wohnte, gebürgt. Es stellte sich heraus, dass dieser Partner der krumme Geschäfte gemacht hatte. Dafür wurden sie haftbar gemacht. Sie mussten alles verkaufen und aus dem Haus ausziehen. Zum Glück fand sich ein Käufer und die Schulden waren beglichen. Aber es blieb nichts für einen guten Neuanfang übrig. Julia, die plötzlich mittellos war, zog mit Lena in eine winzige Dachwohnung in München und ging auf Arbeitssuche. Sie bekam immer nur Aushilfsstellen und schlug sich so durch. Das blieb nicht in den Kleidern, wie man sagt. Julia brach mehrmals vor Erschöpfung zusammen und ist bis heute krankgeschrieben. Es ist das Herz. Sie ist nicht belastbar. Während sie in der Klinik lag, war Lena in einem Heim untergebracht. Sie lief von dort fort, wollte zu ihrer Mutter ins Krankenhaus und kam unter ein Auto. Lena hatte innere Verletzungen und Brüche an Armen und Beinen. Heute ist alles verheilt. Aber das Madl ist noch schwach von der langen Liegezeit im Kinderkrankenhaus. Dazu kommt der seelische Stress, aus den Lebensumständen. Die Krankenkasse bewilligte nur eine kurze Kur. Das war viel zu wenig. Ihre Mutter hat Tag und Nacht an Lenas Bett gewacht, trotz ihres eigenen schlechten Gesundheitszustands. Beide sind sehr blass und geschwächt. Mein Studienkollege meinte, dass gute Bergluft den beiden gut tun würde. Katja und ich wären sofort bereit, sie aufzunehmen. Aber das kleine Mädchen will bestimmt nicht bei einem Arzt wohnen. Es war lange genug im Krankenhaus. Ich halte es auch für besser, wenn sie irgendwo ist, wo es nicht nach Praxis riecht. Sie kann zwar wieder gehen, aber ich will sie nicht auf der Berghütte unterbringen, bevor ihr es nicht noch besser geht.«

Martin holte Luft.

»Rosel, da kam mir die Idee, dich zu fragen. Ich erwarte jetzt von dir keine Antwort. Ich will, dass du dir das in Ruhe überlegst. Denke darüber nach und gib mir die Tage Bescheid. Ich bin dir auch nicht böse, wenn du ablehnst. Schließlich gibt es auf deinem Hof keine Ferienwohnungen.«

»Nein, die gibt es nicht. Aber es gibt immer noch das Altenteil. Das hat zwei Zimmer, eine Küche und ein Badezimmer. Das könnte ich herrichten. Es würde einige Tage dauern, bis ich alles saubergemacht habe.«

Rosel lächelte Martin an.

»Martin, ich muss nicht lange überlegen. Ich nehme die beiden gern auf. Ich bin froh, wenn ich helfen kann.«

»Das freut mich, vielen Dank, Rosel! Was denkst du, wie viel Miete du verlangst?«

»Martin, darauf kommt es mir nicht an. Die Räumlichkeiten stehen ohnehin leer. Ich helfe gern. Du weißt, dass ich finanziell gut abgesichert bin. Ich kann ruhig etwas abgeben an jemanden, dem das Schicksal nicht so gnädig war. Also, sage deinem Studienkollegen, die beiden sind mir herzlich willkommen!«

»Du bist ein guter Mensch, Rosel. Danke und Vergelt’s Gott. Du musst mir dann nur noch Bescheid geben, ab wann Julia und Lena kommen können. Entweder bringt sie mein Freund Felix her oder ich hole die beiden. Ich muss gestehen, dass Felix noch nicht mit Julia darüber gesprochen hat. Er ist sich nicht sicher, wie sie es aufnimmt. Aber sie ist eine gute und liebevolle Mutter und wird bestimmt herkommen, weil die Bergluft Lena guttut.«

Toni der Hüttenwirt 252 – Heimatroman

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