Читать книгу Toni der Hüttenwirt Classic 38 – Heimatroman - Friederike von Buchner - Страница 3
ОглавлениеAntonius Baumberger, der von allen liebevoll nur Toni gerufen wurde, parkte seinen Geländewagen vor der Scheune auf dem Hof seiner Eltern. Er ging hinten herum durch den Garten in die Küche. Es war Mittagszeit. Im ›Beim Baumberger‹, dem gutbürgerlichen Wirtshaus mit der Pension, war es voll. Meta Baumberger arbeitete in der Küche. Xaver, Tonis Vater, trug die Speisen auf.
»Grüß dich, Mutter! Grüß Gott, Vater! Kann ich euch helfen? Soll ich auftragen oder hinter den Tresen?«
»Nix da, Bub! Wenn du hier bist, dann bist du Gast! Da tust net helfen. Du hast genug Arbeit oben auf der Berghütte. Setz dich an den Küchentisch. Ich fülle dir gleich auf. Die Kinder sind heute spät dran. Sie müßten schon längs da sein«, bemerkte Tonis Mutter und warf einen kurzen Blick auf die Küchenuhr.
»Sie werden schon kommen, Mutter! Sind eben Kinder, die trödeln oft ein bisserl. Erinnerst du dich noch daran, wie’s war als wir klein waren, die Ria und ich?«
Meta wandte sich kurz vom Herd ab und lächelte ihren Sohn an. Ja, sie erinnerte sich lebhaft. Maria, die Ria gerufen wurde, war ein liebes Kind. Aber mit dem Heimkommen, da ließ sie sich auch manchmal Zeit. Ganz besonders dann, wenn sie zusammen mit ihrem älteren Bruder Toni Schulschluß hatte. Toni, seine besten Freunde, Leo, der heute Leiter der Bergwacht in Kirchwalden war, und Martin, der sich jetzt als Hausarzt um die Gesundheit der Waldkogeler kümmerte, nahmen es mit der Pünktlichkeit nicht so ganz genau. Es war keine Boshaftigkeit der Kinder. Sie spielten meistens nur noch etwas auf dem Schulhof und vergaßen dabei die Zeit. Die kleine Ria saß dann auf der Treppe des Schulhauses und schaute den Buben zu, wie sie Fußball spielten.
»Sie werden schon kommen! So spät ist es ja noch nicht!«
Toni setzte sich an den Tisch. Er erzählte seiner Mutter von den Erledigungen in Kirchwalden. Er hatte groß eingekauft.
»Hast auch Geschenke für die Kinder? Du weißt, die beiden haben bald Geburtstag.«
»Ja, die Geschenke habe ich in der Scheune versteckt. Ich werde sie ein anderes Mal mit hinauf auf die Berghütte nehmen. Es soll ja eine Überraschung sein.«
»Ja, Geburtstagsgeschenke müssen eine Überraschung sein. Was ist es denn? Was hast gekauft?«
»Des war schwierig. Die Anna und ich, wir haben uns lange beredet. Eigentlich wollte die Anna heute mit nach Kirchwalden kommen, aber des war net möglich. Der alte Alois hat sich einen bösen Husten geholt. Da wollte ihn die Anna net bitten, die Berghütte alleine zu machen. Ich konnte die Termine beim Amt in der Stadt nimmer aufschieben. So bin ich alleine gefahren.«
Toni erzählte seiner Mutter, daß er für die kleine Franziska einen Katzenbaum gekauft hatte, mit drei Plattformen und einer Höhle.
»Ja mei, für was man heute alles Geld ausgeben kann!« wunderte sich Meta.
»Des stimmt. Aber es war ein Herzenswunsch von der Franzi. Sie will den in ihrem Zimmer aufstellen. Weißt doch, Mutter, wieviel der kleine Kater der Franzi bedeutet. Er ist eben doch so etwas wie eine Verbindung zum Bichler Hof. Sie hat ihm jetzt einen Namen gegeben. Sie ruft ihn Max.«
Toni mußte nicht viele Worte machen. Es war in der ganzen Familie Baumberger ein offenes Geheimnis, daß alle die beiden Bichler Kinder sehr verwöhnten. Damit versuchten sie ihnen das Schicksal nach dem tragischen Unfalltod ihrer Eltern am Hang des ›Höllentors‹ zu erleichtern. Toni und Anna nahmen sich der beiden an, als wären es ihre eigenen Kinder. Xaver und Meta gingen in der Rolle der Großeltern auf.
»Dem Sebastian habe ich einen Hut mit einem Gamsbart gekauft. Es sind keine echte Borsten, aber sie sehen wie echt aus. Der Basti hat sich den gewünscht. Er kommt jetzt langsam in das Alter, wo er ein bisserl eitel wird.«
»Du bist in dem Alter von zwölf Jahren auch net anders gewesen«, lachte Meta.
Sie dachte daran, wie Toni jeden Morgen vor dem Spiegel stand und sich genau betrachtete, ob er nicht irgendwo schon den Ansatz eines Bartes sehen könnte. Bis dorthin übte er fast täglich mit Xavers Rasierschaum.
»Mei, da wird sich der Basti freuen! Weißt was, dann bekommt er von uns ein paar feine Lederhosen mit Hosenträgern dazu und einen schönen Janker«, verkündete Meta laut.
Fast hätte es Sebastian gehört. Er kam mit Franziska zur Küchentür herein.
»Ihr seid ein bisserl spät! Wascht euch die Hände und dann wird gegessen.«
Die kleine Franziska kletterte noch mit feuchten Händen auf Tonis Schoß.
»Bist net böse, daß wir spät sind? Aber des war net anders zu machen. Ich konnte meine Freundin doch net alleine lassen. Die Ulla Hofer hat müssen eine halbe Stunde nachsitzen, weil sie so geschwätzt hat.«
»Und du net?« fragte Toni schmunzelnd.
»Naa, Toni! Ich net. Die Ulla wollte mit mir schwätzen, aber ich habe mir die Finger in die Ohren gesteckt.«
»Bist ein braves Madl! Nun setz dich und iß! Schau, was dir die Oma Meta da hingestellt hat.«
»Lecker! Des ist mein Lieblingsessen!«
Mit großem Appetit aßen die beiden Knödel mit Gulasch und Salat. Plötzlich fing Franzi an kichern.
»Was kicherst du denn so?
Unter weiterem Lachen erzählte das Kind, daß aus einem Fenster des Pfarrhauses dicker Qualm gekommen sei. Der Helene Träutlein sei das Essen angebrannt.
»Oh, dann ist dicke Luft im Pfarrhaus – im doppelten Sinn«, seufzte Meta Baumberger. »Des verzeiht sich die Helene net so schnell, wo sie doch so stolz auf ihre Kochkünste ist.«
Die Gäste waren mit dem Essen fertig. Xaver räumte die Tische ab und kassierte. Nach und nach verließen die Wanderer und Tagesbesucher den Raum.
»Des war wieder ein Ansturm! Nun, dann ist es für heute geschafft.«
Die Türglocke über der Eingangstür bimmelte.
»Man soll den Tag net vor dem Abend loben! Da kommt noch einer! Grüß dich, Pfarrer!«
»Grüß Gott, Xaver und Meta!«
Der Pfarrer Heiner Zandler betrat die Küche.
»Grüß Gott! Da ist ja fast die ganze Familie zusammen. Es fehlt nur noch die Anna!«
»Und der Alois! Der gehört auch zur Familie!« fiel die kleine Franzi dem Geistlichen ins Wort.
»Ja, wenn du des so sehen tust, dann gehört der Alois auch dazu, Franziska!«
Franziska nickte eifrig.
»Ich weiß, daß der Alois net mit dem Toni und der Anna verwandt ist. Aber des sind der Basti und ich auch net. Wir sind nur angenommen. Aber wir gehören auch zur Familie, sagen der Toni und die Anna immer. Stimmt es, Toni?«
Antonius Baumberger wurde es ganz warm ums Herz. Er streichelte der kleinen Franziska über das Haar.
»Des stimmt genau, Franzi! Richtig so! Ihr gehört zu uns.«
Xaver wandte sich an den Geistlichen.
»Hast ein besonderes Anliegen, daß du uns besuchen tust?«
»Ja! Ein Anliegen an deine Frau! Ich würde gerne zwei Mittagessen mitnehmen, für mich und für die Helene.«
Pfarrer Zandler konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken.
»Ah, dann stimmt’s doch! Die Küche im Pfarrhaus soll fast gebrannt haben«, redete Basti dazwischen.
»So schlimm war es nicht, Basti! Aber schlimm genug!« schmunzelte der Pfarrer.
Tonis Handy läutete. Es war Anna. Sie fragte, ob alles in Ordnung sei und wann sie Toni mit den Kindern erwarten könne. Auf der Oberländer Alm stehe eine große Milchkanne voll mit Wurstsuppe, frisch vom Schlachtfest der Nachbaralm. Toni versprach sie mit hinaufzubringen. Anna solle Bello mit den Packtaschen auf die Oberländer Alm schicken. Er habe in der Stadt viel eingekauft.
»Kinder, wir müssen gehen! Die Anna wartet!«
Die Kinder standen sofort auf. Basti verabschiedete sich mit Händedruck von den Nenngroßeltern. Franzi gab Xaver und Meta einen Kuß. Dem Pfarrer winkten die beiden zu.
Als sie draußen waren, setzte sich der Geistliche an den Küchentisch.
»Xaver, bring’ mir bitte einen Obstler – einen Doppelten! Den brauche ich jetzt nach dem Schreck im Pfarrhaus.«
»War es denn so schlimm?« fragte Meta.
So etwas war noch nie passiert.
Helene Träutlein war als junge Frau mit dem Geistlichen nach Waldkogel gekommen. Sie versah den Haushalt im Pfarrhaus und hielt einmal in der Woche ein Kaffeekränzchen ab.
Xaver brachte gleich die Flasche. Unter Anteilnahme hörten Xaver und Meta dem Geistlichen zu. Helene hatte das Mittagessen aufgestellt und es vergessen. Alles brannte an und es qualmte mächtig. Dabei hatte Helene nur etwas aus der Tiefkühltruhe aufgewärmt, als Ersatz für das vollwertige Mittagessen, das sie an diesem Tag bereits verdorben hatte.
»Sie muß völlig in Gedanken gewesen sein. An den Kartoffelbrei hatte sie zu viel Salz gegeben, die Rühreier gezuckert statt gesalzen, und der Salat war ihr beim Anrichten aus den Händen gefallen.«
»Mei, Herr Pfarrer! Ich bin ja ganz erschüttert! Mit der Helene muß was net stimmen. Die scheint ja mit ihren Gedanken wer weiß wo zu sein!« Metas Gesicht zeigte echte Besorgnis.
Pfarrer Zandler nickte zustimmend.
Nach dieser Ungeschicklichkeit hatte Helene eingefrorenes Essen aufgewärmt. Während der Zeit wischte sie den Küchenboden, der voller Salat und Glasscherben der großen Salatschüssel war. Obwohl die Haushälterin mitten in der Pfarrküche hantierte, bemerkte sie nicht, daß das Essen anbrannte. Pfarrer Zandler war in dieser Zeit in seinem Studierzimmer und las im Brevier. Erst als der beißende Qualm und Gestank durch das Pfarrhaus zog, wurde er auf das zweite Küchendrama an diesem Tag aufmerksam. Er stürzte in die Küche, riß das Fenster auf, holte die Töpfe vom Herd und löschte sie mit kaltem Wasser. Die erschrockene Helene Träutlein war auf ihr Zimmer geflüchtet.
»Des ist ja wirklich sehr besorgniserregend, Pfarrer Zandler, was Sie da erzählen!«
Meta setzte sich erschüttert an den Küchentisch.
»Daß die Helene so wirr im Kopf ist, des kann ich mir gar net vorstellen!« Meta Baumberger schüttelte den Kopf. »Ja, ist den etwas vorgefallen? Ist sie vielleicht krank?«
»Naa, des glaube ich net. Alles ist wie immer! Bis auf die Sache, daß sie schon seit einigen Tagen ein bisserl verdreht ist!«
»Da muß was geschehen!« stellte Meta fest.
Sie stand auf und servierte dem Geistlichen erst einmal ein Mittagessen. Dann packte sie eine weitere Portion ein und machte sich sofort auf den Weg zum Pfarrhaus. Meta Baumberger war mit Helene befreundet. Sie wollte selbst sehen, was mit der Freundin los war. Helene Träutlein war eine freundliche und hilfsbereite Frau. Jetzt schien sie selbst Hilfe zu brauchen.
In der Not gehen tausend Freunde auf ein Lot. So lautete das alte Sprichwort, an das Meta Baumberger auf dem Weg zu Helene dachte. Sie nahm sich vor, ihr zu helfen. Wenn es sein mußte, dann würden alle Frauen in Waldkogel zusammenhalten und Helene beistehen. Da war sich die Baumbergerin sicher.
*
Weit außerhalb von Kirchwalden, aber noch auf dem Gebiet, das zur Stadt gehörte, lag der schöne Grundmayr Aussiedlerhof. Es war ein sehr großer und gepflegter Hof, der wie eine weiße Trutzburg inmitten saftiger Wiesen und gelber Rapsfelder stand.
Das große Tor an der Südseite war offen. Dort heraus bewegte sich unter den Klängen eines Trauermarsches der Leichenzug. Die Bläser schritten voran, gefolgt von dem Schützenverein und dem Gesangverein. Dahinter lag auf einem flachen mit Tannengrün ausgelegtem Wagen der Sarg mit dem Leichnam des Bauern Urban Grundmayr. Dem Sarg folgte schwarzverhüllt sein einziges Kind, die fünfundzwanzig-jährige Julia. Neben ihr schritt ihre Tante Else, die Schwester ihres Vaters. Der schwarze Schleier ließ auch bei ihr keinen Blick zu. Die Hände fest um Gesangbuch und Rosenkranz geschlungen, schritten die beiden Frauen mit gesenktem Kopf hinter dem Sarg her. Es folgten weitere Verwandte und Freunde.
Langsam bewegte sich der Zug durch die Felder bis zum alten Friedhof, auf dem die Familie seit Jahrhunderten eine große Grabstätte hatten. Deshalb konnte Julia ihren Vater dorthin zu Grabe tragen und er wurde nicht auf dem neuen Friedhof auf der anderen Seite von Kirchwalden beigesetzt.
Für Julia war es ein schwerer Gang. Nachdem sie ihre Mutter vor einigen Jahren zu Grabe getragen hatte, folgte ihr nun der Vater. Urban Grundmayr war vom Pferd gestürzt und sofort tot gewesen. Warum das sonst so ruhige Pferd plötzlich gescheut hatte, konnte sich niemand erklären.
Mit großer Tapferkeit überstand die junge Erbin die Beerdigung. Sie schüttelte viele, viele Hände. Einige kannte sie. Andere waren ihr völlig unbekannt. Ganz gleich wie, alle wollten Julia in ihrer Trauer trösten.
Der Leichenschmaus fand danach im Innenhof des Grundmayrschen Besitzes statt. Die Trauergäste blieben nicht lange. Sie wollten Julia schonen. Die junge Frau sah so blaß und erschöpft aus, während der Totenwache war die junge Frau nicht vom Sarg gewichen.
Als Julia den letzten Trauergast am Tor verabschiedet hatte, ging sie in den Garten. Dort setzte sie sich unter dem Apfelbaum auf die Bank.
Sie saß eine ganze Weile dort und überdachte ihr Leben, wie es war und wie es künftig sein würde. Der Hof fiel an sie. Sonst gab es keine Erben. Der Hof war schuldenfrei. Auf dem Bankkonto lag eine beträchtliche Summe an Bargeld. Daneben hatte Vater ihr noch Besitz in Wertpapieren und Sparanlagen hinterlassen. Julia war jetzt froh, daß ihr Vater nach dem Tode seiner Frau sie in alle geschäftlichen Dinge einbezogen hatte. So wußte sie über alles Bescheid.
Julia würde keine Geldsorgen haben. Sie hatte von ihrem Vater wirtschaften gelernt. Der Hof mit seinen großen Ländereien, der Hühnerfarm, der Schweinezucht und dem Viehbestand warf jedes Jahr Gewinn ab.
»Es wird schon weitergehen, Madl!« sagte eine Stimme neben ihr.
»Ich habe dich gar nicht kommen gehört, Tante Else!«
»Das habe ich bemerkt! Bist mit den Gedanken weit fort gewesen.«
»Ganz so weit war es nicht! Ich habe über den Hof nachgedacht. Es wird hart werden ohne den Vater. Ich bin ihm dankbar, daß er mir alles gezeigt hat. Ich werde einfach so weiterwirtschaften, wie er es gewollt hat.«
»Das ist ein guter Entschluß! Genug Leute hast du ja! Mein Bruder war kein Ausbeuter. Er hat die Kräfte auf dem Hof immer ordentlich bezahlt. So hatte er nie Probleme. Viele sind schon über Jahre da.«
Die Tante nahm Julias Hand.
»Ich habe mit allen gesprochen, Julia. Sie werden alle dableiben und dir helfen. Mußt dich erst mal um nichts kümmern. Gönne dir ein paar ruhige Tage. Lebe deine Trauer aus. Laß die Tränen fließen. Das ist das Beste, was du machen kannst, Julia!«
Mit Tränen zwischen den Wimpern schaute Julia ihre Tante an.
»Du weißt, daß mir das Nichtstun nicht liegt. Ich werde schon klarkommen, Tante. Arbeit ist die beste Medizin, sagte Vater immer, wenn er mal wieder das Reißen im Kreuz spürte. Gut, daß alle bei mir bleiben. Aber um die Verwaltung muß ich mich selbst kümmern.«
Ihre Tante legte den Arm um Julia.
»Ich kann ein paar Tage bei dir bleiben, wenn du willst?«
Julia überlegte. Dann schüttelte sie den Kopf.
»Sei mir nicht böse, daß ich dein Angebot ablehne. Ich will dir damit nicht weh tun. Ich weiß, wie traurig und erschüttert du bist. Immerhin war mein Vater dein einziger Bruder. Jetzt hast du auch niemanden mehr.«
Mit wohlgewählten Worten versuchte Julia, ihrer Tante zu erklären, daß sie denke, es sei das Beste, wenn sie sich so früh wie möglich in das Leben alleine auf dem Hof einfinden würde. Sie mußte sich daran gewöhnen. Das versuchte Julia zu erklären. Dabei hatte sie ein schlechtes Gewissen, der Tante gegenüber.
»Ich habe dich immer lieb gehabt, Julia! Eine eigene Familie war mir nicht gegönnt. Aber das ist eine andere Geschichte. Die gehört jetzt nicht hierher. Ich werde immer für dich da sein. Mußt dich net entschuldigen, daß du allein sein willst. Dein Vater war auch so. Er packte die Aufgaben immer gleich an. Du weißt ja, wo du mich finden kannst. Du kannst mich jederzeit anrufen. Ich komme dich gern besuchen.«
»Das weiß ich, Tante Else!«
Gemeinsam gingen die beiden Frauen in den Innenhof. Dort stand Tante Elses Auto. Sie hatte schon gepackt. Schnell waren die Koffer im Wagen verstaut.
»Ich danke dir, Tante, daß du die letzten Tage hier gewesen bist. Es war mir eine große Hilfe und Trost.«
Die beiden Frauen umarmten sich. Dann stieg die Tante ein und fuhr vom Hof. Ein Arbeiter schloß danach das Hoftor von innen.
Julia setzte sich auf die Bank neben der Tür, die in den Teil führte, den sie mit ihrem Vater und vorher zusammen mit ihrer Mutter bewohnt hatte.
Julia dachte an Tante Else. Sie war unverheiratet. Warum die Tante nicht geheiratete hatte, wußte Julia nicht. Als Julia noch ein Kind war und die Großeltern Grundmayr im Altenteil des Hofes lebten, lebte ihre Tante mit auf dem Hof. Sie pflegte die alten Leute bis zu deren Tod, der rasch aufeinander erfolgte.
Dann zahlte Julias Vater seiner Schwester das Erbe aus. Tante Else zog direkt nach Kirchwalden. Sie kaufte sich ein kleines Siedlungshaus mit einem Garten. Finanziell gut abgesichert, gab sie an einigen Nachmittagen Musikunterricht. Tante Else war sehr musikalisch und spielte verschiedene Instrumente, Harfe, Zither, Gitarre und Klavier. Tante Else war eine kluge und warmherzige Frau. Julia liebte sie sehr. Die Tante war schon in der Kindheit eine enge Vertraute Julias gewesen. Ihr konnte das Mädchen alle Gedanken, Sorgen, Kummer anvertrauen, die sie ihren Eltern nicht sagen wollte. Die gütige und geduldige Tante hatte immer Zeit und ein offenes Ohr. Mit ihr konnte Julia wirklich über alles reden.
Warum hatte Tante Else nie geheiratet? Das fragte sich Julia wieder einmal. Als Julia älter geworden war, hatte sie die Tante danach gefragt. Weder damals, als sich Julia so im Backfischalter mit Gedanken an Burschen und die erste Liebe herumschlug, noch später gab ihr die Tante eine Antwort. Vielleicht wurde sie einmal sehr enttäuscht, überlegte sich Julia später. Trotzdem war ihre Tante nicht verbittert, wie man es von vielen älteren Frauen kannte, die niemals geheiratet hatten. Julia bewunderte sie sehr.
Hoffentlich lebt sie noch lange, noch sehr lange. Das wünschte sich Julia von ganzem Herzen.
Die Sonne ging langsam unter. Ein kühler Wind kam auf. Julia fror etwas. Sie konnte sich aber noch nicht entschließen, ins Haus zu gehen. Drinnen würde es nicht mehr so sein, wie es einmal war. So zog Julia das dicke, schwarze Schultertuch aus Wolle enger um ihren Körper.
*
Meta Baumberger eilte, so schnell sie ihre Füße trugen, zum Pfarrhaus. Kurz entschlossen läutete sie nicht an der Vordertür. Sie ging durch den Pfarrgarten um das Haus herum. Die Tür zur Küche stand offen.
Meta trat ein. Helene blickte kurz auf. Sie war gerade mit dem Aufwischen des Fußbodens fertig. Sie hatte noch einmal geputzt. Anschließend brachte sie den Eimer mit dem Putzwasser in den Garten und leerte ihn aus.
Bis sie zurückkam, packte Meta das Essen aus.
»Hier, setz dich! Iß! Der Pfarrer Zandler tut bei uns essen!«
»Ich will nix essen! Ich kann nix essen!« lehnte Helene trotzig ab.
»Nix da, Helene! Ich gehe net eher heim, bis du etwas gegessen hast!«
Meta Baumberger blieb stehen und verschränkte die Arme vor der Brust.
»So eine Blamage, Meta! So eine Schande! Des mir! Daß mir des passieren kann! Und gleich zweimal – zwei Mal an einem Tag!«
Meta bewegte sich nicht und zeigte auch keine Reaktion.
»Naa, wirst schon alles vom Pfarrer wissen. So eine Schande! Was tue ich mich schämen!« jammerte Helene weiter.
Meta bestand darauf, daß die Freundin etwas aß. Inzwischen kochte Meta einen Kaffee.
»So, Helene! Jetzt sagst du mir mal, was mit dir los ist. Hör’ mal! Jeder Hausfrau ist schon mal das Essen angebrannt. Jetzt ist es dir auch mal passiert. Na und? So etwas kommt vor!«
»Mir ist es aber gleich zweimal an einem Tag passiert, Meta! Der gute Herr Pfarrer hat ganz verwirrt geschaut. Dann hat er den Hut genommen und ist gegangen! Des mußt du dir mal vorstellen!«
Meta Baumberger schenkte Helene Träutlein Kaffee ein.
»Gut! Sei’s drum! Dann ist es dir eben zweimal passiert an einem Tag! Sag mir lieber, wo du mit deinen Gedanken gewesen bist.«
Helene Träutlein rührte im Kaffee und schaute durch die offene Tür in den Pfarrgarten hinaus. Die Haushälterin schwieg. Sie preßte die Lippen fest zusammen, als wollte sie mit aller Kraft verhindern, daß ihr Worte entweichen.
Meta Baumberger mußte viel Geduld aufbringen. Sie begann zu fragen:
»Bist krank?«
»Naa! Ich doch net! Der Martin, unser guter Doktor Engler, sagt immer, ich hätte eine Gesundheit wie ein starker Gaul. Mich würde nix umwerfen. Na, da ist nix!«
»Das ist schon mal gut!«
Meta seufzte.
»Hast einen anderen Kummer, der dir so den Verstand vernebelt? Ich will hier im Pfarrhaus net fluchen, Helene. Der Herrgott soll mir beistehen. Aber ich gehe net eher hier hinaus, bis ich weiß, was mit dir los ist.«
Helene Träutlein trank einen Schluck Kaffee.
»Na gut! Ich habe da etwas erfahren, was mich ein bisserl aufgeregt hat. Warum es mich so aufgeregt hat, das weiß allein nur der Himmel. Vielleicht ist des eine ja zu dem anderen gekommen. Du weißt doch selbst, wie das ist, Meta. Man hat mal einen schlechten Tag. Da ist man eben mit dem linken Fuß zuerst aus dem Bett gestiegen. Dann geht es so weiter. So einen Tag hatte ich. Sonst nix! Außerdem liegt das alles schon lange zurück. Ich könnte mich über mich selbst ärgern, daß mich des so beschäftigen tut.«
»Aha! Also gibt es doch etwas?«
»Ja! In Gottesnamen! Ja!« brummte Helene mißmutig.
Meta Baumberger schaute der Freundin in die Augen.
»Du willst aber net drüber reden?«
»Naa! Ich will nimmer dran denken. Wie ich schon gesagt hab’, ich habe da einmal was erfahren. Aber des ist lange her. Jetzt wurde ich dran erinnert und des paßt mir net. Ich ärgere mich über mich selbst, daß meine Gedanken immer darum kreisen tun.«
»Meinst net, es hilft, wenn du mit mir über deine Sorgen redest? Jemanden sein Herz auszuschütten, des hilft. Des weiß ich von mir. Ich habe dir doch auch oft mein Herz ausgeschüttet. Helene, kannst sicher sein, daß alles, was du sagen tust, unter uns bleibt. Oder vertraust du mir nimmer?«
»Schmarrn! Ich hab’ dir immer vertraut und du hast mir vertraut. Daran hat sich nichts geändert und wird sich auch nichts dran ändern.«
»Dann ist es ja gut! Dann kannst mir alles erzählen!«
»Naa!« sagte Helene erneut
Helene versuchte zu lächeln, was ihr erst beim zweiten Versuch gelang.
»Bist schon eine gute Seele, Meta! Ja, ja, ein gute, mitfühlende Seele, des bist du! Daß du dich so um mich sorgen tust, des ist mehr als nur lieb. Aber ich werde damit schon fertig – wenn net, dann weiß ich, wo ich dich finden tue, Meta!«
Meta Baumberger sah ein, daß die Freundin sich nicht anvertrauen wollte. Vielleicht war es dazu noch zu früh. Jedes Ding hat seine Zeit, dachte Meta.
»Gut! Dann will ich es mal dabei belassen. Du mußt mir aber fest versprechen, daß du, wenn du Hilfe brauchst, sofort kommst!«
»Ja! Ich schwöre es dir! Bist jetzt zufrieden?« brummte Helene.
»Net ganz! Aber ich muß wohl damit zufrieden sein.«
Meta packte ihr Geschirr ein. Helene ging mit ihr durch den Pfarrgarten bis zur Straße. Die beiden Frauen verabschiedeten sich herzlich voneinander.
*
Die nächsten Wochen verliefen für Julia Grundmayr ruhiger, als sie erwartet hatte. Alle Helfer auf dem Hof unterstützten sie. Langsam, aber auch nur ganz langsam, gewöhnte sich Julia an das Alleinsein. Tante Julia kam oft für ein paar Stunden am Nachmittag zu Besuch. Dann gingen die beiden Frauen zum Friedhof und hielten stille Zwiesprache mit dem verstorbenen Bruder und Vater.
»Julia!« sprach sie ihre Tante eines Tages an. »Julia! Du lebst in einem Museum.«
Die junge Frau bekam große Augen.
»Wie – wie meinst du das, Tante Else?«
Sie gingen vom Friedhof heimwärts. Tante Else ergriff Julias Arm, hakte sich unter und zog das Madl an sich heran.
»Wie ich das meine? Das erkläre ich dir gerne! Also, höre mir bitte gut zu! Ich muß da ein bisserl ausholen!«
Else Grundmayr gab ihrer lieben Nichte eine Lektion in Sachen Tradition. Wenn ein Hof zu Lebzeiten des alten Bauern an seinen Sohn übergeben wurde, dann zog sich der alte Bauer auf das Altenteil zurück. Das Haus, was er vielleicht auch noch mit seiner Frau bewohnt hatte, wurde ausgeräumt, damit die nächste Generation dort einziehen und sich nach ihren Wünschen einrichten konnte. So war nun einmal die Tradition. Tante Else erzählte Julia, wie es damals auf dem Grundmayr Hof war, als sich Julias Großeltern auf das Altenteil zurückzogen. Else lebte vorher als unverheiratete Tochter mit im Haushalt der Eltern, den diese ja dann räumten. Also war sie auch ausgezogen, um Julias Eltern und der kleinen Julia die Räume zu überlassen. Else hatte auf dem Hof eine andere Wohnung bezogen.
Julia war damals noch zu klein, um sich daran zu erinnern. Sie erinnerte sich nur, daß sie ein schönes, neues Zimmer bekommen hatte, mit einem Himmelbett und lustigen Tapeten mit Luftballons.
»Ja, das war dein neues Zimmer, Julia! Vorher wohnte ich darin. Jetzt hör mir weiter zu.«
Else Grundmayr schlug dann den Bogen bis zu dem Augenblick, als sie nach dem Tod ihres Vaters ausgezogen war. Mit dem Erbe kaufte sie sich in der Stadt ein Haus und lebte für sich.
»Ich richtete mich ein, wie es mir gefällt. Es war wunderbar.«
Tante Else vermittelte, daß es an der Zeit war, Urbans Sachen wegzupacken. Die Kleider könnte sie verschenken. Julia sollte alles leeren. Alle Zimmer. Sie sei die Erbin. Es sei ihr Hof, ihr Haus, ihr Heim.
»Einen Neuanfang zu schaffen, ist auch eine notwendige Trauerarbeit, Julia! Du kannst dich nicht davor drücken. Erinnerungsstücke, die dir wichtig sind, die kannst du ja behalten. Von allem anderen solltest du dich trennen. Lebe nicht weiterhin in einem Museum!«
Der Wind strich über die gelben Rapsfelder. Schweigend gingen die beiden Frauen nebeneinander her. Else Grundmayr ließ Julia viel Zeit, über das Gesagte nachzudenken.
Erst wehrte sich alles in Julia gegen den Gedanken, etwas auf dem Grundmayr Hof zu verändern. Doch ganz allmählich stand sie der Anregung ihrer Tante etwas wohlwollender gegenüber. Tante Else hatte nicht unrecht. Es ist alles noch so wie zu Vaters Lebzeiten. Wenn ich abends im Wohnzimmer über meiner Stickarbeit sitze, dann vergesse ich oft, daß er jetzt nicht jeden Augenblick ins Zimmer kommt. Es ist immer noch sein Haus, seine Einrichtung und die meiner Mutter.
»Ich werde es mir überlegen, Tante Else«, sagte Julia leise. »Es ist ein komisches Gefühl. Es kommt mir vor, als vertreibe ich ihn aus meinem Leben, aus meinem Herzen. Ist es denn wirklich richtig, es so zu machen?«
Julia schaute ihre Tante mit großen Augen an.
»Ja! Und noch einmal ja! Es ist wichtig für dich! Dein Vater konnte schon zu Lebzeiten seines Vater alles machen. Bei dir ist es eben so gekommen. Daran kannst du nichts ändern. Das Altenteil steht voll Gerümpel. Räume die Sachen weg! Bringe dort Sachen von deinem Vater unter. Wenn er alt geworden wäre, dann hätte er sicherlich den Altenteil bezogen.«
Tante Else schaute ihre Nichte liebevoll an.
»Du bist ihm immer ein gutes Madl gewesen. Jetzt denke ein bisserl an dich! Was meinst du? Ist das nicht ein Vorschlag zur Güte? Dann fällt es dir sicherlich nicht so schwer. Wenn du willst, dann helfe ich dir dabei. Wie ist es?«
»Willst du jetzt sofort eine Antwort?«
»Ja, Julia, die will ich! Ich habe außer dir niemanden mehr, Julia. Du hast die letzten Wochen gut gemeistert. Doch vor dir liegt noch ein ganzes Leben. Es ist dein Leben! Verbringe es nicht nur in Erinnerungen. Es wäre schade. Außerdem will das niemand. Fange mit dem Wohnzimmer und dem Schlafzimmer an. Dann bestellst du die Maler. Du kaufst dir eine neue Küche. Mache Pläne! Fange gleich heute damit an!«
Tante Else redete und redete. Schließlich überzeugte sie Julia. Die junge Frau versprach, die Sache in Angriff zu nehmen.
Gemeinsam gingen sie zurück zum Hof. Sie schauten sich zusammen den Altenteil an. Tante Else nahm die Sache in die Hand. Sie überrumpelte Julia damit. Sie trommelte alle Helfer auf dem Hof zusammen und ließ den gesamten Altenteil ausräumen. Alle Dinge kamen in den Schuppen. Während die einen noch die Sachen schleppten, ließ Tante Else von anderen Helfern die Wände bereits weiß streichen. Weiße Farbe gab es auf dem Grundmayr Hof mehr als genug. Julias Vater hatte immer einen großen Vorrat an Farbe. Er liebte es, wenn alles schön sauber und hellgestrichen war.
Nach zwei Stunden war alles leer und frisch gestrichen. Tante Else nahm Julia an der Hand. Sie gingen ins Haus. Nach weiteren zwei Stunden waren die Lieblingsmöbel ihres Vaters im Altenteil aufgestellt. Der Rest des Schlafzimmers, des Eßzimmers und des Wohnzimmers schleppten die Helfer bis nachts in die Scheune.
Zum Schluß türmten sich in den Räumen nur noch Körbe, Truhen und Tüten mit Kleinzeug.
»So, das kannst du morgen auch in die Scheune bringen lassen. Dort hinten kann es erst einmal stehen. Die Scheune ist groß genug. Du kannst später entscheiden, was damit geschehen soll. Jetzt kümmerst du dich erst einmal um dich! Tue nur, was dir gefällt, was für dich wichtig ist.«
Tante Else schloß Julia fest in die Arme.
»So, Madl! Das war es! Das war es für heute! Der erste Schritt ist getan. Es ist spät. Ich fahre jetzt heim. Wir sehen uns die nächsten Tage. Ich hoffe, du kommst. Dann gehen wir zusammen einkaufen.«
Julia lächelte. Sie war müde. Es war alles etwas viel gewesen. Doch sie war froh, daß ihre Tante ihr so viel Druck gemacht hatte. Alleine hätte sie es wohl nicht so schnell angepackt. Zu groß war die Scheu davor gewesen.
Nachdem Else Grundmayer abgefahren war, wanderte Julia alleine durch die möbellosen Räume.
»Sollen wir dir noch etwas helfen, Julia?«
Die Männer standen bei der Tür im Wohnzimmer.
»Morgen müssen diese ganzen Sachen noch in die Scheune. Danke, daß ihr so lange geholfen habt.«
»Morgen noch einmal damit anfangen? Naa!« sagte der alte Knecht, der am längsten auf dem Hof war.
Er ging auf Julia zu und drückte sie auf einen Hocker, der vergessen in der Ecke stand.
»Sitzen bleiben! In einer halben Stunde sind wir auch damit fertig!«
Die Männer spannten einen Rollwagen an den Traktor. Damit hielten sie direkt vor dem Haus. Sie bildeten eine Kette und reichten alles Kleinzeug aus dem Fenster. Es ging einfach ruck zuck! Anschließend schoben sie den Wagen rückwärts in die Scheune.
»Den laden wir morgen früh ab!«
Julia stand auf und brachte selbst den Hocker in die Scheune. Sie dankte den Männern und wandte sich um. Sie ging ein paar Schritte, dann kam sie zurück. Auf dem Wagen lag die Familienbibel. Julia klemmte sie unter den Arm. Die will ich auch in den Altenteil bringen, dachte Julia. Das wollte sie am nächsten Morgen gleich tun. So nahm sie das dicke Buch mit in ihr Zimmer.
Müde von dem langen Tag, legte sich Julia erst einmal mit den Kleidern auf das Bett. Sie wollte sich nur einen Moment ausruhen, bevor sie eine Dusche nahm. Doch sie schlief sofort ein.
*
Stunden später erwachte Julia. Vom Innenhof drangen Geräusche durch die offenen Fenster ihres Zimmers in der ersten Etage. Es dauerte eine Weile, bis sie ganz wach war. Mit einem Ruck sprang sie aus dem Bett und rannte ins Badezimmer.
Den Lärm, den die große schwere Bibel mit dem Goldschnitt machte, als sie vom Bett auf den Boden fiel, überhörte Julia.
Das Buch auf dem Fußboden fiel Julia erst auf, als sie fertig angezogen war. Bevor sie zum Frühstück hinunterging, legte sie immer ihr Bettzeug zum Lüften über einen Stuhl am Fenster.
»Ach ja, die wollte ich ja noch hinüberbringen in den Altenteil!« sagte Julia leise vor sich hin.
Sie hob die Bibel auf. Sie war alt, sehr alt, über einhundert Jahre.
»Oh, jetzt ist sie auseinandergefallen!« bedauerte Julia. »Na ja, vielleicht kann ich sie kleben.«
Sie klemmte die Bibel unter den Arm und ging in die Küche. Schnell machte sie sich das Frühstück. Dabei betrachtete sie die alte Bibel, die auf dem Küchentisch lang. Die schwarzen Buchdeckel waren abgegriffen, die Ecken geknickt. Das Blattgold des Goldschnittes leuchtete an einigen Stellen, während es an anderen Stellen sehr abgegriffen war.
Julia war mit dem Frühstück zu Ende. Sie schob ihren Teller zur Seite und griff nach der Bibel. Sie machte sich Gedanken, wie sie den eingerissenen Buchdeckel der Rückseite wieder befestigen könnte. Julia holte durchsichtiges, breites Klebeband aus dem Küchenschrank und klebte außen über den Riß ein langes Stück. Sorgfältig drückte sie den Klebestreifen fest. Er hielt. Die überstehenden Ränder schlug sie nach innen und drückte sie auch an.
Als sie damit fertig war, begann Julia die Seiten mit der Chronik durchzublättern. Schon als Kind hatte sie das gern getan. In der Chronik waren alle Ereignisse der Familiengeschichte aufgeschrieben, seit der Zeit, als die Bibel in die Familie Grundmayr gekommen war.
Julia überlegte einen Augenblick. Dann entschloß sie sich, selbst einen Eintrag vorzunehmen. Sie holte den Füllhalter aus ihrem Zimmer. Sie schlug die letzte Seite auf. Ihr Vater hatte dort den Todestag ihrer Mutter notiert. Die Seite war voll. Julia blätterte um. Sie schrieb den Namen ihres Vaters und seinen Todestag. Dahinter schrieb sie, daß er nach einem Sturz vom Pferd gestorben war. Die Tinte trocknete auf dem alten Papier nur langsam. Julia griff nach der nächsten Seite, hob sie an und bewegte sie hin und her, damit die Tinte auf dem gegenüberliegenden Blatt von der Luftbewegung schnell trocknen sollte.
Dabei sah sie, daß auf der Rückseite des Blattes etwas geschrieben stand.
Ihr Vater hatte einen Eintrag gemacht. Julia starrte auf das Papier. Ihr Herz klopfte. Es war eindeutig die Handschrift ihres Vaters. Er hatte den Eintrag erst vor wenigen Monaten vorgenommen.
Julia spürte einen Kloß im Hals, als sie die Zeilen las.
Das konnte doch nicht sein!
Warum hatte ihr Vater nicht mit ihr darüber gesprochen?
Nein, das kann nicht sein, dachte Julia. Doch im selben Augenblick wußte sie, daß es die Wahrheit sein mußte. Ihr Vater hätte es sonst nicht in die Bibel geschrieben.
Julia drehte sich alles im Kopf. Ihr schwindelte. Ihr wurde heiß, dann lief ihr wieder ein kalter Schauer über den Rücken. Ihre Hände zitterten leicht. Sie war blaß geworden. In Gedanken ging sie blitzschnell die vielen fremden Gesichter durch, denen sie nach der Beerdigung die Hände geschüttelte hatte.
War er dabei gewesen?
Wußte er es?
Warum weiß ich nichts davon?
Vater, warum hast du nicht mit mir darüber gesprochen?
Vater, wie konntest du mir dies verschweigen?
Julia verschränkte die beiden Arme über die offene Seiten und legte den Kopf darauf, als könnte sie dadurch in die Botschaft hineinhören. Ihr Herz klopfte stark. Sie versuchte gleichmäßig zu atmen und sich zu beruhigen. Es gelang ihr nur langsam.
Endlich, nach fast eine halben Stunde, hatte sich Julia wieder etwas beruhigt.
Ich muß den Tatsachen ins Auge sehen, dachte sie. Ob Tante Else etwas von dieser Franka Dillinger und ihrem Sohn Max wußte? Doch wenn sie es wußte, warum hatte ihr die Tante das verschwiegen? Zu Lebzeiten des Vaters konnte sie vielleicht nicht darüber sprechen, weil Vater es nicht wollte, bedachte Julia. Doch jetzt nach der Beerdigung hätte sie doch mit mir darüber sprechen können.
Julia überlegte.
Tante Else wußte sicherlich nichts davon, sonst hätte sie es getan. Das entschied Julia. Danach überlegte sie, welche Konsequenzen diese Entdeckung für sie selbst hatte.
Ich bin nicht mehr alleine. Ich habe einen Halbbruder, der nur wenige Tage älter ist als ich.
Die nächste Erkenntnis drängte sich unmittelbar in Julias Gedanken. Dann gehört mir der Hof nicht alleine. War es nicht so? Julia beneidete schon als Kind ihre Freundinnen, die Geschwister hatten. Jetzt war ihr Wunsch in Erfüllung gegangen.
»Mein Gott! Das muß wirklich wahr sein! Ich muß einen Halbbruder haben. Er heißt Max Dillinger und ist in Waldkogel geboren«, flüsterte Julia leise vor sich hin.
Noch einmal las sie den Eintrag ihres Vaters. Da standen der Name, das Geburtsdatum, der Name der Mutter und der Name des Vaters.
Vater hat einen unehelichen Sohn seit fünfundzwanzig Jahren. Gab es da ein dunkles Familiengeheimnis? Je länger Julia darüber nachdachte, desto neugieriger wurde sie.
Sie klappte die Bibel zu. Sie brachte sie hinüber ins Altenteil und verschloß sie in der großen Truhe. Sorgfältig drehte sie den Schlüssel im Kastenschloß an der Truhe herum und zog ihn ab. Als Zeichen, daß sie jetzt die Bäuerin auf dem Hof war, trug Julia einen Schlüsselbund in der Schürzentasche. Sie fädelte den Schlüssel auf den Schlüsselring und steckte den Schlüsselbund wieder ein. Die Hand in der Schürzentasche, den Schlüsselbund fest umklammert, verließ Julia das Altenteil.
Den ganzen Tag versuchte sie sich ihren täglichen Pflichten zu widmen. Doch das gelang ihr nur mit Mühe. Immer und immer wieder glitt ihre Hand in die Tasche ihrer Dirndlschürze und umklammerte den Schlüsselbund, als wollte sie damit etwas festhalten.
Wie würde Max sein?
Wie sieht er aus?
Sieht man die Ähnlichkeit zu mir?
Als mein Halbbruder muß er wohl eine Ähnlichkeit mit mir haben, oder?
Die Neugierde, sich ihren Bruder wenigstens einmal aus der Ferne anzusehen, wuchs und wuchs und wuchs. Julias Gedanken kreisten nur noch darum, wie sie es anstellen könnte, mit ihm unverfänglich in Kontakt zu kommen. Julia machte einen Plan. Sie verwarf ihn wieder. Sie überlegte und überlegte. Eine Idee nach der anderen kam ihr. Im Telefonbuch von Waldkogel hatte sie schon nachgeschaut. Es gab dort einige Einträge mit dem Namen Dillinger. Ein Max Dillinger oder eine Franka Dillinger waren aber nicht verzeichnet.
Vielleicht hat diese Franka Dillinger später einen anderen Mann geheiratet, überlegte Julia. Sicherlich war es vor fünfundzwanzig Jahren als uneheliche Mutter nicht einfach. Doch welcher Mann würde damals eine Frau mit einer solchen Schande ehelichen. Außerdem stand der Namen Franka Dillinger als Namen der Mutter dabei. Wenn sie geheiratet hatte, warum vermerkte das Vater nicht? Vielleicht ist sie mit ihrem Kind auch fortgezogen. Diese Möglichkeit gab es auch.
Am späten Nachmittag hielt es Julia nicht mehr aus. Sie mußte handeln. Sie wollte Gewißheit. Hinzu kam, daß ihr Vater erst vor wenigen Monaten den Eintrag in die Familienbibel vorgenommen hatte. Julia wertete es als ersten Schritt ihres Vaters, sein Leben zu ordnen. Sicherlich hätte er mit ihr eines Tages darüber gesprochen.
Julia erinnerte sich an ihren Vater als einen ehrlichen und gewissenhaften Menschen. Sie wurde immer sicherer, daß er mit ihr geredet hätte.
Was hätte ich ihm geantwortet?
Was hätte ich dann getan?
Ich hätte darauf bestanden, daß er versuchen sollte, das gemachte Unrecht zu mildern. Sicherlich konnte mit Geld und Zuneigung nach fünfundzwanzig Jahren das Geschehene nicht ungeschehen gemacht werden. Aber die Schuld, daß er die junge Franka Dillinger so sitzengelassen hatte, mußte gesühnt werden. Jetzt ist Vater tot und ich muß ihn vertreten. Sonst mache ich mich auch schuldig. So dachte Julia.
Der Schlüssel zu Julias Fragen lag in Waldkogel. Da wollte Julia hin.
Julia ging in ihr Zimmer und zog sich um. Zum ersten Mal seit dem Tod ihres Vaters legte sie die Trauerkleidung ab. Sie hatte in den vergangenen Wochen nur schwarze Dirndl getragen, während der Woche schwarze Baumwolldirndl; ihre Sonntagsdirndl waren aus Seide.
Allzu bunt wollte sich Julia nicht kleiden. So wählte sie ein dunkelgrünes, hochgeschlossenes Dirndl mit einem Samtmieder und einer etwas helleren, grünen Schürze. Julia kämmte ihr schönes, langes, dunkles Haar und steckte es zu einem Knoten am Hinterkopf zusammen. Sie legte ein seidenes Schultertuch um mit langen Fransen.