Читать книгу Toni der Hüttenwirt 253 – Heimatroman - Friederike von Buchner - Страница 3

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Die alten breiten Dielen waren frisch gebohnert. Sie glänzten fast schwarz im Sonnenschein, der durch das offene Fenster am Ende des langen Flurs schien. Charlottes Eltern, Emil Holzer und seine Frau Monika, standen am offenen Fenster. Sie schauten aus der zweiten Etage des Klosters hinunter in den halboffenen Innenhof. Emil trommelte nervös mit den Fingern einer Hand auf die Fensterbank.

»Emil, ganz ruhig!«, sagte Monika.

Sie legte ihre Hand auf die seine und hielt sie fest. Liebevoll lächelte sie ihren Mann an.

»Mei, bin ich nervös!«, flüsterte er.

»Ausgesprochen ruhig bin ich auch nicht. Aber ich kann nur noch einmal betonen, dass die Mutter Oberin Justina sehr freundlich am Telefon war, als ich sie anrief. Sie schlug vor, dass wir heute am Samstag herkommen sollten. Dann sei Lotte bestimmt nicht hier und wir würden nicht Gefahr laufen, ihr zu begegnen. Sie ist uns bestimmt wohl gesonnen, Emil.«

Emil seufzte.

»In meinem Kopf dreht sich alles, Moni. Ich schäme mich der vielen Fehler, die ich gemacht habe. Und dich und unser Kind habe ich da hineingezogen. Ich wollte, ich könnte die Zeit zurückdrehen, wenigstens, was diesen heiklen Punkt betrifft. Es war Unrecht von mir, mich auf Haralds Seite zu schlagen und mit Vater und Mutter zu brechen.«

Monika streichelte seine Wange.

»Emil, ich verstehe dich. Du hast zwischen zwei Stühlen gestanden. Du warst jung und unerfahren und hast deinen älteren Bruder bewundert. Ich mache mir auch Vorwürfe, dass ich deine Entscheidung einfach so hingenommen habe. Wir waren beide jung. Heute würden wir diesen Konflikt bestimmt besser bewältigen.«

»Das stimmt, Moni. Hinterher ist man immer schlauer.«

»Jetzt reden wir mit Mutter Justina, dann finden wir bestimmt einiges heraus. Hör auf, dir Gedanken zu machen! Du drehst dich im Kreis, Emil. Warten wir es ab, was sie uns sagen kann, und dann überlegen wir gemeinsam.«

Emil seufzte wieder.

»Du hast recht, Moni«, sagte er. Er schaute erneut auf seine Armbanduhr. Die Zeit schien langsamer zu vergehen, als sonst.

»Gedulde dich, Emil! Die Nonne von der Pforte, die uns heraufgebracht hat, hat sich entschuldigt. Sie sagte, dass die Mutter Oberin uns bittet, einen Augenblick zu warten, weil sie noch ein wichtiges Telefonat führen müsse.«

In diesem Augenblick ging die große Flügeltür auf. Die Mutter Oberin, die Leiterin des Klosters, dem eine Schule mit Internat und ein Waisenhaus angeschlossen waren, trat heraus.

»Frau und Herr Holzer, bitte komme Sie herein! Ich hatte einen unerwarteten Anruf aus der bischöflichen Verwaltung. Aber jetzt bin ich ganz für Sie da.«

Die Holzers begrüßten die Oberin herzlich und bedankten sich, dass sie sich Zeit genommen hatte.

Drinnen bat Justina das Ehepaar in der Sitzecke für Besprechugen Platz zu nehmen. Der Tisch war gedeckt. Es gab Kaffee und Kuchen. Justina schenkte ein und legte jedem ein Stück Obstkuchen mit Sahne auf den Teller.

»Gutes Essen hält Leib und Seele zusammen«, sagte sie. »So sagt man und ich füge hinzu, dass Süßes die Nerven beruhigt. Bitte greifen Sie zu!«

Emil und Monika nippten an dem Kaffee.

Oberin Justina ergriff das Wort: »Liebe Frau Holzer, am Telefon haben Sie mich gebeten, ihnen zu sagen, wie Ihre Tochter hinter die Sache gekommen ist. Ich will das mal so ausdrücken.«

»Hinter meine Lebenslüge!«, verbesserte sie Emil. »Es war eine Lüge. Ich habe Lotte ihren Großvater vorenthalten. Ich habe sie in dem Glauben aufwachsen lassen, dass ich keine lebenden Verwandten hätte. Das ist eine Sünde, der ich mich schuldig gemacht habe.«

Die Oberin lächelte nachsichtig.

»Herr Holzer, mir obliegt es nicht, über Ihr Verhalten zu urteilen. Das müssen Sie mit jemand anderem ausmachen.«

Sie trank einen Schluck Kaffee.

»Kommen wir zur Sache! Die Suche nach ihren Verwandten ging nicht von Charlotte aus. Auch Alois Holzer hat keine Nachforschungen angestellt. Ich sage mit Nachdruck, dass liebe Menschen, die Alois Holzer nahestehen, sich seiner Angelegenheit angenommen haben. Dazu gehören Toni und Anna Baumberger, die die Berghütte von Alois übernommen haben. Er lebt bei ihnen auf der Berghütte. Es ließ sich nicht verbergen, besonders in den letzten Jahren, dass Alois über seine verlorenen Söhne trauerte. Er ist alt und einsam, sagten sich Toni und Anna und beschlossen, zusammen mit Alois’ Hausarzt …«

»Ist mein Vater krank?«, brach es aus Emil hervor.

Die Ordensfrau schüttelte den Kopf.

»Nein, das ist er nicht. Er ist alt, das ist keine Krankheit. Bevor er Lotte kennenlernte, hatte er etwas den Lebensmut verloren. Doch jetzt scheint er um Jahrzehnte jünger zu sein.«

»Sie kennen meinen Vater?«

»Nein, Herr Holzer, ich kennen ihn nicht persönlich. Ich stehe in gutem Kontakt mit dem Geistlichen von Waldkogel, Pfarrer Heiner Zandler. Er hat mich informiert. Er war an der Zusammenführung von Alois und Charlotte auch beteiligt. Toni und Anna, sowie Doktor Martin Engler und seine Frau Katja zogen ihn hinzu, genauso die alte Ella Waldner.«

Ein kurzes, zaghaftes Lächeln huschte über Emils Gesicht.

Justina erzählte in aller Ausführlichkeit, wie Toni, Anna, Martin und Katja zuerst Nachforschungen angestellt hatten. Dann waren Anna und Ella nach München gefahren und gaben zwei kleine Skulpturen in Auftrag.

»Sie erzählten Charlotte die Geschichte von den Engeln vom ›Engelsteig‹. Auf diese Weise tasteten sie sich vorsichtig heran. Behutsam erzählten sie von Alois und nahmen Charlotte mit nach Waldkogel, zu Ella Waldners Kate. Dort konnte Charlotte die Briefe lesen, die ihre Großmutter Hedwig nach München geschrieben hatte. Sie waren alle ungeöffnet zurückgekommen.«

»Ich habe nie einen Brief gesehen!«, brach es aus Emil hervor.

Mutter Justina nickte.

»So viel mir bekannt ist, hatte Ihre Mutter keine Adresse von Ihnen, Herr Holzer. Hedwig Holzer schrieb an die Adresse Ihres Bruders Harald.«

»Ich habe bei ihm und seiner Frau gewohnt, als ich in München die Lehre als Fotograf machte.«

»Das ist mir inzwischen bekannt. Dann klären Sie die Angelegenheit mit Ihrem Bruder und Ihrer Schwägerin, Herr Holzer. Mir steht es nicht zu, deren Handlungen zu kommentieren und zu beurteilen«, sagte Oberin Justina.

Monika legte ihrem Mann kurz die Hand auf den Unterarm.

»Emil, du solltest mit Harald unter vier Augen sprechen. Es ist doch gut möglich, dass er von den Briefen auch nichts weiß.«

»Du meinst, Karola hat einfach die Annahme verweigert, sie zurückgehen lassen und nichts gesagt, weder Harald, noch mir?«

Monika zuckte mit den Schultern.

»Das ist sehr gut möglich, Emil. Oder Harald und Karola stecken beide dahinter.«

Emil seufzte. Er schaute Oberin Justina an.

»Wer hat die Briefe jetzt?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Entweder sind sie bei Frau Waldner oder Ihre Tochter hat sie.« Sie lächelte. »Ich werde versuchen, es für Sie herauszufinden. Doch jetzt weiter.«

Sie trank wieder einen Schluck Kaffee.

Dann erzählte sie, dass Charlotte die Sache verarbeiten musste und sich in ein Hotel zurückgezogen hatte.

»Das ist verständlich«, sagte Monika leise. »Und wie ging es dann weiter?«

»Alle, die daran beteiligt waren, hielten zusammen und halfen bei der Zusammenführung von Großvater und Enkelin. Es war für beide ein sehr bewegender Moment, hat man mir erzählt. Aber ihre Herzen öffneten sich, und unter Tränen schlossen sie sich in die Arme. Seither verbringt Charlotte jede freie Minute bei ihrem Großvater. Er ist sehr glücklich mit dem Madl und präsentiert sie voller Stolz.«

»Wir dachten, sie macht Studien für Fachwerkhäuser und Lüftlmalerei«, bemerkte Emil.

»Das tut sie auch, aber nicht in dem Maße, wie Sie das vielleicht angenommen haben. Damit sie es leichter hat, haben Pfarrer Zandler und einige andere es eingefädelt, dass sie hier bei uns ein Praktikum machen kann. Unser Steinmetz ist begeistert von dem jungen Talent.«

»Ja, Lotte ist sehr begabt«, sagte Emil. »Wahrscheinlich hat sie die Neigung zur Kunst von ihrem Großvater Alois geerbt. Wenn wir im Winter im Tal waren, schnitzte mein Vater viele Figuren. Heute würde man sagen, es war sein Hobby.«

Emil schaute unter sich. Leiser sprach er weiter: »Wissen Sie, ob mein Vater uns auch sehen will? Uns alle? Ich könnte verstehen, wenn er voller Bitternis ist.«

Justina lächelte.

»So viel mir bekannt ist, tröstet er Charlotte sehr. Das Madl kann vieles noch nicht verstehen. Vielleicht wird sie die Zusammenhänge erst begreifen, wenn sie älter ist. Alois freut sich, dass er Charlotte hat und sagt, alles werde sich fügen. Charlotte bedrückt die Sache natürlich. Mir gegenüber gab sie zu, dass sie sich in einem tiefen Konflikt fühlt. Ich scheute mich davor, mit Ihnen zu sprechen. Es ist nicht leicht für ein Kind, wenn es hinter ein Familiengeheimnis kommt. Ihre Tochter liebt sie. Sie will Ihnen nicht wehtun und sie nicht tadeln. Aber ihr Wissen belastet sie. Auf der anderen Seite wünscht sie sich sehnlichst, dass ein Schlussstrich gezogen wird. Gleichzeitig hat sie Angst, dass es zu einem erneuten Bruch in der Familie kommen könnte. Nämlich zwischen Ihnen, Herr Holzer, und Ihrem Bruder Harald und seiner Familie.«

»Dann hat Lotte sich auch ihrer Cousine Sophie nicht anvertraut? Dabei standen sich die beiden Madln immer sehr nahe.«

»Nein, das hat sie nicht, Herr Holzer. Es ist wegen Sophies älteren Bruder, Kuno. Er sollte noch nichts davon erfahren. Sie fragt sich, wie er darauf reagiert.«

»Warum?«, fragte Monika.

Die Ordensfrau schmunzelte leicht.

»Nun, ich will es mal so sagen. Charlotte hat für ihr Alter erstaunlich viel Menschenkenntnis. Sie ist überzeugt, dass Kuno sehr nach seiner Mutter kommt. Sie hat wohl keine gute Meinung von ihrer Tante. Lotte erklärte mir, sie halte ihre Tante für kaltherzig, geldgierig und geizig. Genau das waren ihre Worte. Sie befürchtet, der Konflikt könnte weitergehen, da Harald unter dem Pantoffel seiner Frau stehe, der er alles verdanke. Und auch Kuno könnte kritisch reagieren. Charlotte will nicht, dass Alois zum zweiten Mal einen Sohn verliert und mittlerweile zwei Enkel. Das Madl hat Angst, dass Kunos krankhafter Ehrgeiz, seine grenzenlose Geldgier und Raffgier Unruhe auf die Berghütte bringen könnte. So hat sie es gesagt.«

Emil rieb sich das Kinn. Er schaute seine Frau an.

»Was sagst du dazu, Monika?«

»Emil, wir waren uns einig«, sagte Monika mit energischem Unterton in der Stimme. »Egal, wie dein Bruder reagiert, ganz gleich, was danach kommt, wir werden versuchen, die verlorene Zeit wieder gut zu machen, auch wenn das nicht wirklich möglich ist. Und sollte Harald, wahrscheinlich angestiftet von seiner Frau, Ärger machen, dann bekommen sie es nicht allein mit Alois zu tun. Alois hat dann uns und Charlotte. Und mich würde es nicht wundern, wenn sich Sophie auch auf unsere Seite schlagen würde und damit auf Alois Seite.«

»Ach, Monika, ich wollte, wir wären weiter«, seufzte Emil.

»Herr Holzer«, sagte Oberin Justina freundlich, »Sie sind weiter, viel weiter, als Sie annehmen. Sie wollen zu Alois halten. Was bei der Familienzusammenführung herauskommt, wie Ihr Bruder, seine Frau und die Kinder Sophie und Kuno sich verhalten, das hat keinen Einfluss mehr auf sie. Sie sind auf dem besten Weg, sich zu befreien aus den Verstrickungen, in die sie ihr Bruder und seine Frau hineingezogen haben.«

Emil Holzers Augen wurden feucht.

»Frau Justina, ich schäme mich. Das tut mir so unendlich leid. Heute kann ich nicht verstehen, wie ich mich so habe beeinflussen lassen. Wie konnte ich? Warum? Ich verstehe es nicht.«

»Seien Sie milde und nachsichtig mit sich selbst«, sagte Oberin Justina und berührte sanft Emils Unterarm. »Wichtig ist, dass Sie Ihren Fehler eingesehen haben.«

»Sie sind sehr nachsichtig, Frau Oberin«, sagte Emil mit bebender Stimme. »Es war Unrecht, was ich getan habe. Ich habe meine Frau und unser Madl hineingezogen. Spätestens als Charlotte auf die Welt kam, hätte ich Schluss mit der Familienfehde machen müssen.«

»Du hattest dich damals gerade selbstständig gemacht, Emil. Harald hat dir großherzig geholfen. Deshalb hattest du dich ihm verpflichtet gefühlt.«

»Moni, das stimmt alles. Aber ich habe dabei meine Seele verkauft, mein Herz.«

»Der Himmel freut sich über jeden reumütigen Sünder und jeden verlorenen Sohn, der heimfindet«, sagte Justina.

Sie legte ihm ein weiteres Stück Kuchen auf den Teller.

»Jetzt sprechen Sie zuerst einmal mit ihrer Tochter«, riet sie. »So wie ich das Madl einschätze, wird ihr ein großer Stein von der Seele fallen. Charlotte wird glücklich sein, Herr Holzer. Sie wird Ihnen verzeihen. Sie wird Sie verstehen. Außerdem wird sie einen Weg finden, Alois auf ein Zusammentreffen mit Ihnen vorzubereiten und wird zwischen ihnen vermitteln.«

»Hoffentlich, hoffentlich!«, stöhnte Emil.

»Überlegen Sie es sich, wie und wo Sie mit Ihrer Tochter sprechen möchten. Gern können Sie auch hier mit ihr reden. Wenn es Ihnen hilft, bin ich bereit, dabei zu sein. Sie müssen nicht sofort entscheiden. Besprechen Sie das mit Ihrer Frau. Sollten sie meine Hilfe benötigen, rufen Sie mich an!«

Emil Holzer dachte einen Augenblick nach. Er bedankte sich für das Vermittlungsangebot.

»Vielleicht können Sie Charlotte von unserem Besuch erzählen?«

»Das mache ich gern, Herr Holzer! Und hier habe ich noch etwas für Sie beide. Charlotte hat Ihnen einen Brief geschrieben. Sie gab ihn mir zu lesen. Lesen Sie ihn in Ruhe! Ich bin überzeugt, er wird Sie weiterbringen.«

Harald nahm den Brief entgegen. Er bedankte sich. Sie aßen noch das Stück Kuchen und tranken Kaffee. Dann brachte Oberin Justina das Ehepaar Holzer zum Auto. Sie sah ihnen nach, wie sie davonfuhren.

*

Es schüttete über Frankfurt am Main, als hätte der Himmel sämtliche Schleusen geöffnet. Die Passanten waren in Hauseingänge geflüchtet oder in Cafés. Sandra drängte sich mit den schweren Einkaufstaschen dicht an der Häuserwand vorbei. Das T-Shirt klebte an ihr. Der Regen hatte ihre Schuhe durchnässt. An ihren Haaren lief das Wasser herunter wie unter der Dusche.

Sie dachte an ihre Einkäufe, die in den Leinentaschen wohl völlig aufweichen würden.

Lautes Hupen schreckte sie auf. Ein Auto hielt auf der Straße.

»He, Sandra, komm, spring rein!«, rief eine ihr bekannte Stimme.

Sandra lief zum Auto.

»Hallo, Laura, danke für dein Angebot! Aber ich bin nass, als wäre ich gerade aus dem Main gezogen worden. Dein schönes Auto! Das tue ich dir nicht an. Es ist nicht mehr weit bis zur U-Bahnhaltestelle. Mach’s gut, ruf mich an!«

»Du spinnst! Ist doch nur Wasser«, schimpfte Laura.

Im strömenden Regen stieg sie aus dem Auto, riss Sandra die völlig durchnässten Einkaufstüten aus den Händen und stellte ihn vor die hintere Sitzbank. Dann drängte sie die Freundin in den Wagen, bevor sie selbst wieder einstieg. Sie griff nach hinten und reichte Sandra ein Sweatshirt, das auf dem Rücksitz lag.

»Damit kannst du dich abtrocknen.«

»Und du? Jetzt bist du auch ganz nass geworden. Der Autositz wird aufweichen. Das war doch nicht nötig.«

»Ich liebe Regen, das weißt du. Die paar Tropfen, die ich abbekommen habe, verkrafte ich locker.«

Laura stellte die Heizung auf die höchste Stufe und machte das Gebläse an.

»Jetzt fahre ich dich heim«, sagte Laura in einem Ton, der keinen Wiederspruch erlaubte.

Schnell steuerte Laura in Richtung Stadtautobahn. Der Verkehr war mäßig. Viele Autofahrer warteten bestimmt das Ende des Regenschauers ab. Sie kam zügig bis nach Kronberg durch.

Laura bediente die Tastenkombination der Tiefgarage unter dem luxuriösen Appartementhaus und reichte Sandra den Wohnungsschlüssel.

»So, jetzt gehst du vor und nimmst eine heiße Dusche! Du siehst erbärmlich aus. Ich komme mit den Sachen nach«, sagte Laura. »Du bist total unterkühlt. Mein Bademantel hängt im Badezimmer.«

Zwanzig Minuten später saßen die Frauen im Wohnzimmer der Penthouse-Wohnung. Der Himmel über dem Rhein–Main Gebiet war wieder klar. Ein strahlender Regenbogen überspannte die Hochhäuser der City von Frankfurt.

»Die Aussicht ist einfach grandios, Laura«, sagte Sandra.

Laura schenkte Sandra Kaffee nach.

»Sag mal, Sandra, wieso warst du zu Fuß einkaufen?«

»Mein Auto ist in der Werkstatt, die vorgeschriebene Wartung für die Scheckheftpflege.«

»Und was ist mit Karstens Auto?«

»Karsten musste überstürzt nach Paris, in die dortige Firmen-Niederlassung. Er ist mit dem Auto gefahren.«

Sandra nieste.

»Du hast dich bestimmt erkältet.«

»Quatsch, Laura, von Wasser und Kälte bekommt man keine Erkältung, nur von Viren. Aber okay, danke, dass du gehalten hast. Ein Taxi war nicht zu bekommen.«

»Ist Karsten allein gefahren?«

»Nöö, wie immer, hat er seine Assistentin mitgenommen.«

»Du bist sicher, dass zwischen den beiden nichts läuft? Du weißt, dass ich dieser Heike misstraue, seit ich sie letztes Jahr auf Karstens Geburtsfete kennengelernt habe.«

»Du irrst dich, Laura.«

»Dein Wort in Gottes Gehörgang! Der Herr erhalte dir deine Naivität«, seufzte Laura leise.

Sandra warf ihrer besten Freundin tadelnde Blicke zu.

»Hör auf! Ich kenne deine Skepsis, liebe Laura. Du hattest schon immer Vorbehalte gegen Karsten. Aber seit seiner Geburtstagsfeier steigerst du dich in etwas hinein. Sicher arbeitet er eng mit Heike zusammen. Sie ist seine rechte Hand. Sie ist tüchtig. Ein Mann in seiner Position muss ein gutes Team um sich scharen. Auf Heike kann er sich verlassen. Außerdem komme ich gut mit ihr aus. Ich bin mir absolut sicher, dass da nichts knistert zwischen Karsten und ihr.«

Laura zog die Augenbrauen hoch.

»Gut, dann will ich dich nicht weiter bedrängen, Augen und Ohren offenzuhalten. Es würde mich freuen, wenn ich mich irre. Vielleicht täuscht sich mein Bauchgefühl, Sandra. Du bist meine beste Freundin und mir würde es in der Seele wehtun, wenn du eine Enttäuschung erleben müsstest.«

Sandra lächelte Laura an.

»Du bist zwar nur ein knappes Jahr älter als ich, aber du hast dich schon immer wie eine große besorgte Schwester benommen, du liebenswerte Glucke.«

Sie schmunzelten beide.

Laura und Sandra kannten sich seit dem Kindergarten. Beide waren Einzelkinder. Als Lauras Eltern das Haus neben Sandras Elternhaus kauften, bestanden die Mädchen darauf, dass der Gartenzaun entfernt wurde, was auch geschah. Seit damals waren sie unzertrennlich. Als Kinder schliefen sie oft in dem Baumhaus, das ihre Väter für sie auf der Grundstücksgrenze gebaut hatten. Sie gingen gemeinsam zur Schule, machten zusammen das Abitur und studierten anschließend an der gleichen Universität. Erst nach Abschluss des Studiums der Pädagogik und der Ausbildung zur Lehrkraft am Gymnasium trennten sich ihre Wege etwas. Privat sahen sie sich mehrmals in der Woche und telefonierten täglich.

Nachdenklich nippte Laura an ihrem Kaffee.

»Du kannst ruhig laut denken«, sagte Sandra. »Ich sehe doch, dass dir etwas auf der Zunge liegt.«

»Es ist sicher nicht wichtig. Du kennst mich doch. Ich bin eben, wie ich bin. Ich hinterfrage immer alles. Ich muss mir abgewöhnen, immer nur Gespenster zu sehen.«

»Heraus damit!«, Sandra ließ nicht locker.

Laura seufzte.

»Okay, aber beschwere dich nicht. Ich habe gerade überlegt, warum du nicht mit nach Paris gefahren bist. Schließlich sind Sommerferien. Unser schöner Beruf gibt uns viel freie Zeit. Es ist Ferienzeit, meine liebe Sandra.«

»Ich war beim Zahnarzt. Außerdem wusste ich, dass Karsten an dem Tag eine wichtige Konferenz hatte. Dann rufe ich nie im Büro an. Wie würde das aussehen? Am späten Nachmittag rief er an. Er war mit dem Auto bereits auf dem Weg nach Paris. Er hatte noch Mitarbeiter mitgenommen. In Paris war etwas aus dem Ruder gelaufen. Er kommt ja übermorgen zurück. Er ruft mich morgens ganz früh an, dann um die Mittagszeit und abends spät. Er hat jeden Abend ein Geschäftsessen, da wird es immer sehr spät. Ich freue mich, wenn er wieder hier ist. Außerdem steht unser gemeinsamer Urlaub an. Gleich am nächsten Tag wollen wir nach Italien fliegen, zum Shoppen, nach Mailand, Rom, Florenz. Meine Koffer sind schon gepackt. Um Karstens Sachen muss ich mich nicht kümmern. Er ist der perfekte Mann, der darauf besteht, seine Sachen selbst zu erledigen.«

»Er ist sehr emanzipiert«, grinste Laura. »Ja, das ist schon ein besonderes Exemplar, dein Karsten.«

»Ja, das ist er. Und ich lasse ihn nicht wieder los und er mich auch nicht. Übrigens, ich habe da so eine Ahnung. Ich nehme an, dass er während unserer Italienreise vorschlägt, dass wir im Spätherbst oder zu Beginn des Winters heiraten«, verkündete Sandra lächelnd.

»Wie kommst du darauf?«, fragte Laura.

»Weil seine Mutter ein paar sehr diskrete Andeutungen gemacht hat. Wahrscheinlich hat Karsten über den Hochzeitstermin mit seinen Eltern gesprochen. Aber sie würden nie etwas Genaues verlauten lassen. Dazu sind sie Karsten gegenüber zu loyal.«

»Es wird ja auch langsam Zeit, ihr lebt ja schon so lange zusammen, Sandra. Leg ihn an die Kette, damit er dir sicher ist!«

»Das ist doch Unsinn, Laura. Ich bin mir ganz sicher und er auch. Wir haben uns lange Zeit gelassen und sind erst mal zusammengezogen. Wie sagte man früher? Nach den Flitterwochen kommen die Gewitterwochen. Das ist verständlich, wenn zwei zusammenziehen, jeder hat seine Gewohnheiten.«

»Du meinst, die Sache mit der Zahnpasta-Tube und Ähnlichem?«

»Ja, das hat keine große Bedeutung. Wir haben uns in allen Punkten arrangiert. Es läuft sehr gut, reibungslos. Jedenfalls sehe ich der Heirat voller Zuversicht entgegen«, strahlte Sandra. »Ich liebe ihn, und er liebt mich. Es wird perfekt. An Karsten gefällt mir, dass er nie versucht hat, mir die Rolle des treusorgenden Eheweibchens überzustülpen. Jeder macht seine Sache, und wenn ich mal für ihn etwas übernehmen soll, dann bittet er mich darum. Aber das tut er nicht, weil es für ihn bequemer ist, sondern aus zeitlichen Gründen. Wenn er das Büro verlässt haben viele Läden schon zu. Ich habe jeden Nachmittag frei. Also bringe ich seine Anzüge in die Reinigung und gehe für ihn zum Schuster. Aber das ist auch schon alles. Für das Grobe haben wir eine Putzfrau. Ansonsten machen wir viel zusammen, kochen, einkaufen gehen, eben die ganz normalen Sachen, die in einem Haushalt anfallen.«

»Es sei dir gegönnt, liebe Sandra.«

Sandra schaute auf die Uhr. »Ich muss noch ins Fitnesscenter. Willst du nicht mitkommen?«

»Das geht nicht. Mein Liebster hat Karten fürs Konzert besorgt. Aber ich kann dich nach Sachsenhausen fahren«, bot Laura an.

»Quatsch, ich nehme ein Taxi.«

Laura holte Sandras Kleider aus dem Trockner. Sandra sortierte die Sachen in ihre Einkaufstaschen zurück. Gebäck und einige andere Lebensmittel hatte der Regen durchweicht. Sie warf sie bei Laura in den Müll.

»Ich Dussel«, schimpfte Sandra laut vor sich hin. »Karstens Anzug habe ich total vergessen. Ich wollte ihn in die Reinigung bringen. Nun ja, dann mache ich das morgen. Es ist nicht so eilig. Oder ich mache es später auf dem Weg zum Sportstudio. Anschließend gehe ich noch kurz bei meinen Eltern vorbei.«

Sandra zog sich an.

Laura rief ihr ein Taxi und brachte die Freundin vor die Haustür.

Die Freundinnen umarmten sich herzlich. Sandra stieg ein und fuhr ab. Laura sah ihr nach.

*

Das Taxi hielt vor der altehrwürdigen Villa in Sachsenhausen. Sandra zahlte und gab ein gutes Trinkgeld. Der Taxifahrer trug ihr die Einkaufstaschen zum Eingangsportal.

Drinnen nahm Sandra noch einmal eine warme Dusche und zog frische Sachen an. Die Autowerkstatt rief an und teilte mit, dass sie den Wagen am nächsten Vormittag abholen könne.

Nach einem kleinen Imbiss machte sich Sandra auf den Weg ins Sportstudio, das, nicht weit entfernt, im Hintergebäude einer Seitenstraße lag. Unterwegs kam sie an einer Reinigung vorbei. Sie hatte dort noch nie Anzüge und Pullover von Thorsten abgegeben.

»Also hören Sie, das ist ein Maßanzug und ich erwarte, dass er tiptop gereinigt wird. Ich wünsche, dass er von Hand gebügelt wird. Den Aufpreis übernehme ich gern.«

Die ältere Dame verzog keine Mine. Sie breitete den Anzug mit der Weste aus und versah jedes Kleidungsstück mit einer kleinen Papiermarke.

Sandra zahlte.

»Morgen Mittag ist der Anzug fertig«, sagte die Dame hinter der Ladentheke. Dann raffte sie den Anzug zusammen. Sandra war schon auf dem Weg zur Tür.

»Hallo, junge Frau, da ist etwas in der Tasche«, rief sie ihr hinterher. »Es ist immer dasselbe, die Kunden kontrollieren die Taschen nicht.«

Sandra blieb in der offenen Tür stehen. Die Frau kontrollierte alle Taschen.

»Sehen Sie!«, rief sie. »Haben Sie die Brosche noch nicht vermisst?«

»Oh … oh … die Brosche … mmm«, stotterte Sandra und wurde tiefrot. Ihr war, als setze ihr Herz einige Schläge aus.

Schnell nahm sie die Brosche und stürmte aus dem Laden.

Wie in Trance hastete Sandra die Straße entlang. In der Hosentasche hatte sie ihre Faust um die Brosche geschlossen. Sie brannte wie Feuer. Sie erinnerte sich genau. Es war an Karstens Geburtstag gewesen, als Sandra die Brosche an Heikes Jacke entdeckt hatte. Es war ein schönes, ausgefallenes Stück. Sandra hatte Heike darauf angesprochen. Sie hatte bestätigt, dass es ein Einzelstück sei, angefertigt von Simon Klein, dem Juwelier, der in Frankfurt gerade sehr angesagt war. Sandra kannte ihn. Karsten hatte ihr Ohrringe und ein Armband, sowie einen Anhänger anfertigen lassen. Der Schmuckdesigner war teuer. Doch jede Frau konnte sicher sein, dass es ihr Schmuckstück kein ein zweites Mal gab.

In Sandras Kopf drehte sich alles. Thorsten – Heike, Heike – Thorsten hämmerte es in ihrem Kopf. Laura hatte vorhin auch Anspielungen gemacht. Spielte Heike in Thorstens Leben doch eine Rolle, die über das Berufliche hinausging? Heike konnte die Brosche verloren haben. Aber wie kam sie in die Uhrentasche von Karstens Weste? Thorsten trug keine Taschenuhr. Sandra wusste, dass er die feinen Heftstiche nie auftrennte, welche die Tasche verschlossen, da er sie nicht benötigte. Hatte er die Brosche gefunden? Warum hat er sie dann in die Uhrentasche gesteckt? Warum hat er sie Heike nicht sofort zurückgegeben? Er musste die Brosche durch die schmale Öffnung neben den Heftfäden geschoben haben. Außerdem konnte sich Sandra nicht vorstellen, dass Heike die wertvolle Brosche im Büro trug. Auffallenden Schmuck im Büro zu tragen, war verpönt.

Zweifel ergriffen ihr Herz. Wie in einem Film erinnerte sie sich plötzlich an viele Kleinigkeiten, die ihr schon längst hätten verdächtig vorkommen müssen. Das waren die langen Überstunden, die immer häufiger wurden, oder Karsten fuhr spät am Abend noch einmal ins Büro.

Er hat eine Affäre mit Heike. Diese Erkenntnis brannte sich tief in Sandras Bewusstsein ein. Wie in Trance hastete sie weiter. Dabei nahm sie ihre Umgebung nicht wahr.

Plötzlich sah sie einen Schatten auf sich zukommen, dann knallte sie an etwas.

»Autsch!«, rief sie.

Ihre Schulter schmerzte. Sie rieb sich die Schulter. Sandra war an einen Laternenpfahl geknallt. Sie hastete weiter und stieß gleich mit einem Passanten zusammen. Mit beiden Händen hielt sie sich an ihm fest und riss ihn mit zu Boden.

»Ganz schön stürmisch, junge Frau!«, drang eine Stimme in ihr Bewusstsein, die weich, warm und tief klang.

Sandra sah auf und errötete.

»Tut mir leid, dass ich Sie umgerissen habe«, sagt sie verlegen.

»Es ist nichts passiert. Ich habe auch nicht aufgepasst. Es ist nichts geschehen, wirklich.«

Der Mann stand auf und sammelte Obst ein, das ihm heruntergefallen war.

Sandra blieb einfach sitzen. Sie zog die Beine an. Ihre Hose hatte ein Loch und ihre Hand eine Schramme. Sie zog die Beine an, legte die Arme über die Knie, streckte die verletzte Hand aus und legte den Kopf auf ihren arm.

Dann flossen die Tränen. Es war alles zu viel.

»Sie können hier nicht sitzen bleiben«, sprach der Mann sie an. »Hier fallen die Leute über sie. Außerdem sind sie verletzt. Dort drüben ist eine Apotheke. Kommen Sie, ich helfe Ihnen!«

Sandra reagierte nicht. Stattdessen brach ein neuer Strom von Tränen los.

Durch den Tränenschleier bekam sie mit, wie der Mann vor ihr in die Hocke ging.

»Ich weiß, solche Hautabschürfungen brennen wie Feuer. Und Schmutz ist auch in der Wunde. Lassen Sie sich helfen, bitte!«

Sandra schüttelte den Kopf.

»Gehen Sie! Lassen Sie mich allein! Kümmern Sie sich nicht um mich!«, schluchzte sie.

»Das geht schon mal gar nicht«, sagte er. »Dann mache ich mich wegen unterlassener Hilfeleistung schuldig.«

Er stand auf, fasste sie an den Schultern und stellte sie auf die Füße.

»Sie stehen unter Schock. Tut Ihnen sonst noch etwas weh? Arme? Beine? Rücken? Schmerzt Sie ein Körperteil besonders?«

Sandra schüttelte den Kopf. Es war ihr peinlich. Sie wurde rot.

»Hören Sie, das hat nichts mit Ihnen zu tun. Es ist heute einfach nicht mein Tag. Alles geht schief, einfach alles. Gehen Sie, bitte!«

»So leicht werden sie mich nicht los. Auf der anderen Straßenseite ist ein Café. Dorthin bringe ich Sie jetzt.«

Sandra gab den Widerstand auf. Der Fremde nahm Sandras unverletzte Hand und zog sie mit sich fort. Im Straßencafé suchte er einen der hinteren Tische mit Sonnenschirm aus. Dort drückte er Sandra sanft, aber bestimmt auf einen Stuhl und zwar so, dass sie mit dem Rücken zu den Gästen saß.

»Bedienung!«, rief er laut. »Bitte kommen Sie! Das ist ein Notfall.«

Als die Bedienung kam, bestellte er zwei Tassen Kaffee und einen Schnaps für Sandra. Die Bedienung sah Sandras Hand und holte gleich Verbandszeug.

Willenlos ließ sich Sandra von dem fremden Mann die Hand verbinden.

»Trinken Sie den Apfelschnaps, damit Sie wieder Farbe ins Gesicht bekommen«, sagte er.

Sandra kam der Aufforderung nach.

»Sie sehen jetzt schon besser aus. Möchten Sie Kuchen?«

Sandra schüttelte den Kopf. Statt einer Antwort füllten sich ihre Augen wieder mit Tränen.

»Können Sie bitte gehen?«, schluchzte sie. »Ich ertrage es nicht, dass sich jemand um mich kümmert. Ihre Freundlichkeit und Ihre Hilfsbereitschaft machen alles nur noch schlimmer. Es ist alles so schrecklich. Meine Welt liegt in Scherben.«

»Ah, deshalb hatten Sie einen schlechten Tag? Sie haben ein Erdbeben erlebt. Danach wurde alles von Tornados und Hurrikans verwüstet und jetzt rollt auch noch ein Tsunami an. An solchen Tagen wünscht man sich auf einen anderen Planeten, am besten, in eine andere Galaxie.«

»Genauso ist es«, sagte Sandra leise.

»Okay, dann tun wir so, als sei ich ein Außerirdischer, der zur Ihrer Rettung herbeigeeilt ist. Mein Name ist Thorsten Lehner. Übrigens, auf meinem Heimatplaneten duzen wir uns alle. Ich bin Thorsten.«

Er reichte ihr seine Hand über den Tisch. Sandra ergriff sie nur mit den Fingerspitzen, wegen des Mullverbands.

»Sandra Kessler«, sagte sie und seufzte. »Okay, einfach Sandra!«

»Freut mich, dir begegnet zu sein, auch wenn die Umstände recht ungewöhnlich waren«, sagte er. »Aber es ist wohl Schicksal. Normalerweise nehme ich einen anderen Weg. Doch ich freue mich über das Zusammentreffen.«

»Mach auch noch Witze«, zischte Sandra. »Eins sage ich dir gleich, damit du es weißt: Jeder Versuch, mit mir zu flirten, ist vergeblich. Wie du so treffend geraten hast, habe ich ein Erdbeben, Hurrikans und Tornados durchlebt und jetzt kämpfe ich gegen die Wassermassen eines Tsunami. Danke, dass du mich auf diese Insel gerettet hast. Wenn ich den Kaffee ausgetrunken habe, werde ich verschwinden.«

»Wohin? Welchen Planeten in welcher Galaxie steuerst du an?«

»Ich habe mich noch nicht entschieden«, sagte Sandra leise.

Sie ließ den Kopf hängen, Tränen liefen ihr die Wangen herab.

Thorstens Herz war voller Mitleid. Und mehr! Er betrachtete Sandra. Welch wunderbare junge Frau! Trotz der Tränenspuren sah sie sehr attraktiv aus.

»Wir kennen uns nicht. Rein statistisch betrachtet, die Wahrscheinlichkeit ist einfach zu gering, werden wir uns nie wiedersehen. Und ich bin ein guter Zuhörer. Also, wenn du willst, erzähle mir von deinem schlimmen Tag. Mir scheint, deine Welt liegt in Trümmern.«

»Ja, so ist es«, seufzte Sandra.

Sie dachte nach und sah ihr Gegenüber kritisch an. Er machte einen soliden Eindruck.

»Kann ich dich etwas fragen?«

»Sicher!«

»Es ist etwas sehr Theoretisches und betrifft das Verhalten von Männern. Ich habe keinen Bruder, den ich fragen könnte, und meinen Vater will ich nicht fragen. Außerdem ist es vielleicht besser, jemand um seine Meinung zu fragen, der nichts von mir weiß.«

Er nickte.

Sandra nahm ihren ganzen Mut zusammen.

»Okay, ich will wissen, wieso es möglich sein kann, dass ein Mann eine Frau liebt, sie heiraten will und gleichzeitig eine Geliebte hat?«

»Wow, das ist eine schwere Frage. Ich kann sie nur theoretisch beantworten. Als ich jemanden geliebt habe, dachte ich nur an Anja. Mir wäre nie in den Sinn gekommen, mich nach einer anderen Frau umzusehen oder gar heimlich eine zweite Beziehung zu haben. Ich denke, wenn ein Mann so etwas tut, stimmt es nicht mit der Liebe.«

Sandra kniff die Augen zusammen. Sie ließ sich seine Worte durch den Kopf gehen.

»Du hast in der Vergangenheitsform gesprochen«, sagte sie leise.

»Richtig! Ich war bis vor einem Jahr mit jemand zusammen. Anja hieß sie. Wir steckten schon in den Hochzeitsvorbereitungen, als ich dahinterkam, dass sie mich betrog. Und wie ist es bei dir?«

Sandra zuckte nur mit den Schultern.

»Welchen Schluss hast du gezogen, aus der Enttäuschung mit Anja?«

»Nachdem ich mich wochenlang in Selbstmitleid ergangen und meinen Liebeskummer gepflegt hatte, wurde mir klar, dass es wohl auf ihrer Seite nicht die große Liebe war. Es war bitter, aber jetzt bin ich dankbar, dass ich sie ertappt habe. Es wäre schlimmer gewesen, wenn ich erst nach der Hochzeit dahintergekommen wäre. Und du? Bist du betrogen worden?«

Sandra nickte und kämpfte mit den Tränen. Schnell trank sie einen Schluck Kaffee und verschluckte sich dabei. Thorsten sprang auf und klopfte ihr auf den Rücken.

»Danke!«, hauchte sie.

Sie spielte einen Augenblick mit dem Würfelzucker, der neben der Kaffeetasse lag. Dann griff sie in die Hosentasche und zog die Brosche heraus. Sie legte sie auf den Tisch.

»Oh, eine Kreation von Simon Klein!«, sagte er. »Stimmt’s?«

»Ja! Sie gehört höchstwahrscheinlich Heike, der Assistentin von Karsten. Karsten ist der Mann, mit dem ich seit fünf Jahren zusammenlebte. Für den Herbst oder Anfang Winter stand unsere Hochzeit an. Ich habe die Brosche in seinem Anzug gefunden, seltsamerweise in der noch zugehefteten Uhrentasche seiner Weste. Er muss sich sehr viel Mühe gegeben haben, die Brosche dort hineinzustecken. Ich bin mir absolut sicher, sie gehört Heike. Sie trug sie auf Karstens Geburtstagsempfang, und ich habe mich mit ihr darüber unterhalten. Simon Klein macht nur Einzelstücke. Außerdem vermutet meine beste Freundin schon lange, dass zwischen Heike und Karsten etwas läuft. Ich bin verwirrt und weiß nicht, ob ich das glauben soll. Auf der anderen Seite würde ich alles darum geben, zu wissen, dass ich mich irre.«

»Das kann dir nur Simon Klein sagen. Ich kenne ihn gut. Ist das nicht ein weiterer Zufall? Darf ich das für dich in Erfahrung bringen? Ich halte dich da heraus. Heiliges Ehrenwort!«

Thorsten hob die Hand zum Schwur. Sandra nickte.

Thorsten holte sein Handy aus der Hosentasche, fotografierte die Brosche und schickte das Foto an den bekannten Schmuckdesigner. Dann rief er ihn an. »Hallo, Simon! Hast du das Bild schon bekommen? Sag mal, hast du das Schmuckstück entworfen?«

Thorsten stand auf. Er ging zur Straße und lief auf dem Bürgersteig auf und ab, während er telefonierte. Sandra ließ ihn nicht aus den Augen. Das Gespräch dauerte länger.

Endlich kam Thorsten mit ernster Miene zurück an den Tisch.

»Und was hat er gesagt?«, fragte Sandra.

»Die Brosche ist von ihm. Er hat sie sofort erkannt. Simon hat mir anvertraut, dass er sie für eine Heike Schneller angefertigt hatte. Sie war das Geschenk ihres Freundes, Karsten Abt. Er hatte die Brosche bar bezahlt. Das Paar war mehrmals bei ihm im Atelier. Die junge Frau sei sehr anspruchsvoll gewesen. Es gab mehrere Änderungen, bis sie endlich zufrieden war. Das hatte die Anfertigung sehr verteuert. Doch der Mann hatte, ohne Wenn und Aber, bezahlt.«

Sandra war blass geworden.

»Dann stimmt es, was ich vermutet hatte. Karsten heißt mit Nachnahme Abts und Heike heißt Schneller«, sagte sie fast tonlos.

Sie schloss für einen Augenblick die Augen und schlug die Hände vor das Gesicht.

»Ich muss mir klar werden, wie es weitergehen soll, ganz praktisch. Wie hast du es damals angepackt, als du erfuhrst, dass Anja dich betrog.«

»Ich zog in eine kleine Pension. Freunde holten alle Sachen aus der gemeinsamen Wohnung und lagerten sie ein. Ich hätte zu meinen Eltern oder zu Freunden ziehen können. Aber das wollte ich nicht.«

»Das kann ich verstehen. Mir klingen schon jetzt die Sätze in den Ohren, die sie mir sagen werden.«

»Verreise! Mein Fehler damals war, das nicht gleich zu tun. Ich arbeitete an der Universität, und es waren die langen Sommersemesterferien. Ich igelte mich ein, statt meinem Bedürfnis nachzugeben. Ich bin nämlich ein begeisterter Bergliebhaber. Ich habe gute Freunde in Waldkogel. Toni und Anna Baumberger betreiben dort die Berghütte. Schließlich raffte ich mich auf und fuhr nach Waldkogel. Ich machte ausgedehnte einsame Wanderungen. Mit jedem Schritt ging es mir besser und ich kam der Heilung meines angeknacksten Selbstbewusstseins näher. Außerdem war ich sicher, dass ich dort niemanden sehen würde, der von der Trennung und dem Desaster wusste. Warst du schon einmal in den Bergen?«

Toni der Hüttenwirt 253 – Heimatroman

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