Читать книгу Toni der Hüttenwirt 259 – Heimatroman - Friederike von Buchner - Страница 3

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Doktor Monika Krauser bog von der Straße auf den Hof des Kirchner Gehöfts ein. Sie hielt an und stieg aus.

Die Haustür öffnete sich, und ein Mann kam auf sie zu.

»Grüß Gott! Toni hat angerufen. Du musst die Monika sein, oder muss ich korrekt Frau Doktor sagen?«

Monika lachte und gab ihm die Hand.

»Monika ist genug oder besser Moni. Lass mich raten, du bist Alexander Kirchner?«

»Richtig! Alle rufen mich Alex.«

Sie reichten sich die Hände. Seine Hand war groß und weich und warm. So etwas hatte sie noch nie erlebt. Die kurze Berührung wühlte sie auf. Hoffentlich bemerkt er nichts, dachte sie.

»Moni, wollen wir gleich rüber in die Praxisräume gehen, oder kann ich dir einen Kaffee anbieten?«

»Danke, aber ich möchte zuerst die Spange reparieren, Alex. Der kleine Paul Hofer ist so unglücklich.«

Monika setzte ihre Sonnenbrille auf, obwohl der Hof im Schatten des mächtigen mehrstöckigen Bauernhauses lag, aber das war nicht der Grund dafür. Sie fürchtete, dass Alex aus ihrem Blick erraten könnte, was mit ihr los war. Ihr Herz klopfte schnell, und ihr war heiß. Sie befühlte ihre Wangen, während sie neben ihm herlief. Es war eine unbewusste Geste.

»Hast du einen Sonnenbrand?«, fragte Alex.

»Ja, ich habe wohl zu viel Sonne abbekommen. Die Luft hier in den Bergen ist klarer als in München. Das habe ich unterschätzt«, versuchte sie ihre Röte zu erklären.

Es war ihr peinlich. Ich benehme mich wie ein Backfisch, dachte sie. So etwas war ihr noch nie passiert. Ich muss einen kühlen Kopf behalten, nahm sie ich vor. Doch das fiel ihr schwer.

»Das tut mir leid«, sagte Alex. Dabei schmunzelte er.

»Was grinst du?«, fragte Monika.

»Ach, nur so.«

»Nein, du lachst mich aus, richtig?«

Alex bekam einen roten Kopf. Er fühlte sich ertappt.

»Nun ja, ich dachte, es ist tröstlich, dass Mediziner auch mal etwas unterschätzen. Es heißt doch, dass sie unfehlbar seien.«

»Unsinn!«, empörte sich Monika. »Ärzte sind Menschen. Und Menschen machen nun mal Fehler. Fehler gehören zum Leben dazu. Solange die Patienten keinen Schaden nehmen, ist es doch nicht schlimm. Du magst keine Mediziner?«

»Ich kenne keine Ärzte näher, außer meinen Onkel Adam. Ihm gehört die Praxis, auch wenn er nicht mehr tätig ist.«

Sie waren angekommen. Alex hatte schon vor ihrer Ankunft die Praxis aufgeschlossen und die Fenster geöffnet. Monika folgte ihm durch die Räume.

»Schön«, sagte Monika. »Eine richtig schöne Landzahnarztpraxis, wie aus einem alten Film!«

»Stimmt, die Praxen in München sind bestimmt hochmodern. Mein Onkel hat wenig modernisiert. Er sagt immer, was er habe genüge, um seine Patienten zu behandeln.«

Monika stand mitten im Behandlungszimmer und schaute sich um. Alles was sauber und ordentlich.

»Und er praktiziert gar nicht mehr?«

»Nein, er hat es mit der Bandscheibe.«

»Viele ältere Kollegen und Kollegen haben sich im Beruf einen kranken Rücken zugezogen«, bemerkte Monika. Dabei holte sie Pauls Zahnspange aus der Handtasche.

»Müsstest du Paul nicht mit in die Praxis bringen?«, fragte Alex.

Monika lächelte. »Ich habe Paul zu seinen Eltern ins Forsthaus gebracht. Er hatte sich geweigert mitzukommen, denn er wollte nicht gesehen werden, nachdem ganz Waldkogel nach ihm gesucht hatte.«

»Alle waren in heller Aufregung«, sagte Alex.

»Dabei sollten sich die schämen, die ihn wegen seiner Zahnspange gehänselt haben. Nun, ich hoffe ich kann etwas tun, damit das in Zukunft nicht mehr passiert, weder Paul noch einem anderen Kind. Marie, die Gemeindehelferin, hat angeregt, dass ich einen Vortrag halten könnte und dabei aufkläre und um Verständnis werbe.«

»Machst du das?«

»Ja, ich halte es für eine gute Idee. Ich bin gern Zahnärztin. Die kleinen Patienten liegen mir sehr am Herzen. Weißt du, in der Humanmedizin gibt es Fachärzte für Kinderheilkunde. Ich denke oft, es müsste auch eine spezielle Ausbildung innerhalb der Zahnmedizin geben mit dem Schwerpunkt Kinderzahnheilkunde. Kinder machen oft traumatische Erfahrungen beim Zahnarzt. Ich will nicht gegen die Kollegen schimpfen. Aber Kinder als Patienten verlangen ein besonderes Fingerspitzengefühl.«

»Du magst Kinder wohl sehr?«

»Ja, das tue ich, und ich versuche alles, damit sie keine Angst haben. Falls ich im Leben einmal eine eigene Praxis habe, möchte ich bestimmte Tage nur für Kinder reservieren.«

»Das ist eine gute Idee, Moni«, sagte Alex.

Bewunderung und Anerkennung schwang in seiner Stimme mit.

Monika öffnete verschiedene Schubladen, bis sie gefunden hatte, was sie suchte. Sie begann sofort, die Zahnspange zu reparieren.

»Die Praxis macht keinen unbenutzten Eindruck«, bemerkte Monika beiläufig.

»Alle Materialien sind neu.«

Alex sagte, dass sein Onkel seiner Tätigkeit als Zahnarzt immer noch nachtrauere. Er behandle gelegentlich Patienten aus der Verwandtschaft und dem engen Freundeskreis. Deshalb hielt er immer alles vorrätig.

»Außerdem sitzt er oft hier im Behandlungszimmer, wenn er zu Besuch ist. Es hat ihn schwer getroffen, dass er niemand gefunden hat, der die Praxis übernehmen wollte. Lange Jahre hoffte er, dass ich mich entscheide, in seinen Fußstapfen zu treten.«

Alexander seufzte.

»Doch ich musste ihn enttäuschen. Zahnmediziner zu sein, konnte ich mir nicht vorstellen. Es traf ihn tief, dass ich, sein ›Kronprinz‹, wie er mich nannte, seinen Wunsch nicht erfüllte. Seine Ehe war kinderlos. Alle Liebe und auch alle Pläne übertrug er auf mich.«

Monika sah kurz auf. »Das war sicher eine schwere Last. Du hast mit den Zähnen geknirscht?«

»Das habe ich.«

Alex betrachtete Monika von der Seite. Sie gefiel ihm. Er konnte den Blick nicht von ihr lassen. Es war der Blick eines Mannes, der an einer Frau Interesse gefunden hatte.

Monika spürte, dass sein Blick auf ihr ruhte. Sie zog mit einem winzigen Schraubenzieher die Schrauben an. Dabei spürte sie, dass ihr immer wieder kalt und warm wurde. Um sich besser konzentrieren zu können, stellte sie sich ans Fenster und drehte Alex dem Rücken zu. Aber es half nicht. Jetzt spürte sie seinen Blick im Rücken. Es machte sie nervös.

Sie war froh, dass sie mit der Arbeit gut vorankam. Sie schaltete die Bohrer ein und glättete die Klebstoffreste.

»Kann ich mir eine kleine Zange mitnehmen? Ich bringe sie später zurück, wenn ich Paul die Spange angepasst habe. Als er drauftrat, ist sie nicht nur in zwei Teile zerbrochen, einige Drähte haben sich verbogen.«

»Wäre es nicht besser gewesen, wenn Paul doch gleich mitgekommen wäre?«

»Sicher wäre das einfacher gewesen. Der Junge hat eine schlimme Zeit durchgemacht. Keiner wollte ihn unter Druck setzen. Seine Eltern sind glücklich, dass ihm nichts zugestoßen ist. Ihnen tut es sehr leid, dass er weggelaufen war. Sie geben sich eine Mitschuld, weil sie darauf bestanden hatten, dass er die Spange immer trägt. Sie hatten einfach kein Ohr für seine Nöte. In der Schule erging es Paul nicht besser. Kinder können schlimm sein. Er wurde sehr gehänselt.«

Monika spülte die Zahnspange ab, betrachtete sie noch einmal, dann packte sie sie ein.

»Fertig!«, sagte sie.

»Das freut mich. Dann trinken wir jetzt einen Kaffee zusammen«, sagte Alex.

Sie schaute auf die Uhr und schüttelte den Kopf.

»Ich muss gehen. Pauls Eltern haben mich zum Mittagessen eingeladen.«

Monika hängte ihre Tasche über die Schulter. Sie sah Alex nur kurz an.

»Grüße an den Onkel! Er hat einen kleine Buben glücklich gemacht.«

»Falsch, du hast Paul glücklich gemacht.«

»Aber ohne diese Praxis wäre es nicht so einfach gewesen.«

Alex rieb sich verlegen das Kinn.

»Also, ich bin den ganzen Nachmittag hier, falls du mit Paul noch einmal vorbeikommen möchtest. Wenn du später die Zange bringst, trinkst du dann einen Kaffee mit mir? Es gibt auch Kuchen, den hat meine Mutter gebacken.«

Monika lehnte die Einladung ab.

»Ich habe heute noch etwas vor, schließlich mache ich Urlaub. Ich will jede Stunde ausnutzen. Waldkogel ist sehr schön.«

»Willst du klettern?«, hakte Alex nach.

»Nein, ein halber Tag ist dafür zu kurz. Ich laufe. Toni sagt, man könnte den Bergsee umrunden. Daheim in München spurte ich jeden Tag meine Strecke ab, schon vor dem Frühstück. Auf der Berghütte ist das schwierig.«

Alex sah eine Chance.

»Darf ich mich dir anschließen, Monika? Ich meine, ich könnte dir den Weg zeigen. Ein Teil des Pfads auf der anderen Seite des Bergsees ist ziemlich bewachsen und schwer zu finden. Ich will mich nicht aufdrängen, aber ich laufe gern. Dabei bekomme ich den Kopf frei. Auch wenn ich zugebe, dass ich es selten tue.«

»Das stimmt. Der Kopf wird frei, und danach kann man besser denken«, stimmte ihm Monika zu. »Lieber selten, als überhaupt nicht!«

Alex strahlte sie an.

Monika spürte, wie ihr Herz schneller klopfte. Sei vorsichtig, ermahnte sie sich selbst. Du hast dich erst aus den Fängen von Jürgen gelöst. Jetzt begehe nicht den Fehler, dich mit Alex einzulassen.

»Also, sagen wir, wir treffen uns um drei am Bergsee, vorn, gleich hinter den letzten Häusern, wenn du willst«, sagte Alex. »Ach, das habe ich vergessen, du willst noch die Zange zurückbringen?«

»Ich kann dir dann die Zange geben.«

Monika spürte, wie ihr erneut das Blut in die Wangen schoss. Schnell verließ sie das Behandlungszimmer. Sie eilte durch die Praxis hinaus auf den Hof zu ihrem Wagen.

Alex lief ihr hinterher.

»Welche Uhrzeit?«, fragte er.

»Du kannst gern schon laufen, Alex. Entweder ich bin da oder ich bin nicht da. Ich habe keine Ahnung, wie lange ich im Forsthaus sein werde.«

Monika stieg schnell in ihr Auto, wendete und fuhr davon.

Alex schwang sich in seinen Jeep und fuhr zur Oberländer Alm. Von dort eilte er den Pfad hinauf zur Berghütte.

Dort war die Terrasse voller Gäste. Toni hatte sehr viel zu tun. Alex ging auf ihn zu und fasste ihn beim Arm.

»Toni, ich muss mit dir reden, sofort!«, sagte er leise.

Toni sah ihn an. Zuerst wollte er Alex auf später vertrösten, dann sah er sein ernstes Gesicht.

»Okay, geh rein in den Wirtsraum! Du kannst dich dort in die hintere Ecke setzen. Ich bediene noch die beiden Tische, dann kann mich Alois ablösen.«

Alexander trommelte leise mit den Fingern auf die Tischplatte, bis Toni kam. Er brachte zwei Bier mit.

»Trinken wir erst mal, Alex!«, sagte Toni.

Sie prosteten sich zu und tranken.

»So, was ist los, Alex? Du siehst ein bisserl sonderbar aus. Ist etwas schiefgelaufen, als Moni in der Praxis war?«

»Du hast mir nicht gesagt, was für ein fesches Madl sie ist, Toni. Mei, ist die Monika fesch! Ich dachte, ich verliere den Verstand, als ich sie sah. Du hättest mich warnen müssen«, brach es aus Alex hervor.

Toni lachte.

»Du bist mir ein Held, Alex! Für mich war das nicht wichtig. Es ging um Paul. Ich wollte eigentlich mit deinen Eltern sprechen. Dass du auf dem Hof bist, konnte ich nicht wissen. Außerdem, warum sollte ich dich warnen, vor der feschen Frau Doktor?« Toni amüsierte sich. »Seit wann beschwert sich ein Bursche, wenn ein Madl zu ihm geschickt wird, das fesch ist?«

»Wenn ich gewusst hätte, was für ein fesches Madl die Monika ist, hätte sie erst am Nachmittag kommen können. Da wären meine Eltern daheim gewesen«, sagte Alex etwas trotzig.

Toni schüttelte den Kopf.

»Das muss einer erst mal verstehen, Alex. Jetzt bist du narrisch. Willst du mir allen Ernstes sagen, dass du ihr aus dem Weg gegangen wärst?«

»Ja! Nein! Aber ich wäre vorgewarnt gewesen.«

»Ich verstehe nix, außer dass du ein bisserl deppert bist. Du bist der sonderbarste Bursche, der mir je begegnet ist. Das musst du mir glauben. Noch nie hat sich ein Bursche bei mir beschwert, wenn ich ihm ein fesches Madl vorgestellt habe. Was stört dich daran?« Toni grinste. »Wenn es dich beruhigt, Alex, dann verspreche ich dir, dass ich nur noch hässliche Zahnärztinnen zu dir schicke. Bist du jetzt zufrieden?«

»Toni, mach dich nicht lustig über mich! Das Madl ist …, wie soll ich es beschreiben? Und ledig scheint sie auch zu sein. Jedenfalls trägt sie keinen Ring. Weißt du etwas? Hat sie einen Burschen? Mei, sie ist wirklich fesch. Es kann doch nicht sein, dass sie ungebunden ist?«

»Moni ist ungebunden, wieder ungebunden, soweit ich weiß. Aber das musst du sie schon selbst fragen.«

Alex seufzte.

»Toni, so einfach ist das nicht. Sie ist Zahnärztin. Du weißt, dass zwei Dinge auf dem Kirchner Hof erwünscht sind. Erstens, dass ich ein Madl finde, das wünschen sich meine Eltern. Und zweitens, dass jemand die Zahnarztpraxis übernimmt. Verstehst du? Wenn ich das Madl umgarne, dann könnte sie vielleicht denken, ich tue das nur, damit mein Onkel die Praxis übergeben kann. Außerdem könnte ich sicher sein, dass sie mich liebt? Vielleicht will sie über mich an die Praxi herankommen? Mir gehen so viele Gedanken durch den Kopf.«

»Alex, Alex, was sind das für seltsame Gedanken? Bist du dir sicher, dass du sie interessierst?«

Alex errötete.

»Toni, ich denke, ich gefalle ihr. Ich habe es deutlich gespürt. Es gab viele kleine Zeichen, an denen ein Mann erkennt, wenn er der Frau gefällt. Verstehst du das denn nicht?«

Toni lachte laut. »Ich verstehe sehr gut.« Toni trank einen Schluck Bier. »Ich denke, du machst dir unnötige Gedanken. Dass dir Monika gefällt, wundert mich nicht. Sie ist ein fesches Madl. Die Burschen hier auf der Berghütte lassen sie kaum aus den Augen und versuchen mit ihr anzubändeln.«

»Das glaube ich gern. Toni, du kennst Monika besser. Kannst du mir einen Rat geben? Erzähle mir von ihr, damit ich keinen Fehler mache.«

»Naa, ich denke nicht daran. Du musst schon selbst mit ihr sprechen.«

»Toni, zier dich nicht, gib dir einen Ruck!«

Toni trank einen Schluck Bier.

»Monika hat dir ganz schön den Kopf verdreht, wie?«

»Ja und ich kann nicht mehr klar denken, Toni. Sie gefällt mir. Es hat mich getroffen wie ein Blitz. Mei, das war ein Moment, den ich bis an mein Lebensende nicht vergesse. Aber ich weiß, dass Beziehungen kompliziert sein können. Deshalb will ich nichts falsch machen. Außerdem ist sie in Urlaub. Da bleibt mir nicht viel Zeit. Also, was weißt du? Was für Interessen hat sie?«

Toni seufzte.

»Ich weiß nur, dass sie ihren Beruf liebt und sich besonders der kleinen Patienten annimmt. Daraus schließe ich, dass sie Kinder mag. Sie spielt auch oft mit Franzi und Basti. Sie ist sehr sportlich. Soviel ich weiß, joggt sie jeden Tag in München. Sie ist ein sehr gute Bergsteigerin, fährt Mountain Bike, segelt, schwimmt, hat den schwarzen Gürtel im Judo und ist Bogenschützin.«

»Eine Superfrau«, stöhnte Alex. »Welcher Mann kann da mithalten?«

Toni lachte. »Jetzt tu doch nicht so! Du bist Schützenkönig gewesen und beherrscht einige Sportarten gut. Du hast mir mal erzählt, dass du Golf spielst und Tennis. Du kletterst seit deiner Jugend. Rad gefahren bist du auch. Während die meisten Schüler mit dem Bus nach Kirchwalden gefahren sind, bist du geradelt.«

»Das ist schon eine Weile her, Toni. Glänzen kann ich mit meinen sportlichen Leistungen nicht mehr. Es ist alles schon zu lange her. Moni will heute Nachmittag um den Bergsee laufen. Da habe ich mich aufgedrängt. Ich hoffe, ich sehe sie.«

»Alex, ich würde mich dir gern noch länger annehmen. Aber es ist viel zu tun. Denke nicht so viel. Verlass dich auf dein Herz! Monika ist ein liebes Madl. Sie ist nicht kompliziert. Damit meine ich, sie ist kein Madl aus der Münchner Schickimicki-Szene.«

Toni stand auf. Alex erhob sich ebenfalls.

»Sie denkt auch über eine eigene Praxis nach, Toni.«

»Das ist doch nicht schlecht. Einen Zahnarzt haben wir nicht mehr, seit dein Onkel die Praxis aufgegeben hat.«

»Siehst du, Toni, jetzt machst du Pläne.«

»Warum nicht?«

Alex seufzte. »Weil ich sie für mich gewinnen will. Was mit der Praxis ist, ist mir gleich. Verstehst du?«

Toni grinste. »Alex, du gibst dich Illusionen hin. Wenn du mit ihr zusammenkommst, kannst du nicht verhindern, dass dein Onkel ihr die Praxis anbietet.«

»Das weiß ich und das macht es so schwer. Verstehst du mich?«

»Ja, aber du befindest dich auf dem Holzweg, Alex. Ich sage dir etwas. So wie ich Monika einschätze, wird sie sich nicht mit einem Burschen einlassen, nur um an die Praxis seines Onkels zu kommen.«

»Wieso bist du dir so sicher?«, fragte Alex.

Toni dachte daran, was Monika über ihre Arbeit bei Dr. Jürgen Haber, seinen Antrag und seine Praxispläne erzählt hatte. Das behielt er aber für sich. Stattdessen sagte er: »Alex, wie du richtig erkannt hast, ist Moni ein fesches Madl. Wenn sie in eine Praxis hätte einheiraten wollen, dann hätte sie längst in München einen ledigen Kollegen erobert. Aber sie ist allein.«

»Das ist ein Argument«, sagte Alex nachdenklich.

Toni legte ihm die Hand auf die Schulter.

»So, ich muss wirklich arbeiten, Alex. Ich hoffe, ich konnte dir etwas helfen. Tue einfach das, was dir dein Herz rät!«

Alex bedankte sich und verabschiedete sich.

Der alte Alois hatte von Weitem das Gespräch mitgehört. Er grinste.

»Alois, warum grinst du?«, fragte Toni.

»Weil es vielleicht so kommt, wie Adam es sich gedacht hatte. Er hatte sich gewünscht, dass eine junge ungebundene Zahnärztin die Praxis übernimmt. Alle männlichen Interessenten hatte er abgelehnt.«

Toni lachte. »Der alte Fuchs! Jetzt verstehe ich, warum sich Alex solche Gedanken macht.«

»Sie wären ein schönes Paar.«

»Das stimmt, Alois, und eine Zahnärztin in Waldkogel zu haben, würde allen gefallen.«

»Dann muss man eben ein bisserl nachhelfen«, blinzelte ihm der alte Alois zu. Er nahm Toni zur Seite und flüsterte ihm etwas zu.

»Das ist eine sehr gute Idee, Alois! Das müsste sie überzeugen.«

Toni und Alois grinsten. Sie waren sich einig.

Toni ging ins Wohnzimmer, um ungestört mit seinem Freund Doktor Martin Engler zu telefonieren.

*

Es war noch früh am Vormittag, als Leander den Biergarten betrat. Er setzte sich an einen Tisch, der etwas abseits lag, und ließ sich ein kleines Bier bringen, das er gedankenverloren anstarrte, ohne zu trinken.

»Sag mal, hast du heute Scheuklappen auf?«, fragte plötzlich eine Frauenstimme neben ihm. Seine Freundin Nadine umarmte und küsste ihn, bevor sie sich mit an seinen Tisch setzte.

»Scheuklappen, wieso?«

»Weil ich dir von ganz dahinten zugewinkt habe. Oder hast du nach einem anderen Madl gesehen?«, forderte sie ihn heraus. Sie drohte ihm lächelnd mit dem Finger. »Ich warne dich! Ich kann sehr eifersüchtig sein. Ich will dich behalten.«

»Was redest du da wieder für einen Unsinn, Nadine«, murrte Leander.

»Oh, der Herr hat schlechte Laune«, bemerkte sie.

»Schlechte Laune ist untertrieben. Sag mal, was hat sich dein Vater dabei gedacht?«, presste Leander ärgerlich hervor.

Nadine ließ sich nicht irritieren. Sie lächelte ihn an.

»Ah, dann hat er schon mit dir gesprochen. Das dachte ich mir schon, nach deiner SMS, dass du mich sofort treffen willst. Und bist du nicht zufrieden?«

Sie schlug kurz gekonnt die Augen nieder, aber Leander wusste, sie spielte ihm nur etwas vor.

»Ich gebe gern zu, dass ich Papa etwas bearbeitet habe. Ich sagte ihm, er soll dir eine neue Aufgabe geben, bei der du mehr verdienst, sonst müsste ich noch Jahre auf deinen Antrag warten. Du seiest eben ein Mensch mit Prinzipien, sagte ich ihm. Du willst nichts von mir annehmen, dabei habe ich es doch. Es ist doch egal, wer mehr Geld in die Haushaltskasse bringt. Aber davon wolltest du nichts hören«, sprudelte Nadine hervor. »Da dachte ich, ich manage die Sache.«

Diese Worte hoben nicht gerade Leanders Stimmung.

»Nadine, ich mag nicht, dass du dich da einmischst.«

»Das ist doch Unsinn. Ich habe es gut gemeint. Ich weiß doch, dass du Hemmungen hast, meinen Papa um mehr Gehalt zu bitten. Wie ist es denn gelaufen?«

Leander winkte die Bedienung herbei und bestellte etwas zu Essen. Nadine wollte nichts. Sie hatte gefrühstückt. Leander trank morgens nur eine Tasse Kaffee und nahm später etwas zu sich.

Er wartete, bis sich die Bedienung entfernt hatte.

»Nadine, ich weiß, dass du mich in dem Punkt nicht verstehst. Kannst du nicht akzeptieren, dass ich nicht befördert werden wollte, weil du und ich zusammen sind? Das gibt doch nur Spannungen in der Redaktion. Du hättest die Kollegen und Kolleginnen sehen sollen, als dein Vater es verkündete. Klar haben sie alle artig geklatscht, mich beglückwünscht und so weiter. Aber ich habe es zufällig gehört, als ich an der Teeküche vorbeigekommen bin, wie sie darüber denken. Ich wollte das nicht. Der alte Willy geht bald in Rente. Er hat mich immer gefördert. Wenn ich danach seinen Platz übernehmen würde, das wäre okay.«

»Aber so ist es doch besser oder? Außerdem ist es gut so. Jetzt kann einer deiner Kollegen Willys Nachfolge antreten. Deine neue Stelle ist außer Konkurrenz. Du kannst dir eine völlig neue Abteilung aufbauen. Papa hat mir versprochen, dir freie Hand zu lassen. Er ist sich auch im Klaren darüber, dass die neue Beilage eine Weile braucht, bis sie sich am Markt platziert hat. Du kannst schalten und walten, wie du willst. Deshalb dachte ich, du würdest dich freuen. Es ist eine neue Redaktionsabteilung. Niemand kann dir nachsagen, dass du die Leiter hochgefallen bist, nur weil wir zusammen sind. Natürlich trägst du auch das Risiko, falls die Beilage von den Lesern nicht angenommen wird. Aber ich vertraue auf dich. Das wird alles wunderbar werden. Freue dich doch!«

Die Brotzeit wurde gebracht. Leander fing an zu essen.

»Natalie, ich frage mich, ob du mich wirklich kennst und liebst, so wie ich bin?«

Für einen Augenblick erschrak Natalie. Aber dann hatte sie sich wieder unter Kontrolle.

»Natürlich kenne ich dich, liebster Leander. Du bist der Mann, den ich liebe. Mit dem ich mein Leben verbringen will. Ich kenne dich sehr gut. Du bist forsch, was die Angelegenheiten anderer betrifft. Nur wenn es um deine eigenen persönlichen Belange geht, bist du schüchtern und sehr zurückhaltend. Deshalb wollte ich dir etwas unter die Arme greifen. Wie heißt es? ›Hinter jedem erfolgreichen Mann steht eine kluge Frau‹, richtig?«

Leander aß und schwieg.

»Nun sag doch etwas! Fast könnte ich denken, dass du mir böse bist. Dabei habe ich mir von dir eine ganz andere Reaktion erhofft.« Nadine seufzte. »Okay, es ist dafür wohl nicht die richtige Tageszeit. Das verstehe ich. Und ich weiß, dass du immer eine Weile brauchst, um dich an eine neue Situation zu gewöhnen. Übrigens, meine Eltern lassen schön grüßen. Kommst du heute Abend zum Abendessen oder wollen wir ausgehen? Wir können zuerst ausgehen. Dann sind wir unter uns. Später können wir mit meinen Eltern noch einen Schluck Champagner trinken.«

Leander fühlte sich in die Enge getrieben. Er wusste, dass Nadine erwartete, dass er ihr einen Antrag machte. Er kannte sie gut. Spätestens am Abend konnte er dem nicht mehr entgehen. Sein zukünftiger Schwiegervater hatte diskret angedeutet, dass er jetzt etwas in dieser Richtung erwarte.

Er hatte es so formuliert: »Leander, ich trage mich schon seit geraumer Zeit mit dem Gedanken, diese Beilage innerhalb unseres Zeitungsverlages herauszubringen. Dass ich dir diese neu geschaffene Abteilung zu treuen Händen gebe, hat natürlich auch damit zu tun, dass Nadine und du, nun ja, ihr seid ein Paar und hoffentlich in naher Zukunft gehörst du ganz zu uns. Meine Frau und ich sind glücklich, dass unsere einzige Tochter sich in einen Journalisten verliebt hat.«

Leander hatte nur gelächelt.

»So und jetzt triffst du dich mit Nadine, und ihr macht euch einen schönen Tag, Leander!«, hatte er blinzelnd hinzugefügt.

Die Worte von Nadines Vater klangen ihm noch immer in den Ohren. Er hatte Leander gar nicht zu Wort kommen lassen. Als Leander eingewandt hatte, dass er mehr der Vollblutjournalist sei, der draußen recherchiert, war Nadines Vater einfach darüber hinweggegangen. Er hatte ihm einen Vortrag gehalten, wie er sich die neue Beilage vorstellte und war voller Zuversicht, dass Leander damit die Leser der Zeitung packen werde.

»Leander, du sagst gar nichts«, säuselte Nadine. »Ich habe mir eigentlich mehr Begeisterung davon versprochen.«

Leander sah Nadine an und lächelte. »Entschuldige, ich war bereits mit den Gedanken bei meiner neuen Aufgabe.«

»Ich wusste, dass du dich gleich hineinstürzt. Dann will ich dich nicht länger aufhalten. Ich bin mit Mama verabredet. Wir wollen zur Kosmetikerin, zum Friseur und einen Bummel machen.«

Nadine stand auf.

Leander erhob sich, er rieb sich nachdenklich das Kinn.

»Nadine, das mit heute Abend, ist fraglich. Mir geht eine Recherche im Kopf herum. Dazu muss ich in den Bayrischen Wald. Ich denke nicht, dass ich heute Abend zurück bin. Vielleicht muss ich auch einige Tage bleiben. Du verstehst, dass ich die Beilage mit einem Knüller starten will.«

»Du kannst Leute einstellen und recherchieren lassen, Leander.«

»Nadine, das weiß ich. Ich bin der leitende Redakteur der neuen Abteilung. Dein Vater hat mir ein großes Budget bewilligt. Irgendwann werde ich mein Team haben, das recherchiert. Aber für die erste Ausgabe will ich mich persönlich ins Zeug legen. Sage deinen Eltern, dass ich arbeite. Dein Vater wird es verstehen, und deine Mutter auch. Dass du mich verstehst, hoffe ich.«

Nadine ging um den Tisch herum. Sie schlang die Arme um seinen Hals.

»Liebster, natürlich verstehe ich dich. Du bist sehr ehrgeizig. Das ist auch ein Zug, der mir gefällt und vor allem meinen Eltern. Vater sagt, du würdest ihn an sich selbst erinnern, als er in deinem Alter war. Damals wollte er es seinem Vater beweisen.«

Nadine lachte.

»Du kennst die Geschichte von der Hochzeit meiner Eltern. Mein Vater ließ sich den Hochzeitsanzug in die Redaktion bringen und fuhr von dort aus zu seiner eigenen Trauung.«

Leander kannte die Geschichte. Er lächelte.

Nadine küsste Leander auf die Lippen. Sie spürte, dass die Erwiderung des Kusses nicht so leidenschaftlich war, wie sie es erwartete hatte. Er ist schon wieder in Gedanken bei der Arbeit, dachte sie.

Sie löste sich von ihm, nahm ihre Handtasche und eilte davon. Sie drehte sich ein paarmal um und winkte. Er winkte zurück.

Als sie außer Sichtweite war, setzte sich Leander hin. Für einen Augenblick stützte er seinen Kopf in die Hände. Dann aß er schnell zu Ende, zahlte und ging zu seinem Auto.

Zwei Stunden später war er im Bayrischen Wald. Es waren nur noch wenige Kilometer bis zu dem alten Gehöft, auf dem seine Großmutter und ihre Schwestern aufgewachsen waren. Alle waren in die Städte gegangen, nach Nürnberg, Regensburg, Passau und München. Sie hatten sich verliebt, geheiratet und Kinder bekommen, bis auf Hedwig. Später, als die Eltern alt waren, kam nur Hedwig zurück. Sie verließ den Hof nie mehr. Die Besuche bei der Schwester seiner Großmutter gehörten für Leander zu seinen schönsten Kindheitserinnerungen. Dort hatte er glückliche Tage verbracht. Später hatte er seine Großtante oft allein besucht.

Leander bog von der Landstraße ab. Der Waldweg führte einige hundert Meter durch dichten Forst. Dann weitete sich der Blick über das Tal. Von dem Haus am Waldrand hatte man einen wunderschönen Blick.

Leanders Großtante saß vor dem Haus an einem Tisch. Vor ihr stand ein großer Korb mit Gemüse aus dem Garten.

Sie sah auf, als Leander hielt. Schnell wischte sie ihre Hände an der Schürze ab und ging auf ihn zu.

»Mei, der Leander! Was für eine Überraschung! Ich freue mich«, rief sie aus.

Leander packte seine Großtante, hob sie hoch und drehte sich mit ihr im Kreis.

»Bub, bist narrisch! Stell mich sofort wieder auf die Füße! Wenn du jemand herumwirbeln willst, dann mache das mit der Nadine.«

Leander stellte sie hin und gab ihr einen Kuss auf die Wange.

»Sei nicht so streng mit mir, Tante Hedwig!«, sagte er. »Ich freue mich so, dich zu sehen.«

»Lüg net, Bub! Ich bin eine alte Schachtel, und mein Anblick ist nicht berauschend.«

»Du warst die gute Fee in meiner Kindheit, und meine gute Fee bist du immer noch«, sagte Leander.

Er ging zum Auto und holte seine Reisetasche heraus.

»Aha, du willst länger bleiben«, sagte Hedwig. »Bring deine Sachen rauf in dein Zimmer! Ich mache dir inzwischen einen Teller Suppe warm. Mehr habe ich heute nicht. Ich wollte das Gemüse fertigmachen und einkochen. Deshalb hab ich mir gestern vorgekocht.«

Leander ließ seine Reisetasche im Flur vor der Treppe fallen und ging in die Küche. Dort auf dem Herd stand der Topf, den er so gut kannte. Er war blau emailliert. Darin hatte Hedwig immer die Eintöpfe gekocht, wie schon vorher ihre Mutter.

Leander schaute in den Topf, dann lächelte er. »Als hättest du geahnt, dass ich komme.« Dann eilte er die Treppe hinauf.

Als er ein wenig später herunterkam, sah er schon viel entspannter aus. Leander setzte sich an den Tisch und ließ sich den Teller füllen. Seine Tante sprach das Tischgebet. Sie bekreuzigten sich und aßen. Leander wusste, dass es bei ihr nicht üblich war, während des Mahls zu reden. Er bemerkte aber, dass sie ihn genau beobachtete.

Als sie fertig waren, räumte Hedwig den Tisch ab. Sie spülte die Teller unter dem Wasser ab und bürstete sie. Dann stellte sie die beiden Teller in das alte hölzerne Abtropfgestell neben dem großen Doppelspülbecken aus weißem Porzellan. Sie holte Leander eine Flasche Bier, schenkte ihm ein.

Sie verschränkte Arme, als sie ihm am Tisch gegenübersaß.

»So, Bub, jetzt sagst du mir, was dir auf der Seele liegt. Ich kann es dir ansehen. Das muss ein schwerer Stein sein.«

Leander lächelte. »Dir kann man nix vormachen, Tante Hedwig, wie?«

»Jedenfalls nicht so einfach. Also, nun sag schon, Bub!«

Leander trank einen Schluck. Er mochte das dunkle Bier, das seine Tante immer für ihn in der Vorratskammer hatte.

»Ich bin befördert worden«, sagte er.

»Du scheinst dich nicht darüber zu freuen. Du siehst aus, als hätte dir jemand das Käsebrot gestohlen.«

Leander lachte. Er erinnerte sich an viele Sprüche, die zu ihrem Wortschatz gehörten.

»Nein, mir hat niemand mein Käsebrot gestohlen, im Gegenteil. Man hat mir gleich einen Riesenteller davon serviert. Ich habe das Gefühl, ich ersticke daran.«

»Das ist nicht gut. Dann leer den Teller auf dem Mist aus. Die Hühner machen sich gern darüber her.«

Leander lachte. »Oh Tantchen, wie ich dich mag! Für dich ist alles so klar.«

»Es ist im Leben immer alles klar. Es ist so, oder es ist so. Die Medaille hat immer nur zwei Seiten. Also, was ist?«

»Der Verleger der Zeitung, bei der ich arbeitete, hat sich etwas Neues ausgedacht. Er will zur Wochenendausgabe eine neue Beilage herausbringen. Also gibt es eine neue Redaktion, und er hat mich zum Abteilungsleiter davon gemacht. Ich bin seit heute Morgen der Chefredakteur dieser Beilage. Ich soll alles aufbauen, mir Leute heranziehen und alles tun, damit es den Lesern gefällt.«

»Und das passt dir nicht?«

»Nein! Nadine steckt dahinter. Du weißt, dass sie das einzige Kind des Verlegers ist. Sie hat mir gestanden, dass sie bei ihrem Vater nachgeholfen hat.«

»Das hat deine männliche Eitelkeit angekratzt?«

»Ja!«

»Mm, verstehe! Ich kenne diese Nadine nicht. Du hast sie ja nie hergebracht, immer nur von ihr erzählt. Vielleicht hat sie es gut gemeint.«

»Sicher meint sie es gut, auf ihre Art. Aber ich werde den Eindruck nicht los, dass sie alles steuern will, was mich betrifft.«

»Bist du nicht ein bisserl überempfindlich? Oder hast du Angst, dass du es nicht schaffst?«

Leander wiegte den Kopf und seufzte.

»So eine Beilage zu machen, das ist ein neues Gebiet. Bisher habe ich für den Lokalteil gearbeitet, Recherchen gemacht und Sachen aufgedeckt in Politik und Wirtschaft. Ich war viel unterwegs, habe gefragt und gebohrt, bis ich die Informationen hatte. Es war schön und spannend. Ich habe einen Riecher für brenzlige Themen. Und jetzt soll ich sanfte, schöne, unterhaltende Geschichten über Menschen schreiben, alle mit einem guten Ende. Geschichten, die Mut machen und was fürs Herz bieten.«

»Wie soll ich das verstehen?«

»Zum Beispiel die Katze, die beim Umzug verlorenging und wiedergefunden wurde. Schöne Geschichten sollen es sein, die das Leben schrieb. Der Verleger meint, die Leute hätten die Nase voll von all den aufregenden Nachrichten. Klar müssen die gebracht werden. Aber dazu will er ein Gegengewicht schaffen.«

»Also, ich würde die Beilage lesen, Leander«, sagte Hedwig.

»Aber mir fällt nichts ein. Wo soll ich anfangen? Das ist nicht mein Gebiet. Ich habe keine Anregung in meinem Zettelkasten. Ich habe nichts, auf das ich zurückgreifen kann. Verstehst du? Ich komme mir vor, als hätte man mir den Boden unter den Füßen weggezogen. Ich brauche Tatsachen, Fakten, Ereignisse, Umbrüche, aufregende Ereignisse. Daraus kann ich etwas machen. Ich weiß nicht, wie ich es schaffen soll. Dazu erwartet Na­dines Vater Wunderdinge von mir.«

Hedwig stand auf und brühte sich aus Pulverkaffee einen Becher Kaffee auf. Sie war in Gedanken.

»Und da hast dir gedacht, du besuchst mich«, sagte sie.

»Ja, zu wem sollte ich sonst? Du kennst meine Eltern, die platzen vor Stolz, wenn sie es hören und deine Schwester, meine Großmutter auch. Großvater wird mir die Hand auf die Schulter legen und sagen: ›Bub, ich habe es immer gewusst, dass du mal richtig Karriere machst.‹ Da bin ich lieber hergefahren. Ich muss eine Entscheidung fällen. Ich will diesen Posten nicht. Ich kann das nicht. Es ist doch keine Schande zu bekennen, dass man etwas nicht kann, oder?«

»Nein, Leander, das ist keine Schande. Aber es ist eine Schande, es nicht zu versuchen. So schwierig kann das doch nicht sein.«

Leander lehnte sich mit dem Rücken an die hohe Rückenlehne der eingebauten Eckbank.

Hedwig gab Zucker und Sahne in den Becher und rührte um. Sie sah dabei sehr nachdenklich aus.

»Bub, die Welt und das Leben sind voller schöner Ereignisse und Geschichten. Mir ist gerade etwas eingefallen. Erinnerst du dich an die große blaue Glasmurmel? Sie hatte innen ein Muster, eine Art Blume. Sie glitzerte so schön in der Sonne. Du hast die Glasmurmel geliebt.«

Leander lächelte. »Du hattest sie mir geschenkt, Tante Hedwig.«

»Ja, so war es. Und dann hast du sie verloren. Tagelang, wochenlang bist du über die Wiesen und durch den Wald gestreift und hast sie gesucht. Die ganzen Sommerferien über hast du danach gesucht.«

Leander lächelte. »Und ich habe sie nicht gefunden. Jedenfalls in dem Sommer nicht.«

»Richtig, aber drei Jahre danach, hast du sie gefunden, zufällig. Ich erinnere mich gut daran. Sie lag unter einem Baum.«

»Tante Hedwig, du hast damals gesagt, wahrscheinlich wäre sie mir irgendwo aus der Hosentasche gefallen, und eine Elster hätte sie in ihr Nest getragen. Von dort herunter wäre sie unter den Baum gefallen.«

»Nur so kann es gewesen sein, Leander. Sag mal, ist das nicht schon eine schöne Geschichte, die Leser erfreuen könnte?«

Leander schaute seine Großtante an. »Du hast recht. Dazu könnte ich ein Kinderbild bringen, meinetwegen eins von mir, man weiß es ja nicht, und mit dem Computer kann man Bilder verändern. Ich rede mit unserer Bildabteilung. Sie können eine große Murmel hineinprojizieren.«

Hedwig schüttelte den Kopf. »Wir wäre es mit der echten Murmel?«, fragte sie schmunzelnd.

»Sag bloß, du hast sie aufgehoben?«

Sie lachte laut. »Leander, ich habe alles aufgehoben, alle Sachen, mit denen du gespielt hast. Du weißt, ich war nie verheiratet, obwohl ich mir immer einen Mann und Kinder gewünscht habe. Unter den nächsten Verwandten bist du mein Liebling gewesen. So wie du gewesen bist und noch bist, so habe ich mir immer einen Buben gewünscht.«

Hedwig zog das Taschentuch heraus und schnäuzte sich. Leander wusste nicht, ob sie es aus Rührung tat oder es ein Anflug von Heuschnupfen war.

»Wo sind die Sachen?«, fragte Leander.

Hedwig zeigte mit dem Finger zur Decke. »Oben auf dem Dachboden, Bub. Du kannst ruhig raufgehen und suchen. Aber mache keine Unordnung! Ich habe alles in große Holztruhen getan. Räume schön wieder ein, wenn du eine Truhe durchgesehen hast!«

Das war typisch Tante Hedwig. So lieb sie auch war, auf Ordnung und Sauberkeit hatte sie immer bestanden.

Leander trank den Rest seines Biers aus, dann ging er die Treppe hinauf in die obere Etage.

Hedwig hörte, wie er die schmale Stiege hinaufstieg. Die Tür zum Dach quietschte in den Angeln. Sie lächelte vor sich hin. Dann ging sie hinaus und fuhr fort, das Gemüse zu putzen, das sie für den Winter einlegen und einmachen wollte.

Es war schon dunkel, als Leander herunterkam. Er griff in die Hosentasche. Dann nahm er ein Kissen von der Bank, drückte mit der Hand eine Kuhle hinein und legte die Murmel aus Glas in die Mitte. Er strahlte seine Großtante an.

Diese lächelte und streichelte ihn kurz zärtlich über die Wange. »Wie ein Edelstein, hast du als Bub immer gesagt«, sagte sie.

»Ich erinnere mich. Danke für deine Anregung!«

»Des habe ich gern gemacht. Fühlst du dich jetzt besser? Du hast ja jetzt einen Anfang, oder?«

»Ja, ich habe einen Anfang.«

»Das ist gut! Dann wollen wir jetzt essen. Es ist zwar schon spät, aber hungrig ins Bett zu gehen, das ist nicht gut.«

Sie setzten sich an den gedeckten Tisch. Es gab Wurst, Käse und Brot.

»Du bist lange auf dem Dachboden gewesen. Da sind dir wohl viele Kindheitserinnerungen gekommen?«, sagte Hedwig nach dem Essen.

Sie waren hinausgegangen und saßen auf der Bank vor dem Haus. Dort hatte Leander abends oft mit Hedwig gesessen und ihren Geschichten gelauscht.

»Ja, ich habe alle Truhen durchgesehen. Wie viel ich vergessen hatte, einfach unglaublich!«

Toni der Hüttenwirt 259 – Heimatroman

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