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DIE FARM

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Die Farm lag im einsamen Nordwesten der Insel.

Am Ende der Welt. Schafherden, Kühe, raue Felsen, Steinwälle, endloses Geröll.

Das atlantische Meer nur ein paar Steinwürfe entfernt, eine Ahnung von der Neuen Welt, endlos, weit im Westen des Ozeans. Wie bedeutend war hier die Zeit?

Vom Fenster der Kammer waren bei gutem Wetter die drei Aran-Inseln zu erkennen.

Das Farmhaus, ein niedriges, weißgetünchtes Steingebäude mit tief angesetzten Fenstern, zwei Türen und einem Reetdach.

Einige Anbauten für Saisonarbeiter oder Feriengäste kamen mit der Zeit hinzu.

Die Kammer war eine von einem halben Dutzend, wo sonst Schüler untergebracht waren,

die in den Ferien bei der Schafschur oder beim Füttern halfen, auch ausländische Studenten, die sich etwas dazu verdienen wollten und den „Zauber der Insel“ einfangen wollten, wie sie – reichlich kitschig – ihren Aufenthalt hier begründeten. Sie holten diese Romantik zumeist aus Reisemagazinen, wobei sie sich ehrfürchtig den Klischees unterwarfen.

Dem Fremden aber war die viel gerühmte Landluft und deren Segen egal, er wollte – oder musste – endlich seine Dissertation zu Ende bringen! Er war ein recht träger Mensch. Aber faul?

Eigentlich nicht, er arbeitete schon hin und wieder, dann aber wie ein Besessener!

Er agierte zum rechten Zeit, ließ sich Zeit, zeitlebens.

Nur das ungefähre Thema schwebte ihm vor, ihm, dem Doktoranden der Biologie, Spezialfach Verhaltensforschung: exotische Tiere. „Das Verhalten der Faultiere in der Gefangenschaft.“

Na ja. Immerhin. Die Witzeleien seiner Kommilitonen störten ihn nicht, zumindest ließ er sich nichts anmerken. Wie der Fremde sich überhaupt selten Gefühle anmerken ließ.

Sein Freund – damals hatte er noch Freunde – hatte ihn gedrängt, doch endlich irgendeine schriftliche Arbeit fertigzustellen. Er agierte mit psychologischen Mitteln: Ihn erwarte doch eine glänzende akademische Laufbahn, er rühmte sein Talent, die Fachwelt erwarte etwas von ihm.

Alles nur Gerede. Er ließ sich von dem Geschwätz nicht beeindrucken, es erreichte ihn nicht, wiewohl es ihm lästig war, ihn wurmte, denn es drohte ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen. Ja, er war süchtig nach Harmonie. Streit und Zank ging er auch nur dem Ansatz nach aus dem Weg.

Wenn er beim Schach oder beim Kartenspiel gewann, was recht häufig vorkam, entschuldigte er sich beim Mitspieler, lobte dessen Spielstärke, spielte den eigenen Sieg herunter.

Alles gut, wir bleiben Freunde. Er wollte einfach seine Ruhe haben.

Ja, er hatte jede Menge Ideen und Fantasien rund um seine Generalthemen: Müßiggang, Faulheit, Langeweile, Entschleunigung – Zeit. Er wollte sie durchaus einmal – wann? – zu Papier bringen

Doch dazu brauchte er eben – Zeit. Und er konnte sich ewig nicht auf ein konkretes Thema für seine Arbeit festlegen, er brauche Ruhe, Muße.

Der Freund – war er ein Freund? Vielleicht eher ein guter Kumpel? – drängte.

Der Farmersohn aus dem rauen Nordwesten der Insel ließ sich nicht mehr von Ausflüchten des Zeit-flüchtigen beeindrucken: Du wohnst auf der Farm und arbeitest endlich. Basta.

Und den Scherz, dass er kein Faultier sei, konnte er sich dabei nicht verkneifen.

Mein Onkel hat eine Schaffarm. Da ist Platz für dich und deine Flausen, die dir bei Land – und Seeluft bald ausgetrieben werden. Außerdem brauche der Onkel eine kräftige Hand im Stall oder auf der Weide. Er habe schon mit ihm gesprochen. Kost und Logis sei ihm sicher.

Er könne gleich losfahren und endlich arbeiten. Im Frühjahr könne er seine Dissertation dann einreichen. Dem ewig Unschlüssigen blieb nichts weiter übrig. Wie gesagt: Er ging möglichem Streit schon dem Ansatz nach aus dem Weg. Er packte den Koffer und fuhr.

Was ihm sofort bei der Ankunft auffiel, war etwas zunächst Unauffälliges.

Es war eine Scheune, die kurz vor dem Abriss gestanden hatte, nur noch nützlich, vielleicht die Deckenbalken, Bretterwände und Stützen irgendwie zu verwenden. Sei es als Brennholz, für einen Zaun, für ein Gehege für Jungschafe.

Man war nur noch nicht dazu gekommen. Die Scheune störte ja weiter nicht, sie stand nur herum, Relikt einer vergangenen Zeit, deren Bauherren längst das Zeitliche gesegnet hatten.

Zudem hatten der Onkel und seine beiden Söhne den lieben langen Tag alle Hände voll zu tun.

Der Freund des Neffen war geduldet, man war sogar neugierig auf diesen bunten Vogel.

Einmal hatte der Farmer ihn bei der Arbeit am Laptop über die Schulter geschaut.

Der Stadtmensch schreibt über irgendwelche Exoten, über Faultiere in der Gefangenschaft.

Komischer Vogel. Man spottete abends beim Feierabendwhiskey: Schreibt er über sich?

Man ließ ihn tun, machte hin und wieder Witze über ihn. Aber so harmlos erschien er ihnen auch wieder nicht. Der Fremde erregte eine leichte Spur Argwohn, eben weil er ein Fremder war.

Er stand unter Verdacht, keinen bestimmten, nein, aber man würde ein Auge auf ihn haben.

Sie misstrauten ihm, nein, nicht direkt, eigentlich war es ein Misstrauen allem Fremden gegenüber, vorsichtshalber, als Schutz, als Abgrenzung. Man war sich selbst der Nächste.

Sie ließen sich den Argwohn nicht anmerken. Ohnehin war es bei diesem Menschenschlag überhaupt schwierig, etwas anzumerken oder zu entdecken.

Sie waren unnahbar und schweigsam.

Nein, das Volk hier oben im wilden Nordwesten war nicht für besondere Redseligkeit bekannt. Sie machten das Maul nicht auf. Und wenn, dann hörte der Fremde da ein Gemisch aus der an Idiomen reichen Landessprache und jenem harten, für fremde Ohren unangenehm klingenden Gälischen. Der studierte Fremde aus der Stadt ahnte allenfalls, was gemeint war, was zuweilen mehr sein kann als das Verständnis bloßer Worte. Aber seltsam: diese Ahnung bereitete dem Fremden ein ungutes Gefühl.

Nichtsdestotrotz begegneten ihm die Männer freundlich, man lächelte, schmunzelte und lachte viel. Ein Lächeln unter den Wolken von Schwermut und Melancholie.

Ein junges rothaariges Mädchen tauchte ab und zu auf der Farm auf.

Eine Internatsschülerin aus der Stadt.

Der Fremde sah sie nur an den Wochenenden. Wohl eine Verwandte, sie kochte manchmal, hängte die Wäsche zum Trocknen auf, sprach vom Gerede aus der Stadt: Demnächst sei ein Unwetter zu erwarten, eine Springflut, gar eine Sintflut.

Die Männer hörten zu und sagten nichts, woraufhin das Mädchen sich zumeist in eine Ecke verzog und las. Der Fremde sagte ohnehin kaum etwas, zu Gerüchten schon gar nichts.

Er sah dem Mädchen gern beim Lesen zu. Ihren Namen erfuhr er erst später.

Sie war die Nichte des Farmers. Mutter und Vater des Fischermädchens waren vor Jahren bei stürmischer See ertrunken. Und nun kümmerte sich der Onkel um sie.

Fiona.

Sie war ein Stimmungsaufheller, der Sonnenstrahl im Schatten der alten Farm mit den schweigsamen Männern. Dem Fremden gefiel das Lachen, ihre unbekümmerte Art, so schien es zumindest. Jedenfalls machte sie sich über jeden lustig, der ihr über den Weg lief, und nur dem Fremden fiel eine Spur Sarkasmus in ihrem Spott auf.

Der Mann lernte ihn bald kennen: Sie taufte ihn „sloth“, Faultier also, sein Forschungsthema, es hätte schlimmer kommen können, fand er.

Die Männer nannten sie ‚darling’ oder Fiona, je nach Laune und Stimmung.

Rothaarig und das blasse Gesicht mit Sommersprossen übersät – natürlich.

Sie unterschied sich äußerlich kaum von ihren Altersgenossinnen hier in dieser Region. Doch es gab einen Unterschied: Sie hielt sich Vergnügungen fern, wenn es denn ging.

Man sah sie selten im hiesigen Pub, wo die jungen Mädchen der folk music lauschten, an der Theke stout tranken, mit den Jungs um die Häuser zogen.

Schon gar nicht sah man sie sonntags in der Kirche, was in der Stadt so ziemlich egal war, im Dorf aber eher nicht. Ihr Onkel und ihre Cousins versäumten nie die sonntägliche Predigt.

Dafür las sie gern. Stundenlang lag sie in ihrer Kammer und schmökerte.

Bücher waren ihre Welt. Und an ihre „innere Bibliothek“ – frühe, prägende Leseerlebnisse und lebenslange Begleiter – ließ sie keinen der Männer ran, was auch nicht sonderlich schwierig war: Man las hier gewöhnlich nicht.

Klar würde sie nicht ewig hier im Nordwesten bleiben, sie würde wie fast alle ihre Altersgenossinnen in die Städte der großen Nachbarinsel im Osten gehen und – über kurz oder lang – vielleicht sogar studieren? Man traute es ihr zu.

Und ihr Onkel war sich sicher: Sie weiß, was sie will, eigensinnig wie sie ist.

Einmal trafen sich der Fremde und Fiona rein zufällig am kleinen Yachthafen. Sie saßen am Steg, beobachteten den Sonnenuntergang und – schwiegen.

Danach trafen sie sich mehrere Male wieder rein zufällig – natürlich – am Hafen.

Sie saßen am Steg, beobachteten den Sonnenuntergang und – schwiegen.

Der Fremde hatte sich mit und in der Zeit eingerichtet.

Er machte es sich oben in seinem Stübchen wohnlich. Seine Bücher fanden vorerst auf der Diele Platz, sein Laptop bequem auf einem Tisch vom Möbeldiscounter.

Auf dem Nachttisch „Sein und Zeit“, das Hauptwerk des deutschen Seinsphilosophen Martin Heidegger. Der Fremde suchte darin Antworten, stieß aber nur auf neue Fragen.

Es waren Fragen, die ihn nicht beunruhigten, sondern seine Neugier weckten: Was ist das Sein? Was ist die Zeit? –

Ein Regal für sein Studienmaterial zimmerte er sich erst später. Er war kein Handwerker, für ein Regal reichte es aber. Immerhin, er konnte hier leidlich arbeiten.

In den ersten Nächten störte ihn das Blöken der Schafe, die mit ihren auf den Rücken getünchten Kreuzen die Farm umzingelten und dem Dasein das Gepräge gaben.

Die Farmer waren freundlich zu ihm – natürlich. Kurzes Knurren als Morgenbegrüßung, rasch hingeworfene Bemerkungen über das Wetter; Unwetter sei im Anmarsch, ob er Regenzeug aus der Stadt mitgebracht habe? Hatte er natürlich nicht. Wozu?

Doch irgendwie störten ihn die Witzeleien hinter vorgehaltener Hand, er sei ein „Faultier“. Und so bot er seine Hilfe an: Der studierte Stadtmensch half manchmal den Stall auszumisten, die blökende Herde in den Stall zu treiben, bei der Schur oder auch mal mit Fiona die Kartoffeln zu schälen oder das Gemüse zu putzen. Sie fragte ihn über das Verhalten der Faultiere aus. Er hielt einen Kurzvortrag über die Entschleunigung und meinte, bei Faultieren tickten eben die Uhren anders. Welche Uhren? spottete sie und er wechselte alsbald das Thema.

Anfangs gefiel ihm das nun wirklich nicht akademische Leben, die Gespräche waren einfach und auf pragmatische Dinge der täglichen Arbeit ausgerichtet. Ein wenig Dorfklatsch, der Nachbarjunge sei mal wieder betrunken aus dem Pub getragen worden, man lachte über das „dämliche Schafgesicht“ des Pfarrers Lynch.

Nur die anzüglichen Pfiffe der Söhne über den schönen Körper der Cousine, wenn sie sich morgens halbnackt, nur mit einem Slip bekleidet, im Hof wusch, störten ihn.

Wenn sie nicht unsere Cousine wäre …

Na ja. Er hatte sie auch aus dem Kammerfenster beobachtet. Und sie gefiel ihm außerordentlich.

Und es passierte, dass er nachts von ihrem Körper träumte.

Nach wenigen Wochen fehlten ihm die Bücher, keine Fachbücher, die hatte er ausreichend und manchmal auch die Nase voll von ihnen. Etwas Schönes, vielleicht ein Poesiebändchen mit Versen eines Dichters, die das Land hier doch in so erstaunlicher Fülle hervorgebracht hatte.

Aber in der ganzen Wirtschaft fand sich nichts dergleichen.

Eines Tages fragte er Fiona. Sie kicherte nur. Die Männer bräuchten hier keine Bücher, es wäre auch nutzlos, sie seien halbe Analphabeten. Sie könnten wohl Rechnungen lesen, wenn nötig ihre Unterschrift geben oder allenfalls die großen Buchstaben der yellow press lesen, die im Pub herumläge.

Doch eines Abends klopfte es an seiner Kammertür. Er öffnete. Fiona stand da im weißen Pyjama, engelsgleich, fand er, das rote Haar wirkte wie ein Lichtkranz über ihren Schultern.

Sie gab ihm lächelnd ein altes, dickleibiges Buch im braunen Ledereinband.

Die Bibel habe sie in einer Truhe im Keller gefunden, alter Familienbesitz, fügte sie hinzu und verschwand. Warum bleibt sie nicht? dachte er.

Dennoch freute er sich. Er blätterte in der Bibel.

Sie war alt, sehr alt, Mitte des 17. Jahrhunderts, aus der Zeit, in der die Truppen Oliver Cromwells in der Stadt Droheda unter den irischen Katholiken wütete. Vorfahren des Onkels hätten sie wohl gerettet, vermutete er.

Der Fremde stutzte. Textpassagen aus dem Alten Testament, in denen von der Sintflut berichtet wird, waren am Rande mit dicken Ausrufezeichen versehen.

Natürlich, der ewige Regen hier im Nordwesten, dachte er. Gab es nicht hier vor einem knappen Menschenalter eine verheerende Springflut?

Die Männer der Farm hatten mit den Unkenrufen, ein Unwetter sei im Anmarsch, recht behalten.

Zunächst wurde es heiß und stickig, es war kaum auszuhalten.

An seiner Schreiberei war nicht zu denken. Er konnte keinen ernsthaften Gedanken für seine Doktorarbeit zum Ende führen. Hier und da stilistische Korrekturen, allenfalls Ergänzungen im Quellenverzeichnis, das war alles.

Und da setzte das Unwetter ein!

Ein Blitz schlug mit solcher Kraft in eine nahe Eiche ein, dass das Haus erschütterte.

Und starker Regen trommelte auf die Dächer.

Man – der Farmer, die zwei Söhne, Fiona und der studierte Stadtmensch – traf sich spontan und doch ziemlich beklommen in der Küche, spottete jeweils über die anderen, sie seien Angsthasen. Und man wurde ungewöhnlich redselig, mit Gewittern kenne man sich aus, man habe sie alle überstanden, solange man noch darüber reden könne, ha, ha …

Eine Whiskeyflasche machte die Runde. Es wurde recht lustig an jenem Abend, man trank, rauchte, schwatzte und ging erst spät ins Bett. –

Doch es regnete unaufhörlich: tagelang, nun schon zwei Wochen.

Die dritte Regenwoche begann.

An eine Arbeit draußen war nicht mehr zu denken, die Schafe blökten im Stall, der Hof war aufgeweicht, die Wege schlammig, Wasserlachen, der Busverkehr wurde eingestellt.

Mit dem Auto kam man nur noch schwer durch – bis dann gar nichts mehr ging.

Nun saß man immer häufiger abends in der Küche, trank, lachte; ein Lachen, das gar nicht mehr so fröhlich klang.

Melancholie, Traurigkeit schlichen sich ein, Stimmungen, die ohnehin hier oft zu Besuch waren, nun wurden sie Stammgäste. Abend für Abend. Man saß herum und tat nichts. Man starrte auf einen Punkt, den es anscheinend nur für sie gab.

Erinnerte man sich an die gewaltige Springflut vor mehr als einem halben Menschenalter?

Sie verschlang dutzende Gehöfte, zerstörte unzählige Existenzen. Entsetzlich.

Jahre her. Die Zeit heilt alle Wunden? Natürlich nicht.

Die Angst, ein namenloses Grauen, blieb in den Schädeln der schweigsamen Männer.

Die Langeweile schlich sich immer bedrohlicher heran, sie hatte bald alle im Griff.

Was sollte man auch tun den langen Tag lang? Der verdammte Dauerregen hatte sie eingesperrt wie die Schafe drüben im Stall. Ja, sie glichen einer Herde trübsinniger Schafe.

Und wenn sie ihre Schädel erhoben, sahen sie seltsamerweise den studierten Stadtmenschen an. Was erwartet man von ihm?

Eine Unterhaltung, ein Spielchen, um die Zeit zu vertreiben, um die Ecke zu bringen, totzuschlagen? Schrieb er nicht über Faultiere, diese Zeitterroristen? Wusste er einen Ausweg, gar eine Erlösung? Könnte doch sein. Der Fremde war ratlos. Was wollen sie von mir? Er wusste es nicht. Er spürte lediglich einen Erwartungsdruck, unbestimmt, namenlos.

Endlich war ihm eine Idee gekommen: Die alte Bibel.

Am nächsten Abend brachte er sie mit, zeigte sie dem Farmer. Der nickte nur, er zeigte keine Überraschung. Der Fremde las aus ihr vor. Zu seinem Erstaunen hörten ihm alle zu, langweilten sich anscheinend nicht, sie ließen es sich zumindest nicht anmerken.

Sie schwiegen, starrten ihn an, die Blicke auf seinen Mund gerichtet – und hörten zu.

Er las über die Sintflut, über die Arche Noah, auf der sich bekanntlich allerhand Tiere – auch Schafe – drängten. Textpassagen, die einst ein Vorfahr mit dicken Ausrufezeichen versehen hatte.

Und draußen trommelte der Regen gegen die Fensterscheiben. Geschichten, die er immerfort wiederholen musste. Und der Regen war die monotone Begleitmusik dazu.

Zunächst wunderte er sich. Warum faszinierten sie gerade diese Geschichten?

Nur weil es regnete? Erst als er aus dem Neuen Testament vorlas, ahnte er es.

Er las aus dem Evangelium des Markus, über Jesus Christus, der sich in Golgatha kreuzigen ließ.

Am Erlöserkreuz. Na, eben die altbekannte Geschichte, seit Jahrhunderten erzählt.

Aber dieser Passagen fanden besonderes Interesse, ja Zustimmung.

Die Männer nickten versonnen vor sich hin.

Die Kreuzigung, die Erlösung, die Kreuzigung, die Erlösung, murmelten sie dumpf vor sich hin.

Dumpf geworden vom Whiskey, von der Langeweile, von der Trostlosigkeit um die Farm herum, die in der alttestamentarischen Sintflut unterzugehen drohte.

Ja, und gerade an jenem Abend waren alle Schafe in den Ställen jämmerlich ertrunken, eine Holzwand hatte dem Druck der Wassermassen nicht standgehalten, die Schleusen waren gleichsam gebrochen. Ihre Existenz vernichtet. Sie sahen keinen Ausweg mehr.

Es wurde kein Wort mehr gewechselt. Nur noch stumme Blicke.

Irgendwas mussten sie planen! Dem Fremden wurde es allmählich nicht geheuer.

Irgendetwas stimmte nicht. Braute sich da etwas zusammen?

Die Stimmung war unbestimmt, unerklärlich, namenlos und dadurch gefährlich.

Er spürte es, war beklommen, ein ungutes Gefühl, gelinde gesagt.

Am nächsten Abend las er wieder vor, stockend, immer wieder sich verhaspelnd.

Schließlich meinte er, es ginge ihm nicht gut.

Und die Männer nickten. Er spürte dankbare Blicke. Doch sie beunruhigten ihn.

Er ging in seine Kammer. Nur kurz wechselte er mit Fiona Blicke.

Sie war blass, wirkte verstört, sie hatte längst kein Wort mehr gesagt, von Heiterkeit oder gar Spott keine Spur. Sie sagte nur leise, sie müsse nun auch schlafen gehen.

Um Mitternacht klopfte es leise an der Kammertür des Fremden. Er wunderte sich, doch schon etwas ängstlich öffnete er.

Fiona. Im weißen Pyjama, das rote Haar hing wirr auf die Schultern.

Sie zog sich aus. Der Fremde bemerkte eine silberne Kette mit einem Kreuz um ihren Hals. –

Sie verbrachte die ganze Nacht mit ihm, nackt, sich anschmiegend wie eine Katze, noch unschuldig.

Gerade mal 16 oder 17 Jahre alt. Er hatte schon mit einigen Frauen geschlafen. Keine mit grünen Augen wie ihre. Der Blick.

Wie eine Katze, die rätselhaft Menschen ansieht, seelenruhig, ohne den Kopf zu wenden oder mit den Wimpern zu zucken, gleichmütig, scheinbar seelenruhig, das Gesicht ihm frontal zugewandt.

Er würde den Blick niemals vergessen, war er sich damals sicher. Und Fiona zeigte sich im Bett beweglich, behände, katzengewandt. Sie sagte nichts, kein Seufzer, kein wollüstiges Stöhnen.

Nur dieser stumme Blick, nicht von der Seite, schielend, sondern immer frontal ihm zugewandt. Rätselhaft für ihn, nicht entschlüsselbar. Sie gab sich ihm hin, unerfahren, instinktiv, ausdauernd. Erst am Morgen ließen sie voneinander.

Fiona schlich sich nackt aus seiner Kammer, nicht ohne sich noch einmal umzudrehen.

Sie flüsterte: Er solle bald verschwinden. Es geschähen seltsame Dinge, es liege etwas in der Luft. Er sei in Gefahr, sie spüre es!

Fiona sah aus dem Fenster. Irgendwo da draußen lagen die Aran-Inseln, verborgen von einer grauen Regenwand.

„Eine einsame Insel wäre mein Traum.“

„Ein Dasein wie einst Robinson Crusoe? – Nein, ein Ortswechsel hilft uns nicht aus unserer Haut“, meinte der Fremde reichlich altklug.

Sie seufzte, zuckte nur mit den Schultern

„Mach’s gut, Sloth.“ In ihren Augen waren Tränen.

Fiona war am frühen Morgen verschwunden. Mitten im Regen hatte sie sich davongemacht.

Der Fremde erkundigte sich nach ihr. Doch die Männer schwiegen.

Der Fremde ging in seine Kammer, er packte seinen Koffer, er hatte hier nichts mehr zu suchen.

Am nächsten Morgen wollte er aufbrechen.

Er legte sich auf sein Bett, unruhig, voller Vorahnungen.

Er hörte in der Nacht durch den rauschenden sintflutartigen Regen hindurch dumpfe Hammerschläge. Sie kamen aus Richtung der baufälligen Scheune, die schon längst hätte abgerissen werden müssen. Dann vernahm er helle Hammerschläge auf dem Hof, so als würden Nägel in Holz getrieben. Was war da los?

Am Morgen mühte er sich schlaftrunken die Treppe herunter. Er stand in der Küche.

Da standen sie, die drei erwachsenen Männer, der Farmer mit seinen Söhnen.

Sie bildeten ihm ehrfurchtsvoll Spalier.

Der Fremde erschrak. In der Küche stand der Pfarrer Lynch mit dem Schafgesicht, er murmelte irgendwelche Worte vor sich hin. Worte wie Erlösung, Kreuzigung, Sünden.

Was will der denn plötzlich hier? Was ist hier los?

Die Männer machten Platz, verhöhnten den Fremden, spotteten, bespien ihn.

Wie einst römische Soldaten den Heiland Jesus Christus.

Und dann ging der Fremde mit unsicheren Schritten durch das Spalier zum Fenster.

Von der Scheune war nur noch ein Skelett geblieben, ohne Dach, ohne Wände.

Die Männer hatte Balken und Bretter herausgerissen, um das Kreuz aufzurichten.

Seine Kreuzigung war vorbereitet!

Der Fremde und die Andere

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