Читать книгу Zehn gute Jahre Teil1 - Friedrich Haugg - Страница 12
Kap.1 Chiemsee
ОглавлениеDie Terrasse über dem träge plätschernden See duftete nach Kiefernholz und Teer. Wie immer gab es beim Oberleitner am Ende der Mühlener Bucht auch heute Abend frische Renke Müllerin Art mit goldgelb glänzenden Petersilienkartoffeln, übergossen mit köstlicher, angebräunter Butter. Dazu ließen sie sich ein prickelndes Weißbier servieren. Der Wirt sagte nichts und schmunzelte nur, weil sie sich dieses Jahr so erwachsen gaben.
„Prost Mandi. Ach so, du trinkst ja nicht während des Essens. Ungewöhnlich mild der Abend, oder? Und wie der See riecht“, sagte Fritz und leerte das halbe Glas. „Mhm“, machte Hermann. Mit vollem Mund klang es wie ein Räuspern. Nachdem er sein Sezierwerk vollendet hatte, legte er Gabel und Messer nebeneinander auf den Teller, wischte sich den Mund ab und trank das Glas in kleinen Zügen aus.
Sie beließen es bei dem einem Bier, weil die Nacht ziemlich lang werden würde, zahlten und wanderten dann im Hochgefühl des Kommenden auf dem waldigen Uferweg zurück zum Campingplatz.
Die wilden, roten Haare von Herrn Jell leuchteten schon von weitem durchs Gebüsch. Ungeduldig stand er neben seinem Fahrrad, das an die Wand des Blockhäuschens, seiner Operationszentrale, gelehnt war. „Um acht ist hier Zapfenstreich meine Herren und es ist schon fast halb neun. Heute lasse ich das noch einmal durchgehen.“
„Jawoll, Herr Jell. Danke, Herr Jell“, sagten sie beide. Herr Jell spürte eine gewisse Unbotmäßigkeit und holte schon Luft, wendete sich aber dann kopfschüttelnd ab, verschloss umständlich die rot-weiße Schranke, prüfte das Schloss noch einmal und schwang sich dann auf den Sattel.
„So geht das aber nicht, meine jungen Herren.“ Herr Mahlmann tauchte plötzlich und lautlos hinter einem Busch auf. „Sie wissen doch, dass man nachts nicht mehr hinausfahren darf.“
Wer sagt das, dachte Fritz und spürte den Wunsch, ihm ordentlich herauszugeben. Allerdings war Herr Mahlmann schon fast fünfzig und machte hier schon seit zwanzig Jahren regelmäßig im August für vier Wochen Urlaub. Er hatte sich die Autorität erarbeitet, in Abwesenheit von Herrn Jell über die nächtliche Ordnung zu wachen.
„Wir machen nur noch unser Boot sauber. Wir sind dann auch ganz still“, versuchte es Fritz. Es klappte.
„Na dann, gute Nacht, Jungs und macht keinen Scheiß.“ Er ging leise weiter. Schließlich war der Platz recht weitläufig und viele der Gäste waren verdächtig, die Regeln zu verletzen.
Dem selbst ernannten Obernachtwächter Mahlmann war entgangen, dass sich die 'Jungs' in feinen Zwirn gekleidet hatten, zur Bootsreinigung nicht gerade die passende Gewandung. Über der hirschledernen, kurzen Hose mit den bestickten Hosenträgern trugen sie einen hellgrauen Strickjanker mit silbernen Knöpfen. Das weiße Hemd mit dem roten Tüchlein passte bestens zu den strahlend weißen Kniestrümpfen. Die korrekteren Haferlschuhe hatten sie allerdings gegen elegante Sandalen getauscht. Man wollte ja nicht wie ein Bauer daherkommen. Dass beide fast gleich aussahen, Hermann wirkte ein bisschen asketischer und muskulöser, daran hatten sie sich gewöhnt. Bei Zwillingen ist das eben so und es ersparte den Spiegel.
Sie warteten schweigsam am Strand sitzend, bis es noch etwas dunkler geworden war, zogen dann Sand alen und Strümpfe aus und schoben, alle Geräusche vermeidend, ihren Blauwal ins Wasser. Sie hatten immer die neuesten Modelle zum Testen aus den Rosenheimer Klepperwerken, die neben den revolutionären Faltbooten auch den berühmten Kleppermantel herstellten, der später zur Standardausrüstung wurde für Leute, die in jedem Wetter mit hochgeschlagenem Kragen und Hut draußen stehen mussten. Deswegen hieß dieser Mantel später im Volksmund auch Gestapomantel.
Steffi, die Tochter des Hauses, hatte Hermann bei einem Schwimmwettbewerb kennengelernt und sich in seine athletisch gestählte Figur verliebt. Da er jede Menge sportlicher Erfolge aufzuweisen hatte, im Turnen wie im Schwimmen und sogar im Eiskunstlaufen, schien er dem Firmenchef mehr als geeignet, seine Erfahrungen in die Konstruktionen einfließen zu lassen. Nicht alles konnte wirtschaftlich umgesetzt werden, aber seine Arbeit half, die bekannten Boote immer weiter zu verbessern. Gegen die Gefahr des Kenterns empfahl er den Einsatz von seitlichen, aufblasbaren Luftschläuchen, einer Technik, die sich über viele Jahrzehnte bewähren sollte und der Marke Aerius zum endgültigen Durchbruch verhalf. Vom Patent darauf hatte Hermann nichts. Ökonomische Kategorien waren seinem Denken fremd. Er hatte das Testen zugesagt und er führte sein Versprechen mit der ihm eigenen Sorgfalt und Genauigkeit aus. Fritz nannte ihn oft einen freudlosen Pedanten, aber auch das nahm Hermann gelassen. Schlampigkeit und das immer mehr verbreitete oberflächliche Geschwätz von Leuten, die ihr Halbwissen nur benutzten, um damit andere zu beeindrucken und die meinten, der Sinn des Lebens bestünde darin, Spaß zu haben, waren ihm ein Gräuel. Er hatte nichts gegen Ausgelassenheit nach getaner Pflicht, wenn sie nicht zu lange dauerte und wenn sie vor allem nicht ausuferte. Er hatte gelesen, dass Lachen die Erholung und das Kräftesammeln für neue Aufgaben beschleunigte. Das leuchtete ihm ein.
„Du bist der Schlagmann“, sagte Hermann. „Wer vorne sitzt, gibt den Rhythmus vor. Also halte ihn auch ein, sonst passiert das wie eben.“ Ihre Paddel waren zusammengekracht, weil Fritz abgelenkt war vom Versuch, die Unterwasserbahn eines Haubentauchers vorherzusehen und er die unterbrochene Tätigkeit durch höhere Frequenz wieder gut machen wollte.
„Ist schon klar, Mandi. Ich gelobe Besserung“. Er hielt den Rhythmus wieder ein, sparte sich aber das kraftvolle Durchziehen, weil er merkte, dass Mandis Kräfte und sportlicher Ehrgeiz ausreichen würden, sie mit gehöriger Geschwindigkeit voranzutreiben.
Der See war so still, dass das Spiegelbild des Schilfgürtels und der Büsche auf der Herreninsel vom Original nicht zu unterscheiden war. Im Westen über Prien türmten sich Kumuluswolken auf, die obersten Ränder waren vom Licht der bereits untergegangenen Sonne in zarter Linie rötlich umrahmt, etwas später verschmolz alles zu einer dunkelgrauen Masse und Hügel und Himmel waren nicht mehr unterscheidbar. Sie durchschnitten elegant das weiche, glatte Wasser, das die Farbe flüssigen Quecksilbers angenommen hatte. Lediglich das leichte Klatschen beim Eintauchen von Fritz' Paddel und das Glucksen der Wassertropfen, die von der nassen Schaufel herunterfielen, war zu hören.
„Man darf beim Eintauchen der Paddel nichts hören, jedes Klatschen bedeutet, dass du deine Energie nicht optimal für die Vorwärtsbewegung umsetzt.“
„Ja, Mandi, ich werde das noch üben.“
„Mach das, zum Beispiel jetzt.“
„Etwas besser. Aber jeder Feind würde deine Annäherung sofort bemerken.“
„Hier ist aber kein Feind.“
„Aber im Ernstfall...“
„Ich würde ja gar nicht zur Marine gehen.“
„Das ist doch nicht Marine. Obwohl, die Kampfschwimmer gehören schon zur Marine.“
„Kampfschwimmer?“
„Ja. Die, die nachts an ein Schiff des Feindes tauchen und Minen anbringen.“
„Hört sich mühsam an.“
„Ist es auch. Ohne Fleiß kein Preis.“
„Wo gehen wir eigentlich an Land?“
„Da vorne. Es sind nur noch 200 Meter. Siehst du die Landzunge? Man sieht sie eigentlich nicht, weil sie jetzt nicht beleuchtet ist. Das ist die Seepromenade von Prien - Stock. Am Ende ist da ein Pavillon. Dort verstauen wir unsere Sachen.“
Sie näherten sich möglichst unhörbar und stießen schabend auf Grund. Das wäre nicht so gut für die Bootshaut, meinte Hermann, man solle jetzt besser aussteigen und das Boot hoch tragen.
Links tauchten die Umrisse des großen Schaufelraddampfers 'Ludwig Fessler' auf, der schlafend auf den nächsten Morgen und die Schwärme von Touristen wartete, die am Wochenende die Inseln besuchen wollten. Schloss Herrenchiemsee war mit den Jahren eine echte Attraktion geworden. Die Menschen vor 50 Jahren konnten gar nicht einschätzen, was ihr Kini, König Ludwig der Zweite, Gutes für das Land getan hat. Keine Sau würde sich sonst für die flache Herreninsel interessieren, die nur von Kühen bevölkert war, dachte Fritz.
Sie lehnten das Boot an den Fuß des Pavillons und verstauten Paddel, Sülldecke und die Regenjacken im Inneren. Niemand würde um diese Uhrzeit hier vorbeikommen. Dann marschierten sie los. Es war ein guter Kilometer bis zum Tanzcafé Reiter, das an der Straße lag, die Prien mit Stock verbindet. Die Schmalspurbahn war natürlich nachts nicht in Betrieb. Überhaupt waren sie auf der Straße völlig alleine. Keine Menschen und kein Auto störten die Ruhe.
Vor dem Tanzcafé wurde es lebendig. Einige Paare und ein Rudel lauter, junger Männer tummelten sich vor dem Eingang.
Sie betraten die heiligen Hallen des Genusses und der Unzucht, von denen die älteren Kollegen geschwärmt hatten und fühlten sich großartig erwachsen. Hermann zog stolz eine Sechserpackung Salem heraus und reichte Fritz die Schachtel hin.
„Donnerwetter. Wo hast du die her? Das nenne ich Perfektion.“
„Wenn schon, denn schon. Jetzt müssen wir uns einen Platz suchen und etwas zum Trinken haben, dann wird der Abend wirklich gut.“
In diesem Augenblick begann die Musik zu spielen. Es war so laut, dass sie sich nicht mehr unterhalten mussten. Und es war eine echte Dixieband mit Schlagzeug, Banjo, Tuba, Posaune, Trompete und Klarinette. Hermann hielt sich lachend die Ohren zu und Fritz blieb der Mund offen. So etwas hatten sie noch nie so direkt und leibhaftig gehört. Das war schon etwas ganz anderes als die verzerrten und verrauschten Klänge aus dem Radio, dem neuen Saba 31W, den sich ihre Eltern gerade zugelegt hatten. Man musste die Musiker spielen sehen und hören, dann ist die Negermusik erstaunlich mitreißend, urteilte Fritz. Dabei waren es gar keine Neger, sondern deutsch aussehende, ordentlich gekleidete Weiße. Vor allem beeindruckte ihn die Virtuosität und das gegenseitige Verständnis, wie sie ohne Noten und ohne Dirigenten perfekt zusammenwirkten. Na ja, als Musik hätte sein Vater und seine älteren Geschwister das nicht bezeichnet. Dafür war es zu wild und zu laut. Vor allem der alles beherrschende Rhythmus hätte sie, die Kenner der kontrapunktischen Musik der alten Meister, zu einer vernichtenden Kritik veranlasst. Sie ließen die Sinnlichkeit, das Berauschende nicht zu und taten es als Relikt primitiver Völker ab. Aber egal, was sie dachten, Fritz zog es in seinen Bann und er konnte sich nicht dagegen wehren.
Nach der zweiten Halben sagte Fritz, dass man doch auch einmal tanzen könne, jetzt wo sie schon da wären. Hermann schaute besorgt auf die leere Tanzfläche und meinte, dass das nicht seine Sache sei.
„Ach komm, ist ganz einfach. Du hast die doch alle gesehen. Du musst nur ein bisschen im Rhythmus
herumhopsen. Rhythmus. Kennst du doch, oder? Das ist das, wo im gleichen Zeitabstand Töne hervorgebracht werden. Die Musik macht das schon.“
„Du hast leicht reden. Du warst auf dem Tanzkurs vor deiner Abifeier. Mit so was hatte ich nichts zu tun.“
„Jetzt sei kein Spielverderber, Mandi. Mach's mir einfach nach.“
Mandis Angst war vom Alkohol ein wenig reduziert, so folgte er zögernd seinem Zwillingsbruder quer über die Tanzfläche zu einem Tisch, an dem acht junge Mädchen kicherten. Zwei sahen ihnen erwartungsvoll entgegen, sie waren beide braun gebrannt, blond, hatten blaue Augen und Blusen aus leichtem, fließendem Stoff mit einem ungebührlich tiefen Ausschnitt, aus dem sich ihre vollen Brüste wölbten. Die mechanischen Möglichkeiten, diesen Eindruck zu verstärken, waren den Brüdern völlig unbekannt, so dass ihre Bewunderung der Anatomie ungetrübt war. Fritz entschied sich schnell, geblendet vom ungewohnten Anblick und deutete Mandi an, es ihm gleich zu tun. Wahrscheinlich auch Zwillinge, dachte er.
Er verbeugte sich knapp und sagte mit strahlendem Lächeln: „Darf ich sie um den nächsten Tanz bitten?“ Er durfte und sah, dass es Hermann auch gelungen war. Sie führten ihre Damen stolz auf die Tanzfläche, die sich langsam füllte und harrten der Dinge, die da kommen würden. Den Rhythmus konnte Fritz nicht gleich einem der ihm geläufigen Tanzformen zuordnen. Er entschied sich für Foxtrott, aber bereits nach kurzer Zeit war das Schulische vergessen und sie hopsten munter und immer ekstatischer herum, schon deswegen, weil die Mädchen ihnen jede Scheu vor eigenartigen Bewegungen nahmen. Sie waren wohl geübter. Nach dem dritten Stück, das sehr schnell und virtuos war, kam Fritz ordentlich ins Schwitzen, aber auch die Haut seines Mädchens glänzte und sie wischte sich lachend den Schweiß aus den Augen.
Es folgte ein ganz langsamer Blues. Ein übler Trick, fand Fritz, jetzt wo ich so schwitze. Sein Mädchen drückte sich schwer atmend an ihn und sie wiegten sich nahezu auf dem Platz stehend in diesem aufreizend langsamen Rhythmus und einer Klarinettenmelodie, die Sehnsüchte weckte und einen weit fort trug. Jetzt roch er auch einen eigenartigen und betörenden Duft, der vom Hals seines Mädchens ausging. Jasmin, dachte er, gemischt mit einigen unbekannten Komponenten, die ihm mehr als nur angenehm waren. Sie legte ihren Kopf auf seine Schulter, er spürte ihren warmen Atem und nur die feste, hirschlederne Hose bewahrte ihn davor, dass seine Wünsche der Partnerin verraten wurden. Aber sie wusste es auch so und lachte ihn strahlend an.
Dann war der Tanz zu Ende und er sagte. „Vielen Dank, mein Fräulein“ und begleitete sie artig an ihren Platz zurück.
„Jetzt weiß ich, warum solche Veranstaltungen nicht gerne gesehen werden“, sagte Hermann. „Das ist schon sehr unzüchtig, oder?“
„Erzähl mir nicht, dir hat's nicht gefallen. Ich hab's genau gesehen. Du kannst mir nichts vorlügen.“ Fritz grinste .
„Ja, ja, es war nicht unangenehm. Aber ich habe kein gutes Gefühl dabei. Was denkst du, ist das nun in Ordnung oder nicht?“
„Meine Güte. Komm, wir tanzen noch einmal.“ Und er stand sofort auf.
„Es tut mir leid, schöner Mann. Aber wir müssen nach Hause. Wir haben nur bis zehn Uhr Ausgang und müssen pünktlich im Internat sein. Es war sehr schön. Vielleicht sieht man sich ja wieder.“
„Sag mir, wie du heißt und wo ich dich erreichen kann.“
„Ich bin Sissi. Und wenn es das Schicksal will, werden wir uns wieder treffen.“ Sie hatte nicht nach seinem Namen gefragt. Das Erlebte reichte ihm dennoch, um den Rest des Abends zufrieden und entspannt mit Salem, Bier und Träumen zu verbringen. Punkt zwölf endete das letzte Stück und der Laden wurde geschlossen.
Eine der Melodien summend, machten sie sich auf den Weg. Die kühle, saubere Luft tat ihnen gut und als eine Bö kam und mit ihr ein paar Regentropfen, fanden sie das eher angenehm.
Einen halben Kilometer vor dem Pavillon waren es physikalisch gesehen immer noch Tropfen, aber von einem Wasserfall in ihrer Wirkung kaum zu unterscheiden. Noch unangenehmer waren sie, weil sie aufgrund des jetzt heftigen Sturms horizontal daherkamen. Im Lichte der ununterbrochenen Blitze konnten sie sehen, wie ihre ledernen Hosen auf der Steuerbordseite sehr dunkel und sehr weich und etwas länger geworden waren. Sie lachten und liefen um die Wette, weil es gut war und weil keiner bei dem ohrenbetäubenden Lärm aus Sturm, prasselndem Wasser und Donner sie hätte gängeln können. „Die Natur steht über der Obrigkeit“, krächzte Fritz, als sie sich schwer atmend in den Pavillon setzten, um wenigstens ein wenig geschützt zu sein.
Langsam wurde die Nässe unangenehm. Sie hatten weder Handtücher noch warme Kleidung eingepackt. Die Regenjacken über den triefnassen Klamotten waren nicht sehr hilfreich zur Verbesserung des Binnenklimas und so froren sie erbärmlich, was wiederum die Stimmung auf ein sachliches Maß drückte. Jammern war aber nicht männlich. Diese Blöße hätten sie sich nie gegeben. An ein Wegfahren mit dem Boot war nicht zu denken, der Wind kam aus Südwest und die Wellen hatten sich zu einer für Süßwasserseen bemerkenswerten Brandung entwickelt. Gischt von den sich an der steinernen Uferbefestigung brechenden Wellen ergänzte immer wieder die Wassermenge, die ohnehin seitlich in den Pavillon drang. Der Boden hatte sich mittlerweile in eine zentimetertiefe Pfütze verwandelt.
So ließ es sich nur ausharren, weil es keine Alternative gab. Lange Stunden saßen sie so zusammengekauert und Hermann hielt es für die Strafe Gottes wegen ihres lästerlichen Tuns. Er sagte es aber nicht.
Gegen sechs Uhr morgens geschah zweierlei. Der Regen normalisierte sich und dem einheitlichen Schwarz wich langsam und unmerklich ein düsteres Grau. Die Wellen schlugen aber noch mit gleicher Macht gegen das Ufer.
„Wollen wir?“, fragte Hermann.
„Meinst du, es geht?“
„Klar, wir schaffen das.“
Den Blauwal ins Wasser bringen war einfach, ihn jedoch beim Einsteigen am Kentern hindern, stellte sich als echte Herausforderung dar. Mehrmals saßen sie urplötzlich im Wasser, was aber egal war, weil es den Wassergehalt ihrer Kleidung nicht weiter vermehrte. Im Boot endlich sitzend, zogen sie sich die Sülldecke über den Kopf und hängten sie in den Süllrand ein. Das war eine hervorragende Erfindung bei diesen Verhältnissen, da sich dadurch der Wasserstand im Boot nicht weiter erhöhte. Das schulmäßige Paddeln wich einem wilden Balancieren und Abwettern von Wellenbergen und mehr als einmal krachten sie zusammen. Hermann wusste jedoch für diesen Fall keine Regel. Also schwieg er. Der immer noch ordentliche Südwestwind drückte sie schnell nach Nordosten, so dass Hermann einen Kurs Richtung Südost steuerte. Das heißt, was er für Südost hielt, denn nach wenigen Minuten war in keiner Himmelsrichtung etwas zu sehen außer grauer Farbe und kleine Schaumkronen.
„Meinst du, wir sind schon auf dem Weitsee?“, mutmaßte Fritz nach einer halben Stunde.
„Nein, glaub' ich nicht, dazu sind wir zu langsam.“
Und wirklich, aus dem Nichts tauchte halblinks ein etwas dunklerer Streifen auf. „Das könnte der Ausläufer der Schafwaschener Bucht sein. Dann sind wir aber weit nach Norden abgetrieben“, meinte Hermann.
„Wir brauchen doch nur am Ufer entlang zu fahren, dann kommen wir sicher an“, schlug Fritz vor, schon etwas erschöpft vom Kampf gegen die von schräg achtern anlaufenden Wellen. Immer wieder tauchte der Bug vollständig ins Wasser und übergoss ihn mit einem kühlen Schwall, den er gar nicht mehr erfrischend fand.
„Nichts da, wir sind doch keine Memmen, keine Umwege, wir halten Kurs“, war Hermanns Antwort.
Das Wetter und die Sonne kamen ihnen zu Hilfe. Es entstand eine erste Lücke und der blaue Himmel dahinter zeigte, dass er noch vorhanden war. Das Loch erweiterte sich schnell und damit schlief auch der Wind ein. Sie konnten die Kailbachbucht sehen und fuhren den letzten Kilometer schon fast gemütlich in der aufgehenden Sonne und den mittlerweile harmlos plätschernden Wellen. Erschöpft und glücklich zogen sie das Boot an Land und holten sich aus dem Zelt zwei Flaschen Bier. Das zweite Päckchen Salem, das Hermann als eiserne Ration noch bei sich hatte, war allerdings unbrauchbar geworden. Niemand war da und auch Herr Jell ließ sich noch nicht blicken. So gingen sie leise und unbemerkt ins Zelt und waren schon nach ein paar Sekunden fest eingeschlafen.
Als sie aufwachten, malte die Sonne mit Hilfe von Ästen und Blättern hübsche Schattenbilder auf das Zeltdach und im Inneren war es bereits brütend warm. Ein wenig wurden sie gestört, weil schon etliche Gäste und glückliche Kinder den Strand lautstark bevölkerten. Herr Mühlmann schlenderte herbei und sagte: „Na, so lange schlafen? Das hätte es in meiner Jugend nicht gegeben. Ihr seid doch richtige Weichlinge geworden, mit denen man nichts Rechtes mehr anfangen kann.“
Was meint er denn mit nichts Rechtes, dachte Fritz und fand keine sinnvolle Erklärung.
„Das Problem ist“, sagte er zu Hermann, „dass es zu viele Menschen gibt. Nirgends ist man mehr alleine. Es sind schon bald zwei Milliarden auf der Erde und alle machen Lärm.“
Sie zogen sich die Badehosen an, schnappten sich die Kernseife, schäumten sich ausführlich ein, auch die Haare und die Stellen unter der Badehose und wuschen alles im See durch Tauchen wieder ab, wie alle es machten, die auf Hygiene Wert legten. Dem See machte es nichts, damals. Hermann schaffte locker dreißig Meter unter Wasser und erschien frisch gereinigt am Steg, sprang die Leiter hinauf und überbrückte ihn sehr zum Erstaunen der Buben und heimlich bewundert von den schon größeren Mädchen im Handstand gehend, gefolgt von einer perfekt geschlagenen Radwende mit anschließendem Rückwärtssalto. Dann schritt er lässig zurück zum Zelt.
„Das Problem ist, dass alle heutzutage Urlaub machen dürfen“, fand Hermann. „Und dass sie damit gar nichts anzufangen wissen, außer faul herumliegen und trinken.“
„Was du im wesentlichen auch nicht anders gemacht hast, gestern und heute wahrscheinlich auch.“
„Haha. Komm, wir machen etwas Sinnvolles.“
„Was denn? Kein Ruhetag heute?“
„Ruhen kannst du im Grab. Nun komm schon.“
Fritz folgte Hermann ins grüne, frische Wasser und sie schwammen am Schilf entlang in Richtung des
Ganszipfels, einer kleinen Halbinsel mit Blick auf Frauen-, Kraut- und Herreninsel.
Auf dem Weg dahin gab es immer wieder kleine Uferbereiche mit Kies und Sand verborgen vom kräftig wuchernden Schilf.
„Leise“, flüsterte Hermann und stellte sich ins Wasser, das hier nur eineinhalb Meter tief war. „Da ist jemand.“
„Na und, macht doch nichts.“
„Natürlich nicht. Aber wir können hier doch einmal Kampfschwimmer spielen und uns anschleichen. Dazu ist es wichtig, dass so wenig wie möglich von uns aus dem Wasser schaut und wir unsere Schwimmbewegungen nur unter Wasser machen und das sehr langsam. Sonst gibt es Verwirblungen und die machen Lärm. Dann müssen wir nur noch das Schilf durchdringen, ohne dass es mehr als normal raschelt. Für Old Shatterhand und Winnetou wäre das kein Problem gewesen. Das können wir auch. Um gar nicht gesehen zu werden, könnten wir auch tauchen und durch ein Schilfrohr atmen. Das lass' ich aber jetzt aus. Ich geh mal vor.“
Ohne dass Fritz Zeit für einen Einwand hatte, bewegte Hermann sich lautlos ins dichte Schilf. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als zu folgen. Nach etwa zwanzig Metern stieß er auf seinen Bruder, der in seiner Bewegung eingefroren zum Ufer starrte. Die Reaktion verstand Fritz, als er Hermanns Blick folgte. Es war in der Tat ein Schock. Vier Füße, zwei davon etwas kleiner, je zwei auf einer Seite und in der Mitte ein riesiges, glänzendes Glied, das in dem Mädchen rhythmisch verschwand und wieder hervorkam. Dazu ein schmerzhaft klingendes Stöhnen der beiden, der Rhythmus wurde schneller und abgehackter. Plötzlich bäumte sie sich auf und er machte ein lautes, hässliches „uargghh“. Sie stemmte sich hoch, wischte ihre wirren und nassen braunen Haare aus einem feinen Gesicht, das wie ihre Halspartie auffallend gerötet war. Ihr großer Busen hob und senkte sich mit ihrem schweren Atem. Der Mann umfasste ihre Brüste und knetete sie, wie es Fritz von seiner Mutter beim Kuchenbacken kannte. Er sah durchaus arisch aus, war aber ungewöhnlich braun, ein Südeuropäer vielleicht, dachte Fritz. Hermann winkte ganz vorsichtig zum Rückzug und genauso leise durchquerten sie das Schilf, um wieder ins offene Wasser zu kommen. Ungewöhnlich schweigsam waren sie sich einig, das Unternehmen abzubrechen und zurück zum Zeltplatz zu schwimmen.
Sie diskutierten das Gesehene nicht, sie erwähnten es nicht einmal, aber sie waren den ganzen Tag über gehemmt und wortkarg, was sogar Herrn Jell auffiel. „Was ist mit euch los? Hat's Ärger gegeben? Mir ist nichts zu Ohren gekommen. Dann wird’s schon nichts Schlimmes sein“, war seine Reaktion.
Sie hatten abends keine Lust, den Spirituskocher zu bemühen, um in Wasser eingerührtes Erbstwurstpulver zu erwärmen und beschlossen trotz der schon etwas klammen Finanzsituation noch einmal zum Oberleitner zu gehen.
Es gab Renke. Heute genehmigten sie sich ein zweites Bier. Plötzlich erstarrte Hermann schon zum zweiten Mal an diesem Tag.
„Schau nicht hin. Du glaubst nicht, wer da kommt.“
Fritz sah sich trotz der Warnung unauffällig um und traute seinen Augen nicht. Es waren die beiden, die sie so ungebührlich beobachtet hatten. Er hatte einen weißen Anzug mit einer roten Krawatte und elegante zweifarbige Lackschuhe und sie sah in ihrem hochgeschlossenen, schlichten, hellblauen Kleid und einer hochgesteckten Frisur wie eine Göttin aus, frei von allen menschlichen Regungen und unnahbar. Ihr Gesicht war geschminkt und hatte jetzt eine vornehme Blässe. Die beiden fielen auch bei den anderen Gästen auf, die sie mehr oder weniger anstarrten, die Frauen mit Neid im Blick, die Männer, nun ja, so wie Männer eben schauen beim Anblick einer schönen, begehrenswerten, aber niemals erreichbaren Frau. Und dann setzten sich die beiden auch noch an den Tisch neben den Brüdern. Hermann wurde abwechselnd rot und blass und ihre Unterhaltung kam endgültig zum Erliegen. Dafür konnten sie ohne Anstrengung mithören, was die beiden sagten.
„Hier ist es wunderschön. Meinst du, es gibt auch etwas Ordentliches zum Essen?“, sagte der Mann akzentfrei.
„Ich denke schon. Das auf den anderen Tellern sieht ja ganz gut aus. Ich denke, ich nehme auch so einen Fisch.“
„Die können ihn doch hier gar nicht richtig zubereiten. Aber was soll's, ich nehm' das auch.“
„Musst du wirklich morgen schon abreisen? Und dann auch noch Amerika. Da bist du doch wochenlang unterwegs.“
„Ich fahre mit dem Zug nach Hamburg und dann mit der Bremen nach New York. Die hat schon das Blaue Band gehabt mit vier Tagen und 17 Stunden. Du siehst, es ist gar nicht so lang.“
„Aber gefährlich.“
„Nein, nein, das ist nicht mehr wie vor 20 Jahren. Wir streifen keine Eisberge und wenn, macht das nicht mehr so viel aus.“
„Musst du wirklich weg? Du kannst doch auch bleiben. Deine Arbeit gefällt dir doch, oder?“
„Ja schon, aber Deutschland gefällt mir nicht mehr.“
„Aber die tun dir doch nichts und dem Land geht es jetzt endlich besser.“
„Die wollen für meine Arbeit jetzt einen Ariernachweis. Und das wird problematisch.“
„Aber du bist doch gar kein Jude, oder?“
„Nein, natürlich nicht, Gott bewahre. Aber meine Großmutter war eine halbe Roma, das macht mich zwar schön braun, aber die mögen das nicht so.“
„Du bist in Deutschland geboren, deine Eltern auch, das muss doch reichen.“
„Mag sein. Aber JP Morgan zahlt gut und der Job ist prima, weil ich dort für die deutschen Anleihen zuständig bin. Auch Rockefeller und Ford geben Deutschland Geld, viel Geld für den Aufbau und sie versprechen sich zu recht große Gewinne. Am besten ist und bleibt aber JP Morgan.“
„Und wo bleibe ich dann? Ich kann meinen Beruf doch nicht in Amerika ausüben.“
„Lerne englisch und ich hole dich nach New York.“
„Versprochen?“
„Ja, natürlich. Ich werde doch auf dich nicht verzichten, mein Engel.“
„Na gut, dann essen wir jetzt den Fisch.“
Die beiden waren schon gegangen, als Hermann und Fritz sich noch ein drittes Bier bestellten.
„Hast du gesehen, wie die den Fisch zerfleddert haben? Brrr. Und der hat auch noch frech behauptet, dass sie hier den Fisch nicht zubereiten können.“
„Stimmt, Mandi. Keine Bildung haben die.“
„Ich hab's gleich gesehen, das war kein Arier.“
„Aber er sieht verdammt gut aus. Finde ich.“
„Mag sein. Aber stell dir vor, die bekommen Kinder. Wie werden die daherkommen, gescheckt vielleicht?“
„Aber die sind dann schon in der dritten Generation deutsch. Das reicht für die Vorschriften.“
„Aber das Romablut bleibt.“
„Wer ist denn dann deiner Meinung nach richtig deutsch? Sag doch mal.“
„Die Frage versteh' ich nicht.“
„Wir stammen von den germanischen Völkern, ja. Aber da waren auch Kelten, Angelsachsen und vor allem viele Römer. Die wiederum haben sich mit Griechen, Phöniziern, Persern, Karthagern, Etruskern und was weiß ich noch alles vermischt. Wir sind eben auch nur eine Mischung. Und so lange ist das alles gar nicht her.“
„Wusstest du eigentlich, warum Adam und Eva keine Chinesen sein konnten?“ Hermann grinste.
„Nein, wieso?“
„Als ihnen von der Schlange der Apfel der Erkenntnis angeboten wurde, hätten die die Schlange gegessen.“ Es war der einzige Witz, den Hermann sich merken konnte.
„Hahaha. Aber im Ernst: Die ersten Menschen kamen angeblich aus Afrika. Das werden doch keine Neger gewesen sein. Unvorstellbar der Gedanke. Ich versteh das nicht wirklich. Die hätten doch dann langsam immer mehr blass und blond werden müssen, als sie vom warmen Afrika in den kalten Norden ausgewandert sind. Wie soll das denn gehen? Vielleicht sind die Menschen ja auch hier entstanden.“
„Das wäre aber dann eine ganz andere Spezies. Die könnten sich doch dann gar nicht mischen.“
„Das wäre auch gut so. Dann blieben wir leichter reinrassig.“
„Also, ich blicke da nicht durch. Dass die Menschen vom Affen abstammen, wie Darwin meint, mag ja bei den Negern stimmen. Die haben schon eine gewisse Ähnlichkeit. Aber wir sehen doch völlig anders aus, oder?“
„Lassen wir es gut sein, Mandi. Wir wissen es einfach nicht. Wir sind arisch, zumindest sagt das unser Ariernachweis. Wir haben es also amtlich. Und was amtlich ist, ist damit auch richtig. Lass uns schlafen gehen.“
Die restlichen Urlaubstage verliefen ohne aufregende Ereignisse, aber sehr sportlich. Sie liehen sich beim Oberleitner ein paar Mal zwei Chiemseeplätten, diese eleganten, lang gestreckten Holzkähne mit dem typischen trapezförmigen Luggersegel und fuhren Regatta um die Inseln. Von hier konnte man im Süden bei Bernau auch die riesige Baustelle sehen, auf der das Rasthaus entstand, eine Einrichtung, die den Menschen auf der Autobahn nach Salzburg einen willkommenen Anlass für eine Wohlfühlpause bot. Fritz gewann auch einmal das Rennen, als er den kürzesten Weg wählte, während Hermann taktisch klug um die Herreninsel weit ausholte, um nicht in den Windschatten zu geraten. Leider schlief der Wind plötzlich ein und nach einer Stunde dümpelte Fritz als Erster über die gedachte Ziellinie zwischen ihrem Campingplatz und Urfahrn.
„Falsche Taktik, Mandi. Ich war besser.“
„Du hast nur Glück gehabt.“
„Das Glück des Tüchtigen.“
„Von wegen. Die dümmsten Bauern... das ist der passende Spruch.“
„Friede?“
„Revanche.“
„Nächstes Jahr, Mandi, da ist der Wind dann auch vorschriftsmäßiger, denke ich, wenn es so weitergeht.“
„Lass so etwas niemanden hören, das könnte als defätistisch ausgelegt werden.“
„Als was?“
„Vergiss es.“
„Falsches Wort, glaub' ich.“
Alles war in die Anhänger gepackt und sie machten sich mit ihren Rädern auf den Weg nach Hause, am Ende quer durch München nach Pasing, wo sie schon von ihren Eltern und Geschwistern erwartet wurden.
„Heute Abend hat die Mutter gefüllten Kalbsbraten mit Spätzle gekocht und dann könnt ihr von euren Abenteuern berichten. Wir sehen uns alle um acht bei Tisch“, sagte ihr Vater nur.
Zwei Ereignisse ließen sie in ihrem Bericht aus, ohne sich vorher abzusprechen.
„Und, was habt ihr in eurem Urlaub gelernt?“
„Der Hermann hat mir gezeigt, wie Kampftaucher arbeiten“, Hermann sah Fritz erstaunt an, der aber keine weiteren Details preisgab, „und Regattasegeln hab' ich auch von ihm richtig gelernt.“
„Nun ja“, sagte der Vater, „das ist auch etwas. Gretele und Trudele, ihr könnt der Mutter jetzt in der Küche beim Abwasch helfen. Hans, ich weiß, du hast eine Chorprobe und musst noch nach Oberammergau. Du kannst dann gehen. Grüße von Walter, er wird aus Essen übermorgen zurück sein und seine Proben dann aufnehmen. Er gibt bestimmt einen wunderbaren Erzengel Michael. Und Ihr beiden jungen Männer, ihr geht mit mir in den Salon. Ich habe mit euch zu sprechen.“
Der Salon war ein Wintergarten, dessen Höhe die ganze Westseite ihres Hauses einschloss und der sie mit seinen Palmen, Orchideen und großen Rhododendronsträuchern in ein tropisches Kolonialreich versetzte. Fritz liebte diesen Raum und war dort schon immer als Kind unterwegs, um gegen Riesenschlangen und wilde Raubkatzen zu kämpfen und arme, zurückgebliebene Indianervölker zu beschützen. Ihre getigerte Katze, mit dem phantasievollen Namen Mieze musste so manchen Angriff aushalten und rettete sich häufig in die für Kleinfritzchen unerreichbaren Palmenkronen.
„Bitte setzt euch, ihr seid bald erwachsen und deswegen dürft ihr mit mir auch eine Zigarre rauchen. Ihr habt das noch nie gemacht, also zeig ich es euch.“ Sie waren schnell lernende Schüler.
„Halt, Hermann, nicht einatmen, nur paffen. Einatmen ist etwas für die Zigaretten rauchende Unterschicht.“ Der Hustenanfall Hermanns gefährdete beinahe den Verbleib des guten Essens in seinem Magen.
Ihr Vater wartete geduldig, bis Hermann wieder normal atmete. Dann folgten beide der Bewegung ihres Erzeugers und lehnten sich entspannt, ein Glas Portwein in der Hand, in den weißen Korbstühlen zurück, fühlten sich aufregend erwachsen und harrten der Dinge, die ihnen gesagt werden sollten.
„Was haltet ihr von Hitler?“
Schweigen. Fritz ergriff schließlich das Wort. „Ich habe mir noch keine Meinung gebildet. Am Campingplatz war alles wie früher. Und sonst waren die Leute auch nicht anders.“
„Außer dass uns in München eine Truppe braun gekleideter Männer entgegen kam im sauberen Gleichschritt“, ergänzte Hermann.
„Und? Mehr habt ihr dazu nicht zu sagen?“
„Er ist jetzt Reichskanzler, oder?“, sagte Hermann.
„Und Göring ist Innenminister. Das ist gut, er war ein Fliegerheld“, ergänzte Fritz.
„Lass mal Göring weg, Fritz. Ich möchte wissen, wie ihr jetzt die Situation in unserem Vaterland seht.“
„Ich habe nur gehört, dass es uns jetzt besser gehen wird. Aber richtig schlecht ging es uns doch bisher auch nicht, oder?“
„Ich glaube, ich muss euch erst einmal eine Lektion in Geschichte geben. Ihr seid doch keine dummen Arbeiterkinder, ihr müsst euch für die Geschichte und die Politik interessieren. Also, hört genau zu.“
Sie saßen da, wie sie auch schon vor Jahren andächtig da gesessen hatten. Da waren sie nur kleiner und hatten keinen Portwein, sondern Himbeersirup in Wasser. Ein Getränk, das sie immer noch mochten und heimlich von ihrer Mutter bekamen.
„Wenn ihr so wollt, haben wir jetzt wieder einen Kaiser. Kaiser sind gut, sie führen, sie sind gerecht und sorgen für ihre Untertanen. Nur ist er diesmal vom Volk gekommen und nicht als Sohn einer degenerierten, durch Inzucht verdorbenen Familie. Ob er das Zeug dazu hat, wird sich zeigen. Das mit der Demokratie ist gottlob auch schnell wieder vorbeigegangen. Das kann nicht funktionieren.“
„Wieso eigentlich nicht?“, warf Fritz ein. „Die Menschen wissen doch am besten, was die Menschen wollen und brauchen.“
„So, wissen sie das? Frag doch einmal einen ungebildeten Tagelöhner, was er will. Er wird dir sagen, mehr Geld, damit er sich mehr Bier kaufen kann. Und wenn du ihm beibringen willst, dass er etwas für seine Bildung tun muss, damit er eine bessere Arbeit bekommt und damit dem Volke auch besser dienen kann, wird er dir rotzfrech erzählen, dass ihm das Volk egal ist und er lernen langweilig, überflüssig und mühsam findet. Und der soll wählen können? Er wird die wählen, die ihm das meiste Bier für am wenigsten Geld versprechen.“
„Das leuchtet mir ein. Aber wie wäre es, wenn nur ausgesuchte Menschen mit Bildung an die Macht kommen dürften?“
„Darüber haben die alten Griechen schon nachgedacht. Man nannte das Oligarchie. Aber wer soll die auswählen? Früher waren das die Stärksten und Intelligentesten, gestählt durch den Kampf. Heute haben die Reichen die Macht.“
„Weil sie sich, wie die Fürsten früher, eine eigene Streitmacht leisten können, oder?“ Hermann wollte sein Verständnis zeigen.
„Streitmacht nützt heute nicht mehr. Das funktioniert anders, mit Geld nämlich.“
„Aber es muss doch eine gute Möglichkeit geben, das Volk an der Entscheidung über ihre Regierung zu beteiligen und ihnen nicht einfach Leute vorzusetzen, die keine Ahnung haben, äh.. was man Gutes machen müsste.“ Hermann war jetzt sehr aufmerksam.
„Der damalige preußische Innenminister von Rochow, hat einmal gesagt, dass es sich für einen Untertanen nicht gehöre, die Handlungen des Staatsoberhauptes an den Maßstab seiner beschränkten Einsicht anzulegen. Quod licet Jovi, non licet bovi, wussten schon die alten Römer. Ich lese euch einmal etwas vor. Passt auf:
'Man muss bedenken, aus welch jämmerlichen Gesichtspunkten heraus sogenannte Parteiprogramme normal zusammengeschustert werden und von Zeit zu Zeit aufgeputzt und umgemodelt werden. Man muss die treibenden Motive dieser bürgerlichen Programm - Kommissionen unter die Lupe nehmen, um das Verständnis für diese programmatischen Ausgeburten zu gewinnen.' Und weiter: 'Es ist immer nur eine einzige Sorge, die zur Abänderung der alten Programme antreibt: Die Sorge um den nächsten Wahlausgang. So wie in den Köpfen dieser Staatskünstler die Ahnung aufzudämmern pflegt, dass das liebe Volk wieder einmal revoltiert oder aus dem Geschirr des alten Parteiwagens entschlüpfen will, pflegen sie die Deichsel neu anzustreichen.' Und etwas weiter: 'So greifen sie zu den alten Rezepten, bilden eine „Kommission“, horchen im lieben Volk herum, beschnüffeln die Presseerzeugnisse und riechen so langsam heraus, was das liebe, breite Volk gerne haben möchte. Jede Berufsgruppe, jede Angestelltenklasse wird genauestens studiert und in ihren geheimsten Wünschen erforscht.' Und jetzt wird es noch besser: 'Auch die üblen Schlagworte der gefährlichen Opposition pflegen dann plötzlich reif für eine Überprüfung zu sein und tauchen nicht selten, zum größten Erstaunen ihrer ursprünglichen Erfinder ganz harmlos, wie selbstverständlich im Wissensschatz der Parteien auf.' Einmal abgesehen von der Sprache und den unpassenden Metaphern, muss ich doch sagen, dass mich diese Sätze sehr nachdenklich gemacht und letztlich dazu gebracht haben, die Demokratie für falsch zu halten. Nun, was meint ihr dazu?“
„Ich kann nur sagen, was ich immer schon gemeint habe“, sagte Hermann. „Wir brauchen einen klugen und weisen Herrscher.“
„Und wer wählt den aus?“, fragte Fritz.
„Das Volk, indem es ihn wählt.“
„Es muss aber Kandidaten dafür haben, oder?“
„Und schon sind wir wieder beim vorherigen Dilemma“, sagte ihr Vater.
„Aber wenn wir einmal einen hätten, dann könnte der doch jeweils einen Neuen benennen, einen wirklich Guten, oder?“ Hermann glaubte, die Lösung zu haben.
„Und Hitler ist der Richtige?“, fragte Fritz.
„Sympathisch ist er mir nicht, der Herr Obergefreite aus Österreich“, antwortete ihr Vater und sein Gesichtsausdruck unterstrich seine abschätzige Bemerkung, „aber das bleibt unter uns. Was mich jedoch positiv überrascht, ist, dass ehrenwerte Militärs, wie Herr Ludendorff ihn unterstützen und die Finanz- und Wirtschaftsbosse auch. Sogar Henry Ford und Rockefeller spenden ihm große Summen.“
Fritz und Hermann waren weniger erstaunt, als es ihr Vater erwartet hatte. „Wieso machen die das, die Amerikaner?“
„Darüber kann man nur spekulieren. Vielleicht hat er ihnen große Gewinne versprochen. Ich weiß es nicht. Oder die wissen, dass es ohne Demokratie einfach besser funktioniert. Ich kann's euch nicht sagen.“
„Von wem stammt das eigentlich, was du uns vorher vorgelesen hast, Vater“, fragte Fritz.
„Dreimal dürft ihr raten. Es ist von ihm. Er hat das 1926 bereits geschrieben. Als er Zeit hatte, weil er im Gefängnis saß.“ Ihr Vater lachte dabei herzhaft.
„Ach so, das ist aus 'Mein Kampf'. Dürfen wir das einmal lesen?“
„Natürlich dürft ihr. Aber versprecht mir, dass ihr kritisch dabei denkt und nicht alles so einfach hinnehmt, bloß weil er der Führer ist. Auch das dürft ihr nirgends zitieren.“
„Hast du denn etwas gefunden Vater, was falsch ist.“ Hermann war sichtlich neugierig.
„Macht euch euer eigenes Bild. Nur eins: Ich glaube, er macht einen Riesenfehler, wenn er die Juden hasst. Unsere deutschen Juden sind große Patrioten und können mit ihren Verbindungen ins Ausland sehr nützlich für das Vaterland sein. Eine Folge seines Wirkens gefällt mir natürlich gar nicht. Man hat meinen Verlag geschlossen. Der Fränkische Bote hat uns ernährt, weil ich als Redakteur fest angestellt war. Ich dürfte jetzt für den Völkischen Beobachter schreiben, das ist das Parteiorgan oder für den widerlichen Stürmer von dem Julius Streicher. Dessen Einstellung mag ich nicht. Das ist mir zu einseitig und zu polemisch.“ Die wirtschaftliche Konsequenz dieser Aussage wurde den beiden Jungen nicht bewusst. Der Vater machte das schon alles und sorgte für die Familie.
„Hitler hat in seinem Buch in diesem Zusammenhang auch noch etwas sehr Interessantes geschrieben, was mir einleuchtet.“ Ihr Vater schlug 'Mein Kampf' auf. Er hatte einen Zettel auf die gewünschte Seite geklemmt.
„Hört zu, hier auf Seite 262:
'Man kann die Leser', der Presse meint er, 'in drei Gruppen einteilen:
Erstens in die, die alles was sie lesen, glauben; zweitens in solche, die gar nichts mehr glauben; drittens in Köpfe, welche das Gelesene kritisch prüfen und danach beurteilen. Die erste Gruppe ist ziffernmäßig weitaus die Größte. Sie besteht aus der großen Masse des Volkes. Sie kann aber nicht etwa in Berufen benannt werden, sondern höchstens in allgemeinen Intelligenzgraden.'
Weiter schreibt er, dass diese unkritische Haltung von Vorteil sein kann, wenn man diese Menschen mit ernster und wahrheitsgemäßer Aufklärung versorgt. Von Unheil ist es, wenn sie durch Lumpen und Lügner besorgt wird, die nur die Höhe ihrer Auflagen im Kopf haben. Die zweite Gruppe hält er für zwar klein, sei aber aus Leuten zusammengesetzt, die ursprünglich zur ersten Gruppe gehörten, aber dann zu oft enttäuscht wurden. Diese Menschen wären schwer zu behandeln, weil sie auch Wahrheiten gegenüber misstrauisch sind. Die dritte Gruppe sei die weitaus kleinste. Sie besteht aus den wirklichen geistigen Köpfen der Nation. Der Autor hat bei denen keinen leichten Stand und deswegen würde er diese Leser auch nur 'mit Zurückhaltung lieben'“. Hier lachte der Vater auf. „Nicht schlecht, der Herr Hitler, oder? Er bedauert es auch, dass die so wenig sind und dass die Macht der Majorität gehört. Das wäre ein Unglück für das Volk.“
„So habe ich Hitler noch gar nicht gesehen“, sagte Fritz.
„Du hast bisher überhaupt keine Meinung von ihm gehabt. Ganz am Anfang hat er auch geschrieben, wie unselig es war, dass im Kaiserreich die Untertanen zu allem, was der Kaiser sagte, demütig genickt und alles akzeptiert haben, auch den größten Unsinn, nur weil das Wort vom Kaiser kam. Da ist schon viel Wahres dran.“
„Und bei ihm soll man das nicht, sondern kritisch seine Meinung sagen?“
„So hab ich das verstanden, ja.“
„Aber ich kann sie ihm ja gar nicht sagen, sondern höchstens unserem Blockwart oder vielleicht dem Zellenleiter von unserem Stadtteil, das ist der Herr Meier mit e i, der geht noch, aber der Blockwart, der Bauer Gusti, der ist, mit Verlaub Herr Vater, ein kompletter Idiot.“
„Ja ja, wie Hitler seine Macht organisiert, ist schon nahezu perfekt. Aber er bräuchte dazu auch die perfekten Leute. Nicht alle sind Asketen und Vegetarier wie er. Eines scheint mir noch sehr wichtig zu sein: Hitler ist der Meinung, das man nicht nur auf den Willen des Volkes achten darf, sondern dass man vielmehr dem Volk eine Richtung geben muss mit hohen Zielen, die nichts mit Geld und persönlichem Reichtum zu tun haben. Hier kommt den Lehrern eine besondere Verantwortung zu. Fritz, du hast wie Walter und Hans den richtigen Beruf gewählt. Aber auch du, Hermann, als Lithograph bist du für unser Volk sehr wichtig. Gute Landkarten werden noch eine große Rolle spielen, befürchte ich.“ Den letzten Nachsatz verstanden sie nicht.
„Und zum Schluss zwei Aspekte, die ich auch für wichtig halte, gerade in unserer neuen Zeit. Ich nehme das aus dem Parteiprogramm der NSDAP. Ein Zitat des Punktes 20:
'Um jedem fähigen und fleißigen Deutschen das Erreichen höherer Bildung und damit das Einrücken in führende Stellungen zu ermöglichen, hat der Staat für einen gründlichen Ausbau unseres gesamten Volksbildungswesens Sorge zu tragen. Die Lehrpläne aller Bildungsanstalten sind den Erfordernissen des praktischen Lebens anzupassen. Das Erfassen des Staatsgedankens muss bereits mit Beginn des Verständnisses durch die Schule Klammer auf Staatsbürgerkunde Klammer zu erzielt werden. Wir fordern die Ausbildung geistig besonders veranlagter Kinder armer Eltern ohne Rücksicht auf deren Stand oder Beruf auf Staatskosten.'
Und noch ein paar Zitate, ich kann das auswendig:
'9. Alle Staatsbürger müssen gleiche Rechte u. Pflichten besitzen. 11. Abschaffung des arbeits- und mühelosen Einkommens und Brechung der Zinsknechtschaft oder 14. Wir fordern Gewinnbeteiligung an Großbetrieben. 15. Wir fordern einen großzügigen Aufbau der Alters-Versorgung. 16. Wir fordern die Schaffung eines gesunden Mittelstands und seine Erhaltung. Sofortige Kommunalisierung der Groß-Warenhäuser und ihre Vermietung zu billigen Preisen an kleine Gewerbetreibende, schärfste Berücksichtigung aller kleinen Gewerbetreibenden bei Lieferung an den Staat, die Länder oder Gemeinden.'
Das ist doch alles gar nicht so schlecht, wenn man die Brut der Reichen sieht, die nur vom Geld ihrer Vorfahren leben, das sie verleihen und dafür so hohe Zinsen verlangen, dass sie ein prächtiges Einkommen haben, ohne den Finger zu rühren. Oder sie spekulieren mit dem Geld. Wenn sie ein paar Millionen verlieren, was macht's schon. Die Spekulationsopfer sind ihnen völlig gleichgültig, sie kennen sie ja gar nicht. Sie sind verdorben durch Vergnügungssucht und sinnlose Zeitverschwendung in geradezu obszönem Reichtum. Und außerdem denken nicht nur wir so. Hört euch einmal an, was Franklin D. Roosevelt, der jetzt amerikanischer Präsident ist, gesagt hat. Ich habe das hier aus der Frankfurter und die ist sehr seriös:
'Was auch immer wir tun, um unserer maroden Wirtschaftsordnung Leben einzuhauchen, wir können dies nicht längerfristig erreichen, solange wir nicht eine sinnvollere, weniger ungleiche Verteilung des Nationaleinkommens erreichen… die Entlohnung für die Arbeit eines Tages muss – im Durchschnitt – höher sein als jetzt und der Gewinn aus Vermögen, insbesondere spekulativ angelegtem Vermögen, muss niedriger sein.' Und weiter:
'Die Demokratie ist bei verschiedenen großen Völkern verschwunden, nicht deshalb, weil diese Völker die Demokratie ablehnen, sondern weil sie der Arbeitslosigkeit und Unsicherheit müde geworden sind, weil sie nicht mehr zusehen wollten, wie ihre Kinder hungerten, während sie selber hilflos dasaßen und mit ansehen mussten, wie ihre Regierungen verwirrt und schwach waren ... Wir in Amerika wissen, dass unsere demokratischen Einrichtungen bewahrt werden ... Aber um sie zu bewahren, müssen wir den Nachweis führen, dass die demokratische Regierungsform in ihrer praktischen Arbeit der Aufgabe, die Sicherheit des Volkes zu schützen, gewachsen ist.' Und genau das Letztere funktioniert nicht, mein lieber Herr Roosevelt. Hitler weiß das und kann es besser machen.“
Er hatte sich in Rage geredet, was die beiden Jungen ziemlich erstaunte, weil sie ihn so nicht kannten.
„Aber das sind doch die Parolen der Sozis, oder?“ wendete Fritz ein.
„Wisst ihr, was Hitler einmal gesagt hat? Jeder war einmal Sozialdemokrat, also ich auch.“
„Warum bekämpfte er dann zum Beispiel die SPD?“
„Weil sie eine internationale Vereinigung des Sozialismus wollen und gar nicht merken, wie ihre 'Freunde' aus Frankreich gegen die Deutschen polemisiert haben. Und ein ganz praktischer Grund: Sie wollen den Versailler Vertrag und damit die deutsche Kriegsschuld anerkennen, was enorme Reparationszahlungen zur Folge gehabt hätte und die Deutschland in den Bankrott getrieben hätten.“
„Also waren die ein wenig zu blauäugig.“
„So kann man das nennen. Ich nenne das eher dumm. Aber jetzt Schluss damit. Ich hoffe, euch genügend Anregung gegeben zu haben, damit ihr zu der dritten Gruppe gehören werdet. Nur meine eigenen Artikel, die müsst ihr kritiklos glauben.“ Alle lachten, auch weil sie eine Nähe spürten, die in ihrem Leben bisher noch selten so intensiv war. „Und denkt immer daran: Ihr sollt Adler sein und Apila non captat muscas.“ Er sah Hermanns fragenden Blick. „Ein Adler fängt keine Mücken.“
„Bist du eigentlich schon Parteimitglied, Vater?“, fragte Hermann.
August Klein sah ihn lange nachdenklich an. „Ich überlege noch“, sagte er dann und gab sich einen Ruck. „Noch etwas ganz anderes, wofür ihr jetzt groß genug seid. Es geht um das Zusammenleben in der Ehe. Ihr habt euch zwar noch niemanden ausgesucht, aber man sollte dazu schon einiges vorher wissen. Ich überlasse das einem Fachmann und gebe euch das Buch 'Die vollkommene Ehe' von van de Velde. Er hat das 1926, also vor acht Jahren geschrieben, aber es ist immer noch gültig und sehr umfassend. Lest es und kommt aber nicht auf falsche Ideen, es gibt im Leben wichtigeres. Und nun sollte einer von euch mit mir noch eine Partie Schach spielen. Wer möchte?“
Hermann überließ Fritz mit einer großzügig wirkenden Geste das Schlachtfeld. In Wirklichkeit war er kein Freund des königlichen Spiels. Herumsitzen und Nachdenken war nicht seine Lieblingsbeschäftigung.
Ein unerwarteter Zug überraschte August sichtlich. Er rieb sich die Stirn und grübelte lange. Es war ein ungeschriebenes Gesetz, dass sie während einer Partie nicht redeten. Auch die Zeit zum Nachdenken wurde nicht durch eine tickende Uhr eingeschränkt. Dann kam sein Zug, den aber Fritz mit einer wieder überraschenden Gegenmaßnahme parierte. Übersehen hatte er den Läufer seines Vaters, der aus der linken Ecke schräg über das Spielfeld seine Dame aus dem Rennen warf. Von da an, hatte er trotz dreier Bauern, mit denen er im Vorteil war, keine Chance mehr.
„Es nützt nichts, wenn man ein paar Bauern gewinnt, wenn man mit seiner Hauptwaffe nicht sorgsam umgeht, mein Sohn. Ich gebe dir einmal mein Schachbuch von Dufresne. Das ist schon aus dem vorigen Jahrhundert, aber immer noch das Standardwerk. Lass uns schlafen gehen, es ist schon spät.“
Als Fritz zu Hermann kam, schlief der ganz und gar nicht. Er lag mit rotem Kopf da und starrte gebannt in das beige Buch mit dem rot unterlegten Titel.
„Das ist jetzt richtig blöd“, sagte er, „wo's spannend wird, ist es auf Latein. Hör mal:
Habitus in genuo: Feminam: Irritatio magna posterioris vaginae; feminae genibus et cubitis sustentatae etiam clitoris irritatur. Virum: Magna irritatio partis superioris glandis et totius dorsi penis. Femina magnis anteflexa irritatur pars inferior corpus penis frictione cum arcu pubis et clitoride. Übersetz mir das mal, du hast das schließlich gelernt.“
„Ich versteh' davon auch nichts. Komm, lass uns schlafen“. Fritz war nicht in der Stimmung, mit Hermann über Sex zu reden und außerdem verstand er den Text auch nicht richtig.
„Das meiste ist schon deutsch. Zum Beispiel ist mir jetzt klar, warum die Juden beschnitten werden. Ich dachte immer, das wäre etwas Religiöses, dabei geht es nur um Hygiene. Mag sein, dass das sinnvoll ist, wenn man keine Gelegenheit hat sich zu waschen, wie in der Wüste.“
„Mit dem Schweinefleisch ist das genauso.“
„Was? Wie? Was hat das mit dem Schweinefleisch zu tun?“
„Das Verbot es zu essen, hat seinen Grund im häufigen Befall von Schweinen mit Trichinen oder so.“
„Ach, das meinst du.“
„Jetzt leg das Buch weg und lass uns schlafen, Mandi. Ich bin müde. Gute Nacht.“
„Gute Nacht, Fritze. War ein langer Tag.“