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Kap.22 Stavanger - Sola

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Die Flugzeuge rollten in einer langen Reihe heran. Ihr tiefes Brummen füllte gleichmäßig den Raum. Eines nach dem anderen drehte sich auf der Stelle und stoppte. Stille. Die großen Räder unter den Flügeln waren wie mit dem Lineal ausgerichtet. Eine gute Formalausbildung war schon immer das A und O, fand Fritz. So kann man sie viel leichter kaputt schießen. Mit einem einzigen Anflug eines kleinen Jagdflugzeugs. Chaotisch abstellen wäre erheblich sicherer. Sähe aber undiszipliniert aus. Nicht im Stil des herrschenden deutschen Geistes. Geistes. Ha.

Die Mannschaften verließen gerade ihre Maschinen und strebten gelassenen Schritts sternförmig dem einzigen festen Gebäude zwischen den Hangars zu. Ihnen entgegen strömte eine Horde von Warten, die kurz anhielten, um sich mit den Fliegern zu unterhalten und sich dann in Gruppen von Zweien auf die Maschinen verteilten.

Es waren schöne Ju88 und auch ein paar He111. Je näher sie kamen, desto mehr fiel auf, dass nicht alles stimmte. Es sah aus, als ob bei einigen ein paar Stofffetzen herunterbaumelten, bei einer schien ein Seitenruder kürzer. Sie erreichten die Erste und was Fritz da sah, ließ ihn erstarren. Eine gerade Linie von ausgefransten Löchern lief von der Flügelvorderseite bis zum Querruder und hatte dessen Ende zersplittert. Großartige Ingenieurskunst, die das Flugzeug immer noch manövrierfähig gehalten hatte. Wie weit ist das möglich, überlegte er und fand dann, dass er darüber besser nicht nachdenken sollte.

Bei der nächsten Maschine fehlte einfach ein kurzes Stück des Flügels, die Spantenkonstruktion war neben einem Wirrwarr von Kabeln und ausgefransten Drähten deutlich zu sehen, dann kamen ein paar anscheinend Unversehrte, aber die nächstfolgende erschütterte Fritz endgültig. Die Wand unter der Pilotenkanzel war regelrecht aufgerissen, das Glas der Schnauze völlig zersplittert und er glaubte sogar, dass da etwas Rotes heruntergelaufen war. Da war doch einer, links und rechts von Kameraden gestützt, wie besoffen in Richtung Kantine gegangen.

„Ich will jetzt sofort zu den Kameraden“, sagte Fritz.

„Wohin?“, meinte Albi.

„Na, da dort. Da gibt es doch sicher einen Kaffee.“

Es war tatsächlich das Offizierskasino. Zumindest deutete der Name über der Tür darauf hin. Das Innere ähnelte einer lieblos eingerichteten Dorfkneipe mit Holztischen und -stühlen. Das Lokal musste sich aber keine Sorgen um eine Kundschaft machen, der das Interieur herzlich egal war. Es war voll und eine Ordonnanz, nicht im feinen weißen Anzug, sondern feldgrau, balancierte ein Tablett mit vollen Biergläsern durch die lärmenden Menschen. Feiner, frischer Zigarettenrauch wallte bereits wie dünner Nebel über den Köpfen. Man hörte Sprachfetzen.

„Wo ist denn der Baumeister?“

„Keine Ahnung, er war doch hinter dir.“

„Baumeister, Baumeister“, schrie einer, sich reckend, in die Runde. Keine Antwort.

„Die Scheiß Hurricanes. Kein Problem für unsere 109, aber die 110 holen sie locker runter.“

„Ich hab sogar ein paar Spuckfeuer gesehen.“

„Die sind hier doch gar nicht.“

„Doch, da waren welche.“

„Hab' einfach alles vorher schon runtergeschmissen und nichts wie weg, die Nordsee hat gekocht. Da haben's die Fischer dann leicht.“

„Spinnst du, das erzählt man doch nicht.“

„Wir sorgen für die Ernährung der Tommies, gut nicht?“

„Den Herzog hat's voll erwischt. Hab' genau gesehen, wie die 110 aufklatschte. Kein Fallschirm, nichts. Scheiße, Scheiße, Scheiße.“

„Mein Flugplatz ist platt. Mann, hat das gequalmt. War wohl ein Tank. Das gute Öl.“

„Das nächste Mal krieg ich auch einen. Wetten? Die haben noch jede Menge an der Küste.“

„Da kam einer von vorne, stellt euch vor. Von Osten. Die 110er bringen's überhaupt nicht, wenn du mich fragst.“

„Lass man. Der Reichsjägermeister ist auf die Mühlen so stolz. Verdirb' ihm den Spaß nicht.“

„Aber die kriegen doch kein Bein an Land.“

„Dafür fallen sie reihenweise ins Wasser. Bin gespannt, wann die da oben es merken.“

„Wenn wir einen Tommi erwischen, dann fällt er ins eigene Nest. Unsere müssen im Ausland oder im Wasser runter. Ungerecht ist das.“

Fritz ging auf einen zu, neugierig und verängstigt. „Kamerad, darf ich fragen? Das war ein Kampfeinsatz, oder?“

Der schaute Fritz entgeistert an. „Was bist du denn für einer? Uniform noch nicht schmutzig gemacht, oder?“

„Wir sind heute hierher versetzt worden. Eins F 121.“

„Ah, ihr seid das. Willkommen im Club. Dann macht mal schöne Fotos vom Strand. Besser als das, was wir aus Wilhelmshaven bekommen haben. Und fliegt schön hoch, damit euch die Hurricanes nicht erwischen. Oder könnt ihr gar nicht so hoch? Denkt immer dran, die Hurricanes können nur nach hinten und seitwärts schießen. Immer schön von vorne nehmen. Gegen die Spitfires habt ihr eh keine Chance. Haben die da aber nicht viele. Sind wohl mehr im Süden. Verflixte Kisten.“

„He, Andreas“, rief ein anderer. „Komm her, wir trinken auf Herzog. Was hast du denn da für Grünschnäbel? Na egal. Die machen's eh nicht lange. Muss man sich gar nicht merken, wie die heißen.“

„Danke“, sagte Fritz leise. Er hatte gerade Menschen getroffen, die wirklich richtig im Krieg sind. Die anderen Menschen in Flugzeugen begegnen, die auf sie mit scharfer Munition schießen und die es ernst meinen. Sie wollen einen töten. Kein Spaß, keine Übung. Diese Kameraden hier sind richtige Männer, nicht solche Salonhelden wie wir, die nur auf Bälle gehen und die Mädchen mit unseren Uniformen beeindrucken wollen. Aber in wenigen Tagen werde ich auch dazu gehören. Ich kenne diese sogenannten Feinde doch gar nicht. Sie haben in ihrer Welt gelebt, genauso glücklich oder gelangweilt wie ich. Und sie haben genauso wenig Grund mich zu töten, wie ich auch. Nichts Persönliches. Verrückt, diese Menschheit. Wofür das gut sein soll, muss mir einer mal erklären. Sollen die da oben doch selber kämpfen, wenn sie unbedingt herrschen wollen. Mir ist das doch egal, wer anschafft. Was, wenn ich einfach nicht mitmache? Die Landschaft ist so groß hier, da kann man sich doch leicht verstecken. Alle müssten mitmachen, das wär's. 'Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin.' (Das Zitat wird oft Bertolt Brecht zugeschrieben, ist aber vom Amerikaner Carl Sandburg.)

Ein schriller Pfiff riss ihn aus seinen wenig hilfreichen Gedanken. Ihm fehlte zweifellos die Konditionierung auf das große Ziel von Kindesbeinen an. Aber er war ja zu alt für die HJ gewesen.

„Eins F 121 in den Raum 102, in zwei Minuten Lagebesprechung“, ertönte ein wahre Stentorstimme. Das Gebrabbel im Kasino war nur für eine Sekunde unterbrochen worden.

Der Raum 102 war eingerichtet wie ein Kino. Holzstuhlreihen und an der Vorderwand eine große weiße Tafel, auf die eine Karte geheftet war, auf der unschwer die gesamte Nordsee mit ihren Anrainern zu erkennen war. Sie nahmen wie Musterschüler in den vorderen Reihen Platz. Ihr Staffelkapitän, Hauptmann Thomas Jung schritt zur Bühne, zwei Schritte hinter ihm der Assistent Rudi Köstinger, der Fritz lächelnd zuwinkte, was den Hauptmann dazu veranlasste, Fritz regungslos kurz in Augenschein zu nehmen. Dann drehte er den Kopf zur Tür, weil ein großer, grauhaariger Major des Heeres den Raum betrat.

„Kameraden“, begann dieser noch im Gehen, „Willkommen in Sola. Ich bin ihr Standortkommandant. Der Standortkommandant hat dafür zu sorgen, dass ihr alle zu essen habt und gesund werdet, wenn ihr das nicht seid. Und das Gleiche gilt für eure Geräte. Außerdem ist er für die Sicherheit verantwortlich. Wie ihnen nicht entgangen sein wird, ist der Krieg hier in Norwegen schon seit längerem zu Ende. Aber es gibt immer noch ein paar Unverbesserliche, die das nicht akzeptieren wollen. Sie machen keine großen Probleme, aber es gibt sie und aufpassen ist daher angesagt. Geht nie ohne Waffe nach draußen und wenn möglich, nicht alleine. Wenn ihr irgend etwas Verdächtiges bemerkt, bitte sofort mit Ort, Zeit und Grund eurer Beunruhigung bei meinem Stab melden. Das ist wichtig, meine Herren Flieger. Übrigens, wir sind ziemlich sicher, dass die fast immer von den Tommies angestachelt und auch unterstützt werden. Die mögen uns nämlich nicht besonders. Ist nichts Persönliches, versteht sich. Der Engländer ist an sich nicht schlecht. Er möchte uns nur zu gern stören und, was noch wichtiger für ihn ist, er möchte wissen, was wir so treiben und was wir haben. Man nennt das gemeinhin Spionage und, glauben sie mir, sie kommt in vielfältigem Gewande daher. Insbesondere in Kleidern. Sie verstehen. Also, wenn ihr draußen seid, macht, was ihr machen müsst, aber nicht reden. Wir haben hier einen Canarismann, der die englischen Spione koordiniert. Haha. Viel weiß er aber noch nicht. Leutnant zur See, Bernd Maurer, wird sie daher des Öfteren befragen. Vertrauen sie ihm, obwohl er ein Spion ist. Hoffentlich auf unserer Seite, hahaha.

Nun noch zur Information: Das Kommando der Luftflotte 5 wird nach Oslo verlegt, ist eine schöne Stadt und weit vom Schuss, zusammen mit dem Stab des X. Fliegerkorps. Ihre Staffel bleibt hier. Ihre Aufgaben wird ihnen gleich ihr Staffelkapitän erzählen. Außerdem sind hier Staffeln des II. Kampfgeschwaders 26 und Staffeln des I. Zerstörergeschwaders 76, das sind die mit der Me110. Denen geht es nicht besonders gut, wir kriegen gar nicht so viele Mühlen ran, wie die ins Wasser schmeißen. Wir haben hier auch zwei Staffeln des 1. Jagdgeschwaders 77 mit den Me109. Die wären ein Superschutz für unsere Bomber, nur leider kommen sie nicht weit genug. Scheißlage, wenn sie meine Meinung hören wollen. Aber ich verstehe davon nicht so viel in meinem grauen Rock. Vom Heer sind hier eine Panzergrenadierkompanie und eine leichte Schützenpanzerkompanie. Die dürfen sich hier vom Krieg ausruhen. Man nennt das Sicherung des eroberten Gebiets. Und ein paar Marineleute sind auch da, die Küstenfliegergruppe 506 trefft ihr am Pier da am Nordwestende der Piste. Das sind schon Flieger, unterstehen aber der Marine. Machen mehr so in Wetter. Müsst ihr sie selbst fragen.

So. Verpflegung ist gut und wenn sie nach Stavanger fahren, finden sie jede Menge von Kneipen und Zerstreuungen. Aber Vorsicht bitte. Und ich meine nicht den Tripper. Das wär's. Wenn ihr Fragen habt, stellt sie möglichst den älteren Hasen hier und lasst meinen Standortfeldwebel in Ruhe.“

Der Major grüßte zackig und deutete mit einer Handbewegung an, dass Thomas Jung jetzt das Wort ergreifen würde. Dann ging er winkend. Ein netter Kommandant.

„So, Jungs. Es läuft so: Jeden Morgen um sechs Uhr dreißig ist Lagebesprechung. Hier in diesem Raum. Sie findet zusammen mit den Kameraden von der kämpfenden Abteilung statt. Jeden Abend um 18 Uhr ist Nachbesprechung. Die Tommies machen das genauso. Da heißt es nur anders: Briefing und Debriefing. Übrigens: Die machen keine Kampfpause für den Feif Oglock – Tee. Das ist eine Mär.

Beide Veranstaltungen sind Pflicht und kümmern sich nicht um den Sonntag. Wenn ihr von irgendeiner Vergnügung zurückkommt, müsst ihr hinterher das Formblatt für die Meldung von Ereignissen oder Auffälligkeiten ausfüllen. Davon gibt es auch keine Ausnahme, außer, wenn ihr abends bloß in die Kneipe geht. Aber auch da müsst ihr es melden, wenn euch etwas Ungewöhnliches auffällt. Sie haben den Standortkommandanten gehört. Da brauchen sie gar nicht zu stöhnen, Fähnrich Baumann, wir haben Krieg und das ist nicht lustig. Wenn wir den Krieg gewonnen haben, sieht das wieder anders aus.“

„Wann wird das sein?“, kam ein Ruf aus der zweiten Reihe. Es war Unterfeldwebel Tim Berger, der Navigator von Theo.

„Sie Witzbold. Strengen sie sich an, dann geht’s schneller.“ Der Staffelkapitän war sympathisch und der Ton erinnerte ihn an Kastlbauer und Albers und ein bisschen auch an Bergfürst, dachte Fritz erleichtert. Die Alten waren wohl alle vom selben Schlag. Desillusioniert, realistisch, aber auch mitfühlend und fürsorglich.

„Aber ernsthaft: Denkt nicht an den Krieg als Ganzes. Dafür gibt es Spezialisten. Allen voran unser oberster Feldherr mit seinen genialen Ideen und Fähigkeiten. Vertraut denen da oben, sie denken sich schon das Richtige aus. Ihr müsst nur das machen, was man euch sagt. Ansonsten funktioniert das Ganze nicht. Klar? Erst einmal habt ihr zwei Tage frei. Ja, ihr habt richtig gehört. Zwei volle Tage. Grund ist, dass sich die Rb 50/30 verzögert haben und dann erst in eure Vögel eingebaut werden müssen. Ohne die Bildgeräte seid ihr ziemlich nutzlose Kraftstoffverschwender. Und ihr kriegt noch etwas: Die K4ü von Siemens zusammen mit der Patin-Kurssteuerung PKS11 und der Dreirudersteuerung PDS. Damit ihr euch nicht so anstrengen müsst.“ Er machte eine Pause. „Ihr wisst nicht, wofür das gut ist, oder? Sie da, Fähnrich von Thann. Raten sie mal.“

„Jawoll, Herr Hauptmann. Ich entnehme den Namen, dass das etwas ist, was unsere Flugzeuge auf Kurs hält. Das, was sich unser geliebter Führer für die ganze Wehrmacht wünscht.“

„Sollte da irgendeine Ironie mitschwingen, so werde ich das geflissentlich ignorieren. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass ein deutscher Offizier, respektive Anwärter, in so einer ernsten Lage Witze reißen würde. Wie sehen sie das, Fähnrich?“

„Selbstverständlich nicht, Herr Hauptmann. Ich habe mir erlaubt, darauf hinzuweisen, wie wichtig es ist, dass alle an einem Strang ziehen und die gleiche Meinung haben, nämlich die richtige.“

„Wahrlich gut gesprochen, Herr Fähnrich. Machen sie weiter so, dann werden sie es weit bringen. Ah, noch etwas zur Nachbesprechung: Wenn ihr von einem Flug zurückkommt, werden die Fotos sofort entwickelt. Im Raum 104 haben wir einen Auswerteraum eingerichtet. Da sitzen Spezialisten von Luftwaffe, Marine und Heer und versuchen aus euren Urlaubsfotos kriegswichtige Informationen zu gewinnen. Von denen hängt ab, was die Bomber als Nächstes tun sollen. Ist also enorm wichtig, dass ihr scharfe Fotos schießt an den richtigen Stellen. Und während dieser Auswertungen haltet ihr euch bereit für Fragen. Könnte wichtige Zusatzinformationen liefern. Viele Flüge müsst ihr auch machen, um das Wetter zu beobachten. Dazu bekommt ihr auch noch weitere Geräte in eure Mühlen. Wird euch dann im Detail erklärt werden. Und jetzt verpisst euch. Was ist, Baumann?“

„Der Major hat doch gesagt, die Marineleute machen in Wetter. Warum wir auch noch?“

„Wie schon gesagt: Das Ganze muss euch nicht interessieren. Weiß ich auch nicht. Vielleicht machen die nur das Wetter für die Schiffe. Keine Ahnung.“

„Ah, ist schon klar. Das Wetter in 3000 Meter Höhe interessiert die Schiffe natürlich nicht.“

„Mann, Baumann. Haben sie noch eine intelligente Bemerkung? Ja, Fähnrich Klein, was ist noch?“

„Ich würde gerne zum Lysefjord. Gibt es dafür eine Fahrmöglichkeit?“

„Was? Wie bitte? Das darf doch nicht wahr sein. Ja, die gibt es. Lassen sie sich einen Kübel geben und fragen sie sich durch, aber nicht kaputt machen.“ Thomas Jung schüttelte den Kopf. „Unglaublich. Halten das hier für einen Ferienaufenthalt.“ Damit ging er und warf anstelle eines Grußes die Hand nach unten.

„Was hast du vor, Fritzchen?“, fragte Albi, als sie aus dem Raum gingen.

„Ich will den Kjerak sehen?“

„Den was?“

„Das ist ein Berg oder so ähnlich am Lysefjord.“

„Spinnst du? Woher weißt du, was das ist? Und wo?“

„Karte, mein Lieber. Außerdem hat mir das jemand in Stargard gesagt, der schon da war. Muss toll sein. Gründliche Vorbereitung auf den Krieg ist alles. Du bist doch sonst so perfekt.“

„Warum nicht der Preikestolen?“, sagte Werner.

„Sagt mal, seid ihr nicht ganz dicht? Jetzt fängt der auch noch an.“

„Preikestolen ist schon toll, da geht es 600 Meter runter, aber der Kjerak mit seinem eingeklemmten Stein interessiert mich noch mehr“, sagte Fritz.

„Verrückte unter sich“, sagte Albi. „He, Ulrich, was war denn das für ein Dialog? Habt ihr eine Geheimsprache, der Jung und du?“

„Nein, lieber Albi, wieso meinst du das?“

„Na ja, das klang wie ein verschlüsselter Gedankenaustausch, vor allem das mit dem Ende gut, alles gut.“

Ulrich sah Albi erstaunt an. „Was du alles zwischen den Zeilen liest. Da muss man ja richtig aufpassen. Nein, nein, der Alte ist einfach nur in Ordnung. Das konnte man doch hören.“

„Und das hast du getestet, oder?“, fragte Fritz.

„Meine Güte, jetzt legt doch nicht alles auf die Goldwaage. Ihr seid ja zum Fürchten.“

„Fritzchen ist beim Geheimdienst, musst du wissen.“ Werner grinste.

„Werner, spinnst du?“

„Ist ja gut. War nur Spaß.“

„Ich geh' auf ein Bier. Kommt jemand mit?“, fragte Albi.

„Ja, ich“, sagte Ulrich.

„Ja, ich“, sagte Werner.

„Und zum Kjerak, kommst du da mit“, fragte Fritz.

„Nee, lass man. Ich kauf mir 'ne Postkarte.“

„Großglockner, oder?“

„Genau.“

„Na dann, bis übermorgen, Kameraden.“

„Der meint es wirklich ernst.“

Als Fritz sich aufmachte, den Kompaniefeldwebel nach einem VW Kübel zu fragen, begegnete er einem Leutnant, den er aus einer der gelandeten HE111 hatte steigen sehen.

„Herr Leutnant, darf ich sie etwas fragen?“

„Nur zu, Fähnrich.“

„Ich bin direkt aus der Schule in Stargard und habe keine Ahnung vom Krieg.“

„Jeder fängt mal klein an.“

„Wie ist das so?“

„Finden sie nicht, dass diese Frage reichlich dämlich ist?“

„Doch.“

„Also, was wollen sie genau wissen? Ich kann's mir denken. Sie wollen wissen, wie sich das anfühlt, wenn da plötzlich jemand ist, der einem an den Kragen will. Entweder hinter einer FLAK oder in einem Jäger. Stimmt's?“

„Genau das meine ich. Hat man da Angst? Und schränkt das die Reaktion ein?“

Der Leutnant lachte, aber ein bisschen mitleidiges Verständnis war auch zu spüren. „Ich kann ihnen nur sagen, wie es bei mir ist. Ich hab eine Scheißangst, bevor ich starte. Jedes Mal. Jeden Tag. Wenn ich dann in der Luft bin, ist es vorbei. Komisch, oder? Aber das Fliegen ist einfach zu schön. Können sie das verstehen?“

„Deswegen bin ich Flieger geworden.“

„Gut. Also, erst einmal fliegen sie ja völlig unbehelligt über die See. Ich schalte dabei völlig ab und ergötze mich an den Wolken, der Sonne, dem Wasser. Irgendwann kommt die Küste in Sicht. Knickebein führt uns leider dahin, wo es nicht lustig ist. Dann das Ziel, mein Bombenwerfer schmeißt die Dinger irgendwann runter, ich kümmere mich nicht darum, die Kiste wird leichter, sehr angenehm zu fliegen und dann wieder heim.“

„Und, ist das meistens so?“

„Fast nie. Die grauen Wölkchen sind nahezu immer da. Ich achte dann nur darauf, dass sie nicht auf meiner Höhe platzen. Aber die Tommies werden darin immer besser. Ist ein bisschen komisch. Aber ich denke mir nicht allzu viel dabei. Wenn's dich erwischt, brauchst du eh nichts mehr denken. Viel unangenehmer sind die kleinen Wespen, die Hurricanes und Curtisse, und jetzt auch noch Spitfires. Unser Me110 tun ihr bestes, kurven rum wie blöd, aber es hilft ihnen meistens nichts. Arme Jungs.“ Er wurde still.

„Und ihre MG's an Bord? Nützen die nichts?“

„Wir haben noch nie einen getroffen. Aber wenn meine Leute genug Wirbel machen, drehen die meistens ab. Hat bisher geklappt. Hier fliegen nicht die Besten von denen. Ich will darüber nicht groß nachdenken.“

„Und danach? Wie fühlt man sich danach?“

„Geburtstag. Noch einmal gut gegangen. Grund für eine paar Biere mehr als üblich. Und am nächsten Morgen das Gleiche von vorne, die Scheißangst vor dem Aufstehen, Frühstück kriegt man nicht runter, Bauchweh hat man auch und man will bloß nicht einsteigen. Macht man nur, weil man sich nicht blamieren will. Wenn das nicht wäre, dann hätte ich gar nichts zu meckern.“

„Danke Herr Leutnant.“

„He. Macht mal gute Aufnahmen. Dann wissen wir, wo die FLAK's sind und von wo die Jäger starten. Das wäre schon recht hilfreich.“

„Mhm.“ Fritz hatte einen Kloß im Hals und räusperte sich.

Der Leutnant grinste, grüßte lässig und ging weiter.

Aufklärer ist auch nicht besser, was die Angst betrifft, dachte Fritz. Nach den Gefühlen, wenn ein Kamerad abgestürzt war, hatte er lieber nicht gefragt. Das schien ihm doch etwas zu intim. Es ist im Grunde auch nichts anderes als das mit der Handgranate in Braunschweig und mit Oberwiesenfeld. Doch, schon anders. Diese Kameraden hatte er nicht gekannt.

Er ließ sich beim Kompaniefeldwebel, dem Stabsfeldwebel Heinrich Moltke, einen Marschbefehl für seine Urlaubsreise ausstellen. Was, sehr zu seiner Verwunderung, kommentarlos geschah, obwohl der ihn doch gar nicht kannte. Er war ein im Dienst ergrauter, alter Hase, der bestimmt nichts anderes sein wollte und es genoss, dass er eine beschauliche Aufgabe im friedlichen Sola hatte. Außerdem gab es ein Formblatt dafür.

Er traf beim Hinausgehen auf einen grau uniformierten Feldwebel.

„Grüß Gott, Herr Feldwebel. Darf ich sie etwas fragen?“

„Ob ich merke, dass sie aus Bayern sind? Ja, merke ich. Noch etwas?“

Fritz lachte. „Sind sie schon länger hier und kennen sie sich hier aus?“

„Wollen sie Saboteure und Partisanen bekämpfen? Das geht nicht mit 'nem Flugzeug. Da müssten sie schon 'ne graue Uniform anziehen und richtiger Soldat werden.“

„Versteh' schon, Kamerad. Aber es kommt noch schlimmer: Ich habe frei und wollte wissen, wie man am besten nach, Moment mal“, Fritz schaute auf einen Zettel, „nach Övstaböstölen kommt und ob man mit dem Schiff am Abend den Lysefjord wieder zurückkommt.“

„Bin ich Fahrplan oder was? Aber sie haben Glück. Ich kenn' die Tour zum Kjerak. Haben Kameraden von erzählt. Schaffen sie aber nicht an einem Tag. Die haben in Blofjellenden übernachtet. Von da sind es so 14 Kilometer bis zum Kjerak. Dann gehen sie die 1000 Meter hinunter...“

„Haben sie 1000 Meter gesagt? Lang oder hoch?“

„Hoch, natürlich, und steigen in Lysebotn in die Abendfähre. Sind auf dem Wasser auch noch mal so gut 70 Kilometer. Da kommen sie recht spät an. Sollten sie ihrem Chef sagen. Nicht, dass sie den Krieg verpassen.“

„Danke, das hilft mir schon sehr. Und wie hole ich den Kübel von Övstabö... sie wissen schon, wieder ab?“

„Gar nicht. Es gibt zweimal am Tag einen Bus nach Sinnes. Sie müssen dem Fahrer nur klar machen, dass sie in Övstaböstölen aussteigen wollen. Übrigens. Nicht in Övstabö, sondern in Övstaböstölen. Ist ein Unterschied.“

„Puh. Ich kann kein norwegisch.“

„Englisch verstehen die auch ganz gut.“

„Ich kann auch kein englisch.“

„Na dann müssen sie als guter deutscher Soldat eine Lösung finden. Aber nicht arrogant sein, die sind recht empfindlich, die Arier hier.“

„Verstehe. Wissen sie auch noch, von wo der Bus abgeht?“

„Weiß ich auch. Ist ganz nah beim Fährhafen. Die Linie 45 ist die Richtige. Nicht in den Falschen einsteigen, aber das werden sie sich schon gedacht haben.“

„Und, jetzt werde ich unverschämt, wissen sie auch noch, wann ein Bus abfährt?“

„Nein, dass weiß ich nun wirklich nicht. Aber der Standortspieß hat vielleicht einen Fahrplan.“

„Danke vielmals, Herr Feldwebel. Sie haben mir wirklich viel Mühe und Fehler erspart.“

„Noch ein Tipp, gratis. Lassen sie die Uniform am besten zu Hause. Wenn sie nichts reden, gehen sie ganz gut als Norweger durch. Und die mögen Norweger allemal lieber als uns Deutsche.“

„Verständlich, irgendwie, oder?“

„Die höheren Ziele bringen nun mal mit sich, dass es Verlierer gibt. Die hier verlieren nicht gerne.“

„Das haben Bergvölker so an sich.“

„Ach so, ja, sie sind ja ein Bayer. Damit kennen sie sich aus.“

Der Bus fuhr um halb drei. Fritz rechnete sich aus, dass er ungefähr in einer Stunde in Övsta... oder wie das heißt, sein würde. Das war gut. Jetzt musste er nur noch den VW Kübel ordentlich dicht machen. Ungehobelte Menschen könnten sonst zum Beispiel betrunken nachts auf den Sitz pinkeln, vor allem, wenn sie uns nicht freundlich gesonnen sind. Sie würden zwar danach vermutlich erschossen, aber der Sitz bliebe geschändet. Aber nein, die Norweger sind edle Arier. Die sind viel zu fein, um so etwas zu machen. Es fiel ihm ein, dass er unter erheblichem Alkoholeinfluss in fernen, jungen Jahren mit seinen Saufkumpanen durchaus etwas Ähnliches gemacht hatte. Da war die Seitenscheibe des feinen Mercedes nur einen Schlitz geöffnet. Es erforderte Geschicklichkeit, nach innen zu treffen und den Strahl da zu halten. Sie hatten sich dabei totgelacht, aber auch damals schon fand er es irgendwie nicht in Ordnung, weil das Lachen ganz sicher nur auf ihrer Seite war. Sehr unschön, nichts, woran man sich ein Leben lang erinnern musste. Nun ja, wo ist der Bus nach Sinnes?

Es stand auf einem Transparent oben auf der Windschutzscheibe. Wie bei uns, nur dass der Bus kein deutsches Produkt war. Englisch, vermutete er. Ganz sicher konnte er es nicht bestimmen, weil der Fahrer eigenartigerweise genau in der Mitte saß. Eine internationale Lösung.

Der Motor war auch nicht anders anzuhören und die Leute, die den Bus halb füllten, sahen aus wie Landsleute. Kein wesentlicher Unterschied. Es gab keine Lederhosen und keine Dirndl, dafür ein paar stark gemusterte, vielfarbige, dick gestrickte Pullover. Die hatte er zu Hause auch schon manchmal gesehen. Er wählte einen Platz direkt hinter dem Fahrer. Schließlich musste er dem rechtzeitig mitteilen, wo er halten wollte. Bitte hieß: 'Vär sa smill', danke 'takk', ja 'ja' und nein 'nei'. Vär sa smill war komisch, hoffentlich ist das richtig. Aber der Zettel mit den wichtigsten Wörtern auf seiner Stube hatte das behauptet.

Neugierig betrachtete er die nach hinten gleitende Gegend. Langsam und stetig ging es nach oben. Na klar, dachte Fritz, Övstatralala ist laut meiner Karte 625 Meter hoch gelegen und wir sind bei Null. Die Häuser waren hier bunt und aus Holz, hübsch anzusehen. Bald wurden sie seltener. Sie kamen in ein Tal mit steilen, dunklen Berghängen auf der rechten Seite und sonnenbeschienen, sanften Hängen links. Die asphaltierte Straße schien ein wenig übertrieben zu sein. Wo doch hier keiner wohnte und sicher keiner hier wohnen wollte.

Er schaffte es, dem Busfahrer mit dem Wort 'Övstaböstölen' ein Nicken hervorzulocken und setzte sich beruhigt zurück.

Der Fahrer hielt tatsächlich bei ein paar Häusern und deutete Fritz an, er solle den Bus jetzt verlassen. Fritz sagte: 'Takk' und der Fahrer nickte noch einmal. Es hatte geklappt. Viel gesprochen wird in Norwegen nicht.

Er war der Einzige, der ausstieg. Eine blaue Rauchwolke ausstoßend fuhr der Bus an und wurde schnell kleiner. In den Häusern regte sich außer einem misstrauisch blickenden, aber stillen Hund nichts. „Hallo, Hund“, sagte Fritz. Der schaute ihm nur nach, den Kopf in seine Richtung mitdrehend. Das war die einzige Bewegung, die Fritz hier wahrnehmen konnte.

Er ging einfach nach Norden. Auch ohne Weg war das dank des niederen Moosbewuchses und der lose eingestreuten Nadelbüsche, die aussahen wie die Latschen in den Alpen, leicht möglich. Der Einschnitt, ein kiesiges Bachbett jetzt ohne Wasser, führte ihn, kräftig ansteigend, in die Wildnis. Rechts ließ er einen markanten, rundgeschliffenen Felsberg liegen, wohl ein Wahrzeichen vom schönen Övstaböundsoweiter. Es war unglaublich still. Nicht einmal ein Lüftchen, das ein leises Grundrauschen erzeugt hätte, war zu spüren. Selbst der einzige Vogel hier flog lautlos weg, als er Fritz zu nahe empfand.

Nach einer halben Stunde hatte sich nichts geändert. Nur der Blick zurück zeigte ihm jetzt keine Zeichen der Zivilisation mehr.

Gut, dass ich Dosen und Päckchen aus der Soldatenration dabei habe, dachte er. Er hatte sie einem Graurock 'abgekauft'. Hermann und Wilhelmshaven fielen ihm ein. Da hatte er die Geschmacksprobe schon erlebt. Verhungern musste er also nicht. Wasser gab es laut Karte nahezu überall. Im Moment sah er allerdings keines. Er war alleine in einer fremden, nie betretenen Welt. Vielleicht war das gar nicht mehr sein Planet. Wie es wohl auf einem Planeten aussähe, der ähnliche Bedingungen hatte wie unsere Erde. Nun ja, die Zusammensetzung der Luft war hier wohl so ähnlich wie bei uns. Sonst würde ihm das Atmen nicht so normal vorkommen. Panik überfiel ihn urplötzlich. Hilflos einer feindlichen Welt mit völlig unbekannten Wesen ausgesetzt, mit einem Vorrat an grauem Kommissbrot und Tubenkäse, der nur ein paar Tage reichen würde. Dann wäre es vorbei. Hilfe war nicht zu erwarten. Nach zehntausend Jahren würde einer, der zufällig vorbeikam, sein Skelett entdecken und er wäre eine Sensation in einem naturhistorischen Museum. Er nicht selbst, nur seine Knochen. Die Vorgeschichte müsste neu geschrieben werden, weil seine Gebeine und seine beiden Zahnfüllungen auf einen modernen Menschen schließen ließen, genauso wie die Stofffetzen seines Wehrmachtrucksacks. Der würde genau so wenig verrotten wie seine Knochen und Zähne.

Ich wollte allein sein, dachte er und genaugenommen ist die Lage nicht besonders schlecht. Die Karte sagt mir, dass die Gegend genauso aussehen muss und dass somit nach weiteren zwei Stunden eine Hütte erscheinen würde, in der ich übernachten kann. Vielleicht sind da ja auch nette Wirtsleute, die schon mit der warmen Suppe auf ihn warteten. Norwegen ist ja schließlich ein gastfreundliches, zivilisiertes Land. Blaffjellenden hieß das rettende Anwesen. Das hatte der graue Feldwebel auch genannt. Was einen Namen hat, das gibt es auch. Wie alt ist meine Karte? 1930. Also ganz frisch, erst knapp zehn Jahre alt.

Vor ihm versperrte ein Teich, nein, eher ein See, den Weg. Er war bestimmt mehr als einen Kilometer lang. Zum einen beruhigte ihn der hier vorhandene Wasservorrat, zum anderen hatte er nichts dabei, um ihn sich für die Wanderung brauchbar anzulegen. Er musste dieses Wasser also ungenutzt liegen lassen. Die Frage war jetzt, links herum oder rechts herum gehen. Er musste die Richtung beibehalten, sonst würde er sich in dieser gleichförmigen Wildnis fürchterlich verlaufen.

Eine schwierige Entscheidung, wenn man keine Kriterien hat. Eva fiel ihm ein. Sie hatten doch einmal darüber philosophiert, nämlich über die Frage, wie das Gehirn es macht, wenn man keine eindeutigen Prioritäten erkennen kann. Hmm. Links herum oder rechts herum. Ein Kindervers musste helfen: Eene meene miste, es rappelt in der Kiste, eene meene meck und du bist weg. Also rechts herum. Pfiffige Kinder wussten, auf welcher Seite man anfangen muss, damit es richtig herauskommt. Der Zufall war ihm wohlgesonnen, denn nach einigen hundert Metern entdeckte er einen Pfad, der von rechts aus dem Tal kam. Das wäre wohl der richtige Anfang gewesen. Pfad bedeutet, hier war schon einmal jemand, also kein fremder Planet. Obwohl? Schluss mit dem Blödsinn.

Es ging weiter leicht bergauf und nach ein paar kleinen, beruhigenden Teichen kam wieder ein größeres Gewässer. Wahnsinn, dieses Norwegen. Da streiten sich die Münchner um einen, nein zwei blöde Seen. Der Würmsee und der Ammersee wären hier völlig bedeutungslos. Der Weg gabelte sich. Das war unerwartet. Aber beide Zinken deuteten in dieselbe grobe Richtung. Der Rechte ging am See entlang, ein glatt geschliffener, nicht allzu steiler Felshang tauchte direkt ins Wasser. Das war schön. Der Pfad war nicht in den Fels gehauen worden, aber er nutzte die flacheren Stellen geschickt aus. Man erkannte ihn nur, weil das hie und da in den Fugen wachsende Moos flach gedrückt und vertrocknet war. Wo der Mensch seinen Fuß hinsetzt, da wächst nichts mehr. Aber zur Orientierung recht praktisch.

Fritz sah unwillkürlich nach oben. Das gibt es doch nicht, dachte er überrascht. In einer schmalen Rinne war es weiß, schneeweiß. Sie war etwa hundert Meter über ihm und durch ein wenig Kraxeln leicht zu erreichen. Das musste er mitnehmen. Wehmütig fiel ihm das Skifahren ein. Im Winter muss das hier ein Traum sein. Vielleicht bräuchte man ein paar Aufstiegshilfen zum perfekten Vergnügen. Lohnte sich aber hier nicht, viel zu einsam.

Schnaufend setzt er sich neben die Rinne, nahm ehrfürchtig eine Hand voll Schnee und rieb sich das Gesicht ein. Der Südwesthang aus purem Fels lag fast rechtwinklig zur tiefer stehenden Sonne. Es war warm. Geradezu heiß. Spontan entledigte sich Fritz aller Klamotten und badete prustend im Schnee. Dann stieg er, splitternackt, weiter nach oben, erreichte einen kleinen Vorgipfel und stellte sich mit ausgebreiteten Armen der Sonne entgegen. Er musste lachen, weil er solche Fotos in einem Buch von 1924 gesehen hatte. Hans Surèn hieß der Autor und das Buch 'Der Mensch und die Sonne.' Der fuhr sogar nackt Ski. Sollte ich mal ausprobieren, obwohl, ist wohl nicht so günstig. Esoterisch verbrämte Nacktbilder waren das, mit viel schwülstigem Text, den keiner las, aber der die Fotos legitimierte. Hatten natürlich nichts mit Sex zu tun, ein Schuft, wer Böses denkt. Nur die Frauen und die Kinder waren ganz nackt abgebildet, die Männer hatten immer so ein kleines Ledersäckchen um, wer weiß warum. Um irgendwelche Gesetze einzuhalten oder um das beste Stück zu schützen oder vielleicht, damit niemand Witze über die Größe reißen konnte. Die dünne Festhalteschnur, die auch zwischen den Pobacken verlief, sah recht unangenehm aus. So, wie er da stand, so war es schön und ehrlich. Eine Wahnsinnssituation. Keiner konnte ihn sehen, er allein in der Sonne mit Fels und Schnee, entrückt. Es prickelte auf der Haut, kein Vergleich zum Eingesperrtsein in die Segnungen der Zivilisation. Er reckte sich auf Zehenspitzen hoch, breitete die Arme weit wie Adlerflügel aus und schaute heroisch in die Ferne. Und fühlte eine heftige Erektion. Das wäre ein Foto. Besser nicht.

Susi würde damit etwas anzufangen wissen. Bei den Anderen? Geli hier, wäre auch interessant. Obwohl die es fertig brächte, keinerlei Reaktion zu zeigen. Sie würde sich nicht einmal abwenden.

Die Sonne näherte sich zusehends dem Horizont, er begann zu frösteln und setzte sich, wieder angezogen, noch eine Weile träumend neben das kleine Schneefeld. Ich sollte jetzt mal die Unterkunft suchen, fand er.

Nach einer Stunde am rechten Rand des Tals entlang, kreuzte ein tieferes Quertal seinen Weg. Und da, auf halber Höhe, stand eine rote Holzhütte und ein kleiner Heuschober. Kein Licht und keine Bewegung deutete auf die Anwesenheit menschlicher Wesen hin.

Die Tür war offensichtlich verschlossen, aber es hing ein Zettel daran. Norwegisch. Der kleine Pfeil, schräg nach unten, deutete auf einen Blumentopf mit einem braunen, vertrockneten Gestrüpp. Darunter fand er tatsächlich einen Schlüssel. Der Text sagte wohl, dass man die Hütte nutzen könne. Vielleicht stand da auch der Klassiker: 'Verlassen Sie diesen Ort so, wie sie ihn vorzufinden wünschen.' Den Satz fand er immer ziemlich blöd, weil er keine Lust hatte, alles umzubauen und neu einzurichten. Aber vielleicht stand das da auch gar nicht.

Drinnen ließen die winzigen Fenster wenig Licht eindringen. Ein Stockbett gab es, einen kleinen Holztisch mit zwei Stühlen, einen Ofen und ein paar Stücke Geschirr. Es war sehr sinnvoll das Ganze, wenngleich ohne Lichtschalter und Wasserhahn. Wie im Heuschober mit Susi. Hier war aber der Zweck eindeutig, hier ging es ums Überleben in der Wildnis. Wasser! Wo war Wasser? Er schnappte sich einen der größeren Töpfe und ging wieder nach draußen. Kein Wasseranschluss zu sehen. Lediglich hundert Meter unter ihm floss ein Bach. Das war wohl die einzige Möglichkeit.

Eine halbe Stunde später hatte er angestrengt, aber erfolgreich drei Liter Wasser in die Hütte balanciert. Inzwischen war es nahezu dunkel. Licht? Streichhölzer hatte er dabei und ja, da waren Kerzen. Jetzt eine warme Suppe oder wenigstens einen Tee. Der Ofen? Nicht elektrisch, nicht mit Gas, sondern mit Holz. Ah, draußen vor der Hütte waren Holzscheite gestapelt. Ich sag's ja, die Norweger. Gute Leute.

Das Anbrennen der großen Holzscheite war schwerer, als er dachte. Keine ölgetränkte Holzwolle da, wie er es von zu Hause kannte. Sein Messer half ihm, einige Späne abzuschneiden und nach einer weiteren halben Stunde brannte tatsächlich das erste Holzscheit. Aber bis der Ofen so heiß war, dass er Wasser zum Kochen brachte, dauerte es noch eine weitere halbe Stunde.

Die Kerze auf dem Tisch, begann er mit dem Abendessen. Tee ohne Zucker, den hatten sie in der Ration vergessen, aber er war köstlich, das Wasser war eben gut, es bildeten sich keine Kalkschlieren wie zu Hause, Kommissbrot und Tubenkram. Die Vitamine fehlten komplett. Also Vitamine erst wieder morgen. Was jetzt tun? Zum Lesen hatte er nichts mitgenommen, mit der Kerze wäre das ohnehin nicht gut für die Augen. Er legte sich angezogen aufs Bett und genoss die Wärme des mittlerweile gemütlich knisternden und bullernden Ofens.

Als er aufwachte, hatte er nichts geträumt, es war nicht ganz dunkel und ziemlich kalt. Die Kerze bestand nur noch aus einem kleinen Wachsfleck und einem hässlich eingeklebten, schwarzen Stück Docht. Komisch, vorher war es doch noch finsterer. Die Uhr klärte ihn auf. Es war sieben Uhr morgens. Bewusstlos geschlafen ohne Zeitgefühl, merkwürdig. Aufstehen, duschen. Ach so. Jetzt sei ein harter, guter, deutscher Mann. Mandi wäre in diesem Augenblick munter und voller Tatendrang. Wie unterschiedlich Zwillinge doch sein konnten. Er nahm sich zusammen und torkelte hinunter zu dem lustig gluckernden Bach, nicht ohne den Wassertopf mitzunehmen. Er hatte das dringende Bedürfnis, gesäubert die frische Wäsche anzuziehen. Der Bach ist bestimmt gar nicht so kalt. Ein Irrtum. Aber er machte ihn wach und sorgte ganz unerwartet für eine glänzende Laune. Was ist das schön hier, der erste Sonnenstrahl glitzernd und funkelnd auf dem Wasser, die Hütte war noch tief im Schatten. Es roch betörend nach den Latschen und sogar ein paar Vögel waren schon in der Luft und genauso gut gelaunt wie er. Krieg? Was für ein Krieg? Wenn ich mich so umsehe, gab es nie Krieg und wird es auch nie Krieg geben. Ist ja keiner da zum Totschießen. So einfach ist es mit dem Frieden. Nun ja, so friedlich ist die Natur nicht gerade. Sieht man nur nicht.

Frühstück ist wichtig, auch wenn es dem Abendessen gleicht. Mühsam den Ofen starten, er kannte die Prozedur jetzt schon. Das ist der Vorteil des einfachen Lebens. Man hat so viel mit den lebenserhaltenden Arbeiten zu tun, dass man weder auf schwermütige Gedanken kommt noch aus Langeweile sinnlose Tätigkeiten beginnt, wie Golfspielen zum Beispiel. Oder eben Krieg.

Jetzt noch sich entsorgen. Mandi hatte dafür feste Zeiten und es funktionierte zuverlässig, 365 Tage im Jahr. Bei ihm nicht. Er versuchte, die Hütte in den Stand vor seinem Besuch zu bringen, es gelang mit einem Hauch schlechten Gewissens, weil er eine ganze Kerze und vier Holzscheite verbraucht hatte. Ohne die Logistik selbstloser Menschen würde dieses wunderbare System nicht funktionieren.

Hinunter ins Tal. Es teilte sich. Zehn Kilometer das linke Tal entlang, sagte die Karte. Zehn Kilometer, lächerlich. Weihnachtsgedächtnismarsch, das war eine Herausforderung. Hier war das Wetter schön, die Temperatur angenehm, der Weg gemütlich, das Gepäck erträglich. Zehn Kilometer sind knapp zwei Stunden, bei gutem Tempo. Zwei Stunden gut marschieren ist aber schon recht lang. Spüre ich da eine Blase? Ich, der deutsche Soldat, hart wie Kruppstahl und zäh wie Leder sollte eine Blase haben? Lächerlich. Er zog sich die Socke herunter, aber außer einer kleinen Rötung an der Ferse war da nichts. Eben. Vielleicht war nur eine Falte im Socken. Besser jetzt. Anstrengend ist das schon, das kräftige Marschieren. Ist ja auch ziemlich warm. Die Gegend war nach wie vor schön, aber genauso wie gestern. Wie lange noch? Ah, eine halbe Stunde schon geschafft. Dann sind's ja nur noch so sieben oder acht Kilometer. Er schaute nach hinten, um zu bewundern, wie weit er schon gekommen war. Sah genauso aus wie nach vorne. Bin ich völlig verrückt geworden? Freiwillig den Weihnachtsgedächtnismarsch wiederholen? Wo ich über so schöne Flugzeuge verfüge, die diese Strecke in, er versuchte es zu errechnen, in na, in etwa einer Minute zurückgelegt hätten, mühelos. So ein Schwachsinn. Es muss einen anderen Grund haben, sich so etwas aufzuerlegen. Ah ja: Der Weg ist das Ziel. Jetzt muss ich das Wandern an sich nur noch schön empfinden. Wie lange noch? So eineinhalb Stunden in diesem Tal, dann links abbiegen. Dann wird es bestimmt wieder interessanter.

Die Zeit ging tatsächlich vorüber, die Mühen und das Grübeln waren sofort vergessen. Der geplante Weg führte jetzt im rechten Winkel nach Norden, stieg an und leitete ihn auf ein Felsplateau. Flacher, glatt geschliffener, harter Fels, ein Relikt der Eiszeit, Gletscher haben das gemacht, glaubte er zu wissen. Hatte man in der Schule.

Schön zu gehen. Der wunderschöne Fels. Blitzsauber, kein Schmutz von vermoderten Pflanzen und verwesenden Tieren. Wieder hinunter zu einem Wasser, was sonst, dann wieder hinauf. Alles namenlos, vermutlich nie von einem Menschen betreten, reine unberührte Natur, die gar nicht feindselig wirkte, obwohl sie das unbedingt war. Nein, nicht feindselig, gleichgültig. Gleichgültigkeit ist schlimmer als Hass. Blöde Philosophiererei, achte lieber auf den Weg. Der Kompass war hier durchaus sinnvoll, man hätte auch den Stand der Sonne nehmen können. Aber ob sich die in Norwegen nach den gültigen deutschen Regeln richtete, war er sich nicht so sicher. Blödsinn, die Sonne war absolut international, aber die Peilung mit Uhrzeiger und Sonnenstand war ihm zu kompliziert. Und so hoch im Norden ist es vielleicht doch anders. Wieder ein Tal quer zur Fahrtrichtung, natürlich ein kleiner See am Boden, aber bestimmt hundert Höhenmeter tiefer und das Gleiche am Ende wieder hinauf. Dort vielleicht noch etwas höher. Ganz schön mühsam. Aber es konnte nicht mehr weit sein.

Das bald zu erwartende Ziel machte zuverlässig neue Kräfte frei und ließ ihn vergnügt über die Felsplatten springen. Es ist eine Lust zu leben und tun zu können, was man will. Das ist die wahre Freiheit. Warum man genau das so schön empfindet? Keine Ahnung. Ist wohl angeboren. Der Mensch ist zur Freiheit geboren, oder? Die Freude ist nicht nur schön, sie macht auch Kräfte frei und ist gut gegen Krankheiten, hatte er irgendwo gelesen. Wenn das so ist, dann sollte die Menschheit doch ihre ganze Kraft und Fähigkeit dafür einsetzen, dass alle Freude haben. Und nicht darauf, wie man andere verletzen kann.

Jetzt aber. Wenn da noch ein Tal kommt und das ist nicht der Lysefjord, dann habe ich mich verfranzt. Vor ihm lag eine weitere Felsplatte mit kleinen Furchen. Sie reichte bis zum Horizont. Weit vorne lag etwas. Etwas, was nicht zur Gegend passte. Was sagte das Fernglas? Holla. Das, was da lag, hatte kurze Hosen an, dicke, heruntergerollte Socken und Wanderschuhe. Und es sah auf den ersten Blick sehr weiblich aus.

Fritz ging, wie von der Schwerkraft gezogen, dorthin. Es lag ja auch genau in seiner Richtung. Das weibliche Wesen allein wäre durchaus ein guter Grund gewesen, seine ungeteilte Aufmerksamkeit zu fesseln. Viel aufregender war aber das, was sich am Ende des Plateaus heraushob, nämlich eine steile, dunkle, kalte Felswand. Die immer tiefer wurde, je näher er kam. So tief, dass man vorne bestimmt nicht weiter kam. Seine Schritte wurden deutlich langsamer. Dann war er nur noch zehn Meter von dem menschlichen Wesen und der Kante entfernt. Ihr Kopf hing über der Felskante. Da musste etwas höchst Interessantes sein, weil sie sich nicht ablenken ließ.

Noch zwei Schritte und dann sah er den Grund, ein tiefdunkelblaues Wasser, das die Felswand abschloss. Lysefjord. Das musste er sein.

Noch ein Schritt. Da überfiel ihn ein scharfes Ziehen, beginnend in seinen Hoden und sich nach oben fortsetzend. Das kannte er. Es war überhaupt nichts Sexuelles. Es war die plötzliche panische Angst vor einer unmittelbaren Gefahr, der man nicht entrinnen konnte.

„Meine Güte. Passen sie doch auf, die Platte ist ein wenig abschüssig und danach geht es ja steil hinunter bis zum Wasser.“ Das Kribbeln war so stark, dass er nicht mehr weiter gehen konnte.

„Stimmt. Senkrecht nämlich. Tausend Meter.“

„Was? Tausend Meter? Sagten sie tatsächlich tausend Meter. Das ist ja furchterregend.“

„Kommen sie doch her und sehen sie selbst.“

„Hmm. Moment mal, wieso sprechen sie deutsch?“

„Gelernt in der Schule. Wir hatten englisch und deutsch. Praktisch, nicht wahr?“

„Sie sprechen es fast akzentfrei.“

„Danke. Erkläre ich ihnen später. Jetzt kommen sie schon her. Von mir geht keine Gefahr aus. Die Aussicht ist unfassbar schön.“ Sie hatte sich noch immer nicht von der Kante wegbewegt.

„Ja, da haben sie recht.“

„Sie sehen es ja gar nicht richtig. Da vorne links könnten sie den Kjerakbolten sehen, wenn sie herkämen.“

„Sie können ja sogar mit dem Konjunktiv umgehen.“

„Jetzt lenken sie nicht ab und kommen sie her. Oder sind sie nicht schwindelfrei? In diesem Falle sollten sie es vielleicht lassen. Aber dann entgeht ihnen etwas.“

„Doch, doch. Ich bin absolut schwindelfrei. Wäre ja für meinen Beruf… also ich bin's.“

„Na dann.“

„Was?“

„Herkommen. Ich gebe ihnen einen Tipp. Legen sie sich auf den Bauch und schieben sich bis zu mir. Anders kann ich das auch nicht. Richtige Männer gehen bis an die Kante, setzten sich auf den Felsen und baumeln mit den Füßen über dem Abgrund. Das sind aber elende Angeber.“

Sollte er der Empfehlung folgen? Er als kühner Flieger. Nein, das ginge nicht. Er machte noch einen Schritt und sah die ganze Realität. Das Ziehen in seinem Schritt wurde sehr stark. Blitzartig ließ er sich auf den Boden fallen, drehte sich auf den Bauch und robbte zu ihr vor.

Was er sah, war wirklich atemberaubend. Tausend Höhenmeter senkrecht nach unten ist ein überwältigender Anblick. So muss sich ein Vogel fühlen oder ein Flieger. Nein, tausend Meter aus dem Flugzeug betrachtet, ist gar nichts. Da wird die Gegend nur zu einer sachlichen Landkarte. Aber so, mit starker Bindung an den Boden, die die Kraft spüren ließ, die einen hinunterzog, einen fallen lassen würde, so ist es ein außerordentlicher Sinneseindruck, pure Angst gepaart mit großem Abenteuer. Links war, ein paar Meter tiefer ein weiteres Plateau mit einem Riss in der Mitte. Und in diesem Riss steckte ein Felsbrocken.

„Es gibt auch Leute, die steigen auf den Bolten und lassen ein Foto machen. Angeber und dabei auch noch lebensmüde. Falls sie mir etwas beweisen wollen, das bitte nicht.“

Ich sollte mich wenigstens auf die Kante setzen mit den baumelnden Füssen. Aber nein, das wäre die Sache nicht wert. Schließlich könnte die Kante abbrechen. Ist ja alles der Erosion unterlegen. Außerdem muss ich der fremden Frau ja auch nichts vormachen.

„Ich schließe mich ihrer Vorgehensweise an und bleibe lieber so.“

„Gute Entscheidung. Wenn sie jetzt in einem Flugzeug säßen, wäre das gar nicht so schlimm, oder?“

„Nein. Im Flugzeug ist man völlig schwindelfrei.“ Aber nur im Flugzeug, denn ihn überfiel jetzt gerade ein gehöriger Schwindel, der ihn gewaltig nach unten zog. „Kennen sie das auch bei diesem Anblick? Man muss springen.“

„Auch ein Grund, warum ich nicht so weit vorgehe im senkrechten Gang. Genug gesehen?“

„Ja, ich denke schon.“

„Dann treten wir den Rückzug an. Ist nicht so elegant, aber beruhigend.“

Sie konnte wirklich perfekt deutsch. Gute Schule.

Zehn Meter vor der Kante hatten sie sich nebeneinander gesetzt. Jetzt konnte sie Fritz genauer sehen. Eine seidene, wegen der herrlichen Wärme weit geöffnete Bluse fiel ihm als Erstes auf. Darunter trug sie einen hellblauen Büstenhalter, der entweder zu groß war, oder ein wenig abgerutscht. Er deckte einen scharf abgegrenzten, helleren Bereich ihrer Haut auf und ließ ein wenig Platz für die Luft an ihrem Busen. Weiter konnte er nicht sehen. Hätte sich auch nicht gehört. Ein schöner Hals ohne jeden Schmuck, weiche, ungeschminkte, blassrosa Lippen, begrenzt von einem kecken Grübchen, eine klassische Nase und sehr hohe Wangenknochen, die ihre Augen schmal und dunkel, geheimnisvoll aussehen ließen. Darüber rötlich blonde kurze Haare, die wie zufällig zerzaust wirkten, aber möglicherweise stilsicher drapiert waren. Zumindest konnte man bei dem stimmigen Gesamtbild den Eindruck haben.

„Und jetzt noch die Beine“, sagte sie.

Fritz wurde rot und entschuldigte sich.

„Was ist jetzt mit meinen Beinen. Ich finde, meine Knie ganz gut, aber ansonsten sind sie etwas zu kurz. Nein, nichts sagen, this was not fishing for compliments.“

„Kann kein englisch“, sagte Fritz mit kleinkindlich bedauerndem Gesicht.

„Entschuldigung. Ich weiß nicht, was fishing for compliments auf deutsch heißt.“

„Ich auch nicht.“

Sie lachte herzlich. „Das bedeutet, ich habe das mit den kurzen Beinen nicht gesagt, damit sie sagen, das stimme nicht, sondern ich hätte perfekte Beine. Jetzt verstanden?“

„Sie haben aber perfekte Beine.“

„Enttäuschen sie mich nicht, sie, wie heißen sie eigentlich?“

„Fritz, Fritz Klein, wertes Fräulein oder gnädige Frau.“

„Fräulein ist mir lieber. Mein Name ist Nora.“

„Freut mich Fräulein Nora. Freut mich wirklich. Sie sind das i-Tüpfelchen meines Ausflugs.“ Was redete er denn da für einen Quatsch.

„Was ist das, ein i-Tüpfelchen?“

„Man kann auch Sahnehäubchen sagen.“

„Ah. Sie halten mich für eine Zutat zu einer Torte. Interessant.“

„Nein, um Gottes willen. Darf ich sie auf einen Kaffee und Kuchen einladen?“ Er lachte laut auf, nachdem er sich umgesehen hatte.

„Ja, gerne.“

„In Stavanger. Übermorgen?“

„Nein, jetzt gleich. Kommen sie.“

Nach einem kurzen Abstieg in einer steilen Felsscharte tauchte eine große Hütte auf. Die war absolut schwindelfrei, denn sie ragte mit einem Balkon über den teuflischen Abgrund.

„Adlerhorst heißt das“, sagte Nora. „Warum kann man sich denken. Ist aber keiner, weil es Kaffee und Kuchen gibt. Wir Norweger haben nur eines lieber als Kaffee und Kuchen und das ist der Alkohol. In Form von Aquavit zum Beispiel. Den lassen wir aber heute aus. Es sind immer noch 950 Meter nach unten. Außer sie wollen die Strecke in ein paar Sekunden zurücklegen. Wäre einmalig.“

Erst zählte er noch die Serpentinen, gab es aber nach einer halben Stunde auf. 950 Höhenmeter wollten auch nach unten ergangen werden. Weil er ein paar Mal falsch aufgetreten war, begannen seine Knie zu rebellieren. Nora bemerkte das und meinte, er wäre wohl recht unerfahren im Berggehen. Man müsse sich zwar fallen lassen, aber immer mit weichem Nachgeben der Knie.

„Wie beim Skifahren“, sagte Fritz.

„Theoretisch“, meinte sie. „Aber du musst es auch so machen.“

Von ganz unten sah der Kjerak gar nicht so riesig aus. Da war er wieder dieser Effekt. Von oben ist alles viel höher. Komisch. Dennoch war er froh, da nicht wieder hinauf zu müssen.

„Herr Fritz, vi hadde det hyggelig, adjö.“

„Adieu kenn' ich und der Rest war doch auch nett, oder?“

„War er. Zu deutsch so etwas wie 'wir hatten doch eine gute Zeit'.“

„Aha. Wir hatten eine schöne kurze Zeit, Fräulein Nora.“

„Adjö.“

„Auf Wiedersehen.“

Er hatte nicht einmal gefragt, wo sie jetzt hin wollte. Ging ihn ja auch nichts an. Nora und Kjerak würden ihm jedenfalls in Erinnerung bleiben. Er ging zum Fährhafen und fand da so etwas wie einen Schalter. Er wollte fragen, wann die Fähre abfährt, wann sie ankommt und was es kostet und trat näher.

„Stavanger“, sagte Fritz.

„En person?“, fragte der Mann.

Das verstand Fritz ganz gut und sagte „Ja. Ja takk“, verbesserte er sich.

„Det blir hundre og atte kroner til sammen.“

Pause. Er durchkämmte das Geräuschmuster. Ah, das Wort 'hundre'. Das klang verständlich. Er legte 100 Kronen auf den Tresen. Der Mann steckte es ein und sagte: „Og atte.“ Jetzt war guter Rat teuer. Atte, atte, könnte das acht sein? Er legte noch einmal 10 Kronen hin. Der Mann nahm es weg und gab ihm zwei Kronen und eine Fahrkarte zurück. Atte heißt also acht. Schon wieder ein bisschen dazu gelernt. Fragen, wann die Fähre abgeht, ließ er aus. Er hatte erfolgreich eine Fahrkarte erworben. Das musste fürs Erste reichen.

Fritz setzte sich auf die Hafenmauer und schaute aufs dunkle Wasser. Jetzt konnte er auch die Füße baumeln lassen.

Ruhig und gelassen kam das Schiff näher, ebenso ohne Hast legte es an und wurde festgemacht. Ein paar Menschen stiegen aus und gingen ohne den Blick zu wenden, weiter. Einige warteten schon geduldig an der Gangway und gingen erst an Bord, nachdem der Letzte ausgestiegen war. Tägliche Routine. Fritz rappelte sich hoch, schwang den Rucksack über und folgte möglichst lässig den Menschen. Ohne Worte riss der Mann in der Marineuniform seine Fahrkarte ein und bat ihn mit einer Geste an Bord.

Wie bei einem Flussdampfer, den er in einem Film über Passau gesehen hatte, gab es ein Deck mit Bänken und Tischen unter freiem Himmel. Fritz wählte einen Sitzplatz an Backbord, um den Kjerak noch lange bewundern zu können. Da oben war er gerade noch gewesen. Da oben schien auch noch die Sonne auf die Felsen. Wenn er die Zeit ein kleines bisschen zurückdrehen könnte, würde er sich selbst da oben winkend sehen. Zeit und Raum sind ganz offensichtlich untrennbar verbunden. Hat Einstein schon deutlich gemacht, glaubte er sich zu erinnern. Ohne Raum keine Zeit oder so ähnlich. Bei genauerem Hinsehen war das durchaus plausibel. Umgekehrt: Ohne Zeit kein Raum war schon schwieriger. Komische Sache, das mit Zeit und Raum. Die Geschwindigkeit verbindet beide. Alles sehr merkwürdig, er kam damit nicht weiter.

Er merkte kaum, dass das Schiff abgelegt hatte. Mit beruhigend stampfenden Dieselmotoren nahm es Fahrt auf und glitt in die Mitte des Fjords. Wie lange wird es wohl brauchen bis Stavanger. Er versuchte zu schätzen und kam auf vier bis fünf Stunden. Die Karte sagte ihm, dass der atemberaubende Anblick der senkrecht ins Wasser tauchenden Felswände noch eine Weile erhalten bliebe. Eigentlich ist er wie der Königsee, nur länger und wilder. Zu Hause war aber noch der alles überragende Watzmann zu sehen. So etwas hatten die hier nicht.

Es wurde frisch und die Landschaft änderte sich nicht wesentlich. Jeder, auch noch so sensationelle Eindruck stumpfte ab, wenn er nur lange genug dauerte. Schade, dass der Mensch so konstruiert ist. Höhepunkte dauern nie besonders lange. Er musste lachen bei dem Gedanken.

Ein angenehmer Duft aus dem Bauch des Schiffs erinnerte ihn daran, dass er sehr hungrig war und ließ ihn vermuten, dass es hier irgendwo etwas zu essen gibt. Und tatsächlich, unten war so eine Art Bar, in der verschiedene Teller zur Auswahl standen. Da gab es kleine Fleischbällchen, winzige Fleischpflanzerl, Bulletten würde Werner sagen, irgendein Fleisch, vielleicht Schaf mit Kohl und eine Art Fisch mit Kartoffeln. Er entschied sich für den Fisch. Er bekam ihn für 40 Kronen und staunte, dass auch noch ein kleines Glas mit einer wasserklaren Flüssigkeit dabei war. Vorsichtshalber bestellte er noch ein Bier mit den Worten 'Öl, takk.“ Auf die Idee mit dem Wort Öl kam er, weil das über einem Fass stand, dass einem bayrischen Bierfass recht ähnlich war. Es funktionierte.

„Wissen sie überhaupt, was sie da essen?“

„Nein, eigentlich nicht.“ Fritz schaute erst jetzt überrascht auf und sofort breitete sich ein fröhliches Grinsen in seinem Gesicht aus. „Hei, Nora“, sagte er. „wollen sie sich zu mir setzen?“

„Ich hole mir nur auch einen Lutefisk.“

„Ist das das hier, was ich habe?“

„Ja. Vi sees.“

„Was?“

„Bis gleich.“

„Ah ja. Bis gleich, ich warte so lange.“

„Fangen sie ruhig an, sonst wird es kalt.“

„Okay.“

Der Fisch hatte eine gelatineartige Konsistenz, aber schmeckte irgendwie sehr interessant. Er konnte sich nicht vorstellen, was das war. Jedenfalls nichts, was es in den bayrischen Flüssen und Seen gab. Mittlerweile hatte sich Nora ihm gegenüber niedergelassen.

„Möchten sie wissen, was sie da essen?“

„Mhm“, sagte Fritz mit vollem Mund, schluckte hastig runter und entschuldigte sich.

„Mhm habe ich schon verstanden“, sagte sie und lachte. „Also das Gelbe sind Kartoffeln.“

„Wirklich?“

„Ja klar. Das Grüne ist Erbsenpüree und die braunen Stückchen gerösteter Speck und der Fisch ist Dorsch.“

„Aber er schmeckt nicht wie Dorsch, finde ich zumindest.“

„Jaha. Dieser Dorsch wurde schon vor Monaten gefangen...“

„Ach.“

„Dann zum Trocknen aufgehängt...“

„Ach so.“

„...und dann in einer Lauge aus Wasser und Birkenasche wieder gewässert. Dann schon noch einmal gespült.“

„Beruhigend. Aber schmeckt wirklich gut.“

„Wirklich?“

„Gewöhnungsbedürftig, die Konsistenz. Aber gut. Prost, Nora.“

„Skol, Fritz.“

„Wo fährst du eigentlich hin? Darf ich überhaupt 'du' sagen?“

„Wir Skandinavier duzen uns eigentlich alle. Du darfst das ausnahmsweise heute auch.“

„Prima. Also, wo fährst du hin?“

„Nach Stavanger. Du auch?“

„Klar. Da habe ich ja mein Auto.“

„Du hast ein eigenes Auto?“

„Na ja. Es gehört mir nicht, sondern… na gut, ich kann es ja ohnehin nicht verheimlichen. Es gehört natürlich der Wehrmacht. Ich bin Soldat. Und ich würde verstehen, wenn du mir jetzt eine Ohrfeige gibst und mich wutschnaubend verlässt.“

„Was ist das für ein Wort 'wutschnaubend'?“

„Das ist eine Mischung aus Wut, das kennst du wahrscheinlich, ich meine das Wort und schnauben. Ein Stier schnaubt, wenn er wütend ist, zum Beispiel.“

„Das habe ich verstanden. Ich soll also wutschnauben.“

„Nein, natürlich nicht. Aber ich würde es verstehen.“

„Nicht alle Deutschen hier sind so verständig, oder?“

„Nein, ganz bestimmt nicht.“

„Aber du. Was machst du bei der Wehrmacht? Wenn ich das überhaupt fragen darf. Ich bin nicht ärgerlich, wenn du es nicht sagen willst.“

„Nein, ist schon Ordnung. Ich bin Pilot.“

„Oh, wie schön.“

„Ja, eigentlich ist es wunderschön. Wenn der blöde Krieg nicht wäre.“

„Wenn ich jetzt ein deutscher Spitzel wäre, dann könnte ich dir ganz schön schaden“, sagte sie lachend.

„Bist du nicht.“

„Hoho. Der Herr Soldat ist ein Menschenkenner. Respekt.“

„Sagst du auch, was du so machst?“

„Nein, ist absolut geheim.“

„Hab ich mir schon gedacht.“

„Aber dir kann ich es ja sagen. Du sprichst das nicht weiter.“

„Sagst das nicht weiter.“

„Was? Ach so, ein Lehrer.“

Fritz schaute erstaunt auf. „Das stimmt tatsächlich.“

„Haha. Ich bin zu dieser Zeit zu Hause bei meinen Eltern und helfe ihnen. Aber ich habe vorher studiert und bin eigentlich Übersetzerin. Es gibt aber gerade nichts zu übersetzen. Zumindest nicht in Norwegen.“

„Was für ein Zufall. In Wien habe ich auch eine Dolmetscherin kennen gelernt.“

„Keine Dolmetscherin. Übersetzerin.“

„Ist das ein Unterschied?“

„Aber wohl. Übersetzerinnen können sich Zeit lassen und die Sprache verbessern. Und ich lasse mir gerne Zeit.“

„Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht. Aber du könntest mir doch etwas englisch beibringen, oder?“

Nora schaute auf, eine Falte bildete sich über ihrer Stirn. „Wieso englisch? Was willst du damit?“

„Weil es die Weltsprache ist und nach dem blöden Krieg will ich weiter fliegen und dann wird man das brauchen.“

„Aber nach dem Krieg gehört euch doch die ganze Welt. Dann ist englisch doch gar nicht mehr nötig.“

„Nach dem Krieg? Die ganze Welt? Das glaub ich nicht. Ich denke eher, dass wir den ganzen Mist bald beenden und dann mit den Engländern und Amerikanern ganz gut auskommen werden und die beherrschen doch sowieso die Welt, ich meine wirtschaftlich und so.“

„Du bist ein eigenartiger Soldat, Fritz.“

„Ich sag das ja auch keinem so, keinem von unseren Leuten.“

„Ich denke, das ist auch besser für dich. Vertraust du mir so?“

„Warum nicht? Du bist doch sicher ein friedlicher und lieber Mensch.“

„Das denkst du? Wo wir uns erst ein paar Stunden kennen. Ich hoffe nur, dass du nicht immer so, wie heißt das, vertrauensvoll, bist.“

„Vertrauensselig meinst du?“

„Ja genau. Ist etwas dümmer als vertrauensvoll, oder?“

„Ja, leider.“ Jetzt mussten beide lachen und es war Fritz, als ob er in den paar Minuten ihrer Gemeinsamkeit eine echte Freundin gewonnen hatte. Oder war er einfach nur naiv. Seine früheren Autoritäten, die ihm wohlgesonnen waren, hatten das immer von ihm gesagt. Ach was. Ein Leben ohne gegenseitiges Vertrauen ist Mist. Da mach' ich nicht mit. Er lächelte Nora an und sie erwiderte es und schien ein wenig traurig dabei zu sein.

Sie saßen nebeneinander auf dem Deck, bis das Schiff die vielen Schleifen und Abzweigungen routiniert gefunden hatte und im Fährhafen festgemacht war.

„Adjö, Fritz.“

„Adjö, Nora. Sieht man sich wieder?“

„Ich habe nichts dagegen. Ich gehe oft in das Pub. Dickens, heißt das. Oh je, Ist englisch, also dein Feind. Hmm...“

„Macht gar nichts. Pub ist gut. Habe ich zumindest gehört. Und da wird ja jetzt keine feindliche Streitmacht versammelt sein, oder?“

„Natürlich nicht. Kein Engländer da. Habt ihr alle verjagt.“

„Tut mir leid. Aber wir mussten das wohl. Keine Ahnung. Ich war selber nicht beteiligt. Geht mich auch gar nichts an. Doch, tut es schon. Bin ja bei dem Verein. Ach, Nora, das ist alles ziemlich blöd. Also, du bist da oft und hättest nichts dagegen, wenn ich dich da treffe? Rein zufällig?“

„Nein. Adjö, Fritz.“

„Adjö, Nora.“

Sie gaben sich die Hand. Ihre Hand war warm und trocken, der Griff fest. Es fühlte sich gut an.

Der Kübel schien völlig unberührt. Moment mal, hinter dem Scheibenwischer steckte ein Zettel. Hatte er falsch geparkt?

'Wir sind im Melkebaren, gleich links die erste Straße. Hol uns, sonst versumpfen wir und finden nicht mehr heim.'

Im Melkebaren war es wie ihn Schwäbisch – Gmünd, oder in Riegsee oder in Stargard oder wie überall, einfach gemütlich. Viel Qualm und viel Lärm. Und wie es sich gehört, auch der Duft von Bier und Schnaps als Unternote.

Die Deutschen unter den Gästen waren leider sofort zu erkennen. Alle gleich angezogen.

„Hallo Haaalllooooo, Fritzchen. Willkommen im Land der Trolle. Des is gut hier. Stimmt's Albi, alter Indianer. Verheirateter Indianer. Dumm gelaufen, mein Freund. Hier hat's nämlich jede Menge Elf, Elfffff, Ellfenn, vaschdehsdu. Elffffn auch mit Möpsen, wenn du weiß, was ich meine, Fritzilein. Ich bleibe hier in Norrwenn. Brauch ich nich viel redn. Vaschteh mich eh niemandens.“ Er hatte doch tatsächlich eine blonde Elfe im Arm, die an bestimmten Stellen eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Almreserl hatte.

„Trolle und Elfen sind in Island, nicht in Norwegen, du ungebildeter Trottel“, warf Albi leise ein.

„Kleinlicher Krümelkacker.“

„Du bist besoffen, Werner“, sagte Fritz.

„Na klar. Der Albi auch und der Wernerzwo sowieso. Wir alle sind besoffen, gell Brunhild, oder wie du heiß.“ Brunhild drückte glucksend ihre Brüste an ihm platt. Sie verstanden sich.

„Brunilein, mein Schatz, ich muss jetz innen Kampf, ich komme wieder.“ Er drückte ihr einen Schmatz auf den Mund, was Brunhild mit Begeisterung zurückgab.

Fritz schlang den Arm um Werner's Hüfte und führte ihn hinaus. Die frische Luft verschlechterte auch diesmal den ohnehin unsicheren Gang der Kameraden. Eine Gruppe Halbwüchsiger kam ihnen auf dem Gehsteig entgegen und machte nicht Platz, wie es männliche Pubertierende eben so tun.

„Ausm Weg, Untermenschen. Hier kommd die glooorreiche Wehrmach“, grölte Werner.

„Lass gut sein, Werner“, sagte Fritz.

„Verpisst euch oder ich sag's meinem Führer. Der macht euch platt. Heilllll.“ Er machte dabei eine nicht gerade heroisch aussehende Wischbewegung.

„Werner!!! Ist gut.“

„Die verstehen ihn doch gar nicht“, sagte Albi.

„Na hoffentlich. 'Heil' kennen sie aber wahrscheinlich schon.“

„Was is jetz?“, lallte Werner.

Die Gruppe teilte sich und ging vorbei. Fritz sah ihnen nach. Einer drehte sich um und machte den Stinkefinger. Kein Wunder, dachte Fritz. Beliebt haben wir uns wahrlich nicht gemacht in diesem schönen Land.

Der grau Uniformierte, der plötzlich bei ihnen stand, sagte: „Meine Herren. Haben diese Jugendlichen sie angegriffen?“

„Nein, nein, Unteroffizier“, sagte Fritz.

„Doch, haben die“, lallte Werner. „Die hättn mich beinah auflaufn lassn.“

„Es war wirklich nichts“, meinte Fritz. „Jedenfalls nichts Nennenswertes.“

„Den Stinkefinger habe ich aber gesehen“, sagte Werner, drehte sich um und erwiderte ihn. Keiner war mehr zu sehen.

„Also haben die sie beleidigt“, konstatierte der Unteroffizier.

„Nein, nein. Das war nichts. Wirklich nicht.“

„Nehmen sie Saboteure in Schutz oder wie soll ich das verstehen? Was ist überhaupt ihr Dienstgrad?“

„Ich bin Fähnrich. Fähnrich der Luftwaffe. Und ich versichere ihnen, dass nichts Besonderes passiert ist.“

„Könn wir jetz mal weiter“, maulte Werner. „Mir is schlecht und ich muss im Bett.“

„Ja, Werner. Wir gehen jetzt zum Auto. Einen schönen Abend noch, Unteroffizier.“

Der Mann war aber schon weg. Fritz hörte einen Pfiff und das Getrappel von Stiefeln. Dann war der Spuk verschwunden.

„Das gehört jetzt nicht unbedingt hierher meine Herren“, eröffnete Jung um 6 Uhr 30 die Lagebesprechung. „Aber ich muss sie informieren, dass es gestern Abend einen Zwischenfall mit Provokateuren und Saboteuren gegeben hat. Eine Gruppe von Partisanen hat einige Wehrmachtsangehörige überfallen. Verletzt wurde niemand durch das beherzte Eingreifen unserer Sicherheitsleute. Die Verdächtigen sind bis auf einen, der entfliehen konnte, alle in Haft. Ihr seht, auch jetzt ist erhöhte Wachsamkeit gefragt. Niemals sollten sie ihre Vorsicht vergessen. Schreiben sie sich das hinter die Ohren. Wir haben eben Krieg und wir sind hier keine Touristen, nicht wahr, Fähnrich Klein. Wie war überhaupt ihr Ausflug? Lassen sie uns teilhaben, denn es wird in der nächsten Zeit keine weitere Möglichkeit dazu geben. Bericht bitte.“

„Der Weg zum Kjerak ist wunderschön und leicht zu finden. Die Hütte zum Übernachten ist schön und praktisch eingerichtet und der Kjerak selbst ist einfach fantastisch. Auch die Rückfahrt mit der Fähre ist sehr schön.“

„Sehr poetische Schilderung, Fähnrich. Man fühlt sich, als ob man dabei gewesen wäre. Freut mich, dass sie es schön fanden. Heute fliegen sie. Ja, sie haben richtig gehört. Ihr erster Einsatz.“ Er machte eine kurze sadistische Wirkpause. „Aber keine Sorge. Wir lassen sie nicht weit weg von Mamis Schoß. Wir brauchen genauere Wetterdaten. Die Instrumente dafür sind gestern in ihre Mühlen eingebaut worden. Ihr Techniker wird ihnen zeigen, wie sie zu bedienen sind. Das macht im Flug der Beobachter. Die Strecke, die sie fliegen, ist so eine Art rechtwinkliges Mäandern. Jeder von euch hat eine bestimmte Höhe einzuhalten. So bekommen die Meteorologen ein dreidimensionales Bild. Feinde gibt es dabei nicht. Ihr werdet nicht mehr als 100 Kilometer draußen auf der Pfütze sein. So weit wollen die nicht rüber kommen. Im Norden geht's bis auf die Höhe von Bergen und im Süden bis Ringköbing. Das gehört zu Dänemark. Ihr werdet so ziemlich fünf bis sechs Stunden in der Luft sein, also vorher lieber zweimal leerpissen. Den genauen Flugplan könnt ihr hier abholen. Funknavigation gibt’s für die Strecke nicht, also präzise mitkoppeln. Nur für die Landung wieder zu Hause haben wir das Übliche piep piep. Start ist Punkt Neun. So spät, weil die Meteos die Mittagsdaten wollen. Keine Ahnung warum. Die glauben, dass schlechtes Wetter kommt, aber sie wollen nicht im Dunkeln tappen. Übrigens, die sind richtig gut, diese Leute. Denen könnt ihr nichts vormachen. Die haben doch tatsächlich eine Wetterstation auf Neufundland eingerichtet. Stellt euch vor, eine deutsche Wetterstation in Amerika, paar Tausend Kilometer noch hinter England. Keiner hat's gemerkt. Ein U-Boot hat die Sachen da hingebracht. Ist dort noch einsamer als hier. Finden die nie, die Amis. Wegtreten.“

„Albi, altes Haus. Machst du das mit dem Wetter? Ich muss fransen“, flötete Werner.

„Soll doch der Fritz machen.“

„Der kann das nicht. Ist viel zu kompliziert für den.“

„Stimmt auch wieder.“

„Stimmt“, sagte Fritz. Er hatte nicht die geringste Lust, Messdaten aufzunehmen. Das würde den fliegerischen Genuss doch sehr beeinträchtigen. „Übrigens, Männer. Die haben doch nicht uns gemeint, oder?“

„Was meinst du?“

„Das mit dem Überfall.“

„Quatsch. Das war doch kein Überfall.“

„Eben.“

„Fähnrich Klein, bitte sofort ins Zimmer 108“, rief ein Obergefreiter in den Flur.

„Wieso?“, sagte Fritz, als er hinausgetreten war. „Ich muss gleich fliegen. Es ist schon Viertel nach acht.“

„Ich habe nur meine Befehle.“

„Bitte, setzen sie sich, Fähnrich. Es geht ganz schnell. Mein Name ist Maurer, Bernd Maurer.“

„Ah. Marine? Canaris, oder? Alles Mariner.“

„Wenn sie so wollen. Also bin ich schon avisiert worden.“

„Ja, sicher. Man hat ihren Namen genannt und ihre Aufgabe auch. Womit kann ich dienen?“

„Sie haben ja schon wertvolle Dienste in Wien geleistet...“

„Ach? Da wusste ich ja gar nicht.“

„...und deswegen möchte ich sie bitten, auch hier die Augen besonders aufzuhalten. Wir haben noch kein Bild, nur ein paar Verdachtsmomente. Aber wir sind sicher, dass die Engländer hier sehr interessiert sind. Schließlich überfallen wir sie von hier aus im eigenen Land. Die haben so eine Eigenart, jede Information zu sammeln, auch wenn sie uns gar nicht so wichtig erscheint. Man kann einen Gegner nur besiegen, wenn man ihn ganz genau kennt. Sagen die.“

„Leuchtet ein.“

„Bitte halten sie die Augen auf.“ Das war wohl sein Lieblingsausdruck. „Es ist nicht auszuschließen, dass auch eigene Leute angeworben wurden.“

„Sie meinen, ich sollte auch den Kameraden nicht trauen? Das ist aber unschön.“

„Krieg ist nie schön. Das brauche ich ihnen als Frontmann aber nicht zu sagen.“

„Stimmt.“ Fritz fühlte sich richtig gut.

„Also, die eigenen Leute und fremde Frauen. Das sind die wesentlichen Gefahren. Fremde Männer machen sich nur in bestimmten Fällen an unsere heran, sie verstehen? Aber das gibt es ja gar nicht. Hahaha. Bitte halten sie mit mir Kontakt. Ich bin jederzeit für sie da.“

„Schön.“

„Und noch etwas. So ein Sicherheitsfuzzi hat behauptet, sie hätten bei dem gestrigen Vorfall mit den Saboteuren kooperiert. Ich halte das für ausgeschlossen. Aber seien sie bitte vorsichtig mit ihren Äußerungen.“

„Wie bitte? Der Vorfall, von dem berichtet wurde, war unser kleines, lächerliches Erlebnis? Ja spinnen die denn komplett. Da war doch gar nichts.“

„Die Nerven liegen blank. Der Krieg hier war nicht nett. Das müssen sie verstehen.“

„Hmm. Dann hoffe ich nur, dass die sich wieder beruhigen. Sonst wird unser Ruf leicht ruiniert.“

Der Leutnant lachte. „Kann es sein, dass sie, wenn ich das so sagen darf, ein wenig unerfahren sind? Aber egal, sie wurden mir empfohlen. Einen guten Flug, Fähnrich.“ Der Leutnant war bestimmt nicht älter als Fritz und darüber ärgerte er sich besonders. Ich werde denen schon noch zeigen, ob ich unerfahren bin. Lächerlich.

Wenn Fritz nicht so gerne fliegen würde, wäre dieser lange Flug für ihn ziemlich öde gewesen. Sie starteten im Minutenabstand und er kletterte auf die vorgegebenen 2000 Meter. Theodor hatte es ungemütlicher, der musste bei 400 Metern bleiben, der Jurist sollte 1000 Meter halten und Ulrich durfte auf 4000 Meter gehen. 2000 war eine blöde Höhe, weil sie mitten durch eine dicke Schicht Stratuswolken führte, lückenlos. Somit waren sechs Stunden Blindflug ohne Unterbrechung angesagt. Fritz achtete akribisch auf den Kurs, erst 0 Grad, dann 270, dann 180, dann wieder 270, wieder genau Nord und bei Bergen hinaus nach West und so fort. Die Dauer, wie lange er eine Richtung beibehalten musste, sagte ihm Werner an. Der war in seinem Element. Er hatte auf seiner Karte die Mäander eingetragen und ließ sich ständig die Geschwindigkeit sagen, rechnete herum und dann kam wieder plötzlich ein 'jetzt scharf abbiegen'.

„Kannst du vielleicht genau 400 schnell fliegen, dann kann ich leichter rechnen und muss das Ding da nicht immer wieder neu einstellen. Wäre nett, Herr Pilot.“

„Wie ist es mit dem Wind?“

„Was für'n Wind?“

„Hast du dir den nicht geben lassen?“

Wir sind doch die Wetterbeobachter. War ein Scherz. Sie haben mir schon einen gesagt, aber wenn wir nach Hause fliegen, nehm' ich die Zeit und dann wissen wir es ganz genau.“

„Dann stimmt aber doch die Strecke nicht.“

„Stimmt.“

„Was jetzt?“

„Ja, stimmt. Die Strecke stimmt dann nicht. Hab dem Albi gezeigt, wie er wieder zu Hause die Karte neu zeichnen muss. Albi, was ist? Messung nehmen.“

„He Fritz“, rief Albi. „Wie hoch bist du?“

„Ja eben 2000.“

„Stimmt nicht. Hier ist wahrscheinlich der Bodendruck anders oder er hat sich geändert.“

„Soll ich auch ändern. Höher oder tiefer?“

„Ist mir egal. Ich sag's denen unten, nachher. Ratet mal, wie kalt es hier ist?“

„Hmm. Zehn Grad?“

„Nein. Nochmal.“

„8 Grad.“

„Nein. Nochmal.“

„Jetzt sag schon.“

„Minus 2. Da staunst du, was?“

Fritz dachte an seinen gestrigen Ausflug. „Wird wirklich schlechter das Wetter, oder?“

„Viel schlechter.“

Nach zwei Stunden hatte Fritz jedes Gefühl für die Orientierung verloren. Sein Po sagte ihm immer wieder, dass das Flugzeug nicht gerade lag und wie die Geschwindigkeit war, blieb völlig unfühlbar. Hoffentlich sind die Instrumente zuverlässig, dachte er. Womöglich stürzen wir jetzt gerade direkt ins Meer und merken es gar nicht. Dass dies bis auf weiteres nicht stattfand, stabilisierte sein Vertrauen in die Technik. Nur etwas schwindlig wurde ihm. Das lag wohl daran, dass es außer dem Instrumentenbrett und den Stegen der Fenster keinerlei optischen Halt gab. Das ständige, leichte Schaukeln, Schwanken und Schlingern des ganzen Systems, das er dauernd ausgleichen musste, war anstrengend und kein Labsal für den Magen. Aber das schlechte Gefühl pendelte sich auf ein erträgliches Maß ein. Mehrmals hatte er das unbedingte Bedürfnis, Vollgas zu geben und das Steuer ganz an sich heranzuziehen, um endlich den blauen Himmel, die Sonne und die wunderbare Märchenwelt da oben zu genießen. Der Ulrich hatte wieder einmal die besseren Karten.

„Wer wollte fliegen?“, sagte er zu den Kameraden, als sie abends beim Bier im Kasino saßen.

„Ach du, stell dich nicht so an“, meinte Albi. „Ist doch wie gemütliche Büroarbeit, wie beim Buchhalter in der Bank. Ist doch ganz passabel.“

„Hallo, Jungs. Debriefing, wie der Tommy sagt“, rief einer.

„Für heute haben wir ganz gute Daten bekommen, meinen die Wetterfrösche“, sagte Jung. „Aber sie wollen es noch etwas präziser haben. Sie glauben nicht allen, dass sie die Strecke genau eingehalten haben.“

„Wie wollen sie das wissen?“, rief einer.

„Man sieht das an den Wetterdaten. Da waren welche dabei, die konnten so gar nicht sein.“

„Oho“, meinte Werner. „Dann hat Albi falsche Einträge gemacht. Mein Kurs hat gestimmt. Hundertprozentig.“

„Ruhe.“ Jung wischte die Bemerkungen unwillig weg. „Die nächsten vier Tage macht ihr genau das Gleiche...“

„Oh nein“, stöhnte Fritz.

„Ich habe nicht gesagt, dass ich einen Kommentar hören wollte, Kameraden. Es bleibt dabei. Genau das Gleiche.“

„Kann ich mal weiter oben?“

„Es reicht, Fähnrich Klein. Sie haben mich gehört. Wegtreten. Seien sie doch froh. Auf diese Weise sammeln sie Frontflüge. Keine Feindflüge, aber immerhin Frontflüge.“

„Welche Front?“, fragte Fritz Werner beim Hinausgehen.

„Vielleicht meint er Wetterfront? Aber is egal. Front ist Front.“

Nach diesen vier Tagen war Fritz fix und fertig. 'Büroarbeit' hatte Albi gesagt. Der hat wirklich kein Gefühl für seinen Piloten. Aber sein Flugbuch wies jetzt fünf stundenlange Frontflüge aus. Frontflüge. So, wie das dastand, sah es richtig gut aus. So, als ob er jetzt zu den richtigen Männern gehörte.

„Ich geh' ins Dickens“, sagte Fritz zu den Kameraden. „Alleine.“

„Bitte, bitte“, meinte Werner. „Ich kann dich sowieso nicht gebrauchen.“

„Grüßt Brunhilde schön.“

„Einen Teufel werd' ich tun. Würde sie eh nicht verstehen.“

Sie war da.

Sie saß an der Bar, ein halbvolles Glas Bier vor sich und blickte unbewegt ins Nichts. Fritz hielt inne, um den Anblick zu genießen. Einige Gäste wurden auf ihn aufmerksam und begannen, ihn herausfordernd anzuglotzen. Plötzlich drehte Nora den Kopf zu ihm und aus ihrer Starre wurde ein sonniges Lächeln.

Fritz setzte sich in Bewegung, was die Gäste offensichtlich wieder beruhigte.

„Hei, Nora. So ein Zufall. Du hier?“

„Hei, Fritz. Setz dich zu mir, wenn du nichts Besseres vorhast. Auch ein Bier?“

„Danke, gerne. Zigarette?“

„Nein, danke. Ich rauche nicht.“

„Stört es dich, wenn ich rauche?“

„Aber nein. Tabak riecht gut. Besser als so manches andere.“

„Stimmt. Tabak lässt so manches Unerfreuliche im Dunst verschwinden.“

„Stell dir vor, ich habe die Zweideutigkeit erkannt.“

„Du kannst unsere Sprache aber wirklich gut. Wie eine Muttersprache, denke ich beinahe.“

„Verhörst du mich?“

„Um Himmels willen, nein. Es war nur Bewunderung für eine Norwegerin.“

„Nun ja.“

„Was heißt das jetzt?“

„So rein bin ich nicht. Meine Mutter ist Deutsche.“

„Ach so. Ja dann wird mir alles klar. Woher kommt sie?“

„Aus Göttingen.“

„Schöne Stadt. Gefällt sie dir?“

„Ich war da nur als kleines Kind. Kann mich nicht mehr erinnern.“

„Und dein Vater?“

„Der ist Norweger. Aus Bergen.“

„Da war ich gerade.“

„Du warst in Bergen?“

„Nicht unten, aber vorbeigeflogen sind wir und wieder umgekehrt.“

„Warum warst du dann in Bergen, wenn du dort gar nichts gemacht hast?“

„Wir haben das Wetter beobachtet und natürlich genau vermessen.“

„Das ist ja interessant. Und wie wird das Wetter?“

„Die haben gesagt, es wird stürmisch und nass.“

„Mhm. Gibt es bei uns oft.“

„Was hat dich eigentlich nach Stavanger geführt?“

„Was hat dich nach Stavanger geführt und dann auch noch auf den Kjerak?“

„Dich treffen.“

„Charmeur. Nein wirklich, sag schon.“

„Bei mir war es der Krieg und die unergründlichen Ratschlüsse unserer Anführer.“

„Du weißt es also nicht wirklich. Warum du hier bist, meine ich.“

„Nein, wirklich nicht. Was wir hier im einzelnen tun sollen, höre ich immer morgens. Aber wozu das alles gut sein soll, darauf kriege ich keine Antwort.“

„Es ist so, wie es ist.“

„Holla. Hast du etwas erlebt, was dich so abgeklärt gemacht hat?“

Sie schaute ihn fast erschrocken an. „Nein, nein. Ich finde nur, ach ist egal. Außerdem bin ich ein wenig betrunken. Da wird man leicht sentimental.“

„Bleib so.“ Nora hatte sich an Fritz angelehnt und den Kopf auf seine Schulter gelegt.

„Denk dir nichts. Wenn ich getrunken habe, will ich mich gerne anlehnen. An einen starken Mann, verstehst du? Das wollen Frauen so.“

„Anlehnen ist gut.“ Er roch an ihren Haaren. Frisch, ein Hauch von Bergen, Seen und Kiefern. „Lebst du in den Bergen? Du riechst, wie es da oben auf dem Kjerak roch.“

„Das ist wohl mein Haarwaschshampoo. Mag ich gerne.“

Lange Minuten saßen sie still so da. Fritz dachte unvermittelt an Eva und bedauerte, dass es zwischen ihnen nicht einmal so weit gekommen war. Eva. In Amerika.

„Wovon träumst du?“, sagte Nora. Frauen spüren, wenn man ihnen nicht die ganze Aufmerksamkeit schenkt.

„Ach nichts. Es ist einfach schön so.“

„Du schwindelst. Aber das macht nichts.“

„Magst du noch ein Bier?“

„Nein. Mir reicht es. Ich möchte nach Hause. Begleiten sie mich noch auf dem Weg, Herr Kavalier?“

Arm in Arm, wie ein verliebtes Paar, gingen sie ein paar Gassen entlang. Niemand war unterwegs. Ein heftiger Wind wirbelte ein paar Blätter und Staub auf.

„Aha“, sagte sie. „Dein Wetter kommt. Schnell nach Hause. Hast du dein Auto wieder dabei?“

„Ja. Aber erst muss ich dich in Sicherheit wissen.“

„Ich wohne hier. Im dritten Stock.“

„Ach so. Das ist ja praktisch.“

„Was soll das jetzt heißen?“

„Keine Ahnung. Vielleicht, weil du es nicht weit zu deiner Stammkneipe hast.“

„Deswegen ist es ja meine Stammkneipe.“

„Das hat Sinn.“

„Gute Nacht, Herr Fähnrich.“

„Gute Nacht, Fräulein Nora.“

„Schlafen sie gut und schöne Träume.“

„Danke. Das wünsche ich ihnen auch.“

„So, meine Herren. Jetzt wird es ernst.“ Der Miene ihres Staffelführers ließ nicht die Hoffnung aufkeimen, es wäre halb so schlimm. Die längere Pause unterstrich das noch. Er atmete tief durch und räusperte sich, was ein wenig künstlich klang. „Wer war schon einmal in England? Keiner? Gut. Jetzt habt ihr die Gelegenheit dazu. Aber nur aus der Luft, nicht landen, nicht abspringen. Oben bleiben, verstanden? Auch, wenn die Tommies euch dazu einladen. Das machen die manchmal, aber nicht mit britischer Höflichkeit, ihr versteht? Jetzt kuckt nicht so. Eure Kameraden machen das beinahe jeden Tag.“ Sein Gesichtsausdruck war immer noch nicht lustig.

Fritz wurde es heiß und kalt. Er starrte regungslos nach vorne.

„Nicht so schlimm. Jetzt macht euch mal nicht in die Hosen. Für so was habt ihr euch doch jahrelang auf Kosten des Vaterlands vorbereitet. So, na also. Jetzt eure Aufgaben. Klein, Baumann, Pflüger, ihr fliegt nach Carlisle (er sagte englisch korrekt Kahleil). Vorher knipst ihr aber noch die Flughäfen an der Küste ab: Brunston Airfield und Eshott Airfield. In Carlisle gibt es drei Flughäfen: Spadeadam, den angeblichen Zivilflughafen und den von der RAF, das ist die Royal Air Force. Findet ihr auf der Karte, die unsere Spione gemacht haben. Holt ihr euch hier vorne. Von Thann…“

Fritz hörte nicht mehr hin, stand auf und holte sich die Karte. Dann winkte er Werner und Albi mitzugehen.

„Dürfen wir?“, fragte er Jung.

„Bereitet euch gut vor. Das ist eure Lebensversicherung. Haut ab. Übrigens“, rief er ihnen nach. „Scheißwetter über der Pfütze.“

„Zigaretten? Kaffee?“

„Albi?“

„Wieso ich?“

„Wieso nicht.“

„Geh' ja schon.“

„Braver Junge.“

„Arschloch.“

„Was hast du da für eine Karte, Werner?“

„Die Offizielle. Das britische Inselreich und Nordfrankreich. 1:2 Millionen. Hat 1,40 gekostet.“

„Nicht dein Ernst.“

„Von der Buchhandlung Christian Kaiser im Rathaus München.“

„Wirf sie weg. Meine ist da noch besser.“

„Okay, Bruder. Was für ein Maßstab, ah, ich seh's schon. Lass mal messen. Also 545 Kilometer bis zum Ufer. Und dann noch 105 bis zum Ziel. Sollte machbar sein.“

„Mehr hast du nicht zu sagen?“

„Kurs 234 Grad.“

„Und?“

„Was und?“

„Wie ist es dort?“

„Auf dem Weg finden wir das Brunston und Eshott. Die andern sind rund um das Carlisle herum. Also los. Albi, mein Schnuckelchen, kannst du herausbekommen, ob die Knickebein einschalten?“

„Warum ich?“

„Weil du das am besten verstehst von uns.“

„Ihr könnt mich mal.“

„Gleich dann. Erst fragen.“

Fritz studierte konzentriert die Karte. „Siehst du das?“

„Was ist denn noch?“

„Den See da. Heißt, Moment mal, Kielder Water. Komischer Name.“

„Lass sehen. Ist so etwas wie der Madüsee, oder?“

„Kann sein.“

„Und was ist damit? Willste einen Badeausflug machen, oder was?“

„Nicht ganz. Aber er liegt da prima, der See. Sieht man gut von oben.“

Albi kam wieder: „Knickebein sendet 234 Grad. Die wissen, wo Carlisle ist.“

„Wunderbar. Werner, hast du's kapiert?“

„Was denn? Was soll das? Ach so! Fritzchen, du bist ein Genie.“

„Warum ist er ein Genie?“, fragte Albi.

„Wirst schon sehen. Wird ein schöner Ausflug.“

„Und Brunston und Eshott nehmen wir auf dem Rückweg mit.“ Fritz grinste.

„Genau.“

„Ihre seid völlig verblödet. Ich hab's immer schon gewusst.“ Albi schüttelte den Kopf und zündete sich eine weitere Zigarette an.

Zehn gute Jahre Teil 4

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