Читать книгу Der Antichrist - FRIEDRICH NIETZSCHE, Friedrich Nietzsche - Страница 23
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ОглавлениеWo in irgend welcher Form der Wille zur Macht niedergeht, gibt es jedes Mal auch einen physiologischen Rückgang, eine décadence. Die Gottheit der décadence, beschnitten an ihren männlichen Tugenden und Trieben, wird nunmehr notwendig zum Gott der physiologisch Zurückgegangenen, der Schwachen. Sie heißen sich selbst nicht die Schwachen, sie heißen sich „die Guten“ … Man versteht, ohne dass ein Wink noch Not täte, in welchen Augenblicken der Geschichte erst die dualistische Fiktion eines guten und eines bösen Gottes möglich wird. Mit demselben Instinkte, mit dem die Unterworfenen ihren Gott zum „Guten an sich“ herunterbringen, streichen sie aus dem Gotte ihrer Überwinder die guten Eigenschaften aus; sie nehmen Rache an ihren Herren, dadurch dass sie deren Gott verteufeln. – Der gute Gott, ebenso wie der Teufel: Beide Ausgeburten der décadence. – Wie kann man heute noch der Einfalt christlicher Theologen so viel nachgeben, um mit ihnen zu dekretieren, die Fortentwicklung des Gottesbegriffs vom „Gotte Israel’s“, vom Volksgotte, zum christlichen Gotte, zum Inbegriff alles Guten, sei ein Fortschritt? – Aber selbst Renan tut es. Als ob Renan ein Recht auf Einfalt hätte! Das Gegenteil springt doch in die Augen. Wenn die Voraussetzungen des aufsteigenden Lebens, wenn alles Starke, Tapfere, Herrische, Stolze aus dem Gottesbegriffe eliminiert werden, wenn es Schritt für Schritt zum Symbol eines Stabs für Müde, eines Rettungsankers für alle Ertrinkenden heruntersinkt, wenn er Arme-Leute-Gott, Sünder-Gott, Kranken-Gott par excelence wird, und das Prädikat „Heiland“, „Erlöser“ gleichsam übrig bleibt als göttliches Prädikat überhaupt: wovon redet eine solche Verwandlung? eine solche Reduktion des Göttlichen? – Freilich: „das Reich Gottes“ ist damit größer geworden. Ehemals hatte er nur sein Volk, sein „auserwähltes“ Volk. Inzwischen ging er, ganz wie sein Volk selber, in die Fremde, auf Wanderschaft, er saß seitdem nirgendswo mehr still: bis er endlich überall heimisch wurde, der große Kosmopolit, – bis er „die große Zahl“ und die halbe Erde auf seine Seite bekam. Aber der Gott der „großen Zahl“, der Demokrat unter den Göttern, wurde trotzdem kein stolzer Heidengott: er blieb Jude, er blieb der Gott der Winkel, der Gott aller dunklen Ecken und Stellen, aller ungesundenen Quartiere der ganzen Welt!… Sein Weltreich ist nach wie vor ein Unterwelt-Reich, ein Hospital, ein souterrain-Reich, ein Ghetto-Reich… Und er selbst, so blass, so schwach, so décadent… Selbst die Blassesten der Blassen wurden noch über ihn Herr, die Herrn Metaphysiker, die Begriffs-Albinos. Diese spannen so lange um ihn herum, bis er, hypnotisiert durch ihre Bewegungen selbst Spinne, selbst Metaphysikus wurde. Nunmehr spann er wieder die Welt aus sich heraus – sub specie Spinozae -, nunmehr transfigurierte er sich in’s immer Dünnere und Blässere, ward „Ideal“, ward „reiner Geist“, ward „absolutum“, ward „Ding an sich“… Verfall eines Gottes: Gott ward „Ding an sich“ …