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Kapitel 3 Die Gemüsebedrohung

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Gestärkt von solch einem entspannten Frühstück startete ich dann in den Arbeitstag. Alle Ängste und Zwänge waren zu diesem Zeitpunkt dann auch schon hellwach und außerordentlich arbeitsbereit. Eine solche Einsatzbereitschaft könnte man sich in einem Unternehmen nur wirklich für jeden Mitarbeiter wünschen. Nicht einmal während der Fahrt zur Arbeit, die leider ziemlich lang war, gönnten sich die fleißigen Ängste und Zwänge eine Pause. Kaum war ich “vom Hof“, so pflanzten sie mir die Sorge ins Gehirn, ich könnte vielleicht irgendjemanden angefahren haben, ohne es zu merken.

Ich hatte doch bereits erwähnt, dass in solchen Angstsituationen Realismus nicht so meins ist, oder?

An der Firma angekommen, wusste ich besonders zu schätzen, dass ich als Leitender Angestellter einen eingangsnahen Dienstparkplatz hatte. Gleichwohl will natürlich auch jeder Quadratmeter auf dem Weg zum Eingang gründlich abgesucht werden. Schließlich ist es ja auch immer schon gut einen halben Tag her, dass ich hier entlang gegangen bin.

Blöd ist hierbei nur die Tatsache, dass der Weg zum Eingang ausgerechnet gleich an zwei Besprechungsräumen bzw. deren Fenstern vorbeiführt. Hier gilt es also erst recht, das Absuchen des Weges so unauffällig wie möglich zu gestalten. Wenn diese also schon in Betrieb sind, muss hier dann doch bisweilen die oben erwähnte Smartphone-Variante zum Tragen kommen. An dieser Stelle erklärt diese Variante nicht nur den starren Blick nach unten, sondern wirkt auch noch ausgesprochen geschäftig. Freundlicherweise hat das Unternehmen hier auch auf die Installation kollisionsträchtiger Laternen verzichtet. Gott sei Dank ist mir daher dieser Slapstick vor den Besprechungsraumfenstern immer erspart geblieben.

Einmal im Gebäude angekommen, stellte sich dann aber die nächste Aufgabe, die darin bestand, möglichst unauffällig und mit möglichst tiefhängender Hose das Büro zu erreichen. Tief hängend nicht etwa deshalb, weil sie ohnehin nur unter den Bauch und nicht auf den Bauch passte, sondern um möglichst viel von meinem bemerkenswerten Schuhwerk zu verdecken. Dem aufmerksamen Beobachter fiel dieses jedoch auf, weil doch die wenigsten Manager Bergstiefel zum Anzug trugen, genauer gesagt, niemand außer mir.

Diese Bergstiefel waren eigentlich ein Teil meiner hoch ausgeklügelten Vermeidungs-strategien und dienten primär dazu, möglichst viel festes und schützendes Material zwischen meine Füße und den Boden zu bringen. Überhaupt wurde “Vermeidung“ schnell zum - leider negativen - “Zauberwort“ für alle Lebenssituationen. Man glaubt gar nicht, wie kreativ man als sonst eher verkopfter Typ plötzlich wird, wenn es darum geht, Angst und Panik zu vermeiden, oder auch oft genug nur vermeintlich zu vermeiden. So verhinderten auch die Bergstiefel nicht wirklich die Angst beim Laufen, oder den Zwang zum Absuchen, auch wenn es ohne Vorschlaghammer vermutlich kaum möglich gewesen wäre, einen Nagel in diese Stiefel zu treiben. Trotzdem wollte ich auf sie keinesfalls mehr verzichten.

Im Rahmen meiner schon erwähnten, kreativen Bemühungen habe ich natürlich vieles ausprobiert, was vermeintliche Sicherheit bei geringerer Auffälligkeit suggerierte. Ein besonders interessanter Versuch war hierbei der Erwerb von zertifizierten Sicherheitsarbeitsschuhen. Da diese mit Stahlsohlen und Stahlkappen als extrem “durchtrittsicher“ angepriesen wurden, dachte ich zunächst, diese wären ideal und quasi für mich erfunden worden. Die Praxis hielt dann aber doch den einen oder anderen Nachteil bereit. Zum einen waren die Stahlsohlen, ihrem Zweck entsprechend, etwa so biegsam wie ein Panzerschrank, was im Grunde jedes Abrollen des Fußes unmöglich machte. Dies wiederum führte dazu, dass meine gewichtsbedingt ohnehin nicht große Gazellenhaftigkeit beim Laufen nochmals deutlich vermindert wurde. Ich trampelte daher mit diesen Schuhen noch mehr wie ein Elefant durch die Gegend. Zum anderen war das Aufsetzen der Schuhe mit den Stahlsohlen, insbesondere auf Stein und Fliesenboden, nicht eben unbedingt geräuscharm. Wenn ich also quasi als “Elefant auf Stepptanz“ durch die Firma lief, war dies durchaus nicht unauffälliger als die Bergstiefel.

Immerhin war ich jederzeit darauf vorbereitet, auf meine extravagante Schuhmode angesprochen zu werden. Auch hier variierten meine Antworten je nach Fragesteller und Art der Frage. Auch hier gibt es nämlich durchaus nette und höfliche Fragen und regelrecht spöttische und “blöde“ Bemerkungen.

Ich erinnere mich da konkret an den Fall eines ebenso aufstrebenden wie kompetenz- freien Jungmanagers, der grundsätzlich extrem aufgestyled durch die Flure stolzierte, immer frei nach dem Motto “Kleidung kompensiert Können“. Dessen dumme Bemerkung konterte ich mit einem verblüfften Gesicht und der künstlich erstaunten Frage, wie es denn sein könne, dass ausgerechnet er nicht wisse, dass dies der letzte Modeschrei sei. Ich ließ den jungen Kollegen derart verdattert stehen, dass ich mir vornahm, unbedingt am nächsten Tag zu schauen ob er vielleicht mit Stiefeln zum Anzug erscheint.

In aller Regel antwortete ich jedoch, wenn ich auf die Schuhe angesprochen wurde, dass ich diese wegen sehr spezieller Einlagen in den Schuhen benötigte, was mir im Hinblick auf mein Gewicht zumindest halbwegs glaubhaft erschien. Bei besonders wichtigen und hochrangigen Geschäftsterminen entschuldigte ich meine ungewöhnliche Schuhmode bisweilen schon von selbst und proaktiv mit dieser Ausrede. Ich war mir nie ganz sicher, ob sie mir wirklich “abgekauft“ wurde. Andererseits fiel mir wirklich keine bessere ein.

Ganz allgemein bedeuteten geschäftliche Termine in meinem Zustand erhebliche Probleme für mich. Dies begann schon mit der äußerst lästigen Gewohnheit, sich in unserem Kulturkreis zur Begrüßung die Hand zu geben. Diese Unsitte des rituellen Bakterienaustauschs schien bisweilen zum unüberbrückbaren Hindernis zu werden. Insbesondere wenn ich meinte, einen Kratzer oder einen offenen Pickel an der Hand meines Gegenübers identifiziert zu haben, war es erst einmal vorbei mit der unmittelbaren Konzentration auf das Thema des Meetings. In meinem Hinterkopf tanzten meine Ängste begeistert Polka, während ich mich vorne auf Geschäftspläne und Vertragstexte konzentrieren sollte.

Im Rahmen meiner nahezu unendlichen Vermeidungsstrategien griff ich an besonders schwierigen Tagen oder zu besonders wichtigen Meetings zu der Notlösung, einfach meine rechte Hand zu verbinden, um so direkten Hautkontakt zu vermeiden. Aber auch das zog natürlich wieder die Notwendigkeit weiterer Ausreden und Erklärungen nach sich, da es doch wenig glaubwürdig erschien, dass ich in regelmäßigen Abständen mit dem Brotmesser abgerutscht bin. Also entwickelte ich alternativ hierzu eine ausgefeilte Technik, unter dem Tisch einhändig ein Desinfektionstuch zu öffnen und zu verwenden. Nachteilig an dieser Methode war jedoch, dass schnell ein gewisser Alkoholduft durch den Raum waberte und sich sicher der eine oder andere Gesprächspartner gefragt hat, wie ich es geschafft habe, unbemerkt den Schnaps in den Besprechungskaffee zu kippen.

So lernte ich Termine mit Personen aus bestimmten asiatischen Ländern besonders zu schätzen. Diese empfanden die Begrüßung mit einer Verbeugung durchaus als höflich und selbst Visitenkarten wurden traditionell bei diesen ganz vorsichtig mit den Fingerspitzen beider Hände überreicht. Auch das fand ich äußerst entgegenkommend.

Wenn es jedoch eine negative Steigerung von Besprechungsterminen gab, so waren dies Geschäftsessen. Diese bedeuteten unvermeidlich Nahrungsaufnahme ohne “Blindenhund“. Bei diesen Terminen gab es niemanden, der mir aus Fleisch oder Kartoffeln las. Eine nahezu mikroskopische Untersuchung des Essens wäre für die Geschäftspartner wohl ebenso wenig vertrauensbildend gewesen, wie ein ausgemachter Panikanfall am Tisch. Zwar gab es Letztere durchaus, aber in aller Regel habe ich es dann noch irgendwie geschafft, aus dem Lokal zu fliehen. Im Ergebnis bedurfte es also auch für Geschäftsessen besonderer Strategien. Ein relativ einfacher Grundsatz dabei war, dass die Speisen nicht etwa nach geschmacklichen Gesichtspunkten ausgewählt wurden, sondern nach farblichen. Alles an Zutaten, was irgendwie rot aussah, war vollkommen verpönt, da sich meine Angst sofort darauf gestürzt hätte und mir die Frage gestellt hätte, ob es nicht vielleicht doch Blut sein könnte. Paprika und Co. kamen somit schon mal nicht auf den Tisch. Steaks schieden aus, sofern sie nicht quasi bis zur Unkenntlichkeit verbrannt wurden, da ansonsten unter Umständen noch ein Tropfen Blut aus dem Steak laufen könnte.

Erschwerend kam noch hinzu, dass sich meine persönliche Krise ihren Höhepunkt mit der damaligen EHEC Krise zeitlich teilte. Die Tatsache, dass sich die Nation damals fragte, welches Gemüse gerade die Menschheit zu vernichten drohte, und dass täglich neue Falschmeldungen durch die Medien liefen, machten Geschäftsessen auch nicht eben leichter. Die Gemüsebedrohung gipfelte darin, dass ich mir eines Tages in der verfehlten Hoffnung auf Beruhigung, den Koch im unternehmenseigenen Restaurant eigens aus der Küche holen ließ, damit dieser mir persönlich bestätigte, dass er das Tagesgemüse ordnungsgemäß mindestens 10 Minuten bei 180 Grad erhitzt habe. Dies galt damals als Maß aller Dinge. Er versicherte dies bei seiner Kochehre, aber der Gesichtsausdruck des guten Mannes war wie aus der Kreditkarten-Werbung: unbezahlbar!

Was hat es mir am Ende geholfen? Nichts! Denn meine Ängste ließen sich doch nicht so einfach von der Realität ins Bockshorn jagen! Letztendlich kamen für mich ausschließlich Qualitätsängste in Betracht!

Ganz im Gegensatz zu mir, führten meine Ängste ein außerordentlich angenehmes Leben. In meinem Kopf fuhr ständig ein Karussell, auf dem sie alle mal mitfahren durften, die einen länger, die anderen kürzer, aber leer fuhr das Karussell nie. Auch ansonsten machten sie sich immer breiter in meinem Kopf und mussten sich den Platz lediglich mit einem Mitbewohner teilen, den meine Therapeutin später wenig liebevoll den “Miesmacher“ nannte. Den Kollegen sollte ich aber erst viel später richtig kennen lernen.

Das Leben an der Wahnsinnsgrenze - eine Reise durch Angst- und Zwangsstörungen

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