Читать книгу Menschliches, Allzumenschliches - Friedrich Wilhelm Nietzsche, Kouta Aarni - Страница 6

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Der Störenfried in der Wissenschaft. Die Philosophie schied sich von der Wissenschaft, als sie die Frage stellte: welches ist diejenige Erkenntniss der Welt und des Lebens, bei welcher der Mensch am glücklichsten lebt? Diess geschah in den sokratischen Schulen: durch den Gesichtspunct des Glücks unterband man die Blutadern der wissenschaftlichen Forschung - und thut es heute noch.

8.

Pneumatische Erklärung der Natur. - Die Metaphysik erklärt die Schrift der Natur gleichsam pneumatisch, wie die Kirche und ihre Gelehrten es ehemals mit der Bibel thaten. Es gehört sehr viel Verstand dazu, um auf die Natur die selbe Art der strengeren Erklärungskunst anzuwenden, wie jetzt die -Philologen sie für alle Bücher geschaffen haben: mit der Absicht, schlicht zu verstehen, was die Schrift sagen will, aber nicht einen doppelten Sinn zu wittern, ja vorauszusetzen. Wie aber selbst in Betreff der Bücher die schlechte Erklärungskunst keineswegs völlig überwunden ist und man in der besten gebildeten Gesellschaft noch fortwährend auf Ueberreste allegorischer und mystischer Ausdeutung stösst: so steht es auch in Betreff der Natur - ja noch viel schlimmer.

9.

Metaphysische Welt. - Es ist wahr, es könnte eine metaphysische Welt geben; die absolute Möglichkeit davon ist kaum zu bekämpfen. Wir sehen alle Dinge durch den Menschenkopf an und können diesen Kopf nicht abschneiden; während doch die Frage übrig bleibt, was von der Welt noch da wäre, wenn man ihn doch abgeschnitten hätte. Diess ist ein rein wissenschaftliches Problem und nicht sehr geeignet, den Menschen Sorgen zu machen; aber Alles, was ihnen bisher metaphysische Annahmen werthvoll, schreckenvoll, lustvoll gemacht, was sie erzeugt hat, ist Leidenschaft, Irrthum und Selbstbetrug; die allerschlechtesten Methoden der Erkenntniss, nicht die allerbesten, haben daran glauben lehren. Wenn man diese Methoden, als das Fundament aller vorhandenen Religionen und Metaphysiken, aufgedeckt hat, hat man sie widerlegt. Dann bleibt immer noch jene Möglichkeit übrig; aber mit ihr kann man gar Nichts anfangen, geschweige denn, dass man Glück, Heil und Leben von den Spinnenfäden einer solchen Möglichkeit abhängen lassen dürfte. - Denn man könnte von der metaphysischen Welt gar Nichts aussagen, als ein Anderssein, ein uns unzugängliches, unbegreifliches Anderssein; es wäre ein Ding mit negativen Eigenschaften. - Wäre die Existenz einer solchen Welt noch so gut bewiesen, so stünde doch fest, dass die gleichgültigste aller Erkenntnisse eben ihre Erkenntniss wäre: noch gleichgültiger als dem Schiffer in Sturmesgefahr die Erkenntniss von der chemischen Analysis des Wassers sein muss.

10.

Harmlosigkeit der Metaphysik in der Zukunft. - Sobald die Religion, Kunst und Moral in ihrer Entstehung so beschrieben sind, dass man sie vollständig sich erklären kann, ohne zur Annahme metaphysischer Eingriffe am Beginn und im Verlaufe der Bahn seine Zuflucht zu nehmen, hört das stärkste Interesse an dem rein theoretischen Problem vom "Ding an sich" und der "Erscheinung" auf. Denn wie es hier auch stehe: mit Religion, Kunst und Moral rühren wir nicht an das "Wesen der Welt an sich"; wir sind im Bereiche der Vorstellung, keine "Ahnung" kann uns weitertragen. Mit voller Ruhe wird man die Frage, wie unser Weltbild so stark sich von dem erschlossenen Wesen der Welt unterscheiden könne, der Physiologie und der Entwickelungsgeschichte der Organismen und Begriffe überlassen.

11.

Die Sprache als vermeintliche Wissenschaft. - Die Bedeutung der Sprache für die Entwickelung der Cultur liegt darin, dass in ihr der Mensch eine eigene Welt neben die andere stellte, einen Ort, welchen er für so fest hielt, um von ihm aus die übrige Welt aus den Angeln zu heben und sich zum Herrn derselben zu machen. Insofern der Mensch an die Begriffe und Namen der Dinge als an aeternae veritates durch lange Zeitstrecken hindurch geglaubt hat, hat er sich jenen Stolz angeeignet, mit dem er sich über das Thier erhob: er meinte wirklich in der Sprache die Erkenntniss der Welt zu haben. Der Sprachbildner war nicht so bescheiden, zu glauben, dass er den Dingen eben nur Bezeichnungen gebe, er drückte vielmehr, wie er wähnte, das höchste Wissen über die Dinge mit den Worten aus; in der That ist die Sprache die erste Stufe der Bemühung um die Wissenschaft. Der Glaube an die gefundene Wahrheit ist es auch hier, aus dem die mächtigsten Kraftquellen geflossen sind. Sehr nachträglich -jetzt erst - dämmert es den Menschen auf, dass sie einen ungeheuren Irrthum in ihrem Glauben an die Sprache propagirt haben. Glücklicherweise ist es zu spät, als dass es die Entwickelung der Vernunft, die auf jenem Glauben beruht, wieder rückgängig machen könnte. - Auch die Logik beruht auf Voraussetzungen, denen Nichts in der wirklichen Welt entspricht, z.B. auf der Voraussetzung der Gleichheit von Dingen, der Identität des selben Dinges in verschiedenen Puncten der Zeit: aber jene Wissenschaft entstand durch den entgegengesetzten Glauben (dass es dergleichen in der wirklichen Welt allerdings gebe). Ebenso steht es mit der Mathematik, welche gewiss nicht entstanden wäre, wenn man von Anfang an gewusst hätte, dass es in der Natur keine exact gerade Linie, keinen wirklichen Kreis, kein absolutes Grössenmaass gebe.

12.

Traum und Cultur.- Die Gehirnfunction, welche durch den Schlaf am meisten beeinträchtigt wird, ist das Gedächtniss: nicht dass es ganz pausirte, - aber es ist auf einen Zustand der Unvollkommenheit zurückgebracht, wie es in Urzeiten der Menschheit bei jedermann am Tage und im Wachen gewesen sein mag. Willkürlich und verworren, wie es ist, verwechselt es fortwährend die Dinge auf Grund der flüchtigsten Aehnlichkeiten: aber mit der selben Willkür und Verworrenheit dichteten die Völker ihre Mythologien, und noch jetzt pflegen Reisende zu beobachten, wie sehr der Wilde zur Vergesslichkeit neigt, wie sein Geist nach kurzer Anspannung des Gedächtnisses hin und her zu taumeln beginnt und er, aus blosser Erschlaffung, Lügen und Unsinn hervorbringt. Aber wir Alle gleichen im Traume diesem Wilden; das schlechte Wiedererkennen und irrthümliche Gleichsetzen ist der Grund des schlechten Schliessens, dessen wir uns im Traume schuldig machen: so dass wir, bei deutlicher Vergegenwärtigung eines Traumes, vor uns erschrecken, weil wir so viel Narrheit in uns bergen. - Die vollkommene Deutlichkeit aller Traum-Vorstellungen, welche den unbedingten Glauben an ihre Realität zur Voraussetzung hat, erinnert uns wieder an Zustände früherer Menschheit, in der die Hallucination ausserordentlich häufig war und mitunter ganze Gemeinden, ganze Völker gleichzeitig ergriff. Also: im Schlaf und Traum machen wir das Pensum früheren Menschenthums noch einmal durch.

13.

Logik des Traumes. - Im Schlafe ist fortwährend unser Nervensystem durch mannichfache innere Anlässe in Erregung, fast alle Organe secerniren und sind in Thätigkeit, das Blut macht seinen ungestümen Kreislauf, die Lage des Schlafenden drückt einzelne Glieder, seine Decken beeinflussen die Empfindung verschiedenartig, der Magen verdaut und beunruhigt mit seinen Bewegungen andere Organe, die Gedärme winden sich, die Stellung des Kopfes bringt ungewöhnliche Muskellagen mit sich, die Füsse, unbeschuht, nicht mit den Sohlen den Boden drückend, verursachen das Gefühl des Ungewöhnlichen ebenso wie die andersartige Bekleidung des ganzen Körpers, - alles diess nach seinem täglichen Wechsel und Grade erregt durch seine Aussergewöhnlichkeit das gesammte System bis in die Gehirnfunction hinein: und so giebt es hundert Anlässe für den Geist, um sich zu verwundern und nach Gründen dieser Erregung zu suchen: der Traum aber ist das Suchen und Vorstellen der Ursachen für jene erregten Empfindungen, das heisst der vermeintlichen Ursachen. Wer zum Beispiel seine Füsse mit zwei Riemen umgürtet, träumt wohl, dass zwei Schlangen seine Füsse umringeln: diess ist zuerst eine Hypothese, sodann ein Glaube, mit einer begleitenden bildlichen Vorstellung und Ausdichtung: "diese Schlangen müssen die causa jener Empfindung sein, welche ich, der Schlafende, habe", - so urtheilt der Geist des Schlafenden. Die so erschlossene nächste Vergangenheit wird durch die erregte Phantasie ihm zur Gegenwart. So weiss jeder aus Erfahrung, wie schnell der Träumende einen starken an ihn dringenden Ton, zum Beispiel Glockenläuten, Kanonenschüsse in seinen Traum verflicht, das heisst aus ihm hinterdrein erklärt, so dass er zuerst die veranlassenden Umstände, dann jenen Ton zu erleben meint. - Wie kommt es aber, dass der Geist des Träumenden immer so fehl greift, während der selbe Geist im Wachen so nüchtern, behutsam und in Bezug auf Hypothesen so skeptisch zu sein pflegt? so dass ihm die erste beste Hypothese zur Erklärung eines Gefühls genügt, um sofort an ihre Wahrheit zu glauben? (denn wir glauben im Traume an den Traum, als sei er Realität, das heisst wir halten unsre Hypothese für völlig erwiesen). - Ich meine: wie jetzt noch der Mensch im Traume schliesst, so schloss die Menschheit auch im Wachen viele Jahrtausende hindurch: die erste causa, die dem Geiste einfiel, um irgend Etwas, das der Erklärung bedurfte, zu erklären, genügte ihm und galt als Wahrheit. (So verfahren nach den Erzählungen der Reisenden die Wilden heute noch.) Im Traum übt sich dieses uralte Stück Menschenthum in uns fort, denn es ist die Grundlage, auf der die höhere Vernunft sich entwickelte und in jedem Menschen sich noch entwickelt: der Traum bringt uns in ferne Zustände der menschlichen Cultur wieder zurück und giebt ein Mittel an die Hand, sie besser zu verstehen. Das Traumdenken wird uns jetzt so leicht, weil wir in ungeheuren Entwickelungsstrecken der Menschheit gerade auf diese Form des phantastischen und wohlfeilen Erklärens aus dem ersten beliebigen Einfalle heraus so gut eingedrillt worden sind. Insofern ist der Traum eine Erholung für das Gehirn, welches am Tage den strengeren Anforderungen an das Denken zu genügen hat, wie sie von der höheren Cultur gestellt werden. - Einen verwandten Vorgang können wir geradezu als Pforte und Vorhalle des Traumes noch bei wachem Verstande in Augenschein nehmen. Schliessen wir die Augen, so producirt das Gehirn eine Menge von Lichteindrücken und Farben, wahrscheinlich als eine Art Nachspiel und Echo aller jener Lichtwirkungen, welche am Tage auf dasselbe eindringen. Nun verarbeitet aber der Verstand (mit der Phantasie im Bunde) diese an sich formlosen Farbenspiele sofort zu bestimmten Figuren, Gestalten, Landschaften, belebten Gruppen. Der eigentliche Vorgang dabei ist wiederum eine Art Schluss von der Wirkung auf die Ursache; indem der Geist fragt: woher diese Lichteindrücke und Farben, supponirt er als Ursachen jene Figuren, Gestalten: sie gelten ihm als die Veranlassungen jener Farben und Lichter, weil er, am Tage, bei offenen Augen, gewohnt ist, zu jeder Farbe, jedem Lichteindrucke eine veranlassende Ursache zu finden. Hier also schiebt ihm die Phantasie fortwährend Bilder vor, indem sie an die Gesichtseindrücke des Tages sich in ihrer Production anlehnt, und gerade so macht es die Traumphantasie: - das heisst die vermeintliche Ursache wird aus der Wirkung erschlossen und nach der Wirkung vorgestellt: alles diess mit ausserordentlicher Schnelligkeit, so dass hier wie beim Taschenspieler eine Verwirrung des Urtheils entstehen und ein Nacheinander sich wie etwas Gleichzeitiges, selbst wie ein umgedrehtes Nacheinander ausnehmen kann. - Wir können aus diesen Vorgängen entnehmen, wie spät das schärfere logische Denken, das Strengnehmen von Ursache und Wirkung, entwickelt worden ist, wenn unsere Vernunft- und Verstandesfunctionen jetzt noch unwillkürlich nach jenen primitiven Formen des Schliessens zurückgreifen und wir ziemlich die Hälfte unseres Lebens in diesem Zustande leben. - Auch der Dichter, der Künstler schiebt seinen Stimmungen und Zuständen Ursachen unter, welche durchaus nicht die wahren sind; er erinnert insofern an älteres Menschenthum und kann uns zum Verständnisse desselben verhelfen.

14.

Miterklingen. - Alle stärkeren Stimmungen bringen ein Miterklingen verwandter Empfindungen und Stimmungen mit sich; sie wühlen gleichsam das Gedächtniss auf. Es erinnert sich bei ihnen Etwas in uns und wird sich ähnlicher Zustände und deren Herkunft bewusst. So bilden sich angewöhnte rasche Verbindungen von Gefühlen und Gedanken, welche zuletzt, wenn sie blitzschnell hinter einander erfolgen, nicht einmal mehr als Complexe, sondern als Einheiten empfunden werden. In diesem Sinne redet man vom moralischen Gefühle, vom religiösen Gefühle, wie als ob diess lauter Einheiten seien: in Wahrheit sind sie Ströme mit hundert Quellen und Zuflüssen. Auch hier, wie so oft, verbürgt die Einheit des Wortes Nichts für die Einheit der Sache.

15.

Kein Innen und Aussen in der Welt. - Wie Demokrit die Begriffe Oben und Unten auf den unendlichen Raum übertrug, wo sie keinen Sinn haben, so die Philosophen überhaupt den Begriff "Innen und Aussen" auf Wesen und Erscheinung der Welt; sie meinen, mit tiefen Gefühlen komme man tief in's Innere, nahe man sich dem Herzen der Natur. Aber diese Gefühle sind nur insofern tief, als mit ihnen, kaum bemerkbar, gewisse complicirte Gedankengruppen regelmässig erregt werden, welche wir tief nennen; ein Gefühl ist tief, weil wir den begleitenden Gedanken für tief halten. Aber der tiefe Gedanke kann dennoch der Wahrheit sehr fern sein, wie zum Beispiel jeder metaphysische; rechnet man vom tiefen Gefühle die beigemischten Gedankenelemente ab, so bleibt das starke Gefühl übrig, und dieses verbürgt Nichts für die Erkenntniss, als sich selbst, ebenso wie der starke Glaube nur seine Stärke, nicht die Wahrheit des Geglaubten beweist.

16.

Erscheinung und Ding an sich. - Die Philosophen pflegen sich vor das Leben und die Erfahrung - vor Das, was sie die Welt der Erscheinung nennen - wie vor ein Gemälde hinzustellen, das ein für alle Mal entrollt ist und unveränderlich fest den selben Vorgang zeigt: diesen Vorgang, meinen sie, müsse man richtig ausdeuten, um damit einen Schluss auf das Wesen zu machen, welches das Gemälde hervorgebracht habe: also auf das Ding an sich, das immer als der zureichende Grund der Welt der Erscheinung angesehen zu werden pflegt. Dagegen haben strengere Logiker, nachdem sie den Begriff des Metaphysischen scharf als den des Unbedingten, folglich auch Unbedingenden festgestellt hatten, jeden Zusammenhang zwischen dem Unbedingten (der metaphysischen Welt) und der uns bekannten Welt in Abrede gestellt: so dass in der Erscheinung eben durchaus nicht das Ding an sich erscheine, und von jener auf dieses jeder Schluss abzulehnen sei. Von beiden Seiten ist aber die Möglichkeit übersehen, dass jenes Gemälde - Das, was jetzt uns Menschen Leben und Erfahrung heisst - allmählich geworden ist, ja noch völlig im Werden ist und desshalb nicht als feste Grösse betrachtet werden soll, von welcher aus man einen Schluss über den Urheber (den zureichenden Grund) machen oder auch nur ablehnen dürfte. Dadurch, dass wir seit Jahrtausenden mit moralischen, ästhetischen, religiösen Ansprüchen, mit blinder Neigung, Leidenschaft oder Furcht in die Welt geblickt und uns in den Unarten des unlogischen Denkens recht ausgeschwelgt haben, ist diese Welt allmählich so wundersam bunt, schrecklich, bedeutungstief, seelenvoll geworden, sie hat Farbe bekommen, - aber wir sind die Coloristen gewesen: der menschliche Intellect hat die Erscheinung erscheinen lassen und seine irrthümlichen Grundauffassungen in die Dinge hineingetragen. Spät, sehr spät - besinnt er sich: und jetzt scheinen ihm die Welt der Erfahrung und das Ding an sich so ausserordentlich verschieden und getrennt, dass er den Schluss von jener auf dieses ablehnt - oder auf eine schauerlich geheimnissvolle Weise zum Aufgeben unsers Intellectes, unsers persönlichen Willens auffordert: um dadurch zum Wesenhaften zu kommen, dass man wesenhaft werde. Wiederum haben Andere alle charakteristischen Züge unserer Welt der Erscheinung - das heisst der aus intellectuellen Irrthümern herausgesponnenen und uns angeerbten Vorstellung von der Welt - zusammengelesen und anstatt den Intellect als Schuldigen anzuklagen, das Wesen der Dinge als Ursache dieses thatsächlichen, sehr unheimlichen Weltcharakters angeschuldigt und die Erlösung vom Sein gepredigt. - Mit all diesen Auffassungen wird der stetige und mühsame Process der Wissenschaft, welcher zuletzt einmal in einer Entstehungsgeschichte des Denkens seinen höchsten Triumph feiert, in entscheidender Weise fertig werden, dessen Resultat vielleicht auf diesen Satz hinauslaufen dürfte: Das, was wir jetzt die Welt nennen, ist das Resultat einer Menge von Irrthümern und Phantasien, welche in der gesammten Entwickelung der organischen Wesen allmählich entstanden, in einander verwachsen [sind] und uns jetzt als aufgesammelter Schatz der ganzen Vergangenheit vererbt werden, - als Schatz: denn der Werth unseres Menschenthums ruht darauf. Von dieser Welt der Vorstellung vermag uns die strenge Wissenschaft thatsächlich nur in geringem Maasse zu lösen - wie es auch gar nicht zu wünschen ist -, insofern sie die Gewalt uralter Gewohnheiten der Empfindung nicht wesentlich zu brechen vermag: aber sie kann die Geschichte der Entstehung jener Welt als Vorstellung ganz allmählich und schrittweise aufhellen - und uns wenigstens für Augenblicke über den ganzen Vorgang hinausheben. Vielleicht erkennen wir dann, dass das Ding an sich eines homerischen Gelächters werth ist: dass es so viel, ja Alles schien und eigentlich leer, nämlich bedeutungsleer ist.

17.

Metaphysische Erklärungen. - Der junge Mensch schätzt metaphysische Erklärungen, weil sie ihm in Dingen, welche er unangenehm oder verächtlich fand, etwas höchst Bedeutungsvolles aufweisen: und ist er mit sich unzufrieden, so erleichtert sich diess Gefühl, wenn er das innerste Welträthsel oder Weltelend in dem wiedererkennt, was er so sehr an sich missbilligt. Sich unverantwortlicher fühlen und die Dinge zugleich interessanter finden - das gilt ihm als die doppelte Wohlthat, welche er der Metaphysik verdankt. Später freilich bekommt er Misstrauen gegen die ganze metaphysische Erklärungsart, dann sieht er vielleicht ein, dass jene Wirkungen auf einem anderen Wege eben so gut und wissenschaftlicher zu erreichen sind: dass physische und historische Erklärungen mindestens ebenso sehr jenes Gefühl der Unverantwortlichkeit herbeiführen, und dass jenes Interesse am Leben und seinen Problemen vielleicht noch mehr dabei entflammt wird.

18.

Grundfragen der Metaphysik. - Wenn einmal die Entstehungsgeschichte des denkens geschrieben ist, so wird auch der folgende Satz eines ausgezeichneten Logikers von einem neuen Lichte erhellt dastehen: "Das ursprüngliche allgemeine Gesetz des erkennenden Subjects besteht in der inneren Nothwendigkeit, jeden Gegenstand an sich, in seinem eigenen Wesen als einen mit sich selbst identischen, also selbstexistirenden und im Grunde stets gleichbleibenden und unwandelbaren, kurz als eine Substanz zu erkennen." Auch dieses Gesetz, welches hier "ursprünglich" genannt wird, ist geworden: es wird einmal gezeigt werden, wie allmählich, in den niederen Organismen, dieser Hang entsteht, wie die blöden Maulwurfsaugen dieser Organisationen zuerst Nichts als immer das Gleiche sehen, wie dann, wenn die verschiedenen Erregungen von Lust und Unlust bemerkbarer werden, allmählich verschiedene Substanzen unterschieden werden, aber jede mit Einem Attribut, das heisst einer einzigen Beziehung zu einem solchen Organismus. - Die erste Stufe des Logischen ist das Urtheil; dessen Wesen besteht, nach der Feststellung der besten Logiker, im Glauben. Allem Glauben zu Grunde liegt die Empfindung des Angenehmen oder Schmerzhaften in Bezug auf das empfindende Subject. Eine neue dritte Empfindung als Resultat zweier vorangegangenen einzelnen Empfindungen ist das Urtheil in seiner niedrigsten Form. - Uns organische Wesen interessirt ursprünglich Nichts an jedem Dinge, als sein Verhältniss zu uns in Bezug auf Lust und Schmerz. Zwischen den Momenten, in welchen wir uns dieser Beziehung bewusst werden, den Zuständen des Empfindens, liegen solche der Ruhe, des Nichtempfindens: da ist die Welt und jedes Ding für uns interesselos, wir bemerken keine Veränderung an ihm (wie jetzt noch ein heftig Interessirter nicht merkt, dass jemand an ihm vorbeigeht). Für die Pflanze sind gewöhnlich alle Dinge ruhig, ewig, jedes Ding sich selbst gleich. Aus der Periode der niederen Organismen her ist dem Menschen der Glaube vererbt, dass es gleiche Dinge giebt (erst die durch höchste Wissenschaft ausgebildete Erfahrung widerspricht diesem Satze). Der Urglaube alles Organischen von Anfang an ist vielleicht sogar, dass die ganze übrige Welt Eins und unbewegt ist. - Am fernsten liegt für jene Urstufe des Logischen der Gedanke an Causalität: ja jetzt noch meinen wir im Grunde, alle Empfindungen und Handlungen seien Acte des freien Willens; wenn das fühlende Individuum sich selbst betrachtet, so hält es jede Empfindung, jede Veränderung für etwas Isolirtes, das heisst Unbedingtes, Zusammenhangloses: es taucht aus uns auf, ohne Verbindung mit Früherem oder Späterem. Wir haben Hunger, aber meinen ursprünglich nicht, dass der Organismus erhalten werden will, sondern jenes Gefühl scheint sich ohne Grund und Zweck geltend zu machen, es isolirt sich und hält sich für willkürlich. Also: der Glaube an die Freiheit des Willens ist ein ursprünglicher Irrthum alles Organischen, so alt, als die Regungen des Logischen in ihm existiren; der Glaube an unbedingte Substanzen und an gleiche Dinge ist ebenfalls ein ursprünglicher, ebenso alter Irrthum alles Organischen. Insofern aber alle Metaphysik sich vornehmlich mit Substanz und Freiheit des Willens abgegeben hat, so darf man sie als die Wissenschaft bezeichnen, welche von den Grundirrthümern des Menschen handelt, doch so, als wären es Grundwahrheiten.

19.

Die Zahl. - Die Erfindung der Gesetze der Zahlen ist auf Grund des ursprünglich schon herrschenden Irrthums gemacht, dass es mehrere gleiche Dinge gebe (aber thatsächlich giebt es nichts Gleiches), mindestens dass es Dinge gebe (aber es giebt kein "Ding"). Die Annahme der Vielheit setzt immer voraus, dass es Etwas gebe, das vielfach vorkommt: aber gerade hier schon waltet der Irrthum, schon da fingiren wir Wesen, Einheiten, die es nicht giebt. - Unsere Empfindungen von Raum und Zeit sind falsch, denn sie führen, consequent geprüft, auf logische Widersprüche. Bei allen wissenschaftlichen Feststellungen rechnen wir unvermeidlich immer mit einigen falschen Grössen: aber weil diese Grössen wenigstens constant sind, wie zum Beispiel unsere Zeit- und Raumempfindung, so bekommen die Resultate der Wissenschaft doch eine vollkommene Strenge und Sicherheit in ihrem Zusammenhange mit einander; man kann auf ihnen fortbauen - bis an jenes letzte Ende, wo die irrthümliche Grundannahme, jene constanten Fehler, in Widerspruch mit den Resultaten treten, zum Beispiel in der Atomenlehre. Da fühlen wir uns immer noch zur Annahme eines "Dinges" oder stofflichen "Substrats", das bewegt wird, gezwungen, während die ganze wissenschaftliche Procedur eben die Aufgabe verfolgt hat, alles Dingartige (Stoffliche) in Bewegungen aufzulösen: wir scheiden auch hier noch mit unserer Empfindung Bewegendes und Bewegtes und kommen aus diesem Zirkel nicht heraus, weil der Glaube an Dinge mit unserem Wesen von Alters her verknotet ist. - Wenn Kant sagt "der Verstand schöpft seine Gesetze nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor", so ist diess in Hinsicht auf den Begriff der Natur völlig wahr, welchen wir genöthigt sind, mit ihr zu verbinden (Natur = Welt als Vorstellung, das heisst als Irrthum), welcher aber die Aufsummirung einer Menge von Irrthümern des Verstandes ist. - Auf eine Welt, welche nicht unsere Vorstellung ist, sind die Gesetze der Zahlen gänzlich unanwendbar: diese gelten allein in der Menschen-Welt.

20.

Einige Sprossen zurück. - Die eine, gewiss sehr hohe Stufe der Bildung ist erreicht, wenn der Mensch über abergläubische und religiöse Begriffe und Aengste hinauskommt und zum Beispiel nicht mehr an die lieben Englein oder die Erbsünde glaubt, auch vom Heil der Seelen zu reden verlernt hat: ist er auf dieser Stufe der Befreiung, so hat er auch noch mit höchster Anspannung seiner Besonnenheit die Metaphysik zu überwinden. Dann aber ist eine rückläufige Bewegung nöthig: er muss die historische Berechtigung, ebenso die psychologische in solchen Vorstellungen begreifen, er muss erkennen, wie die grösste Förderung der Menschheit von dorther gekommen sei und wie man sich, ohne eine solche rückläufige Bewegung, der besten Ergebnisse der bisherigen Menschheit berauben würde. - In Betreff der philosophischen Metaphysik sehe ich jetzt immer Mehrere, welche an das negative Ziel (dass jede positive Metaphysik Irrthum ist) gelangt sind, aber noch Wenige, welche einige Sprossen rückwärts steigen; man soll nämlich über die letzte Sprosse der Leiter wohl hinausschauen, aber nicht auf ihr stehen wollen. Die Aufgeklärtesten bringen es nur so weit, sich von der Metaphysik zu befreien und mit Ueberlegenheit auf sie zurückzusehen: während es doch auch hier, wie im Hippodrom, noth thut, um das Ende der Bahn herumzubiegen.

21.

Muthmaasslicher Sieg der Skepsis. - Man lasse einmal den skeptischen Ausgangspunct gelten: gesetzt, es gäbe keine andere, metaphysische Welt und alle aus der Metaphysik genommenen Erklärungen der uns einzig bekannten Welt wären unbrauchbar für uns, mit welchem Blick würden wir dann auf Menschen und Dinge sehen? Diess kann man sich ausdenken, es ist nützlich, selbst wenn die Frage, ob etwas Metaphysisches wissenschaftlich durch Kant und Schopenhauer bewiesen sei, einmal abgelehnt würde. Denn es ist, nach historischer Wahrscheinlichkeit, sehr gut möglich, dass die Menschen einmal in dieser Beziehung im Ganzen und Allgemeinen skeptisch werden; da lautet also die Frage: wie wird sich dann die menschliche Gesellschaft, unter dem Einfluss einer solchen Gesinnung, gestalten? Vielleicht ist der wissenschaftliche Beweis irgend einer metaphysischen Welt schon so schwierig, dass die Menschheit ein Misstrauen gegen ihn nicht mehr los wird. Und wenn man gegen die Metaphysik Misstrauen hat, so giebt es im Ganzen und Grossen die selben Folgen, wie wenn sie direct widerlegt wäre und man nicht mehr an sie glauben dürfte. Die historische Frage in Betreff einer unmetaphysischen Gesinnung der Menschheit bleibt in beiden Fällen die selbe.

22.

Unglaube an das "monumentum aere perennius". - Ein wesentlicher Nachtheil, welchen das Aufhören metaphysischer Ansichten mit sich bringt, liegt darin, dass das Individuum zu streng seine kurze Lebenszeit in's Auge fasst und keine stärkeren Antriebe empfängt, an dauerhaften, für Jahrhunderte angelegten Institutionen zu bauen; es will die Frucht selbst vom Baume pflücken, den es pflanzt, und desshalb mag es jene Bäume nicht mehr pflanzen, welche eine Jahrhundert lange gleichmässige Pflege erfordern und welche lange Reihenfolgen von Geschlechtern zu überschatten bestimmt sind. Denn metaphysische Ansichten geben den Glauben, dass in ihnen das letzte endgültige Fundament gegeben sei, auf welchem sich nunmehr alle Zukunft der Menschheit niederzulassen und anzubauen genöthigt sei; der Einzelne fördert sein Heil, wenn er zum Beispiel eine Kirche, ein Kloster stiftet, es wird ihm, so meint er, im ewigen Fortleben der Seele angerechnet und vergolten, es ist Arbeit am ewigen Heil der Seele. - Kann die Wissenschaft auch solchen Glauben an ihre Resultate erwecken? In der That braucht sie den Zweifel und das Misstrauen als treuesten Bundesgenossen; trotzdem kann mit der Zeit die Summe der unantastbaren, das heisst alle Stürme der Skepsis, alle Zersetzungen überdauernden Wahrheiten so gross werden (zum Beispiel in der Diätetik der Gesundheit), dass man sich daraufhin entschliesst, "ewige" Werke zu gründen. Einstweilen wirkt der Contrast unseres aufgeregten Ephemeren-Daseins gegen die langathmige Ruhe metaphysischer Zeitalter noch zu stark, weil die beiden Zeiten noch zu nahe gestellt sind; der einzelne Mensch selber durchläuft jetzt zu viele innere und äussere Entwickelungen, als dass er auch nur auf seine eigene Lebenszeit sich dauerhaft und ein für alle Mal einzurichten wagt. Ein ganz moderner Mensch, der sich zum Beispiel ein Haus bauen will, hat dabei ein Gefühl, als ob er bei lebendigem Leibe sich in ein Mausoleum vermauern wolle.

23.

Zeitalter der Vergleichung. - je weniger die Menschen durch das Herkommen gebunden sind, um so grösser wird die innere Bewegung der Motive, um so grösser wiederum, dem entsprechend, die äussere Unruhe, das Durcheinanderfluten der Menschen, die Polyphonie der Bestrebungen. Für wen giebt es jetzt noch einen strengeren Zwang, an einen Ort sich und seine Nachkommen anzubinden? Für wen giebt es überhaupt noch etwas streng Bindendes? Wie alle Stilarten der Künste neben einander nachgebildet werden, so auch alle Stufen und Arten der Moralität, der Sitten, der Culturen. - Ein solches Zeitalter bekommt seine Bedeutung dadurch, dass in ihm die verschiedenen Weltbetrachtungen, Sitten, Culturen verglichen und neben einander durchlebt werden können; was früher, bei der immer localisirten Herrschaft jeder Cultur, nicht möglich war, entsprechend der Gebundenheit aller künstlerischen Stilarten an Ort und Zeit. Jetzt wird eine Vermehrung des ästhetischen Gefühls endgültig unter so vielen der Vergleichung sich darbietenden Formen entscheiden: sie wird die meisten, - nämlich alle, welche durch dasselbe abgewiesen werden, - absterben lassen. Ebenso findet jetzt ein Auswählen in den Formen und Gewohnheiten der höheren Sittlichkeit statt, deren Ziel kein anderes, als der Untergang der niedrigeren Sittlichkeiten sein kann. Es ist das Zeitalter der Vergleichung! Das ist sein Stolz, - aber billigerweise auch sein Leiden. Fürchten wir uns vor diesem Leiden nicht! Vielmehr wollen wir die Aufgabe, welche das Zeitalter uns stellt, so gross verstehen, als wir nur vermögen: so wird uns die Nachwelt darob segnen, - eine Nachwelt, die ebenso sich über die abgeschlossenen originalen Volks-Culturen hinaus weiss, als über die Cultur der Vergleichung, aber auf beide Arten der Cultur als auf verehrungswürdige Alterthümer mit Dankbarkeit zurückblickt.

24.

Möglichkeit des Fortschritts. - Wenn ein Gelehrter der alten Cultur es verschwört, nicht mehr mit Menschen umzugehen, welche an den Fortschritt glauben, so hat er Recht. Denn die alte Cultur hat ihre Grösse und Güte hinter sich und die historische Bildung zwingt Einen, zuzugestehen, dass sie nie wieder frisch werden kann; es ist ein unausstehlicher Stumpfsinn oder ebenso unleidliche Schwärmerei nöthig, um diess zu leugnen. Aber die Menschen können mit Bewusstsein beschliessen, sich zu einer neuen Cultur fortzuentwickeln, während sie sich früher unbewusst und zufällig entwickelten: sie können jetzt bessere Bedingungen für die Entstehung der Menschen, ihre Ernährung, Erziehung, Unterrichtung schaffen, die Erde als Ganzes ökonomisch verwalten, die Kräfte der Menschen überhaupt gegen einander abwägen und einsetzen. Diese neue bewusste Cultur tödtet die alte, welche, als Ganzes angeschaut, ein unbewusstes Thier- und Pflanzenleben geführt hat; sie tödtet auch das Misstrauen gegen den Fortschritt, -er ist möglich. Ich will sagen: es ist voreilig und fast unsinnig, zu glauben, dass der Fortschritt nothwendig erfolgen müsse; aber wie könnte man leugnen, dass er möglich sei? Dagegen ist ein Fortschritt im Sinne und auf dem Wege der alten Cultur nicht einmal denkbar. Wenn romantische Phantastik immerhin auch das Wort "Fortschritt" von ihren Zielen (z.B. abgeschlossenen originalen Volks-Culturen) gebraucht: jedenfalls entlehnt sie das Bild davon aus der Vergangenheit; ihr Denken und Vorstellen ist auf diesem Gebiete ohne jede Originalität.

25.

Privat- und Welt-Moral. - Seitdem der Glaube aufgehört hat, dass ein Gott die Schicksale der Welt im Grossen leite und, trotz aller anscheinenden Krümmungen im Pfade der Menschheit, sie doch herrlich hinausführe, müssen die Menschen selber sich ökumenische, die ganze Erde umspannende Ziele stellen. Die ältere Moral, namentlich die Kant's, verlangt vom Einzelnen Handlungen, welche man von allen Menschen wünscht: das war eine schöne naive Sache; als ob ein jeder ohne Weiteres wüsste, bei welcher Handlungsweise das Ganze der Menschheit wohlfahre, also welche Handlungen überhaupt wünschenswerth seien; es ist eine Theorie wie die vom Freihandel, voraussetzend, dass die allgemeine Harmonie sich nach eingeborenen Gesetzen des Besserwerdens von selbst ergeben müsse. Vielleicht lässt es ein zukünftiger Ueberblick über die Bedürfnisse der Menschheit durchaus nicht wünschenswerth erscheinen, dass alle Menschen gleich handeln, vielmehr dürften im Interesse ökumenischer Ziele für ganze Strecken der Menschheit specielle, vielleicht unter Umständen sogar böse Aufgaben zu stellen sein. - Jedenfalls muss, wenn die Menschheit sich nicht durch eine solche bewusste Gesammtregierung zu Grunde richten soll, vorher eine alle bisherigen Grade übersteigende Kenntniss der Bedingungen der Cultur, als wissenschaftlicher Maassstab für ökumenische Ziele, gefunden sein. Hierin liegt die ungeheure Aufgabe der grossen Geister des nächsten Jahrhunderts.

26.

Die Reaction als Fortschritt. - Mitunter erscheinen schroffe, gewaltsame und fortreissende, aber trotzdem zurückgebliebene Geister, welche eine vergangene Phase der Menschheit noch einmal heraufbeschwören: sie dienen zum Beweis, dass die neuen Richtungen, welchen sie entgegenwirken, noch nicht kräftig genug sind, dass Etwas an ihnen fehlt: sonst würden sie jenen Beschwörern besseren Widerpart halten. So zeugt zum Beispiel Luther's Reformation dafür, dass in seinem Jahrhundert alle Regungen der Freiheit des Geistes noch unsicher, zart, jugendlich waren; die Wissenschaft konnte noch nicht ihr Haupt erheben. Ja, die gesammte Renaissance erscheint wie ein erster Frühling, der fast wieder weggeschneit wird. Aber auch in unserem Jahrhundert bewies Schopenhauer's Metaphysik, dass auch jetzt der wissenschaftliche Geist noch nicht kräftig genug ist: so konnte die ganze mittelalterliche christliche Weltbetrachtung und Mensch-Empfindung noch einmal in Schopenhauer's Lehre, trotz der längst errungenen Vernichtung aller christlichen Dogmen, eine Auferstehung feiern. Viel Wissenschaft klingt in seine Lehre hinein, aber sie beherrscht dieselbe nicht, sondern das alte, wohlbekannte "metaphysische Bedürfniss". Es ist gewiss einer der grössten und ganz unschätzbaren Vortheile, welche wir aus Schopenhauer gewinnen, dass er unsere Empfindung zeitweilig in ältere, mächtige Betrachtungsarten der Welt und Menschen zurückzwingt, zu welchen sonst uns so leicht kein Pfad führen würde. Der Gewinn für die Historie und die Gerechtigkeit ist sehr gross: ich glaube, dass es jetzt Niemandem so leicht gelingen möchte, ohne Schopenhauer's Beihülfe dem Christenthum und seinen asiatischen Verwandten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen: was namentlich vom Boden des noch vorhandenen Christenthums aus unmöglich ist. Erst nach diesem grossen Erfolge der Gerechtigkeit, erst nachdem wir die historische Betrachtungsart, welche die Zeit der Aufklärung mit sich brachte, in einem so wesentlichen Puncte corrigirt haben, dürfen wir die Fahne der Aufklärung - die Fahne mit den drei Namen: Petrarca, Erasmus, Voltaire - von Neuem weiter tragen. Wir haben aus der Reaction einen Fortschritt gemacht.

27.

Ersatz der Religion. - Man glaubt einer Philosophie etwas Gutes nachzusagen, wenn man sie als Ersatz der Religion für das Volk hinstellt. In der That bedarf es in der geistigen Oekonomie gelegentlich überleitender Gedankenkreise; so ist der Uebergang aus Religion in wissenschaftliche Betrachtung ein gewaltsamer, gefährlicher Sprung, Etwas, das zu widerrathen ist. Insofern hat man mit jener Anempfehlung Recht. Aber endlich sollte man doch auch lernen, dass die Bedürfnisse, welche die Religion befriedigt hat und nun die Philosophie befriedigen soll, nicht unwandelbar sind; diese selbst kann man schwächen und ausrotten. Man denke zum Beispiel an die christliche Seelennoth, das Seufzen über die innere Verderbtheit, die Sorge um das Heil, - alles Vorstellungen, welche nur aus Irrthümern der Vernunft herrühren und gar keine Befriedigung, sondern Vernichtung verdienen. Eine Philosophie kann entweder so nützen, dass sie jene Bedürfnisse auch befriedigt oder dass sie dieselben beseitigt; denn es sind angelernte, zeitlich begränzte Bedürfnisse, welche auf Voraussetzungen beruhen, die denen der Wissenschaft widersprechen. Hier ist, um einen Uebergang zu machen, die Kunst viel eher zu benutzen, um das mit Empfindungen überladene Gemüth zu erleichtern; denn durch sie werden jene Vorstellungen viel weniger unterhalten, als durch eine metaphysische Philosophie. Von der Kunst aus kann man dann leichter in eine wirklich befreiende philosophische Wissenschaft übergehen.

28.

Verrufene Worte. - Weg mit den bis zum Ueberdruss verbrauchten Wörtern Optimismus und Pessimismus! Denn der Anlass, sie zu gebrauchen, fehlt von Tag zu Tage mehr: nur die Schwätzer haben sie jetzt noch so unumgänglich nöthig. Denn wesshalb in aller Welt sollte jemand Optimist sein wollen, wenn er nicht einen Gott zu vertheidigen hat, welcher die beste der Welten geschaffen haben muss, falls er selber das Gute und Vollkommene ist, - welcher Denkende hat aber die Hypothese eines Gottes noch nöthig? - Es fehlt aber auch jeder Anlass zu einem pessimistischen Glaubensbekenntniss, wenn man nicht ein Interesse daran hat, den Advocaten Gottes, den Theologen oder den theologisirenden Philosophen ärgerlich zu werden und die Gegenbehauptung kräftig aufzustellen: dass das Böse regiere, dass die Unlust grösser sei, als die Lust, dass die Welt ein Machwerk, die Erscheinung eines bösen Willens zum Leben sei. Wer aber kümmert sich jetzt noch um die Theologen - ausser den Theologen? - Abgesehen von aller Theologie und ihrer Bekämpfung liegt es auf der Hand, dass die Welt nicht gut und nicht böse, geschweige denn die beste oder die schlechteste ist, und dass diese Begriffe "gut" und "böse" nur in Bezug auf Menschen Sinn haben, ja vielleicht selbst hier, in der Weise, wie sie gewöhnlich gebraucht werden, nicht berechtigt sind: der schimpfenden und verherrlichenden Weltbetrachtung müssen wir uns in jedem Falle entschlagen.

29.

Vom Dufte der Blüthen berauscht. - Das Schiff der Menschheit, meint man, hat einen immer stärkeren Tiefgang, je mehr es belastet wird; man glaubt, je tiefer der Mensch denkt, je zarter er fühlt, je höher er sich schätzt, je weiter seine Entfernung von den anderen Thieren wird, - je mehr er als das Genie unter den Thieren erscheint, - um so näher werde er dem wirklichen Wesen der Welt und deren Erkenntniss kommen: diess thut er auch wirklich durch die Wissenschaft, aber er meint diess noch mehr durch seine Religionen und Künste zu thun. Diese sind zwar eine Blüthe der Welt, aber durchaus nicht der Wurzel der Welt näher, als der Stengel ist: man kann aus ihnen das Wesen der Dinge gerade gar nicht besser verstehen, obschon diess fast jedermann glaubt. Der Irrthum hat den Menschen so tief, zart, erfinderisch gemacht, eine solche Blüthe, wie Religionen und Künste, herauszutreiben. Das reine Erkennen wäre dazu ausser Stande gewesen. Wer uns das Wesen der Welt enthüllte, würde uns Allen die unangenehmste Enttäuschung machen. Nicht die Welt als Ding an sich, sondern die Welt als Vorstellung (als Irrthum) ist so bedeutungsreich, tief, wundervoll, Glück und Unglück im Schoosse tragend. Diess Resultat führt zu einer Philosophie der logischen Weltverneinung: welche übrigens sich mit einer praktischen Weltbejahung ebensogut wie mit deren Gegentheile vereinigen lässt.

Menschliches, Allzumenschliches

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