Читать книгу Das Geheimnis der Letzten - Fritz Binde - Страница 9
Die Geierfeder
Оглавление„… und ist nicht reich in Gott“ Luk. 12, 21
Heute war wieder ein Tag, an dem er die blaue Brille vor dem Hause, das Wahrzeichen seines Geschäfts, am liebsten hätte entzweischlagen mögen.
Er zählte noch einmal das Geld, das auf dem Tische lag. Es reichte noch nicht einmal aus, die Hälfte der Miete zu bezahlen, und morgen war die ganze Miete fällig.
„Hast du dich auch nicht verzählt?“, fragte die Frau, die neben ihm saß, „du verzählst dich häufig.“
Niedergeschlagen schüttelte er den Kopf.
Aber sie zählte trotzdem noch einmal. Wie ein Kind betippte sie mit dem Finger ihrer schönen, weißen Hand jede Münze und nannte laut die Summe. Aus ihrer Stimme klang die anerzogene Ehrfurcht vor dem Wert des Geldes.
Gequält hörte er zu. Plötzlich fühlte er sich an die Art erinnert, wie ihr verstorbener Vater Geld zählte, an die Art, wie ihr Vater damals die Mitgift hinzählte. Er schauerte, und sein Blick floh die schöne Hand.
„Es stimmt“, sagte die junge Frau und sah ratlos traurig auf das Geld. Scheu beobachtete der Mann ihren hilflosen Kummer.
Unten im Flur gähnte der Metzger, der Hausherr. Er gähnte wie ein Raubtier. Die geröteten Lider der Frau schlugen über die bekümmerten Augen mit dem Flügelschlag erschreckter Tauben …
Der Mann übersah das Bild seines Weibes und verglich: unten in der frischgestrichenen Küche vor dem neuen, prunkenden Herd sitzt das Weib des dicken Metzgers, breit und selbstgefällig und zählt wahrscheinlich schon lüstern die Taler, die morgen auf dem Tische liegen sollen, und hier sitzt
hilflos und bekümmert seine treue, goldene Hanna …
„Was willst du tun?“, fragte sie.
Er antwortete noch nicht, er dachte: Und das ist derselbe Metzger, der sich einmal rühmte, er habe es herausgebracht, es gäbe nur zweierlei Menschen: Lumpen und Spitzbuben. „Ich will lieber zu den Letzteren gehören“, pflegte er zu betonen. „Bei mir heißt es: Nehmen ist seliger denn Geben.
Wenn ich an Ihrer Stelle wäre, ich wollte den Leuten wohl die richtige Brille auf die Nase setzen! Kupfer bekämen sie, und Gold müssten sie bezahlen!“ Auf diese Art hatte der Dicksack mit den Schweinsaugen sein Haus und Kapital erworben und lachte die Lumpen aus. Und gähnte wie ein verdauendes Raubtier! Und hier lag noch nicht einmal die Hälfte des Hauszinses auf dem Tisch, um dem Raubtier den Rachen zu füllen.
„Sprich doch: Was willst du tun?“ drängte ängstlich die bekümmerte Frau. Ihre schöne Hand hob sich nach seiner Schulter. Er aber wich aus.
„So wie der Metzger werden!“, schrie er. „Roh, dreist, unverschämt will ich werden!“
Sie verstand ihn nicht.
„Wenn ich dich ansehe und die Kinder …“, schrie er noch lauter und mit grimmiger Gebärde.
Da erschrak sie; denn sie erwartete wieder einen Ausbruch seines Unmuts gegen seinen Beruf, gegen sich selbst …
„Franz!“ flehte sie, und ihre Hand suchte seinen Arm.
„Nimm deine Hand weg!“ rief er. „Ich bin sie nicht wert!“
Sie wollte ihm den Mund zuhalten, aber er schrie weiter: „Ich weiß es ja, und deine Mutter braucht es mir nicht immer erst zu sagen! Ich weiß es, dass ich nicht für euch gesorgt habe, wie ich hätte sorgen sollen! ‒ Die andern haben es zu etwas gebracht, und ich habe geträumt, geduselt!“
Kopfschüttelnd griff sie besänftigend nach der braunen Locke, die ihm beinahe bis in die blauen Augen hing, und versuchte zu lächeln.
„Lass!“ schrie er und schüttelte sich.
„Ich habe dich nie anders gewollt, als du bist“, sagte sie still, „und du wirst auch nie anders werden.“
Hörend reckte er sich höher. „Nie anders werden? Ich will anders werden!“
Mit innigem Blick sah sie ihn an. „Du bist nun einmal so“, sprach sie. „Du hast dich ja auch geplagt; aber ‒ Franz, ich glaube, Gott schuf zweierlei Menschen. Die einen leben mehr nach außen hin. Sieh, das sind die schlauen, die Geschäftstüchtigen! Die suchen überall ihren Vorteil und kommen auch vorwärts und bringen es, wie man sagt, zu etwas. Die andern leben innerlich und haben auch nichts als ihr Inneres, und das verschenken sie auch noch. So einer bist du. Und darum habe ich dich lieb.“
„Ein hochmütiger Narr bin ich gewesen“, begann er sich bitter zu geißeln. „Ich wollte nicht mit den andern im blöden Trott gehen. Es war mir zu armselig, aus meinem Leben ein Gewerbe zu machen. Zu erbärmlich, zu kleingläubig, in kluger Berechnung für den nächsten Tag zu sorgen. Wie gemein, sich in die gewöhnliche Sicherheit des bürgerlichen Behagens zu setzen! Ach, dieses kleine begrenzte Leben ringsum, wie ekelte es mich an! Ich wollte besser sein als andere, wollte meine Seele vor der üblichen Gemeinheit der Menschen retten, kein Mammons- und Menschenknecht werden. Denn was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne, und nähme Schaden an seiner Seele? Ich wollte rücksichtslos nach dem Reiche Gottes trachten. Ein bedingungsloser Nachfolger Jesu werden! Gott völlig vertrauen! Kein Heuchler, o nur kein Heuchler vor Gott, Menschen und mir selbst! Du weißt es! Und indes? Hör zu! Indes sind mir die Menschen feind geworden! Höhnen über mich! Verachten mich! Lassen mich hinter sich am Wege liegen wie einen lahmen Hund! Wie einen marklosen Narren! Lassen mich nichts mehr verdienen! Mein Weib, meine Kinder, meine Liebsten müssen entbehren! Hör doch nur, hör doch nur, welch ein Unsinn das ist!“
Er schlug sich mit der Faust gegen die Stirn.
Die Frau schwieg.
Mit spöttischem Nachsinnen fuhr er fort: „Und dann natürlich habe ich Gedichte gemacht und mir allerwärts einen Haufen Seligkeit eingebildet. Ein Träumer war ich, ein Träumer wie Joseph im bunten Rock! Ja, im bunten Rock meiner Einbildungen! Da“ ‒ er hob den Blick ins Licht des Fensters ‒ „so eine fliegende Schwalbe, so eine wunderliche Wolke, ein glutbrennender Sonnenuntergang, eine seltsame Farbe, da, so ein pfeifender Junge, ein paar Kinderaugen, ein Menschenantlitz, eine Stimme, irgendeine Offenbarung von Seelengröße, oder ‒ wenn an den Herbstabenden da drüben am märchenblauen Himmel die Lichter der Bahnlinie aufflammten oder im Frühjahr die Rotbuche dort wieder jung in der Sonne stand und feurige Blätter trug ‒ oder die Bücher, die Bücher! Ach, du weißt es ja: Mein letztes Geld haben sie mich gekostet, und die letzte Lust am Geschäft haben sie mir geraubt!“ Bitter lachte er auf. „Gemeinheit war es! Selbstsüchtige, nichtsnutzige Gemeinheit! Ein Genussleben, weiter nichts! Verrücktheit! Planen hätte ich sollen! Geld machen hätte ich sollen! Geld, Geld, Geld! Alles andere ist ein Wust von Einbildungen! Geld ist das einzig Reale!“
„Nein, das ist nicht wahr!“, sagte die Frau.
„Mach dir nichts weiß, Hanna“, fuhr er fort, „es ist wahr! Wahre Tüchtigkeit wird legitimiert durch Besitz, alles andere ist Träumerei! Auch alle religiöse Seligkeit! Niemand nimmt dergleichen ernst. Sie heucheln alle. Suchen alle das Ihre, nämlich Geld! Ich allein wollte das nicht! Jetzt bin ich kuriert! Jetzt werde ich wie die andern! Und dann werde ich erst glücklich!“
„Nein!“, sagte die Frau noch bestimmter zum zweiten Male. „Nein, das ist nicht wahr! Du versündigst dich! Es waren nicht nur Einbildungen. Wie viele Menschen kamen, um sich bei dir zu erquicken! Wie viele richtetest du auf! Sie liebten dich. Du warst ihnen ein Beispiel.“
Er horchte auf. Langsam schüttelte er den Kopf. „Vielleicht kamen sie nur“, sagte er zögernd, „um meine absonderliche Gutmütigkeit auszunützen. Sie kosteten uns jedenfalls Geld, Hanna. Meine kindlich-törichte Furchtlosigkeit amüsierte sie. Sie hielten mich für einen großrednerischen Trunkenen und lachten wohl hinter meinem Rücken über mich. Und jetzt weiß ich, sie hatten recht, denn der heilige Rausch richtet den Menschen ebenso zugrunde wie der Schnapsrausch.“
„Du sollst nicht so reden!“ gebot jetzt die Frau. „Du sollst das keinen Rausch nennen! Du versündigst dich gegen dich selbst!“
„Besser als gegen euch!“ trotzte er. „Wie habe ich es denn getrieben? Pass auf!“
„Ich weiß doch, lass!“ wehrte sie.
„Nein“, antwortete er. „Schon um meiner selbst willen muss ich es mir noch einmal vergegenwärtigen. Also: Da kommt jemand und will eine Brille kaufen. Ich setze ihm eine auf und denke: Sei klug und wahre deinen Vorteil! Aber nicht lange dauert es, da sehe ich nur noch, wie der Mensch den Kopf hält, wie er mit den Augen macht, welche Farbe diese Augen haben und welcher Seele sie zugehören mögen. Da achte ich kaum noch auf das, was er spricht, sondern nur noch darauf, wie er´s spricht, wie er sich bewegt, kurz, wie ihm Leib und Seele geformt sind. Und dann habe ich gleich ein ganzes Leben vor mir, überschaue, in welchem Geiste und in welcher Wahrheit er wandelt, und paktiere heimlich mit seiner Seele oder bedaure, dass er noch in der Unreife und Blindheit steckt, von der ich ihn dann so gern heilen möchte. So sage ich ihm ein ganz ungeschäftliches liebes Wort. Staunend geht er darauf ein, nimmt es an, dankt auch noch, und ich danke innerlich ihm, fühle mich ihm verpflichtet, gebe ihm die beste Brille, fordere nahezu nur den halben Preis, bin in Seligkeit, wenn er mit freudigen Augen meinen Laden verlässt, drücke ihm die Hand und ‒ ihr seid betrogen! Um Mark und Pfennig betrogen! Solch ein Geschäftsmann bin ich! Solch ein Ernährer bin ich!“
Er schlug auf den Tisch. Die Frau griff nach dem schlagenden Arm. „Nimm deine Hand weg, Hanna!“, sage ich. Dein Vater hat sich für dich geplagt, ich habe es vertan und verträumt. Unterdes haben die klugen Leute Häuser gebaut, ihre Geschäfte vergrößert, ihre Zukunft gesichert. Und ich habe nichts erworben! Was werden die Kinder einmal sagen? Nichts erworben, nichts!“
„Doch“, rief die Frau, „du gewannst Jesus!“
Urplötzlich stand er regungslos, sann, kämpfte, rang wortlos. „Das ist ja eben der Unsinn“, begann er dann, „dass ich etwas gewonnen habe, das im Leben nichts gilt! Wie viele reden von Jesus! Sieh dir aber einmal ihr tägliches Leben an! Leben sie wie Jesus? Fällt ihnen gar nicht ein! Warum nicht? Nun einfach, weil es gar nicht geht! Es geht nicht, sage ich dir! Wer wirklich wie Jesus leben will, in seinem Geist, in seiner weltunbekümmerten göttlich-freien Gesinnung, leben will wie die Vögel und die Lilien leben, wie die Söhne Gottes leben, der geht zugrunde! Da sieh auf das Geld! Da höre den Metzger gähnen! Hat das Leben nicht den Rohen recht gegeben? Haben nicht überall die Schlauen und Pfiffigen gesiegt? Wer dirigiert, wer kommandiert, wer triumphiert?
Die Geldmacher! Auch bei den Frommen! Wer es aber wirklich ernst meint mit der Jesusnachfolge, der bleibt hinten! Das sind die kleinen und geringen Leute, die man in die Ecke drückt, die Schwachen, die Unansehnlichen, die an Leib und Seele Elenden, die Vergessenen, die Schweigenden, die Letzten, ja wahrlich die Letzten! Ich will aber kein Letzter bleiben! Schon um euretwillen nicht! Und auch um meinetwillen nicht! Ich will tüchtig werden! Und das sage ich dir noch einmal: Wirkliche Tüchtigkeit legitimiert sich immer durch Besitz!“
Er sprang auf.
Die Frau blieb kopfschüttelnd sitzen. „Nie!“, sagte sie. „Und selbst wenn es dir Gott gelingen ließ! Dich kann kein äußerer Besitz reich machen. Du gehörst zu dem andern Teil, der alles innerlich besitzt. Nie wirst du wie die andern, nie!“
„Ich will es dir beweisen“, antwortete er. „Komm, lass uns die Außenstände durchgehen! Lass uns Rechnungen schreiben und Gelder einkassieren!“ Er saß, kramte in Papieren und rechnete schon.
Sie sah auf seine fiebernde Hand. „Wer schuldet diese große Summe?“, fragte sie, auf eine Zahl zeigend.
„Der reiche Winkels“, antwortete er, „du entsinnst dich doch! Der dicke, ältere Herr, der einmal zu mir kam wie Nikodemus zum Herrn.“
„Aber warum hast du ihm denn noch keine Rechnung geschickt?“
„Hanna! Einer, der bei mir kauft, sozusagen als Gesinnungsgenosse, dem kann ich doch nicht so mit dem Einmaleins ins Gesicht springen! Vielmehr: Das konnte ich bisher nicht! Aber pass auf, jetzt kann ich es! Sofort schreibe ich ihm die Rechnung und fahre hin.“
„Seine Schuld beträgt ja mehr, als die Miete ausmacht“, bemerkte die Frau. „Bring ihm doch sofort die Rechnung!“
Er überlegte: „Du hast recht! Natürlich! Das ist ja das Allereinfachste! Und zudem wird das eine herrliche Fahrt werden! Sieh nur mal den goldenen Himmel!“
Schon schrieb er die Rechnung. „So“, redete er während des Schreibens, „dem wollen wir es abknöpfen; dem tut es nicht weh! Keine Kinder, drei großartige Häuser in der Kunst- und Industriestadt, mächtigen Grundbesitz und ein weinumranktes Landhaus! Ja, das müsstest du mal sehen! Du hast dir ja immer etwas Ähnliches gewünscht. Weißes Fachwerk, dunkelblaues Gebälk, gelb ornamentierte, dunkelgrüne Fensterläden, rote Dachrinnen, bunt, alles bunt! Ungemein freundlich! Und dazu der Garten! Groß! Alte Erlen drin, knorrige Mispelbäume, ein singendes Bächlein, ein unendlich friedvoller Blick über die Wiesen hin zum Buchenwald hinüber, in dem knorrigen Mispelgezweig abends die rote Sonne!“
Wie ein Ritter, der herrisch auf Beute auszieht, saß er auf dem Fahrrad, grüßte blitzend zum Fenster hinauf, wo seine Hanna stand, und sauste los. Die Hoffnung auf allerlei Glück gab ihm den ersten Anlauf. Kühn jagte er die Straße hinauf bis an die Kante des Rinnsteins, wo er durch eines Köters Schuld anrannte und absteigen musste. Das war wohl noch ein Stück von der alten Träumerei, züchtigte er sich, stieg trotzig entschlossen wieder auf, raffte sich scharf zusammen. „Fest und sicher!“ zischte er, und stolz fuhr er die Straße zu Ende.
„Fest und sicher!“ Das Leitwort gefiel ihm, damit wollte er durchs Leben fahren. Zunächst auf dem Rade. „Fest und sicher!“ Solch ein Rad will gebändigt sein, philosophierte er. Es ist ein Stück Leben, das Radfahren. Beherrschung gilt es zu lernen. Es steckt ein Stück Freiheit im Radfahren, das muss man sich erzwingen und auf das Leben übertragen: robustes Festhalten, Augen offen, klug ausweichen, geschickt einbiegen, jeden Tritt zum Vorwärtskommen ausnützen.
So raste er dahin. Die Hunde kläfften hinter ihm her; er hörte sie nicht. Pfeilstarr lag er auf dem Rade und sauste in den Abend hinein wie ein unüberwindlicher Sieger.
Auf einmal schlug ihm ein Glühen ins Gesicht. Geblendet warf er sich hoch, das Rad schoss vor; aufschauend hielt er ein. Um ihn war der reiche Abend. Die Wiesen dehnten sich fruchtbar nach fernen, blauen Wäldern, die Äcker standen bebaut, die Ähren reiften in gelben Wellen, und über dem goldenen Segen tanzten die Lüfte. Beschützt von üppigen Obstbäumen, leuchteten die Bauernhäuser aus der Flur; stachelige Hecken umtrotzten ihren Frieden. Auf Feld und Wiesen wurde gearbeitet. Die Bauern peitschten die Tiere, und die vollen Erntewagen kamen über die Gräben. Hunde bellten, Gesang kam von irgendwoher, und über all der Fülle und Reife ging warm wie perlendes rotes Blut drüben hinter einer breit geästeten Erle, die träumend im Golddunst stand, die Sonne nieder.
Unbedenklich stieg er ab, legte sich lächelnd zu den Blumen ins Gras und schaute.
„Du Weites, du Reiches!“, murmelte er nach einer Weile, als spräche er ein Gebet. „Du bist sowohl roh als zart. In dir wirkt beides: Kampf und Friede, grobe Unbarmherzigkeit und feinste Liebe. Deshalb bist du so fruchtbar, so schön, so groß, so frei. Ich möchte werden wie du, so stark und fleißig, so gelinde und ruhig. Draufgängerisch wie ein Bauernknecht mit Sense oder Peitsche, zart wie eine Meise im Gebüsch. Das wäre das Vollkommene. Lass das in mir wachsen und reif werden, du Gewaltiger, du Zarter auf Erden und im Himmel …!“
Als er wieder aufstand, sah er eine Geierfeder am Wege liegen. Auf seinem Raubzuge hat sie der Vogel verloren, sann er, vielleicht beim Erhaschen der Beute. Ich will sie aufheben und an meinen Hut stecken. Sie soll mir ein gutes Zeichen sein, eine Erinnerung an meinen ersten Raubzug ins Land des Reichtums. So hob er sie auf und steckte sie wie ein Räuberhauptmann schräg vorn an seinen großen Schlapphut.
Wie er jetzt wieder auf seinem Rade saß und sich das kecke Flattern der Geierfeder über seinem Kopfe versinnlichte und neu in die Wärme des Abends einlenkte, steigerten sich seine Gefühle zum großen Rausch.
„Den ganzen Menschen!“, rief er. Klirr! gab sein Rad die Antwort auf den Stoß seines Rufes. „Tierische Kraft im Lebenskampf“ – er trat wie wütend in die Pedale – „und erhabenste Seelenreife!“ Er warf einen Blick gegen den Himmel. „Alle Zarten, Einsamen, Innigen müssen das lernen - alle!“ Und er sah diesen vollkommenen Menschen. Sieghaft groß war er. Vom Tierreich bis ins Engelreich ragte er. Er schritt mit den Winden. Seine Füße stampften die Erde. Seine Locken berührten die Wolken. Seine Hände steuerten sein Geschick. Seine Stimme gebot den Menschen. Die Welt war sein eigen. Und er selbst war dieser Mensch. Unbekümmert groß! Rücksichtslos hart! Sein Ziel Macht und Besitz! Die Fäuste eisern am Steuer! Die Augen wie Augen der Geier! Das Antlitz voll großer Lust an sich selbst und voll milden Hohns über alle seine Feinde! So mit erhabenem Blick in die volle Reife hinein, in den sicheren Reichtum, in das warme Land des Besitzes, in das blendend strahlende Reich des Glücks, in die Sonne, in die Sonne!
Er sauste, jagte, raste. Seine Augen ließen den roten Ball nicht mehr los. Er musste ihn gewinnen. Aber er sank, er sank. Mit der Hand hätte er nach ihm greifen mögen. Vorwärts! Er keuchte. Sein Schweiß tropfte zur Erde, die Wiesen verschwanden, die Äcker bogen sich, die Wälder kreisten. Alles geriet seinetwegen in Bewegung, zog mit ihm, flog mit ihm, siegte mit ihm. Vorwärts! Das schwarze Geäst sticht in den roten Ball. Seine Glut flutet, blutet. „Blutende Sonne, halt! Dein Gold, dein Gold! Gib mir dein Gold!“ Da, wie in einem Netz von Stricken, hing sie, schwankte, rückte, zuckte, duckte sich, gab nach, sank, sank … Mit letzter Kraft stürzte er sich auf sie, griff … Da wurde es dunkel zwischen den Stricken: Das Netz war leer. – Wie plötzlich erblindet, hielt er an, taumelte vom Rade, rieb sich die schmerzenden Augen, sah – und lachte keuchend hinein in den gefärbten Dunst: Die Sonne war untergegangen. Gerade neben dem Winkelsschen Landhause, hinten im alten, knorrigen Geäst des Mispelbaumes war sie untergegangen.
Nein, so etwas! Das war ja wie Betrug, wie Täuschung, wie grobe Spitzbüberei. Er wollte sich entrüsten, den offenen Mund zuklappen, und wie ein verärgertes Kind böse tun, aber stattdessen musste er noch immer verdutzt lachen. Worüber eigentlich? Er konnte sich nicht klarwerden, worüber. Er war noch lichttrunken. Gold umfloss das schöne Haus. Wie geöffnete, breite Mäuler voll flüssigen Goldes lagen die Wolken über dem Garten. Also doch kein Traum! Wie sollte auch dies ein Traum sein? Dieser Garten und dieses Haus eines Mannes, dem nichts im Zugreifen zerronnen und versunken ist! Hier hat es einer zu etwas gebracht, wie man sagt. Jawohl, hier grüßt belohnte Mühe, gelungenes Wagen, gestilltes Sehnen! Hier lächelt die Kraft und Macht eines Tüchtigen, sieht sich um in ihrem Besitz und nennt sich Glück. Selig lächelte er hinüber zum bunten Hause und wiederholte laut: „Und nennt sich Glück!“ Und im lächelnden Hinüberschauen empfing er die Schönheit des Landhauses und des goldüberhangenen Gartenbildes so völlig für die Schatzkammer seiner Seele, dass er alles überwältigend gewann und nur noch staunend wiederholen konnte: „Und nennt sich Glück!“
Und was hat dir dein siebenter Himmel eingebracht, du armer Tropf? schrie er sich plötzlich innerlich an. Illusionen, nichts als Illusionen! Nun stehst du zur Strafe hier und gaffst wie ein Lump. Aber zugleich fiel ihm ein, diese grobe Anrede passte ja gar nicht mehr auf ihn, sondern galt nur noch dem dummen Menschen von früher, den er heute über den Haufen gerannt hatte. Und vor diesem bekam er mit einem Mal einen solchen Ekel, dass er wie ein geschienter Ritter auffuhr, das Rad herrisch herumwarf, vor das Tor führte, anlegte und Einlass begehrte, als stände er bereits vor seinem eigenen Hause.
Die ihm das Tor geöffnet, hatte so höhnisch gelächelt; warum wohl? Vergeblich besah er sich rundum in dem Spiegel des Zimmers, in das man ihn geführt hatte. An die Geierfeder, mit der er sich dem Mädchen präsentiert hatte, dachte er nicht mehr. Und dann verlor er sich vom Spiegel aus an die vornehmen Dinge ringsumher. Wie eine Brustwehr ist der Besitz, philosophierte er. Es steckt eine erobernde Macht in den vornehmen Dingen. Sie sind das Ebenbild eines edlen Willens. Sie helfen beherrschen, sie verpflichten, sie erziehen. Es ist die Zucht zur Schönheit. Die Schönheit aber ist die duftende Blüte des Besitzes. Und alles Hässliche und Ärmliche ist Missrat, Unrat und Unzucht. Unzucht? Er erschrak. Ist das Wort nicht zu scharf? Nein, nein! Es rüttelt auf, es entscheidet. Entschlossen ließ er es bestehen, reckte sich empor in die Vornehmheit hinein, stellte sich gleichsam auf die Seite der kostbaren Dinge, als müsste er durch sie den edelsten Teil seines Wesens retten. Und sonderbar, das fiel ihm gar nicht schwer. Im Gegenteil, er fühlte sich seltsam befähigt zum reichen Manne.
Aber da erschien die Frau des Hauses. Und wieder einmal fühlte er sich versucht, sie als Frau Kommerzienrätin oder besser noch als Frau Konsistorialrätin anzureden. Sie begrüßte ihn in würdevoll lächelnder Vornehmheit und sagte: „Es geht Ihnen gut, nicht wahr?“ Und fragte das mit solch gebieterischem Wohlwollen, dem die zustimmende Antwort selbstverständlich schien, dass er bedingungslos lächelte, dankte und nickte; doch war es ihm auch wirklich, als hätte er heute nur Schönes und Gutes erlebt.
„Und wie geht es denn in Ihrem Geschäft? Auch gut, nicht wahr? Sehen Sie! Und Sie können gewiss jedes Jahr etwas zurücklegen, nicht wahr?“ fragte die Dame, als berühre sie damit die höchste Tugend eines rechtschaffenen Mannes.
Er hätte nicht nein sagen können; es war ihm wie ein Trotz gegen die moralische Absicht der Frage. „O ja“, nickte er; und wiederum war es ihm zugleich, als hätte er wirklich jedes Jahr etwas zurückgelegt.
„Man sieht es Ihnen auch an, wie wohl es Ihnen ergeht“, bemerkte die reiche Frau mit sinnendem Lächeln. „Sie sind ja immer in einer Seligkeit – so sorglos …!“
Auch diese Bemerkung schien ihm zutreffend; denn sie traf eine ureigene Kraft in ihm, aus der heraus er jetzt in die Höhe wuchs, ja, mit der er wuchern und trotzen konnte: „O ja“, sagte er, „ich glaube, es kann mich nichts auf Erden ganz unglücklich machen.“
Darauf war es, als stiege die reiche Frau, von dieser Antwort beengt und vertrieben, mit wankendem Fuße herab aus der Höhe des überlegenen Wohlwollens.
„Sie haben eine glückliche Natur“, korrigierte sie. „Und zwei liebe Kinder! Und sind gesund! Sehen Sie, wir zum Beispiel haben niemanden, der im Alter für uns sorgen wird. Wir konnten nie aufhören, uns ernsthaft zu mühen und zu plagen. Da ist jahrelang während der Saison keine Nacht vergangen, in der mein Mann nicht bis zwölf Uhr gearbeitet und wachliegend im Bette bis zum Morgen gesorgt und geplant hätte. Wenn ihm jetzt das nervöse Kopfweh so viel zu schaffen macht, ist es denn ein Wunder? Wir haben, wie gesagt, niemanden, der im Alter für uns sorgen wird. Was blieb uns übrig? Wir haben das Geschäft mit Schulden begonnen, und wenn wir jetzt etwas errungen haben, womit man sich in der Welt sehen lassen kann, so wissen wir auch, wieviel Mühe es uns gekostet hat und wie man das Erworbene zusammenhalten und immer weiter streben muss. Ja, hätten wir Kinder! Aber wir haben nun einmal keinen, der für uns sorgen wird. Und man weiß nie, was einem noch alles zustoßen kann. Sehen Sie, da ging es nicht anders! Da konnte man nicht zu seiner Freude leben.“
Sie sprach das alles wie zu ihrer Rechtfertigung; und er hörte kopfnickend zu, gab sich Mühe, die Not des geschilderten Lebens einzusehen, und staunte in überlegenem Mitleid vor dem Angstruf: „Wir haben keinen, der für uns sorgen wird!“
Da senkte die weißhaarige Dame das noch im Alter schöne Gesicht mit den stolzen Augen, zeigte ihre einst schönen, jetzt aber blauweißen, muskellosen Hände, die fortwährend zitterten, und sagte wie zur weiteren Rechtfertigung: „Sehen Sie, so zittern sie fortwährend vor Nervenschwäche, dass ich gar nichts mehr halten kann! Jetzt habe ich mir das zweite Mädchen nehmen müssen – wir wohnen ja zu weit von der Stadt weg –, da war das eine Mädchen den halben Tag unterwegs und ich hier allein mit diesen ohnmächtigen Händen! Und nun sitzen wir zwei Leute hier mit zwei Mädchen! Das ist doch zu viel, nicht wahr? Das wird auch zu teuer! Und überhaupt wird uns das Leben hier draußen viel teurer, als wir gedacht hatten. Man muss der Entfernung von der Stadt wegen so vieles auf Vorrat einkaufen, und im Nu ist es verdorben. Und was uns im Garten zugrunde gegangen ist! Und was uns die Leute gestohlen haben! 1m Dorfe wohnt so viel gewöhnliches Pack! Sie glauben nicht, wie schlecht die Menschen sind! Unser eigener Gärtner …! Sehen sie, wenn mein Mann nun wenigstens klug würde und diese humanen Ideen aufgäbe! Er hat sie ja wohl nie in die Praxis übertragen, aber er quält sich damit. Man muss doch mit dem wirklichen und tatsächlichen Leben rechnen, nicht wahr? Das ist doch gewiss auch Ihre Meinung. Trotzdem Sie ja, wie mir mein Mann sagt, ähnliche ideale Gedanken pflegen. Aber sie quälen sich doch nicht damit.“
„Nein“, bestätigte er, „quälen? Nein!“
Wie er aber die Moral der Frage bedachte und wieder trotzen wollte, ging die Tür auf, und Herr Winkels stürzte herein.
Er sah nicht gut, der Herr Winkels. Er hatte von Geburt an etwas verhangene Augen; die Lider überdeckten den halben Blick. Wie ein halb Blinder hob er das Gesicht ins Zimmer; seine Stirn, die Glatze, der ganze Kopf glühte.
„Ah!“ machte er, „da sind Sie ja! Seien Sie mir von ganzem Herzen willkommen!“ Beleibt tänzelte er auf Franz zu und fasste dessen Hände. „Von ganzem Herzen!“ wiederholte er lächelnd und in der leisen, vorsichtigen und doch verbindlich sein sollenden Sprechweise, von der sich Franz gequält fühlte, sobald er sie hörte. „Aber nehmen Sie Platz!“ Das rote Gesicht suchte lächelnd im Zimmer umher.
Franz setzte sich. Der reiche Winkels rieb sich die dicken Hände: „Was wollte ich doch …? Ah, ja!“ Er suchte das Gesicht seiner Frau: „Wir könnten wohl etwas Wein … Du bist wohl so gut, Klärchen …“
Die hohe, weißhaarige Frau ging mit vornehmen Schritten aus dem Zimmer.
Herr Winkels betippte sich die rote Stirn, sah gequält zu Boden, erhob unselig das Gesicht und rieb schließlich wieder, von neuem Franz umtänzelnd, die dicken Hände. So flüsterte er lächelnd: „Das ist sehr schön, dass sie mich mal besuchen! Wirklich schön! Ich freue mich stets, wenn ich Sie sehe! Wie geht es Ihnen denn? Wie sind sie denn hergekommen? Ich sah da ein Rad stehen … Also auf Ihrem Rade.“ Er kratzte sich nachdenklich das Kinn. „Ich habe auch schon lange vorgehabt mal wieder zu radeln, aber ich habe keine Zeit, und es ist mir auch ein, zu teurer Sport … die Reparaturen … und dann die Gefahr … und das geisttötende Treten…!“ Er lächelte fragend.
„Man muss das Rad etwas beseelen“, sagte Franz, „dann ist das Fahren gar nicht so geisttötend. Ich fuhr heute geradeaus in die Sonne.“
„Sie fuhren …? Ei, sie fuhren geradeaus in die Sonne?“ Mit wirrer Kopfbewegung hob er die verhangenen Augen gegen das matte Licht des Fensters: „Sie fuhren …? Nein, was sie doch für ein glücklicher Mensch sind! Sie fuhren geradeaus in die Sonne? Ich habe zu so etwas keine Zeit! Ich muss es noch einmal sagen: Ich habe absolut keine Zeit zu solchen Sonnenfahrten! Ich“ – und nun lächelte er, als legte er mit Galgenhumor ein betrübendes Bekenntnis ab – „ich habe heute Zinsen eingetrieben“ – mit einer bitteren Freude betonte er den Gegensatz – „Häuserreparaturen beaufsichtigt und mich um Mieter für zwei Wohnungen bemüht, die mir schon allzulange leer standen. Ich habe ein halbes Dutzend Mahnbriefe an faule Schuldner geschrieben, Prozessgeschichten abgewickelt, Landverkauf geordnet. Nein, was war es heute nicht wieder alles! Sehen Sie, da ist mir leider keine Zeit geblieben zu solchen Vergnügungen, wie Sie sie da auf Ihrem beseelten Rade genossen haben!“
Franz wollte antworten. Er wollte entgegnen, dass ihn die Sorge hierher getrieben habe.
Er griff nach der Rechnung.
Aber der reiche, schwachsichtige Winkels hielt diesen Griff für eine Gebärde des Beleidigtseins. Schnell sprang er auf ihn zu, legte ihm die dicke, weiße Hand auf die Brust, gerade dahin, wo die Rechnung knitterte, und hub an: „Nein, nein, es ist gut, dass Sie auf diese Weise mal hierhergekommen sind! Sie wissen ja gar nicht, was das für mich bedeutet! Wie Sie mich damit bereichern! Wenn man so vereinsamt ist, wie ich es bin! Wenn man niemanden hat, dem man sein Inneres offenbaren kann! O ich sage Ihnen, immer dieser erbärmliche Erwerb! Immer in der Abwehr gegen Abscheulichkeiten! Ja, unglaublich, gegen welche Abscheulichkeiten! Betrug, Unterschlagungen, Hintergehungen Veruntreuungen! Begangen von Leuten, denen sie jahrelang blindes Vertrauen geschenkt haben! Und Sie kommen durch dieselben Leute um Ihr Geld!“
Gerade brachte das Mädchen den Wein und die Gläser.
Das brachte den reichen Winkels wieder zu sich.
„Lassen Sie einmal sehen, Käthe, ob es der richtige ist!“ fragte er plötzlich gesammelt, hielt die Flasche, als ob er jetzt ganz gut sähe, ins letzte Licht des Tages, schickte mit einem knappen Wort das Mädchen fort und begann trotz der Dämmerung mit gewandter Hand die Gläser zu füllen, dabei redend: „… ja, was wollte ich doch sagen?“ Auch das zweite Glas füllte er. „Ja, … na, was wollte ich doch sagen …? Da sehen Sie!“– entsetzt stieß er die Flasche auf den Tisch – „Da sehen Sie! So verlässt mich mein Gedächtnis oft vollständig! Ich sage Ihnen: Ich werde total aufgerieben in diesem Kampf! Mein Kopf ist wirr“ – schlenkernd fingerten die Hände über die Glatze hin – „mein Kopf ist … ja, ich weiß überhaupt manchmal nicht mehr, ob ich noch einen Kopf habe, sehen Sie …“ Blöde hielt er das dunkelrote Gesicht vor Franzens Augen, als offenbare er die unglücklichste Geistesleere, dann senkte sich das Gesicht und wurde dabei misstrauisch matt. „Aber wir haben ja noch nicht getrunken!“ belebte er sich im nächsten Augenblick. „Zu Ihrem Wohl! Dass Sie noch viele – Sonnenfahrten machen! So wie heute!“ Die kupfern glänzenden Wangen versuchten ein aufgeräumtes Lächeln, aber es blieb ärmlich.
Das Glas hinstellend, befühlte er jetzt ängstlich die gerötete Stirn und redete: „Eigentlich sollte ich ja keinen Wein trinken … Sie sind doch auch gegen den Alkohol, nicht wahr? Man muss vom sozialethischen sowohl als vom sozialhygienischen Standpunkt aus absolut …“ Und nun hielt er eine lange Rede gegen jeglichen Alkoholgenuss und trank dazwischen. Ebenso absolut sprach er gegen die Unsitte des Rauchens, aber auf seinem Schreibtisch sah Franz eine mit Aschenhäufchen bedeckte messingene Rauchschale blinken. Schließlich kam er auf die rohe Abscheulichkeit des Mordens unserer lieben Mitgeschöpfe, der Tiere, zu sprechen. „Der Metzger, die Jagd!“ ereiferte er sich. „Nur dass der Mensch lüstern fressen kann! Es ist unerhört! Sie enthalten sich doch auch des Fleischgenusses?“
Franz besah den beleibten Mann, der im Hinschwinden des Abendlichts mehr und mehr zum Schatten wurde, und sprach: „Soviel wie möglich. Ich möchte Herr über jedes Bedürfnis werden, das mir den Weg zum Leben versperrt.“
„O …“ machte Winkels – und der Ton war halb für, halb gegen den Radikalismus – „da müssen Sie unsere gesamten Verhältnisse umändern!“ Und nun beschrieb er sehr gut die soziale Lage und Frage, die „blinde“ Hetze nach Macht und Mammon, den brutalen Materialismus den allgemeinen Raub und Betrug, die „Scheußlichkeiten“, die er selbst hatte erleben müssen, und schloss, indem er sich den Kopf hielt: „Sehen Sie, da müsste ein Feuer angezündet werden auf Erden, ein Feuer, wie heißt es doch gleich in der Bibel? Ein Feuer … ‚was wollte ich lieber, denn es brennete schon?‘“ Bewegt tastete er nach dem Glase und trank. „Ein neues Gewissen“, fuhr er fort. „Ein neues Gewissen auf Grund der alten Evangelien! Endlich einmal hilfsbereites, ernsthaft praktisches Christentum! Beileibe keine Dogmen mehr, aber die Ethik Jesu modern-sozial praktiziert! Modern-sozial! sage ich. Sehen Sie, ich habe damit begonnen“ – er redete leiser – „ich habe nahezu meinen gesamten liegenden Grundbesitz parzelliert. Ich will Einfamilienhäuser bauen lassen. Billig und hübsch. Meine Mitmenschen sollen heraus ins Grüne. Die öde Großstadt, die hohen Mieten für lichtlose Wohnungen, das alles soll aufhören. Jeder soll im eigenen Heim auf eigenem Grund und Boden wohnen, glücklich und frei. Was ich bei diesem Unternehmen verdiene, werde ich zu weiteren humanitär-sozialen Zwecken verwenden“. Alles an ihm war jetzt Energie und Leben.
„Und wieviel wird das sein?“ fragte Franz plötzlich.
Die Lebendigkeit des beweglichen Schattens hörte auf.
„Das wird … Ich habe mir die Sache auf rund fünfzigtausend Mark berechnet“, hörte Franz den reichen Winkels leise sage.
„Und was wollen Sie denn mit den fünfzigtausend Mark anfangen?“ fragte Franz, sich höher reckend.
„Was ich damit anfangen will …?“ Die Stimme klang ganz verändert hart und misstrauisch. „Nun, ich habe es Ihnen ja bereits gesagt: In neue soziale Unternehmungen werde ich sie stecken.“
„Um weitere fünfzig- oder hunderttausend Mark zu verdienen?“ fragte Franz kalt.
„Warum nicht?“
„Wozu?“
„Wozu?“ Der immer plumper gewordene Schatten krümmte sich jetzt, wand sich. „Nun, wozu man schließlich überhaupt Geld verdient: um leben zu können! Aber, was wollen Sie?“ schrie er ins Dunkel.
„Sie können noch immer nicht leben?“ fragte Franz ruhig. „Dann werden Sie auch mit den weiteren hunderttausend Mark nicht leben können.“
„Ja, es tut mir leid“, rief der Schatten aus. „Aber was meinen sie denn, was ich jetzt besitze? Wir haben keine Kinder! Wir haben niemanden, der im Alter für uns sorgt. Meine Verhältnisse zwingen mich zum Verdienen.“
Franz stand auf. Mit dem Fuße stieß er den Sessel beiseite. „Ihre Verhältnisse …? Ihre Verhältnisse, das sind Sie selber! Die Verhältnisse, das ist unsere Einbildung, unsere Kleingläubigkeit unsere Furcht! Der armselige Wahn, dass man ohne dies und jenes nicht leben könne! Der elende Aberglaube, dass unser Glück von äußeren Dingen komme! Unsere Verhältnisse, das sind unsere verrückten Bedürfnisse! Das ist das erbärmliche kleine Leben, das wir ächzend nachschleppen! Das ist das gezwungene Dasein, das unsere Seele ruiniert und traurig oder wild macht! Das ist die lumpige Angst, die Jesus meinte, als er sagte: ‚In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden!‘“
Der reiche Mann setzte sich.
„Nun“, sagte er nach einer Weile, „ich kann Ihnen sagen: Sie werden mit diesen Anschauungen nicht durchs Leben kommen!“
„Wenn ich nichts anderes wollte als durchs Leben kommen“, antwortete Franz, „dann ja! Aber ich will zum Leben kommen, und wenn ich dies Leben, das Sie meinen, gleich dabei verlöre. Denn das Leben, das Sie leben, ist gar kein Leben; das wissen Sie selbst: Das ist der Tod! Was verliert man am Toten? Das wahre Leben hat, wer sprechen kann: ‚Und nehmen sie uns den Leib, Gut, Ehr' Kind und Weib, lass fahren dahin, sie haben kein Gewinn! Das Reich muss uns doch bleiben!‘“
„Das ist heilloser Wahn und schwärmerischer Fanatismus“, sagte der Schatten im Sessel.
„Nein, das ist alleiniges Heil, alleinige Liebe, alleiniger Reichtum“, sagte Franz, der inzwischen aufgestanden war.
„Wir sind nicht da zu behaglicher Seligkeit“, tönte es vom Sessel her. „Wir sollen auf dem schmalen Weg im Schweiße unseres Angesichts unser Brot verdienen.“
„Ganz recht: unser tägliches, von Gott geschenktes Brot! Das soll jedem werden und wird jedem, der aus Gott lebt. Aber nicht noch drei Häuser dazu, ein Landgut und in einigen Monaten an die hunderttausend Mark im Wucher mit einem Stück Erde! Denn damit vermehrt man nur den Fluch der Sünde und bringt Schweiß auf sein eigenes und der Menschen Angesicht, den Gott nie gewollt.“
„Nun, wenn Sie das Wucher nennen …! Ich sage Ihnen: Ohne Planen und Wagen mit Geld gäbe es überhaupt keine Kultur noch Fortschritt!“
„Ich kenne nur einen Fortschritt: unser Fortschreiten in der Vollendung zu Gott. Schließlich mag auf diesem Wege auch die europäisch – amerikanische Kultur liegen; es ist möglich. Mir aber scheint sie eher ein Umweg, ja ein Irrweg zu sein als ein Weg zu Gott.“
„Und draußen am Tore steht Ihr modernes Rad!“
„Gut! Nur etwas bleibt sonderbar: Alle Welt hofft durch Kulturarbeit, durch Technik und Fortschritt Zeit und damit ein intensiveres Leben zu gewinnen, das dem wahren Leben immer näher komme. Und in Wahrheit verlieren die Menschen immer mehr Zeit und Kraft an Dinge, die zum wahren Leben gar nicht nötig sind, sondern vom wahren Leben wegführen und uns um das wahre Gedeihen und den Frieden unserer Seele betrügen. Man redet von sich steigerndem Wohlstand, und immer weniger Menschen fühlen sich recht wohl. Welch ein Unsinn ist das doch!“
Der reiche Mann antwortete nicht gleich. „Sie mögen in manchem recht haben“, begann er nach einer Weile. „Man müsste also mehr Zeit gewinnen, den inneren Menschen zu pflegen. Das ist ja eigentlich ganz meine Ansicht.“
„Ja, und bei wem dieser ,innere Mensch’ wirklich Christus heißt, der hat mehr als Zeit und kulturelle Randverzierung, der hat ewiges Leben gewonnen und hat damit aufgehört, das Verlangen nach äußerem Reichtum zu pflegen.“
„Nun, und ich sage Ihnen“, schrie jetzt Winkels, „Armut ist noch lange keine Tugend!“
„Nein, die äußere Armut ist so wenig eine Tugend wie die innere. Es gibt nur einen Reichtum: Gott in Christus! Wer den hat, kann äußerlich arm oder reich sein; aber letzteres wird er schwer werden, wenn er von jedem Überfluss den Mangel anderer stillt.“
„Nun“, versuchte Winkels, „Sie können heute auf Erden anfangen, was Sie wollen, es wird zum Geschäft! Und selbst wenn Jesus heute auf die Erde käme … sehen Sie, wenn er Einfluss gewinnen, sich durchsetzen wollte, müsste er Besitz haben.“
„Und ich sage Ihnen, er könnte niemals mehr Einfluss ausüben, als er bereits im Einssein mit dem Vater ausgeübt hat, und niemals mehr siegen, als er bereits durch seinen Geist gesiegt hat, und niemals mehr besitzen, als er bereits seit Ewigkeit besitzt. Und er ist immer auf Erden! Und wer in ihm lebt, ist immer im Himmel! Wer aber in ihm frei und reich werden will, der muss sich selbst und diese Welt erst einmal um Christi willen verlieren, um diese Welt und sich selbst in Christus furchtlos unverlierbar zu besitzen. Jedes andere Leben und jeder andere Besitz ist Wahn und Angst und Schein. Man kann nicht Gott dienen und dem Mammon!“
Der reiche Mann stand auf und wanderte lautlos über den Teppich. Das letzte Leuchten des Tages ging hinter ihm her und malte eben noch erkennbar seine gebeugte Gestalt. Müde blieb er stehen, und es schien, sein Haupt sinke immer noch tiefer. Aber auch Franz beugte sich allmählich in ein tiefes Schämen, als hätte er mit jedem Wort, das er gesprochen, gesündigt. Es wurde ganz still.
„Ich bin nun so viel älter als sie und kenne doch das Leben“, begann der reiche Mann endlich wieder, aber seine Worte hoben sich jetzt so seltsam aus der Stille, so rein und unverhüllt, als entstiegen sie einem Bade – „und alles, was Sie da gesagt haben, habe ich einmal gewollt, glauben Sie es mir! Und ich wünsche es noch heute: mehr Himmel und mehr Liebe! – Aber das Leben hat mir die Hoffnung genommen. Ich habe keinen Glauben mehr, weder an solchen Himmel noch an diese Liebe! Sehen sie, ich hatte damals mein Geschäft begonnen mit dem Grundsatz, nicht mehr erwerben zu wollen, als mir für ein einfaches Leben für mich und die Meinen – denn damals hoffte ich noch auf Kinder – nötig schien. Aber man will sich auch nicht von der Brutalität der Welt besiegen und als ein Schwächling im Erwerbskampf vom Tische stoßen lassen. Man möchte doch nicht zurückbleiben und zu den Letzten gehören. Denn man weiß doch, die Träume von Licht und Reinheit bringen nichts ein. Also stellen Sie sich, wie Sie wollen: Sie müssen planen und erwerben! Es bleibt Ihnen einfach nichts anderes übrig! Aber nachher packt Sie die Freude am Erwerb. Sie greifen zu. Mit dem Erwerb steigern sich die Bedürfnisse, das ist wahr, und mit den Bedürfnissen die Sorgen um den Erwerb, das ist auch wahr. Und damit die Verpflichtungen zu weiterem, immer rücksichtsloserem Kampfe. Sie werden nüchtern, ganz nüchtern.
Das heißt: Sie werden skrupellos und innerlich hart und rüde. Aber Ihr Ansehen in der Welt steigt, denn Sie haben es bereits zu etwas gebracht. Und Sie wollen sich doch nun auch weiter in der Welt sehen lassen. Also müssen Sie den errungenen Platz behaupten. Und Sie betrachten nun das ganze Leben vom Standpunkt eines tüchtigen Geschäftsmannes aus. – Zudem: Wir bekamen keine Kinder. Mir fehlte die Erwärmung durch die Liebe. Da wurde mir das Geschäft alles. Die Furcht vor Verarmung durch Verluste, vor Not im Alter nahm mir die letzte Sorglosigkeit, die letzte Freude. Da packt Sie der Kampf, nimmt Sie und trägt Sie fort in ein Dickicht, das keinen Ausweg hat. Da sitzt Ihre Seele drin, und es schlägt über ihr zusammen. Und dann sind Sie reich! Das heißt: Sie haben Geld, Häuser, Land, Luxus, Wohlleben, Ansehen. Und bezahlten dafür pünktlich mit der Gesundheit Ihres Leibes und Ihrer Seele. Und das Schlimmste ist, wenn sie dann einer vergangenen Sehnsucht Raum geben. Sie quälen sich mit der Unschuld der reinen, schlichten Himmelsdinge. Aber das ist alles! Die Fähigkeit, die Kraft zu einem reinen, schlichten Leben ist mittlerweile dahin. Sie wünschen ihn wieder, den Glauben an Reinheit und sch1ichtes Himmelsglück, aber Ihre ‚Nüchternheit‘ umbellt sie wie ein gemeiner Gassenhund: Es ist vergebens! – Ich muss hinaus! Ich muss planen, erwerben, gewinnen! Ich bin schon zu einsam, sehen Sie! Ich kann nicht mehr anders! Ich bin ein armer Mann! Das alles hier ringsumher, das lässt mich kalt! Das ist mir nichts! Das widert mich an! Ich bin einer von den armen Reichen! Ich kann wohl sagen: Je reicher ich geworden bin, desto ärmer bin ich geworden! Sehen Sie – das ist mein Leben!“
Mit beiden Händen am Kopf wandte er sich dem nun völlig lichtlosen Fenster zu. Unheimlich lag die Dunkelheit im Zimmer wie ein schwarzes Tier. Als bewache sie lauernd und sprungbereit das Leben des reichen Mannes, den armen Schatten mit den verzweifelten Händen vor dem lichtlosen Fenster.
Plötzlich wandte sich der reiche Winkels um und sagte: „Entschuldigen Sie, dass Sie mich so sahen! Das ist noch keinem zuteil geworden. Ich möchte jedoch nicht, dass die Leute davon erführen. Und nun machen Sie mir die Freude und bleiben Sie bei uns zum Abendessen! Es muss ja schrecklich spät geworden sein. Ich werde sofort Licht machen. Also Sie bleiben?“ Es war wieder ganz die alte, glatte, vorsichtig verbindliche Stimme.
„Ich kann nicht!“ stieß Franz gegen den Schatten und vertrat ihm den Weg zum Licht. „Bitte, kein Licht! Ich sehe sehr gut! Ich muss gehen! Sofort! Aber ich komme wieder! Ich verspreche es Ihnen! Recht bald! Sobald ich kann!“
Schaudernd entrang er sich einer heißen Hand, war aus dem Zimmer, griff nach seinem Hut, nach der Türklinke, stürzte hinaus nach dem Rade, suchte die Lampe zu entflammen; sein erregter Atem verlöschte das Streichholz, ein zweites brach unter der Hast seiner Hand, ein drittes brannte.
Eine zeitlose Sekunde starrte er in die wachsende goldene Flamme der kleinen Öllampe wie in eine nun ganz beruhigende, himmelslichte Offenbarung.
Plötzlich, schnell wie ein Fliehender, wie ein Geretteter löste er das Rad vom Zaune, öffnete hastig und doch leise, als könnte doch noch ein Ruf, ein Laut vom Hause her ihn bannen, das Tor und eilte hinaus auf die dunkle Landstraße. Genugsam zeigte das Licht den Weg; dem goldigen Strahlenspiel folgend, enteilte er dem leise geschlossenen Tor.
Das Rad sauste, die kleine Laterne wippte, klirrte. Der Staub des Weges kam ins Licht und warf sich gegen die schützende Scheibe. Aber das Flämmchen brannte, leuchtete über alle Gefahren hinaus, ein sicheres Licht auf dem Wege. Und der Weg kam und legte sich dem goldenen Licht zu Füßen, wurde hell und nun selbst golden, Stück um Stück, inmitten der Finsternis. Und das Rad begann im klingenden Lauf zu singen, leise erst, bebend und verstohlen, dann immer vernehmbarer, deutlicher, bestimmter, entschlossener, endlich, als stürmte ein Siegesgesang; und als der verklungen war, blieb ein mildes, inniges Singen, als klänge ein Loblied, als sänge eine alte Weise. Und Franz sah den Weg und sah das Licht und verstand das Klingen und vernahm die Rede und wiederholte sie mit seinem Munde, leise erst und dann immer gewisser und unter Tränen immer jubelnder: „Dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Wege.“
Durch einen weiten Himmel fuhr er heim. –
Hanna lag im Fenster und sah ihn kommen.
Er nahm die Laterne vom Rade und stieg hinter ihrem goldigen Strahlenspiegel die Treppe hinauf. Denn obgleich die Treppe erleuchtet war, gab er doch das kleine Licht nicht preis.
„Du hast alles!“ jubelte die Frau, als sie ihn so auf halber Treppe mit dem brennenden Lämpchen zu sich emporsteigen sah. „Es ist dir geglückt! Ich sehe es an deinem Gesicht, an deinen Augen! Du hast alles!“
„Still!“ beruhigte er lächelnd seine Frau. „Ja, ich habe alles!“
Glückselig eilte sie voraus und hinauf wie ein unbändiges Kind. Weit, ganz weit riss sie die Stubentür auf. Ein ungewöhnlicher Glanz brach aus dem Zimmer. Staub- und schweißbedeckt kam Franz vor der Schwelle in den großen Lichtstrom. Das goldene Flämmchen seiner kleinen Laterne wurde plötzlich ganz arm und unbedeutend, ja beinahe dunkel. Erstaunt, ja erschreckt blieb er regungslos stehen; nur sein Atem keuchte. So sah er auf dem blendend weiß gedeckten Tisch zwei Lampen brennen, dazwischen einen Strauß schlichter Feldblumen, und um Strauß und Lampen festlich bereitet das Abendbrot.
„Weil es dir sicher schwer geworden ist“, sagte seine Hanna. „Oder …?“ Sie verstummte.
„Warum gehst du nicht hinein? Was ist dir?“ fragte sie endlich entsetzt.
Schweigend und immer noch zögernd trat Franz ins Zimmer. An den bebenden Lichtkreisen, die mit ihm die Schwelle passierten und in der Stube selbst kaum noch wahrzunehmen waren, ja beinahe wie Schattenringe hüpften, bemerkte er erst, wie die Hand zitterte, die das Lämpchen trug. Unsicher setzte er die kleine Laterne auf die dunkelste Ecke des Tisches und sich selbst auf den Stuhl.
„Hast du es bekommen und verloren?“ schrie die Frau. „So sprich doch!“
Gequält sah er über den festlichen Tisch hin und wieder zurück zu seinem Lämpchen.
„Da … sieh! Es leuchtet doch! Siehst du das Gold? Siehst du das Gold?“ Er zeigte auf die Tischdecke, wo tatsächlich die matten Strahlenkreise des kleinen Laternenlichts in warmer Goldfarbe spielten.
„Um Gottes willen, Franz … !“ Sie meinte nicht anders, als sei er des verlorenen Geldes wegen wahnsinnig geworden.
Nun lächelte er und zog sie an sich. „Da setz dich hin!“ bat er. Und sie hing ihm an Augen und Mund und setzte sich wie ein Kind.
„Ich wollte dir eigentlich eine Geschichte erzählen von einem ganz armen Manne, von diesem Lämpchen und von mir. Ja, ich hatte sie mir schon mit großer Freude zurechtgelegt, diese Geschichte. Aber als ich vor dieser Schwelle hier mein Licht so erbleichen sah, wollte meine Freude schier sterben. Schon glaubte ich, ich hätte ja doch wieder alles verkehrt gemacht, alles wieder dir und unseren Kindern zum Schaden. Aber … da sah ich plötzlich das Gold wieder, das Gold da von dem Lämpchen, dasselbe Gold, das mir in der dunklen Nacht draußen geleuchtet hat auf dem Wege …“
Sie wollte schon wieder unruhig werden; aber er hielt sie fest und beschwichtigte: „Bleib still!“ Aber damit sprang er selber hoch, schaute ihr in die Augen und rief: „Denn ich habe ja nicht gelogen! Ich habe ja dennoch alles, alles mitgebracht! Weit mehr als eine bezahlte Rechnung! Weit mehr als das Wohlwollen eines Menschen! Denn siehe, ich bin unselig, blind und arm gegangen, und ich komme selig und sehend und reich wieder! Ja, noch reicher und seliger als früher!“
Und wieder wollte sie unruhig werden. Aber nun fasste er ihre beiden Hände und erzählte: „Sieh, ich wollte ja alles recht vollbringen. Ich hatte schon die Rechnung in der Hand, um sie dem reichen Manne zu übergeben. Aber was der reiche Mann nachher zu mir sprach, und was ich zu ihm sprechen musste, das war zu ernst, zu ergreifend, zu heilig, Hanna! Dabei ließ sich keine Rechnung über gelieferte Brillen, Kneifer und Lorgnetten präsentieren. Das ging nicht, Hanna! Und sieh, zum
Schluss stand der reiche Mann so bettelarm vor mir, so bettelarm – ich werde es dir nachher noch im Einzelnen erzählen –, da konnte ich ihm erst recht keine Rechnung überreichen. Und ich war währenddem reich geworden! Alles war mir auf so wunderbare Weise wiedergegeben worden, was ich noch eine halbe Stunde vorher wie einen Ekel von mir werfen wollte. Da, liebe Hanna, fühlte ich mich so überreichlich bezahlt. Wie konnte ich da noch von einer Rechnung reden! Ich riss mich los von jedem weiteren Wort. Ich brannte inwendig. Ich warf mich hinaus in die Nacht. Ich lag auf meinem Rade und weinte vor unserem Gott. Mit diesem goldigen Lichte da auf meinem Wege fuhr ich durch ein endloses Reich des Glücks. Die Rechnung knitterte zwischen Rad und Brust, ich lachte darüber; ich ließ sie knittern. Nur einmal holte ich sie heraus, stieg ab und schrieb ein Gedicht darauf, das mir die Gnade unterwegs schenkte – ich werde es dir nachher als Festspruch vorlesen –, dann stieg ich singend wieder auf und fuhr zu dir. Und sieh, morgen schicken wir den armen Winkels eine neue Rechnung, und das Raubtier da unten bekommt sein Futter eben einige Tage später. Und nun fröhlich, Hanna! Was soll uns denn geschehen? Wer will uns arm machen? Wer unglücklich? Wer kann uns verderben? Sieh, der in uns ist, ist größer als der, der in der Welt ist!“
Und damit küsste er sie und dankte ihr.
Und Hanna sprach: „Wenn es so ist, dann ist es gut. Du hast dann das Beste wieder ins Haus gebracht: dich selbst!“
„Mehr als das, Hanna“, ergänzte er, „denn was wäre ich ohne den, der in mir ist? Und doch habe ich noch etwas mitgebracht. Etwas, womit die Kinder spielen können. Eine Geierfeder, die ich unterwegs fand und an den Hut steckte, weil ich wie ein Raubvogel werden wollte. Wir wollen sie den Kindern aufs Bett legen zur Morgenfreude. Wo ist denn mein Hut?“
Er suchte, fand den Hut, besah ihn rundum, aber die Geierfeder steckte nicht mehr darauf.
Er hatte sie unterwegs auf der Heimkehr durch den weiten Himmel verloren.