Читать книгу Die Milchstraße - Fritz Kahn - Страница 5

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Wenn man in einer klaren Sternennacht aus der Lichtnähe menschlicher Behausungen in die Dunkelheit hinaustritt und den Blick zum Himmel wendet, sieht man zuerst nur die hellsten Sterne als leuchtende Punkte auf schwarzem Grund. Je länger man aber im Finstern weilt, um so mehr Sterne tauchen aus dem Dunkel; Hunderte, Tausende, erst vereinzelt, dann in Scharen, und wenn sich das Auge gänzlich an die Finsternis gewöhnt hat, so gewahrt es tief hinter dem Heer der übrigen Sterne einen schimmernden Nebelstreifen, der sich wie ein silbergraues Band um die Himmelskugel schlängelt – die Milchstraße.

Sie erhebt sich als ein 10–12 Mondscheiben breiter Lichtstreifen von unregelmäßiger Helle und Gestalt zwischen den beiden auffallenden Sternen Sirius und Prokyon über den Horizont, steigt zwischen dem glänzenden Bild des Orion und den Zwillingssternen Kastor und Pollux aufwärts durch das Dreieck des Fuhrmanns empor mitten durch den Perseus und überbrückt im W der Kassiopeia den Zenit in ihrer größten Annäherung an den Himmelspol. Von der Kassiopeia läuft sie zum hellen Stern Deneb im Schwan, wo sie sich in zwei Arme teilt, von denen der hellere und breitere genau über den Stern Atair im Adler, der schmälere und schwächere dagegen am Sternbild der Leier vorüber den Horizont hinabstrebt, um sich für unsere Breiten hier im Dunst der Atmosphäre zu verlieren. Auf der uns unsichtbaren Südhälfte des Himmels setzt sich die Milchstraße in genau der gleichen Weise fort. Die beiden Arme laufen getrennt zwischen Schütze und Skorpion und vereinigen sich, nachdem sie ein Drittel des ganzen Kreisumfangs gesondert waren, am hellen Stern Alpha im Centauern. Von hier aus läuft der ungeteilte Ring durch das schönste aller Sternbilder, das Kreuz, dem Südpol zu und steigt dann durch das ausgedehnte Bild des Schiffes hinüber in die Gegend des Orion, wo sich der Milchstraßengürtel wieder unserem nördlichen Firmament nähert.


Abb. 1. Die Milchstraße auf der südlichen Himmelshälfte.

Erhöbe man sich so hoch über die Erde, daß kein irdischer Horizont mehr den Blick begrenzte, so würde man demnach die Milchstraße als einen ununterbrochenen Ring um das ganze Himmelsgewölbe ziehen sehen wie einen silbernen Reifen um eine gläserne Kugel.

Die Milchstraße ist keineswegs ein regelmäßige Gebilde. In einem Drittel ihres Laufes vom Schwan bis zum Centauern ist sie in zwei Arme geteilt wie ein Fluß, der eine Insel umfließt. Ihre Breite wechselt, erreicht ihr größtes Maß im Bild des Skorpions, ihre geringste Ausdehnung nahe dem Südpol im Kreuz. Seitenarme zweigen von ihr ab, verlieren sich allmählich im Dunkel des Himmels oder brechen scharf und hart ab, als seien sie abgeschnitten. Ihre Lichthelle ist wechselnd. An manchen Stellen erscheint sie wolkenartig zusammengeballt und auffallend lichtstark, dicht daneben schwach, schattenhaft, zerrissen und zerklüftet, ja völlig von finsteren Räumen und Gängen durchbrochen, von denen man die zwei größten südlich im Kreuz und nördlich im Schwan als die beiden »Kohlensäcke« der Milchstraße bezeichnet hat. (Abb. 1.)


Abb. 2. Die Milchstraße auf der nördlichen Himmelshälfte.

Uns, die wir in hellerleuchteten Städten leben und, wenn wir reisen, im Expreßzug sicher unsere Schienenstraße zwischen Telegraphendrähten entlangsausen, kommt das Sternenband der Milchstraße nur selten zu Gesicht. Wir müssen es suchen, um es zu finden. Uns Kindern der Kultur ist zwischen Bogenlampe und Laternenpfahl der Glanz der Sterne entschwunden, und der Silbergürtel der Milchstraße gehört nicht zu den Schönheiten unserer täglichen Betrachtung. Wozu brauchen wir zu den Sternen aufzuschauen? Wann müßten wir durch einen Blick zum Himmel einen Weg erkunden, eine Stunde berechnen, eine Jahreszeit bestimmen? Der Sekundenschlag der Uhren zählt uns unsere Minuten, Turmglocken und Fabriksignale künden uns den Mittag, der Kalender führt uns durch Wochen und Monde, Telegraphenstangen und Eisenbahngleise weisen uns den Weg über wohlgepflegte Straßen und Dämme, Seekarte und Kompaß leiten unsere Dampfer über die Weiten vielbefahrener Meere. Was sind uns die Sterne? Sind sie uns mehr als ein Abendschmuck der Natur? Ist es uns nicht ein Erlebnis, wenn wir einmal auf Gebirg oder Meer den Sternenhimmel in ungetrübter Schönheit sehen? Wer von uns kennt den Lauf des nächtlichen Nebelbandes der Milchstraße?

Aber es gab Zeiten, in denen es anders war. Kein Rauch aus steinernen Schloten hüllte die Städte ein, kein Lichterglanz der Straßen rötete den Himmel über den Dächern der Häuser. Der Schein der Sterne fiel in ungedeckte Hallen und in stillverträumte Gärten. Auf seinem Wege durch das Land begleitete den Wanderer nichts als am Tag die Sonne und des Nachts die Gestirne. Von Meilenstein zu Meilenstein über Busch und Tal waren ihm die Himmelsbilder die einzigen Weiser seines Pfades. Den Schiffen auf weitem Meere zeigte nichts den Weg zur Heimat als die Plejaden und die Milchstraße. Odysseus sitzt des Nachts am Steuer und schaut empor zum Großen Bären; die drei Weisen wandern aus dem Morgenland einem Sterne nach gen Bethlehem; Kolumbus segelt über das Weltmeer unter dem blauen Banner der Sterne. Monde und Jahre wurden durch nichts anderes bestimmt als durch die Stellung der Gestirne. Wenn der Strahl des Sirius zum ersten Male durch den Mauerspalt des Hathortempels fiel und den Altar des Heiligtums mit mildem Glanze übergoß, verkündete der ägyptische Priester die Sonnenwende, und der Jahrestanz zu Dendera begann. Wenn das Regengestirn in der Dämmerung emporstieg, kehrt der Fischer heim vom Meere zur attischen Küste, treibt der Hirte seine Herde von den Bergen des Apennin, bricht der römische Imperator in Britannien seine Zelte ab, denn sie alle wissen, daß der Herbst mit seinen Stürmen naht. Den alten Völkern war der Sternenhimmel die Weltenuhr und die Milchstraße der große Zeiger auf dem gestirnten Zifferblatt. Der Mensch der Vorzeit fand sich am Himmel unter den Sternen zurecht wie wir uns in Fahrplan und Kalender zwischen Zahlen und Rubriken. Dem Menschen der Vergangenheit war der Sternenhimmel ebenso vertraut, wie er dem Menschen der Gegenwart es nicht ist.

Leider. Denn jenseits von allem trockenen Wissen geht dem Menschen, der den Himmel nicht kennt, ein sittlicher Reichtum verloren, der ihm in der maschinenschnellen Zeit der Moderne doppelt not und doppelt teuer wäre. Klein ist die Mühe, groß und nimmer endend der Lohn, ihn zu kennen. Ein abendlicher Blick vom Fenster seines Zimmers, vom Wege seines Gartens, von der Luke seines Daches, ein kurzes Stillestehen beim nächtlichen Gang durch den Park oder beim Überschreiten einer Wiese, und bald ist dem Naturfreund mit Hilfe einer Sternenkarte oder eines Sternbüchleins der Himmel bekannt. Wir wollen absehen von dem Hochgenuß, den ihm das Wissen über die Natur des Himmels bereitet. Jedes Wissen birgt Genüsse. Aber einzig und unvergleichlich ist die Wirkung auf das Gemüt, die aus der Kenntnis des gestirnten Himmels auf den Menschen niederstrahlt. Wer zu den Sternen aufschaut wie zu nimmer wankenden Freunden, dem gibt ihre ewige Ruhe im Strom des Lebens ein Bild von der Unendlichkeit und Größe der Welt, von der Kleinheit und Flüchtigkeit menschlichen Erlebens, den erhebt ihr Anblick über die kleinlichen Nöte des menschlichen Tagesdaseins und lenkt allabendlich wie ein Nachtgebet seine Gedanken aus der Tiefe des Alltagslebens zur Natur, zum Weltempfinden, zur Ewigkeitsidee. Und wenn er mit seinen Gedanken aus den Fernen des Universums zurückkehrt zu sich, zur Menschheit, zur Erde und bedenkt, daß in derselben Stunde Tausende Gleichgesinnter in allen Zonen der Erde zu diesem Himmelsbilde aufschauen, Tausende in seinem Anblick das Wesen der Welt bedenken, Ruhe, Kraft und Erbauung finden, daß Hunderte von Sternkundigen ihre Teleskope ebenso auf den Höhen der Cordilleren wie auf den Türmen des Vatikans, ebenso an den eisigen Felsenküsten des Nordens wie in der dunklen Tropennacht des Kaps auf diese Sternenpunkte richten, alle von gleichem Empfinden beseelt, von der gleichen Schönheit bezaubert – dann findet seine nächtliche Gedankenfahrt ins Reich der Sterne einen würdigen Abschluß durch das erhebende Gefühl von der Einheit der strebenden Menschheit, von dem friedlichen Zusammenschluß, von der geistigen Brüderschaft aller naturforschenden und naturverehrenden Völker und Menschen.

Unter allen Erscheinungen des Sternenhimmels mußte von frühester Zeit an das Band der Milchstraße Geist und Phantasie des Himmelsbetrachters am stärksten locken. Ein Nebelweg hoch zwischen glitzernden Sternen, der sich vom Firmament aus unerforschter Ferne emporhebt, in schwindelnder Höhe das Land überbrückt und jenseits hinter den Bergen, hinter denen das Glück wohnt, geheimnisvoll versinkt – kann etwas die Sehnsucht des Menschen mehr reizen, den Wissensdurst des Denkers mehr entfachen? In den ältesten Volksmärchen und Göttersagen der grauen Vorzeit taucht das Problem der Milchstraße hervor.

Zeus, so erzählt die griechische Sage, wollte seinem Lieblingssohn Herkules Unsterblichkeit verleihen und legte ihn daher heimlich an die Brust der schlafenden Hera. Als diese erwachte, schleuderte sie im Zorn den ihr verhaßten Säugling von sich fort, daß sich die Milch im Bogen über den Himmel ergoß und so die Milchstraße bildete. Nach einer anderen Sage entstand die Milchstraße bei jenem Weltbrand, den Phaëton verschuldete. Phaëton, ein Sohn des Sonnengottes, beschwor seinen Vater, ihn einmal den Sonnenwagen über den Himmel lenken zu lassen. Der Führung unkundig und in der ungewohnten Höhe schwindelig geworden, verlor er die Herrschaft über das Gefährt, die Sonnenrosse jagten zügellos über das Gewölbe und entfachten jenen ungeheuren Himmelsbrand, durch den nach griechischer Auffassung die Wüsten verdorrten, die Vulkane entflammten und die Neger schwarz gebrannt wurden. Als Spur dieses Feuerweges, gleichsam als Asche dieses Weltbrands ist die Milchstraße geblieben.

In der römischen Mythologie beschreibt Ovid die Milchstraße als den Weg, auf dem die Götter vom Olymp zum Palast des Zeus hinschreiten, und zu dessen Seiten die Behausungen der Unsterblichen liegen. Bei den Arabern ist sie die Mutter des Himmels, die mit ihrer Milch die Sternkinder nährt, oder der große Himmelsfluß, an dem die Sternbilder der Tiere zur Tränke ziehen. Schön und sinnvoll nannten die Mexikaner die Milchstraße die Schwester des Regenbogens, poetisch und gedankenreich nennen andere Völker sie den Pfad der Toten hinüber ins Land der Seligkeit.

Im Kreise dieser Volksvorstellungen wurde die Wissenschaft geboren. Bei Chinesen, Indern, Ägyptern und Chaldäern blühte die Astronomie, als Europa noch eine Wildnis war. Aber ihre Wissenschaft war auf das Praktische gerichtet und beschränkt auf Landvermessung, Kalenderkunde und Finsternisberechnungen. Für die Nebelferne der Milchstraße hatten die Astronomen zu Peking und die Irispriester am Nil kein Auge. Um sich mit einer so wenig hervortretenden schattenhaften Erscheinung zu befassen, mußte man Philosoph sein und den Himmel nicht als ein Kalendarium, sondern als eine Naturerscheinung, als ein Welträtsel betrachten, das man zu lösen sucht. Daher finden wir die ersten ernsten Gedanken über die Milchstraße bei den griechischen Philosophen. Wie es sich oft ereignet, daß man in kindlicher Unbefangenheit im ersten Zugreifen der Wahrheit näher kommt als durch gewissenhafte Bemühungen, so erfaßten die griechischen Philosophen ohne alle wissenschaftlichen Grundlagen nur von Vernunft, Gedankenklarheit, Schönheitssinn und Wahrheitsdrang geleitet das Bild der Welt in jenen Grundzügen der Wahrheit, die erst durch eine jahrtausendlange Forschung Allgemeingut der Menschheit geworden sind. Man könnte die griechischen Philosophen geradezu die Propheten der Wissenschaft nennen. Pythagoras hat das Wesen der Algebra, Euklid die Fundamente der Geometrie, Aristoteles die Methoden der Naturbeschreibung, Demokrit die Atomlehre, Aristarch die Mechanik unseres Sonnensystems, Epikur mit Lukrez später den Entwicklungsgedanken mit allen seinen Konsequenzen durchgeführt. Unsere ganze moderne naturwissenschaftliche Weltanschauung, die sich erst im 19. Jahrhundert zur vollen Blüte entfaltete, finden wir bei den griechischen Philosophen vor über 2000 Jahren als Knospe sprießen.

Im Kreise dieser Männer wurde das Milchstraßenproblem zum ersten Mal als wissenschaftliche Frage aufgeworfen. Die Pythagoräer knüpfen noch an die Phaëtonmythe an und erklären die Milchstraße für die Spur einer ehemaligen Sonnenbahn. Aristoteles hält sie für ein gewaltiges Meteor, sein Nachfolger Theophrast beschreibt sie als die Fuge zwischen den beiden Halbkugeln des Himmels, durch die das Licht des Zentralfeuers hindurchschimmere. Demokrit von Abdera, der geistvolle Begründer der Atomlehre (460 v. Chr.), war der erste Sterbliche, der die Milchstraße als das erkannte, was sie nach den unzweifelhaften Ergebnissen der modernen Wissenschaft in Wahrheit ist: als eine Anhäufung unendlich ferner dichtgedrängter Sterne.

Die Größe dieser Vorstellung im Hirn eines antiken Griechen können wir heute kaum noch würdigen. Man muß bedenken, daß sie im Kopf eines Menschen reifte, der in den Anschauungen erzogen wurde, Wald und Triften seien bevölkert von Nymphen und Faunen, drüben über den Schneegipfeln des Olymp wohnten in Saus und Braus die weltregierenden Götter, die Sonne sei der Wagen des Phoebus Apollo, dem die Mondgöttin Luna in der Nacht verliebt über die himmlischen Gefilde nachschweife, und das Tal zu Delphi sei der Nabel der Welt. In Demokrit verehren wir den Vater der Milchstraßenforschung.

Wie all die köstliche Prophetenweisheit der griechischen Philosophen, so verhallten auch die Seherworte des Demokrit von der Natur der Milchstraße in der allgemeinen Nacht der naturwissenschaftlichen Unbildung des Mittelalters. Kein einziger Forscher der nächsten zwei Jahrtausende befaßt sich ernsthaft mit dieser Frage, nur in Legenden und theologischen Weltbeschreibungen wird hie und da die Milchstraße kurz gestreift. Sie soll die Hufspur der Pferde des Attila sein, berichtet eine Königssage. Kirchengelehrte halten sie für die Weltfuge, in der die beiden Schalen des Firmaments zusammengefügt sind, und betrachten die Milchstraße sozusagen als den Leim, der die beiden Kugelhälften zusammenkleistert. Niemand nimmt den großen Gedanken des Demokrit mehr auf. War das edle Wissen der Griechen spurlos in alle Winde zerflattert? War der Menschengeist im Mittelalter wirklich so verkommen und gesunken, wie es uns die Zeit zu lehren scheint? Schwankt die Kurve der geistigen Entwicklung der Menschheit wirklich so zwischen steiler Höhe und tiefem Abfall? Mit nichten. Wie in der Entwicklung der Lebewelt die einzelnen Tierarten nacheinander die Erde beherrschen, die Kreidetiere, die Ammoniten, die Lurche, die Saurier sich abwechseln und heute die Menschen den Planeten regieren, so beherrschen in der geistigen Entwicklung nacheinander die verschiedenen Ideenarten die Menschheit. Die Art, die Richtung, nicht die Höhe des Geistes schwankt in den Jahrhunderten. Derselbe Sinn, der im Altertum die schönsten Früchte wissenschaftlicher und künstlerischer Leistungen reifen ließ, war im Mittelalter auf das Religiöse, auf das Mystisch-Phantastische gerichtet und daher für die Wissenschaft unfruchtbar. Ein Mensch, der zur Zeit der Pythagoräer durch seine geistigen Gaben auffiel, wurde zu den Naturphilosophen in die Schule gebracht und wurde Philosoph, Mathematiker, Naturforscher. Überragte ein Knabe im Mittelalter seine Genossen, so kam er ins Kloster und wurde im Ideenkreis der Religion erzogen und in die Laufbahn kirchlicher Würden gedrängt. Die Intelligenz des Mittelalters wurde von der Kirche aufgesogen wie das Wasser eines Beckens von einem riesigen Schwamm, und wir finden in ihrem Dienste alle geistigen Elemente vom frömmsten bis zum unreligiösesten vereinigt: kriegerische Päpste, weltlich gesinnte Kirchenfürsten, schürzenjägerische Kardinäle, freigeistige Mönche, der Wissenschaft mehr als dem Glauben huldigende Priester. Wieviel echte Milchstraßenforscher mag es unter ihnen gegeben haben! In wieviel Tausend erleuchteten Geistern, die nie eine ihrer Überzeugungen zu Papier gebracht, nie eine ihrer Ideen zu Papier bringen durften, mag der Gedanke Demokrits nachgeleuchtet haben? Wie oft mögen Freunde, die in stiller Nacht über Fluren wandelten, zu den Sternen emporgeblickt und über das Nebelband zu ihren Häupten gesprochen haben, wie oft mögen Priester, wenn sie auf dem Turm ihrer Kirche standen, Mönche auf dem Hof ihrer Abtei, Talmudisten in der Gasse ihres Ghettos sich in den Anblick der Milchstraße versenkt, sie als ferne Sternenheere erkannt haben und in Andacht versunken sein vor dieser geisterhaften Offenbarung der Unendlichkeit? Kein Lied, kein Heldenbuch nennt ihre Namen, versunken und vergessen …

2000 Jahre nach Demokrit, um 1550, trat Kopernikus, der Domherr zu Frauenburg, mit seiner Schrift über die Bewegungen der Gestirne auf, in der er die antike Weltanschauung, daß die Erde im Mittelpunkt des Alls stehe und die Sonne um sie kreise, widerlegte und durch die Lehre ersetzte, daß die Sonne das Zentrum sei, um das Erde und Planeten sich bewegten. Durch diesen Weltgedanken erwarb sich Kopernikus unsterbliche Verdienste um den Fortschritt der Menschheit. Aber er begründete keineswegs, wie die meisten Menschen annehmen, unsere moderne Auffassung vom Universum. Er glaubte, daß die Sonne der ruhende Pol des ganzen Weltalls sei, und daß die Fixsterne an einem Kugelhimmel angeheftet sich mit diesem um die Sonne drehten. Seine Theorie, ideenreich und gedankentief genug, den ganzen Inhalt eines großen Forscherlebens auszufüllen, erstreckte sich nur auf den Raum unseres Planetensystems. Zum Flug ins Universum hinauf in die Ferne der Milchstraße reichte seines Geistes Flügelkraft nicht hin. Das war seinem jüngeren Zeitgenossen und begeisterten Herold seiner Lehre, Giordano Bruno (geboren 1548), vorbehalten.

Giordano Bruno war wie Kopernikus im Dienst der Kirche aufgewachsen. Als ihm das Buch des Kopernikus zu Gesicht kam, griff er diese neue Weltidee mit Feuereifer auf, entfloh im offenen Zwiespalt mit der Kirchenlehre dem Kloster und wurde auf jahrelangen Reisen durch ganz Europa der Wanderprophet der neuen Weltanschauung. Giordano Bruno ist in der Tat ein prophetisches Phänomen. In noch ausgeprägterer Art als bei den griechischen Philosophen erleben wir an ihm das Wunder, daß ein Mensch ohne alle Mittel sicheren Wissens, nur von Gefühl, Vernunft und Phantasie geleitet die wissenschaftlichen Ergebnisse der kommenden Jahrhunderte vorausahnt. Er hat den Beweis erbracht, daß der phantasiebeschwingte Gedanke, der Sinn für Wahrheit, Größe, Rhythmus und Einheit mit seinen Dichterflügeln weiter reicht als aller grübelnde Verstand, hinausreicht über den Kreis der Planeten in das Reich der Sterne und über die Grenzen der Milchstraße hinaus in jene Bezirke der Unendlichkeit, in denen sich für alle Zeit der menschliche Gedanke hoffnungslos verlieren wird. Giordano Bruno ist der Kopernikus des Universums. Was jener für das Sonnensystem, ist Giordano Bruno für die Fixsterne, für die Milchstraße, für das Weltall. Während Kopernikus als Abschluß des erforschlichen Diesseits die Kristallsphäre der Alten mit den in ihr schwebenden Fixsternen bestehen ließ, zerbrach Giordano Bruno das gläserne Gewölbe, zerstörte den Wahn von der Übersinnlichkeit der Sternenwelt und eröffnete der Forschung das Universum, die schrankenlose äthererfüllte Unendlichkeit, wie er es selbst in poetischer Verzückung ausgesprochen in den Versen:

»Die Schwingen darf ich selbstgewiß entfalten,

nicht fürcht' ich ein Gewölbe von Kristall,

wenn ich des Äthers blauen Duft zerteile,

und nun empor zu Sternenwelten eile,

tief unten lassend diesen Erdenball

und alle niederen Triebe, die hier walten.«

Als erster Sterblicher, der die Gedankenfahrt hinauswagt aus dem engen Bezirk unseres Sonnensystems in die unermeßliche Weite der Sternenwelt, berauscht sich Giordano Bruno förmlich an der Größe und Schönheit des Alls. »Einzig ist der Himmel,« so beginnt einer seiner berühmten Dialoge, »der unermeßliche Raum, das Universum, der allumfassende Äther, in dem sich alles regt und bewegt. In ihm sind unzählige Gestirne, Weltkugeln, Sonnen und Planeten, wahrnehmbare und unzählige andere nicht mehr wahrnehmbare müssen vernünftigerweise angenommen werden.« »Es gibt zahllose Sonnen und zahllose Erden, die alle in gleicher Weise ihre Sonnen umkreisen, so wie wir es an den sieben Planeten unseres Systems sehen. Wir erblicken nur die Sonnen, weil sie die größten Körper sind und leuchten. Ihre Planeten aber bleiben, weil sie kleiner sind und nicht leuchten, für uns unsichtbar.« Er durchdenkt diesen Gedanken bis in seine letzten Folgerungen und kommt zur Überzeugung von der Bewohnbarkeit der Welten: »Die unzähligen Welten des Alls sind um nichts schlechter und nichts weniger bewohnt als unsere Erde. Denn unmöglich kann ein vernünftiger Verstand sich einbilden, daß jene unzähligen Welten, die doch ebenso und vielleicht noch prächtiger sind als unsere, denen doch ebenso wie uns eine Sonne befruchtende Strahlen zusendet, unbewohnt seien und nicht ähnliche oder gar vollkommenere Bewohner trügen als unsere Erde. Die ungezählten Welten des Alls sind alle von der gleichen Gestalt, demselben Rang, denselben Kräften und denselben Gesetzen untertan.« Mit seinem Seherauge schaut er in die Zukunft kommender Jahrhunderte und prophezeit der Wissenschaft ihre Aufgaben und Erfolge: »Schenk uns die Lehre von der Universalität der irdischen Gesetze auf allen Welten und von der Gleichheit aller kosmischen Stoffe! Vernichte die Theorien von dem Weltmittelpunkt der Erde! Zerschmettere die überirdischen Mächte, die die Welt bewegen sollen, und die Schalen der sogenannten Himmelskugeln! Öffne uns das Tor, durch welches wir hinausblicken können in die unermeßliche, einheitliche, ohne Unterschiede zusammengesetzte Sternenwelt, zeige uns, daß die anderen Welten im Äthermeer schwimmen wie die unsere! Erkläre uns, daß die Bewegungen aller Welten aus inneren Kräften hervorgehen, und lehre uns im Lichte solcher Anschauungen mit sicherem Schritt vorwärts schreiten in der Erforschung und der Erkenntnis der Natur.« Hoffnungsvoll ruft er seinen Jüngern das Zukunftswort entgegen: »Seid getrost, die Zeit wird kommen, wo alle sehen werden, was ich sehe!«

Schöner, als er es ahnen konnte, kam diese Zeit. Zwar schien es hoffnungslos, daß man jemals das Rätsel der Sterne lösen könnte. Keine Kunde dringt zu uns aus jenen Fernen, keine Sphärenmusik klingt, wie die Pythagoräer glaubten, durch den Weltraum. Nacht für Nacht zieht das Heer der Sterne schweigend herauf und hernieder. Nur ein einziger stummer Bote eilt vom Himmel zu uns herab: das Licht. Aber bringt uns dieser Bote auf leuchtenden Schwingen auch eine Kunde? Birgt sich hinter diesen Lichtpünktchen des Himmels eine Sprache wie hinter den Punkten des Morsetelegramms? Wird je eine Zeit kommen, in der die Menschen diese Himmelssprache auch enträtseln? Diese Zeit kam.

Kaum war die Asche verraucht auf dem Scheiterhaufen Giordano Brunos, auf dem er am 16. Februar 1600 zu Rom für sein Weltbekenntnis den Märtyrertod erlitten, da drang aus Holland die Kunde nach Italien, daß man durch Zusammenstellung mehrerer Linsen ein Instrument verfertigen könnte, durch das man ferne Gegenstände nahe sieht. Galilei baute ein solches Instrument: das Fernrohr war erfunden. Das goldene Zeitalter der Astronomie brach an. Galilei richtete sein Rohr zum Himmel und machte wunderbare Entdeckungen. Er sah, daß der Mond eine Kugel war wie die Erde, mit Bergen, Tälern und Meeresflächen, daß der Jupiter von Monden umkreist wurde wie unser Planet, daß die Sonne ein glühender Ball war, auf dem es loderte und brodelte wie in Feuerschlünden, und daß er sich um seine Achse drehte wie Erde, Mond, Jupiter und Saturn. Die Einheit des Sonnensystems war erkannt, der Sieg der Kopernikanischen Lehre über die alte Weltanschauung wurde in allen Ländern proklamiert.

Aber für die Milchstraßenforschung war der Frühlingstag noch nicht gekommen. Sie hatte von der neuen Erfindung keinen Gewinn. Im Gegenteil, man war grenzenlos enttäuscht und konnte sich des Spottes der Gegner nicht erwehren. Die Fixsterne erschienen im Fernrohr noch kleiner und punkthafter als vordem. Die Milchstraße blieb ein undurchdringlicher Nebel, der im schmalen Gesichtsfeld des Fernrohrs noch geisterhafter, überirdischer, unerforschlicher aussah. Nur schüchtern wagte Galilei angesichts der Unzahl der im Fernrohr sichtbaren Sterne den Gedanken Demokrits aufzunehmen, daß die Milchstraße aus dichtgedrängten Sternscharen bestehe. Die Gegner des Kopernikus triumphierten. Ihr habt recht, sagten sie, Erde und Planeten drehen sich um die Sonne. Aber die Sonne ist der Mittelpunkt der Welt, »das Herz des Universums«. Jenseits des Saturn wird die Welt vom kristallenen Himmelsgewölbe begrenzt, in dem die himmlischen Lichter der Fixsterne aufgehängt sind.

Die beobachtende und rechnende Astronomie war ohnmächtig gegenüber der Erscheinung der Milchstraße. Aber der grübelnde Sinn des Menschen gibt sich nicht zufrieden mit den Schranken des Wissens. Was er sieht, will er begreifen, und was er nicht mehr zu sehen vermag, sucht er durch Ideen auszufüllen. Wo das exakte Wissen aufhört, setzt der Vernunftsschluß, setzt die Spekulation ein. Die Grenze der Wissenschaft ist der Markstein der Philosophie; wo jene endet, nimmt diese ihren Anfang. So finden wir im 18. Jahrhundert das Milchstraßenproblem wieder wie in den Tagen Alt-Griechenlands in den Händen der Philosophen und sehen, wie wissensdurstige Männer unabhängig von Berechnung und Instrument sich auf den Flügeln ihres Geistes erheben, um das Geheimnis der Milchstraße zu entschleiern, und wir erleben abermals die Genugtuung, daß der kühne geistvolle Gedanke, daß die klare logische Idee über die Grenzen unseres ach, so beschränkten Wissens hinaus auch die letzten und größten Wahrheiten in ihren Grundzügen zu erfassen vermag; ja, was die Leser dieser Zeilen als Freunde der Natur ganz besonders fesseln wird, die befruchtenden Gedanken über das Wesen der Milchstraße, die zu den erhabensten gehören, die je dem Menschengeist entsprungen sind, gingen nicht aus von zahlenkundigen Astronomen, nicht von Männern mit Doktorhut und akademischen Würden, sondern von Menschen niederster Herkunft und einfachster Bildung, von Dilettanten in der Wissenschaft, die nichts anderes mitgebracht als Liebe zur Allnatur und ihrer Erkenntnis, Wissensdrang und unablässige Streben nach den Quellen der Wahrheit.

Über das Weltmeer fährt ein armer Matrose. Er war als Sohn eines Zimmermanns geboren, zwischen Takelwerk und Teerfaß aufgewachsen und führte nun ein hartes Dasein in Wind und Wellen. Stürmisch wie der Ozean war sein Leben, einsam und freudlos wie die Wasserwüste waren seine Tage. Aber nachts, wenn die Sterne heraufzogen über das Meer, dann lag er vorn am Bug des Seglers auf den Tauen und blickte auf zu den Lichtern, die über der Wasserfläche glänzten, und wenn in der Klarheit der Meeresluft das Band der Milchstraße mit all seinem Reichtum an Nebeln, Wolken, Unterbrechungen und Seitenarmen hervortrat, dann versenkte sich dieser einfache Seemann in die Wunder des Himmels und seine ganze Sehnsucht ging dahin, dieses Weltband zu enträtseln. Er erkannte auf seinen Reisen durch alle Zonen, daß die Milchstraße ein lückenloser Ring war um den ganzen Himmel. Als ihm später in seinem englischen Heimatland ein sorgenloses Dasein winkte, da schrieb dieser ehemalige Matrose eine Schrift über das Wesen der Milchstraße und den Bau der Welt unter dem Titel »Neue Hypothese über das Weltall« 1740.

Zwei Männer schöpften aus dieser Schrift des Seemanns Thomas Wright ihre Ideen über den Aufbau des Universums. Der eine war ein Schneidergeselle aus dem Elsaß, der es durch Fleiß und Talent und durch die verdiente Gunst Friedrich des Großen bis zum Mitglied der Akademie der Wissenschaften brachte, Heinrich Lambert. Seine populär geschriebenen »Kosmologischen Briefe« (1761) erregten überall durch ihren feurig-enthusiastischen Stil die Begeisterung des Publikums und wurden in vielen Tausend Exemplaren über alle Länder verbreitet. Der andere war der Sohn eines Sattlers. Er kam nie über die Grenze seiner abgelegenen Vaterstadt hinaus. Aber sein Geist kannte keine Schranken und erhob sich bis in die Weiten des Himmels, dessen Bau und Entwicklung er so grundlegend darstellte, daß wir noch heute auf seinem Werke fußen. Dieser dritte war Immanuel Kant.

Diese drei Männer, vor allem in höchster Vollendung Kant, bauten folgendes Weltbild auf. Wir leben auf unserer Erde im Sonnensystem. In der Mitte unseres Systems steht die strahlende Sonne, um sie kreisen in elliptischen Bahnen die Planeten, deren einer unsere Erde ist. Im Gegensatz zur leuchtenden Sonne sind die Planeten infolge ihrer Kleinheit erkaltet und dunkel. Dieses Planetensystem ist als ein System erster Ordnung zu betrachten. Jeder Stern am Himmel ist eine glühende Sonne wie unsere. Diese Sonnen sind so unausdenklich fern, daß sie uns als Punkte erscheinen und selbst im Fernrohr kleinste Punkte bleiben. Mit größter Wahrscheinlichkeit besitzt jede dieser Sonnen um sich ein System von Planeten, die wir aber wegen der großen Entfernung und ihrer Dunkelheit nicht wahrnehmen. Mit ebenso großer Wahrscheinlichkeit sind diese Planeten zum Teil bewohnt wie die Erde.


Abb. 3. Sternhaufen im Centaurn. (Photogr. von Gill.)

Diese Idee von der Sonnennatur der Sterne, von den unsichtbaren Planeten dieser Sonnen und der Bewohnbarkeit dieser Welten hatte schon Giordano Bruno ausgesprochen. Nun aber überflügeln ihn die drei Weltdenker des 18. Jahrhunderts vermöge ihrer größeren astronomischen Kenntnisse. Es waren nämlich durch das Fernrohr am Himmel außer einer Unzahl kleinerer Sterne ungefähr 100 Sternhaufen und Nebelflecke entdeckt worden. Mit unbewaffnetem Auge sind die größten Sternhaufen eben als verschwommene Lichtpünktchen wahrnehmbar wie der berühmte Sternhaufen im Perseus*[1] genau in der Mitte zwischen dem W der Kassiopeia und den Hauptsternen des Perseus. Im Fernrohr enthüllt sich solch ein Sternhaufen als eine kugelförmige Anhäufung Hunderter, ja Tausender Sterne, die eng zusammengedrängt sind wie die Brillanten eines Diadems. Der Anblick eines solchen Himmelsdiadems gehört zu dem schönsten, das die Natur überhaupt dem Menschen zu offenbaren vermag (Abb. 3).

[1] Sämtliche mit einem Stern bezeichnete Himmelsobjekte sind auf der Sternkarte S. 21 hervorgehoben.

Außer diesen Sternhaufen entdeckte man noch nebelig verwaschene Gebilde von teils unregelmäßig zerklüfteter, teils regelmäßig scheiben-, ring- und linsenförmiger Gestalt, die man Nebelflecke nannte. Auch von ihnen sind die größten mit bloßem Auge gerade noch wahrnehmbar, so der Nebelfleck im Bilde der Andromeda* und als größter von allen der berühmte Nebel im Orion* dicht unter dem Dreigestirn des Jakobstabes.

Die Sterne sind, so schlossen Wright, Lambert und Kant, nicht regellos im Raum verteilt, sondern zu Sternenhaufen gruppiert. Diese Sternenhaufen sind die Systeme zweiter Ordnung. Auch wir leben im Innern eines Fixsternhaufens. Unsere Sonne bildet mit allen helleren Sternen des nächtlichen Himmels zusammen einen Sternenhaufen, wie wir ihn im Bilde des Centaurn oder des Perseus aus großer Ferne erblicken. Uns erscheinen die helleren Sterne am Himmel so verstreut, weil wir uns inmitten dieses Haufens befinden und nach allen Seiten von diesen Nachbarsternen umgeben sind. Würden wir aber aus anderen Sternhaufen, beispielsweise aus dem abgebildeten Haufen im Centaurn auf unsere Sonne herniederschauen, so würden wir die Sterne des Centaurnhaufens rings um uns am Himmel verteilt sehen als hellere Sterne, unsere Sonne dagegen im Innern eines fernen zusammengedrängten Sternhaufens nach Art des abgebildeten als lichtschwaches Pünktchen erblicken. Aber auch diese Sternhaufen sind nicht regellos im Raum zerstreut. Sie sind genau so zu einem System geordnet wie die Planeten unseres Sonnensystems. Sie sind alle in einer Ebene neben- und hintereinander, aber nicht übereinander gelagert, so wie unsere Planeten alle in einer Ebene, der sogenannten Ekliptik, schweben, und kreisen in dieser Ebene wahrscheinlich um einen Weltmittelpunkt wie die Planeten um die Sonne. Während die Sternhaufen als Ganzes in dieser Ebene dahinfliegen, bewegen sich die Sonnen innerhalb ihres einzelnen Haufens um den Mittelpunkt desselben, so wie die Monde während der Sonnenreise ihrer Planeten diese in Kreisen umschwingen. Lambert hielt den Orionnebel, Kant den Sirius* für den Mittelpunkt unseres Sternhaufen. Alle diese Sternhaufen zusammen bilden ein System dritter Ordnung. Die Gestalt dieses Systems ist die einer Linse, wie man sie erhält, wenn man zwei Suppenteller mit ihren Rändern aufeinanderstellt. Der Sternhaufen, dem unsere Sonne angehört, befindet sich in der Mitte einer solchen ungeheuren Weltlinse. Schauen wir durch diese Sternenhaufenlinse nach den Breitseiten, den Polen zu, so sehen wir verhältnismäßig wenig Sterne. Blicken wir dagegen flach durch das ganze Linsensystem, in der Richtung der Sternhaufenebene, so müssen wir durch die ganze Masse der Sterne und Sternhaufen hindurchsehen, und sie erscheinen uns als ein Ring von dichtgedrängten Sternen und Sternhaufen, so fein und so dicht, daß wir ihre Gesamtmasse nur als einen zusammenhängenden, verwaschenen Nebelgürtel rings um den Himmel wahrnehmen, – die Milchstraße.


Abb. 4. Sternkarte mit Hervorhebung der für die Milchstraßenforschung wichtigen und erwähnten Himmelsobjekte.

Die Milchstraße ist also nach der Hypothese dieser drei Männer die Erscheinung eines ungeheuren Sternsystems, einer linsenförmigen Weltinsel, in deren Mitte sich unsere Sonne als ein Stern in einem Sternhaufen befindet (Abb. 5). Von den sichtbaren Sternen gehören die helleren unserem Sternhaufen, die schwächeren und alle jene, deren Licht wir nur als Nebel wahrnehmen, den andern Sternhaufen an, alle aber dem einen großen Weltsystem der Milchstraße.

Man stelle sich vor, wir ständen nachts auf dem Deck eines illuminierten Schiffes. Vor, hinter, neben und über uns sehen wir die Lichter unseres Schiffes in den Masten und am Bordrand hängen. In allen Himmelsrichtungen sind wir also von einzelnen hellen, uns sehr nahen Lampen umgeben. In weiter Ferne ist das ganze Meer bevölkert von gleichfalls illuminierten Schiffen. Man sieht von diesen Schiffen, da es Nacht ist, nur die Lichter. Die näheren erkennt man als zusammengedrängte Haufen von Lichtern. Hier eine solche Anhäufung von Lichtern, ein Schiff, dort eine andere Lichtergruppe, ein zweites Schiff. Von den fernen Schiffen nimmt man keine einzelnen Lichtpunkte mehr wahr, sondern nur noch einen unbestimmten Schimmer. Da die Schiffe weiter verteilt sind, als unser Auge reicht, und allseitig um uns das Meer befahren, so sind wir rings umgeben von einem mattleuchtenden nebeligen Schein, von einem Lichtgürtel, der den Horizont ringförmig umschließt.

Das Meer ist der Weltraum. Das Schiff, auf dem wir uns befinden, ist der Sternhaufen, dem unsere Sonne angehört. Die nächste größte Laterne ist unsere Sonne selbst. Die kleinen Lichter über, neben und hinter uns sind die übrigen Sterne unseres Haufens. In mäßiger Entfernung, aber immer noch tausendmal weiter als die letzten Sterne unseres Haufens sehen wir andere Sterngruppen als Sternhaufen. Die weitaus meisten Sternhaufen aber sind von uns so weit entfernt, daß ihr Glanz mit dem der übrigen hinter, neben und vor ihnen verschwimmt, und so ihre Gesamtheit uns als leuchtender Gürtel, als Milchstraße umgibt.

Hört die Welt jenseits der Milchstraße auf? Nein. Die Milchstraßenlinse ist zwar unvorstellbar groß, aber ein durchaus festbegrenztes endliches Gebilde. Sie ist eine Weltinsel. Das Weltall aber ist unendlich. Andere Milchstraßensysteme bevölkern es. Diese fremden Milchstraßensysteme sehen wir als Nebel von Linsengestalt aus ungeheurer Ferne schimmern. Der Andromedanebel ist solch ein fernes Milchstraßensystem, das wir weit außerhalb unserer Weltinsel im Raum schweben sehen. Unendlich wie das All ist die Zahl solcher Milchstraßen. Auch sie sind wieder zu Systemen geordnet, Systemen 4., 5. und 6. Ordnung, kreisen um- und ineinander wie Räder, jede von ihnen ein Rad im Getriebe einer großen Weltmaschine, ein Rädchen an der großen Weltenuhr, deren unerforschlicher Gang dem Menschen ein ewiges Rätsel bleibt …


Abb. 5. Das Milchstraßensystem als Weltlinse nach Wright, Kant und Lambert.

Kann etwas kühner sein als die Hypothese dieser drei Männer? Kopernikus stieß die Erde von ihrem ruhenden Thron und wälzte sie zu ewigem Lauf um ihre Sonne. Diese Männer hoben die Sonne aus ihrer Angel und stießen sie hinein in den Weltraum, daß sie in ihm kreise, ein Stern unter Sternen, ein Lichtpunkt im großen Weltgewühl der Milchstraße. Sie ordnen mit weltenschöpferischer Kraft das Heer der Sterne zum wahren Kosmos, zum Schmuck, zur Weltordnung, zur harmonischen Einheit von Raum und Materie, Kraft und Stoff, Masse und Bewegung.

Was konnten sie zur Begründung einer solch kühnen Weltanschauung vorbringen? Konnten sie beweisen, daß die Sonne nur ein Stern war und nicht, wie Kepler glaubte, »das Herz des Universums«? Daß die Sterne Sonnen waren und nur ihrer Ferne wegen als Punkte erschienen? Konnten sie beweisen, daß Planeten um sie kreisen, und sie sich wirklich zu Haufen gruppieren? Daß die Sonne sich in einem solchen Haufen befindet? Daß sich die Sterne im Raum bewegen und keine prima sphaera immobilis, keine höchste unbewegliche Himmelssphäre bildeten? Daß sie eine Einheit waren aus gleichen Stoffen gebaut, von gleichen Kräften regiert? Daß die Milchstraße in der Tat aus Sternen zusammengesetzt und keine Fuge im Himmelsgewölbe ist, und daß die Nebelflecke ferne Milchstraßensysteme vorstellen?

Alles das hätten sie Punkt für Punkt beweisen müssen, wenn sie ihre philosophische Spekulation zum Rang einer wissenschaftlichen Hypothese erheben wollten. Und was konnten sie beweisen? Nichts. Der Mond war erforscht, die Sonne studiert, Planetenbahnen waren berechnet, Kometen bestimmt, aber die Welt der Sterne, die Milchstraße, war ein unerforschte Land. Sie schien aller irdischen Erkenntnis zu spotten und für die Menschheit, die auf diesem winzigen Erdplaneten gebannt ist, ein Rätsel ohne Lösung zu bleiben. Wer hätte auch in jene Fernen dringen können? In jene Fernen, in denen Sonnen zu Punkten werden und selbst im Fernrohr sich nicht einmal zur kleinsten Scheibe verbreitern, ja, in denen selbst diese Punkte schwinden und in ihrer Unzahl zu einem milchigen Schimmer verschwimmen, der uns als Nebelgürtel umleuchtet; und in jene noch tausendmal größeren Fernen, in denen ganze Systeme dieser Art, ganze Milchstraßen zu einem Wölkchen verblassen, so klein, daß das Auge sie kaum in den klarsten Nächten als Fleckchen wahrnimmt! Mußte nicht für alle Zeiten das junggeniale Machtwort Schillers hier dem Menschen eine ewige Grenze bieten:

»Steh! du segelst umsonst – vor dir Unendlichkeit!«

»Steh! Du segelst umsonst – Pilger, auch hinter mir! –

Senke nieder,

Adlergedank', dein Gefieder!

Kühne Seglerin, Phantasie,

Wirf ein mutloses Anker hie.«

Wer hätte in jene Fernen dringen können, in denen selbst die Phantasie ein mutlos Anker wirft? Wer?

Im Jahre 1759 zog die Regimentskapelle der Hannoverschen Grenadiere nach England. Mit ihr wanderte ihr Hoboebläser, ein blutarmer 19jähriger Musikant, dessen Vater selbst Militärmusiker gewesen war, aus seiner Heimat aus. In England entsagte er bald dem Dienst und schlug sich kümmerlich als Musiklehrer durch. In den Pausen zwischen den Stunden aber setzte er sich hin und studierte die Gesetze der Optik, um sich ein Fernrohr zu bauen, da er kein Geld besaß, ein fertiges zu erwerben. Des Nachts richtete er seine selbstkonstruierten Rohre gegen den Himmel und studierte die Welt der Sterne. Das Geheimnis der Milchstraße zu entschleiern, war das Ideal seines Lebens. Bruder und Schwester entflammte er für sein hohes Ziel, und dieser arme, aber erlauchte Kreis der drei Geschwister wetteiferte im Studium der Milchstraße. Kein Rohr genügte dieser Aufgabe. Da die Linsen, je größer sie geschliffen wurden, um so unschärfere Bilder lieferten, baute er Spiegelteleskope, in denen ein Hohlspiegel das Bild der Sterne auffängt und in einem Brennpunkt sammelt. Immer größere Spiegel stellte er her, immer längere Rohre setzte er zusammen. Es entstanden Teleskope von unerhörten Dimensionen. 1781 entdeckte er mit seinem Rieseninstrument den Planeten Uranus, sein Ruhm drang bis zum König, der ihn zum Hofastronomen ernannte und ihm ein sorgenfreies Leben für weitere Forschungen verschaffte. Mit seinem neuen Instrument, dessen Spiegel 126 cm Durchmesser und dessen Rohr 12 m Länge besaß, »durchbrach« der ehemalige Militärmusiker William Herschel, wie es auf seiner Grabschrift heißt, »die Schranken des Himmels« und begründete so die moderne Fixstern- und Milchstraßenforschung.

Herschels Riesenteleskope waren die ersten Instrumente, die die Milchstraße wirklich auflösten. Er berichtet über seine erste Beobachtung der Milchstraße der Kgl. Gesellschaft im Juni 1784: »Als ich mein Fernrohr auf einen Teil der Milchstraße richtete, fand ich, daß es den weißen Nebel in kleine Sterne auflöste, was meine früheren Rohre nicht vermocht hatten. Die bewunderungswerte Zahl von Sternen aller Größe, die sich hier meinem Blick offenbarten, war in der Tat zum Erstaunen. Ich ließ während einer Stunde die Sterne der Milchstraße durch das Gesichtsfeld meines Teleskopes ziehen und vermochte nicht weniger als 50 000 einzelne zu zählen. Aber es waren gewiß doppelt so viel, von denen ich aber wegen ihrer Lichtschwäche nur einen unbestimmten Schimmer wahrnehmen konnte.« Die Zahl aller mit seinem Rohr erkennbaren Sterne schätzte Herschel auf ungefähr 30 Millionen. Die Unzählbarkeit der Sterne, die Sternnatur der Milchstraße war bewiesen. Auch Herschel kam zu der Überzeugung, daß das Milchstraßensystem tatsächlich eine Weltinsel aus vielen Millionen Sternen sei. Die meisten dieser Sterne sind zu Haufen gruppiert, die in einer linsenförmigen Schicht von großer Ausdehnung und verhältnismäßig geringer Dicke verteilt sind. Zwischen diesen Haufen von Sternen schweben weite Nebelmassen von verschiedenster Gestalt. Da ihm aber seine Rohre in der Milchstraße jene mannigfachen Einzelheiten, Verzweigungen, Wolken, Schattierungen, Spalten und Öffnungen enthüllten, die wir bei der Beschreibung des Lichtgürtels erwähnten, konnte das Milchstraßensystem nach seiner Ansicht nicht die Gestalt einer regelmäßigen Linse, sondern nur die Form einer unregelmäßig verzweigten Sternenplatte besitzen, deren Umrisse er durch sorgfältige Studien zu bestimmen suchte (Abb. 6).

Auch die Stellung der Sonne in diesem System suchte er durch folgende Überlegung zu bestimmen. Da der Milchstraßengürtel uns allseitig fast in gleicher Breite erscheint, müssen wir uns ungefähr in der Mitte des Systems befinden. Die nördliche Hälfte ist etwas breiter als die südliche, also stehen wir dieser etwas näher und nicht genau im Zentrum. Außerdem schwebt die Sonne nicht ganz genau in der Mittelebene des Systems, sondern etwas nördlich über der allgemeinen Ebene der Sternhaufen.

Aber je weiter sich Herschel in die Wunder der Milchstraße versenkte, um so klarer erkannte er, daß sein Milchstraßenbild unvollkommen war und keineswegs die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen erschöpfte. Es war seinem Wissen als Forscher und seinem Scharfsinn als Denker nicht möglich, alle Widersprüche zu bannen und alle Probleme durch ein großes einheitliches Weltbild zu umspannen. Er widerrief in späteren Jahren seine Hypothese und bekannte resigniert, daß weder Fernrohr noch Gedanke reiche, ein zufriedenstellendes Bild der Welt zu geben, und daß es einem späteren Geschlecht vorbehalten sei, das Land, das er entdeckt, in seiner wahren Gestalt zu erforschen.

Daß Herschel als erster, mit großen Instrumenten ausgerüstet, zielbewußt die Milchstraße erforschte, und ein, wie er selber gestand, ungenügende Bild ihrer Natur entwarf, reicht wahrlich nicht hin, ihm eine so führende Stellung in der modernen Wissenschaft anzuweisen, daß man ihn den »Vater der Stellarastronomie« nennt. Herschels unvergleichliches Verdienst liegt tiefer: er lehrte uns das Fernrohr für die Erforschung der Fixsternwelt und des Milchstraßengürtels anzuwenden. Herschel lehrte uns sehen.

Die Milchstraße

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