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Die abgründige Kehrseite der Vernunft
ОглавлениеUnter dem Dreigestirn des Deutschen Idealismus, Fichte, Schelling und Hegel, ist Schelling wohl derjenige, der sich am schwersten erschließt. Allzu viele Modifikationen und Wendungen weist sein Denkweg auf, als dass er sich einfach auf den Begriff bringen ließe. Die Wirkungsgeschichte allerdings zeigt eindrucksvoll, dass es gerade die Irritationen und Brüche sind, die sein Denken jenseits jeder Schul- und Systembildung anregend und fruchtbar werden ließen. Seine hier neu zugänglich gemachte kleine Schrift Über das Wesen der menschlichen Freiheit ist nicht nur deshalb von gewichtiger Bedeutung, weil sie die entscheidende Wende zu Schellings Spätphilosophie einleitet, sondern weil sie philosophiegeschichtlich vorwärtsweist auf Schopenhauer, Nietzsche, den Existentialismus und Heidegger.1
Wie so viele seiner philosophisch und literarisch bedeutenden Zeitgenossen ist F.W.J. Schelling Schwabe. Er wird 1775 in Leonberg als Sohn eines vom schwäbischen Pietismus geprägten Pfarrers geboren. Die frühreife Begabung des jungen Fritz (so wird er gerufen) wird bald erkannt, und aufgrund einer Ausnahmeregelung fand er als Fünfzehnjähriger Aufnahme ins berühmte Tübinger Stift, wo er sich bald mit den um fünf Jahre älteren Hölderlin und Hegel anfreundete. Als origineller philosophischer Kopf erregte er sehr früh durch seine eigenständige Interpretation der Fichte’schen Ich-Philosophie Aufmerksamkeit, die er – auch unter Einbezug Spinozas – viel eleganter als Fichte selbst darzustellen wusste. Nach dem Examen führte ihn eine Anstellung als Hauslehrer zunächst nach Leipzig, wo er sich intensiv mit dem naturwissenschaftlichen Wissen seiner Zeit (Chemie, Biologie, Medizin, Elektrizitätslehre …) auseinandersetzte. Diese Beschäftigung mündete schließlich in seinen Ideen zu einer Philosophie der Natur und damit zu einer wesentlichen Korrektur des Fichte’schen Systems. Während in Fichtes transzendentalen Reflexionen die Natur bloß als notwendige Widerständigkeit vorkommt, an der sich die Selbsttätigkeit des Ich entfaltet, und in ihren konkreten Erscheinungsformen letztlich uninteressant ist, kehrt Schelling die Fragestellung um: Wie kann aus dem Werdeprozess der Natur selbst das Geistige hervorgehen? Nur wenn die Natur selbst in all ihren Stadien bereits – wenigstens rudimentär – von Geistigkeit durchdrungen ist, ist das Auftreten des Geistes überhaupt verständlich. Natur und Geist sind keine beziehungslosen Sphären, sondern integrale Momente der einen Weltentwicklung. So erkennt Schelling in den vielfältigen Phänomenen der Natur die Vorformen des Geistes. Besonders anschaulich wird dies im Organismus, der eben keine bloße Anhäufung materieller Bestandteile ist, sondern Ausdruck einer Gestalt, einer sich selbst regulierenden lebendigen Ordnung. Die Übereinstimmung von Subjekt und Objekt, von Idealem und Realem, um die der Deutsche Idealismus seit Kants Wende zum Subjekt ringt, löst Schelling, indem er im Gegensatz zu Fichte den Blick von der Entfaltung der Subjektivität ausweitet auf die „objektive Seite“. Das Auftreten des Geistes ist innerhalb der Welt nur möglich, weil Geist und Natur zutiefst identisch sind. Verfolgt man heute die aktuellen philosophischen Debatten, die sich aus den Erkenntnissen der modernen Naturwissenschaften von der Physik über die Biologie bis hin zu den Neurowissenschaften ergeben – die Frage nach der Selbstorganisation der Materie etwa, die Frage nach schwacher und starker Emergenz, also nach der Möglichkeit des Auftretens von unableitbar Neuem, die Debatte um einen Panpsychismus, etc.2 – dann wird schlagartig klar, von welcher Aktualität die Naturphilosophie Schellings heute noch ist.
Kein Geringerer als Johann Wolfgang von Goethe wurde auf Schellings Naturphilosophie aufmerksam, und auf seine Empfehlung ist es letztlich zurückzuführen dass Schelling nach Jena berufen wird. Dort hat er intensiven Kontakt zu den Romantikern, aus deren Kreis er auch seine Gattin (Karoline, zunächst mit Schlegel verheiratet) wählt. Bis heute gilt Schelling als der Philosoph der Romantik. Nach mehreren Stationen (Würzburg, München) wird Schelling, der sich inzwischen mit seiner Philosophie der Offenbarung ausdrücklich den positiven Inhalten der christlichen Dogmatik zugewandt hat, schließlich vom reaktionären preußischen König Friedrich Wilhelm IV. nach Berlin berufen, um die „Drachensaat des Hegel’schen Pantheismus“ auszutilgen. Seine Berliner Lehrtätigkeit scheint allerdings wenig erfolgsgekrönt gewesen zu sein, und zeitgenössische Berichte von Burckhardt bis Engels stellen eher die kuriosen Seiten seines Auftretens heraus. Das Fehlen einer systematischen Darstellung fördert die Missverständnisse um Schellings Philosophie, und so zieht er sich schließlich bis zu seinem Tod im Jahr 1854 resigniert von seiner Lehrtätigkeit zurück.
Schellings hier vorliegende Freiheitsschrift markiert den entscheidenden Wendepunkt. Vernunft und Freiheit waren die entscheidenden Stichworte des Deutschen Idealismus. Für Hegel war die Weltgeschichte insgesamt ein „Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“, und im selben Sinne schreibt Schelling selbst noch im Jahr 1795 an seinen Freund Hegel, dass Freiheit das A und O aller Philosophie sei. Allerdings wirft gerade Hegels Geistmonismus die Frage auf, ob sein umfassendes, alles in den dialektischen Prozess des absoluten Geistes einbeziehendes System den Grundimpetus der Freiheit nicht letztlich aufhebt in die pure „Einsicht in die Notwendigkeit“. Gerade der Systemanspruch der Philosophie macht den Anspruch der Freiheit letztlich zunichte und lässt ihn in Fatalismus münden.
Der Ausgangspunkt von Schellings Überlegungen ist, dass das unabweisbare Gefühl der Freiheit nur dann wirklich begründet ist, wenn es in der Natur und in einer Kosmogonie verankert werden kann und nicht bloß – gegen die Natur – postuliert werden soll. Im Ursprung der Welt selbst muss Freiheit, soll sie denn tragfähig sein, angelegt sein. Was Schelling jedoch vom Fortschrittsoptimismus eines Hegel grundlegend unterscheidet, ist: Er lässt sich irritieren von der faktischen Unvernünftigkeit von Welt und Geschichte, seinem Denken merkt man das Erschrecken an vor der Negativität. Er beginnt radikal die Frage nach dem Woher und der Natur des Bösen zu stellen. So wie er früher in den vielfältigen Phänomenen der Natur die Vorformen des Geistes erblickte, sieht er nun auch das Bizarre, die Dysfunktionalitäten, das Sinnwidrige, das sich beim Menschen schließlich zu Perversion und Grausamkeit steigert. Man kann Schellings Freiheitsschrift durchaus als Versuch einer Theodizee, einer Rechtfertigung Gottes angesichts der Negativität, lesen, wobei er unverkennbar Gedanken des Görlitzer Schusters und Mystikers Jakob Böhme aufgreift, der das Böse selbst in Gott einbezieht. Die radikale Frage nach dem Ursprung des Bösen beantwortet Schelling durch eine originelle Spekulation: Der Mensch kann nur dadurch von Gott unabhängig sein, dass er in dem wird, was in Gott nicht Gott selbst ist. Gott kann sich nur in Wesen offenbaren, die ihm ähnlich, also frei und für sich handelnde Wesen sind. Schelling unterscheidet das Selbst Gottes vom Grund seiner Existenz: Da Gott nichts vorausgehen kann und da nichts außerhalb Gottes sein kann (was ihn ja letztlich begrenzen würde), muss er in sich selbst der Grund seiner Existenz sein. Gott wird zu Gott, indem er sich von seinem eigenen dunklen Grund scheidet. Die Seienden haben ihr Dasein nicht im Selbst Gottes, sondern im davon unterschiedenen, wenn auch nicht davon abzutrennenden Grund seiner Existenz. Diesen Grund der Existenz beschreibt Schelling als Drang, Wille und Sehnsucht. Von daher fasst Schelling das Wesen der Natur überhaupt neu. Er „naturalisiert“ den Willen nun im Sinne einer Kraft, die allem Seienden in Form von Impulsivität, Drang, Durchsetzungskraft, Selbstbehauptungswillen innewohnt. Das Böse, das es im eigentlichen Sinne nur auf der Ebene der Freiheit, also im Menschen, geben kann, ist eine Aktualisierung dessen, was in der Natur als Drang, Begierde, angelegt ist. Das Böse entsteht, wenn der Mensch die so beschriebene Natur gegen den Geist zum Prinzip erhebt. Der Mensch ist nun nicht länger der Schlüssel, der die Welt in ihrer Vernünftigkeit insgesamt erschließt, sondern im Gegenteil: Die Pervertierung seiner Freiheit wird zur Infragestellung der Vernünftigkeit der Welt insgesamt: „Weit entfernt, dass der Mensch und sein Tun die Welt begreiflich mache, ist er selbst das Unbegreiflichste und treibt mich unausbleiblich zu der Meinung von der Unseligkeit alles Seins, einer Meinung, die in so vielen schmerzlichen Lauten aus alter und neuer Zeit sich kundgegeben. Gerade er, der Mensch, treibt mich zur letzten verzweiflungsvollen Frage: Warum ist überhaupt etwas? Warum nicht nichts?“ (Sämtliche Werke Bd. 13, 7)
Mögen auch die theosophischen Spekulationen Schellings oder der Rückgriff auf eine christliche Metaphysik in seiner Spätphilosophie für viele heute schwer nachvollziehbar sein: In seinem Erschrecken vor der Unvernunft und dem Bösen, in seiner bereits existenzialistisch anmutenden Rede von der „Angst des Lebens“, der Angst davor, dass das Dunkle und Chaotische durchbricht, in seiner subversiven Infragestellung eines ungebrochenen Vernunftglaubens erweist er sich gerade heute als glaubwürdiger und anschlussfähiger als jedes Freiheits- und Vernunftpathos einer „halbierten Aufklärung“.
Bruno Kern