Читать книгу Am Tag, als die Fische starben - G. J. Wolff - Страница 3

Bewusstlos

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1

„Die, die, die wollen uns umbringen!", stammelte Sina entsetzt und zeigte auf die Silhouetten, die rasch durch den nächtlichen Sommerwaldweg auf sie zukamen.

„Sie werden uns finden. Wir sind hier nicht sicher!“, flüsterte David, weil sie sich hinter einem Busch versteckt hatten.

David wusste, dass Bert mit ihm abrechnen wollte. Die Schatten näherten sich schnell.

„Wenn ich "jetzt" sage, rennen wir los! Wir müssen versuchen, die Siedlung zu erreichen!", zischte David. „Lass auf keinen Fall meine Hand los!"

Im nächsten Moment gab er das vereinbarte Zeichen und sie stürzten los.

„Achtung! Sie machen die Fliege!", brüllte eine Stimme hinter ihnen, die sie beide gut kannten.

David und Sina spurteten so schnell sie konnten, aber im dichten Gestrüpp des Waldes kamen sie nur schwer voran. David hatte erwartet, dass er Sina würde mitziehen müssen, aber sie hetzte voraus und zog ihn so heftig vorwärts, dass ihm bereits nach wenigen Metern der Arm schmerzte.

„Aua!", rief David. „Du reißt mir ja den Arm aus!"

„Lauf so schnell du kannst, sonst geschieht dir Schlimmeres!"

Sie spurteten wie Slalomläufer zwischen den Bäumen und Büschen hindurch.

„Die verdammten Zweige!", keuchte Sina.

Sie fühlte den ekligen Geschmack von Blut in ihrem Mund. Die Äste hatten ihr das Gesicht zerkratzt.

Nach wenigen Metern waren sie vor Anstrengung völlig durchgeschwitzt. Die Kleider klebten klamm an ihren Körpern. Sina spürte ihren rasenden Puls, ihr vor Aufregung hämmerndes Herz, ihre zitternden und feuchten Hände. „Schneller, schneller!“, keuchte sie.

David drehte sich im Laufen um und erschrak. Die Verfolger waren nur noch wenige Meter hinter ihnen und grölten wild. Ein Sturm aus Schrecken durchfuhr ihn. Es war noch ein ganzes Stück bis zur Straße.

„Wir müssen es schaffen!", raste es durch seinen Kopf. „Wir müssen es einfach schaffen!"

Er versuchte, noch schneller zu laufen. Das Gebrüll der Verfolger wurde lauter. Da stürzte Sina und riss ihn beinahe ebenfalls zu Boden.

„Steh auf! Steh doch auf!", schrie er sie an.

„Ich, ich kann nicht mehr!", stieß sie erschöpft hervor.

Er schleifte sie über den Boden, während sie aufeinander einschrien.

„Steh auf, sonst haben sie uns gleich!"

„Versuch allein wegzukommen! Sie wollen vielleicht nur dich!"

David gab nicht nach und zerrte sie vorwärts, bis sie auf die Beine kam und wieder zu rennen begann.

„Da vorne ist die Straße! Wir schaffen es!", rief er, denn er erkannte den Schein der Straßenlaterne durch die Bäume.

„Achtung, da kommt einer von der Seite!", versuchte Sina ihn zu warnen.

Im gleichen Augenblick wurden sie von ihren Verfolgern zu Boden gerissen. David und Sina schrien laut auf.

„Wir haben sie! Wir haben sie erwischt!"

„Aua! Ahhh! Seid ihr verrückt geworden!", schrie Sina wütend.

David spürte, wie ihn kräftige Arme festhielten. „Lasst uns sofort los!"

Er hörte Sina leise stöhnen.

„Halt die Fresse, sonst stopf ich sie dir, du Großmaul!"

„Jetzt gibt`s erst mal Saures!"

Sie wurden herumgerissen, auf den Rücken geworfen und einige von Berts Bande setzten sich auf sie. Grinsend stand Bert vor ihnen und sah sie mit seinen graukalten, blitzenden Augen an. Er drohte ihnen mit seinen riesigen Händen.

„Jetzt kann das Spiel losgehen! Darauf habe ich lange gewartet!", rief er triumphierend.

„Was soll das?", stieß David hervor und rang nach Luft.

„Sag deinen Freunden, dass sie uns loslassen sollen, sonst wirst du es bitter bereuen!"

Bert lachte laut. „Habt ihr das gehört? Das Honigbübchen droht uns." Er sah David hasserfüllt an.

„Einen Dreck werde ich hier bereuen, kapierst du?" Er zeigte mit der Hand auf die Umstehenden. "Weil wir nichts bereuen."

Er beugte sich zu David herunter und stierte ihm aus so kurzer Entfernung in die Augen, dass David seinen alkoholisierten Atem riechen konnte. Dann schlug er ihn mit furchtbarer Kraft ins Gesicht. David schrie auf und blieb benommen liegen.

„Es tut keinem von uns hier leid, was wir mit euch eingebildeten Stinkern tun. Im Gegenteil! Zeigen wollen wir es euch vornehmen Pinkeln. Spaß macht es uns, obenauf zu sein und auf euch zu spucken."

Damit spuckte er David ins Gesicht und trat ihm so fest in den Unterleib, dass David laut stöhnte.

„Hör auf, Bert, bitte hör auf, Bert! Tu`s für mich!", flehte Sina.

„Du Schlampe hältst den Mund!" Bert fuhr herum und drohte mit dem Zeigefinger. „Glaubst du vielleicht, ich lasse mir von so einem feinen Kriecher das Mädchen ausspannen?"

„Du redest doch nur Stuss, verdammt noch mal!"

Sina versuchte sich aufzurichten, aber Berts Leute drückten sie wieder auf den Boden.

„Du redest doch nur verdammten Schrott!", brüllte sie ihn an. „Es ist aus zwischen uns, weil ich dich nicht mehr liebe, dich niemals richtig geliebt habe, kapier es doch endlich!"

„Halt die Klappe von wegen Liebe!", schrie Bert sie an und gab ihr eine Ohrfeige. Er wurde immer wütender. „Komm mir nicht noch einmal damit, sonst geht es dir so dreckig wie dem da."

Er wandte sich wieder David zu.

„Schau, was ich mit dir mache und was mir gar nicht Leid tut!"

Er trat David wieder und wieder in den Bauch und in den Unterleib. David krümmte sich vor Schmerzen.

„Du glaubst doch nicht, dass ich mich von deinem Geschwätz einschüchtern lasse!", brüllte er außer sich vor Wut und mit Geifer vor dem Mund.

Jetzt boxte er David mehrmals gegen den Kopf. Davids Gesicht war blutverschmiert.

Sina wandte sich ab und hielt sich die Ohren zu.

„Nein, nein, bitte nicht!", schrie sie laut vor Entsetzen.

„Das ist dein letzter Abend, du Scheißer! Heute mach ich dich alle!"

Bert trat wie wild auf David ein. Der blutete schon überall und gab seit einigen Sekunden keinen Laut mehr von sich. Er lag bereits regungslos am Boden.

Plötzlich hatte Bert einen Baseballschläger in der Hand.

„Genug!", rief da Paul, einer von Berts Leuten. "Es reicht, der hat genug!"

„Halt`s Maul!", schrie Bert. "Den mach ich heut Abend fertig!"

Berts Leuten wurde es mulmig zu Mute. Sie wussten, dass mit ihm nicht mehr zu reden war, wenn er so tobte.

„Los, nichts wie weg!", zischte Paul. „Ich habe keine Lust für `nen Mord grade zu stehen."

Im Nu ließen Berts Leute Sina und David los und verschwanden im Dunkeln des Waldes.

Bert fluchte und schrie ihnen nach, aber sie kehrten nicht um.

Sina nutzte Berts Unaufmerksamkeit, sprang auf und hetzte durch den Wald zur beleuchteten Straße, die sie gleich darauf erreicht hatte.

„Hilfe! Hilfe!", schrie sie, als sie ein Auto kommen sah. „Bitte helfen Sie mir doch!"

Sina versuchte, das Auto anzuhalten, aber der Fahrer gab schnell Gas, als sich Sina seinem Fahrzeug näherte.

„Oh nein! Warum hilft mir denn niemand?", dachte sie und irrte hin und her. „Er wird sterben und ich bin schuld", murmelte sie immer wieder vor sich hin.

Sie hörte ein Motorengeräusch, Scheinwerfer tauchten auf. Sie stellte sich mitten auf die Straße und winkte. Das Auto kam herangebraust und hätte sie überfahren, wenn der Fahrer nicht im letzten Moment gebremst hätte. Dicht vor ihr hielt er an. Sie rannte um das Auto herum zur Fahrertür. Der Fahrer drehte die Scheibe einen Spalt herunter und schimpfte.

„Bist du noch gescheit, du dummes Gör?", schimpfte er.

„Helfen Sie mir, bitte helfen Sie mir!", flehte Sina. „Mein Freund liegt im Wald und braucht Hilfe!"

Der Fahrer sah sie misstrauisch an und blickte dann zweifelnd zum Waldrand hinüber.

„Bitte! Bitte! Helfen Sie mir doch!" Sina hob beschwörend die Hände. „Mein Freund verblutet. Es hat eine Schlägerei gegeben. Mein Gott, er wird sterben!"

Der Mann rutschte unruhig auf seinem Fahrersitz hin und her und schaute sich nervös um. Er sah Sina an, dann blickte er wieder zum Waldrand, dann sah er sich nochmals um. Weit und breit war niemand zu sehen.

„Tut mir leid, Mädchen, aber das ist nichts für mich!", rief er plötzlich. Mit laut aufheulendem Motor brauste er davon. Sina sprang zur Seite, rutschte aus und fiel hart auf die Straße.

„Du Schwein, du gewissenloses Schwein!", presste sie hervor.

Ratlos saß sie auf der kalten Straße und weinte. Sie fühlte, wie ihr vor Schwäche schlecht wurde.

„Ich muss David helfen!", dachte sie. „Ich darf jetzt nicht aufgeben!"

Sie versuchte aufzustehen, knickte jedoch ein und fiel erneut auf den harten Asphalt. Da kroch sie auf allen Vieren den Straßengraben entlang bis zu der Stelle, an der es in den Wald zu David ging. Dort wurde sie ohnmächtig.

Nach einer Weile spürte sie, wie jemand ihr vorsichtig auf die Wangen tätschelte. Sie öffnete die Augen und erkannte einen Polizisten, der sie im Arm hielt und leise auf sie einsprach. Sie verstand seine Worte nicht.

„David!", murmelte sie. "David liegt dort im Wald. Er braucht Hilfe. Vielleicht ist er schon tot."

Dann verlor sie wieder das Bewusstsein.



2


Sina zuckte zusammen, als jemand eine Hand auf ihre Schulter legte.

„Ach, du bist`s nur, Uschi!", atmete sie auf. Im fahlen Licht des Krankenhauswarteraumes sah sie in das Gesicht einer Krankenschwester.

„Geh doch nach Hause und ruh dich aus. Wir tun hier alles für ihn was wir können."

„Ich muss immer daran denken, wie sehr er blutete."

Sie begann zu weinen.

„Beruhige dich doch!"

„Kann ich mit ihm sprechen?“, wollte sie plötzlich wissen.

„Als ich ihn in den Operationssaal schob, war er noch bewusstlos. Sowas kann dauern.“

Sie ergriff die Hand der Schwester. „Mein Gott, wird er durchkommen?"

„Er wird noch operiert. Ich verständige dich, sobald ich etwas weiß."

„Das sagst du doch nur so. Mein Gott, das viele Blut!"

Die Schwester machte sich los. „Ich muss jetzt wieder. Wird schon werden." Sie versuchte zu lächeln.

Sina legte die Hände vors Gesicht und weinte. Immer und immer wieder musste sie an das blutverschmierte Gesicht Davids denken.

Das Quietschen der Wartezimmertür riss sie aus ihren Gedanken.

Ein kräftiger, grauhaariger Mann und eine zierliche Frau, beide in langen, dunklen Mänteln, traten an das Wartezimmerfenster und kauerten sich schweigend aneinander, die Frau ebenfalls in Tränen.

„Davids Eltern!", dachte Sina. „Auch das noch!"

Sie erhob sich zögernd und stand ratlos da.

Im selben Moment fuhr sie herum. Die Tür des Operationssaals öffnete sich und David wurde herausgeschoben. Sie versuchte, seinen Blick zu erreichen, aber er war noch immer bewusstlos. Sie wollte zu ihm, aber das Personal umringte das Krankenbett so dicht, dass es ihr nicht gelang. Schnell wurde er an ihr vorbei in Richtung der Intensivstation transportiert. Auch Davids Eltern konnten nur einen kurzen Blick auf ihn werfen. Frau König schluchzte laut auf.

Der Arzt blieb bei den Eltern stehen und erklärte ihnen mit ruhiger Stimme Davids Gesundheitszustand.

„Wie geht es ihm?", rief Sina laut und drängte sich heran. „Sagen Sie mir doch bitte, wie es ihm geht!"

„Es geht ihm den Umständen entsprechend gut!", antwortete der Arzt. „Er ist außer Lebensgefahr und wird keine bleibenden Schäden davontragen. Allerdings wird er einige Wochen der Pflege bedürfen."

„Mit welchem Recht geben Sie diesem Mädchen über den Gesundheitszustand meines Sohnes Auskunft?", fuhr Davids Vater den Arzt an.

Dieser schaute die beiden überrascht an. „Ich dachte...", begann er, „… ich dachte es handele sich um ...."

Er sah sich verlegen um.

„Es ist mir gleich, was Sie dachten!", bellte ihn Herr König an. „Jedenfalls verbiete ich Ihnen, irgendwem Auskunft über den Zustand meines Sohnes zu erteilen und schon gar nicht dieser Person."

„Aber ich bin doch eine Freundin von David!", warf Sina ein. „Sie wissen doch, dass David und ich immer zusammen sind."

„Das ist ja gerade das Schlimme!", brüllte sie Davids Vater an.

„Ohne dich läge er nicht halbtot hier, das ist sicher!", kreischte Davids Mutter verzweifelt und warf Sina hasserfüllte Blicke zu. „Ohne dich säße er zuhause an seinem Schreibtisch. Ich wünschte, er wäre dir nie begegnet!"

„Was soll das heißen? Was meinen Sie damit?", stammelte Sina und wankte hilflos einige Schritte zurück. „Wollen Sie damit sagen, dass ich schuld bin, dass, dass ...?"

Sie schluchzte laut auf.

„Genau das wollen wir!", schrie Herr König. „Früher hatte David nie Probleme. Aber seit du mit ihm zusammen bist, kennt er nichts Anderes mehr als Schwierigkeiten."

„Aber, aber, ich, ich wollte das doch auch nicht!", stammelte Sina und zitterte vor Erregung. „Ich, ich helfe ihm doch nur bei der Arbeit. Ich bin doch nur eine gute Freundin!"

Sina zerriss es beinahe das Herz, als sie das äußerte, weil ihr bewusst wurde, dass wirklich nicht mehr zwischen ihnen war.

„Wenn du wirklich eine gute Freundin bist, dann solltest du von ihm fernbleiben. Das ist das Beste, was du für ihn tun kannst!"

„Aber, aber, ich brauche ihn doch, ich, ich meine er braucht mich, ich meine das Projekt ..."

„Papperlapapp Projekt! Du hast es schon richtig gesagt. Du brauchst ihn. Und wenn du ihn nicht mehr brauchst, dann lässt du ihn zerstört zurück. Ach, ich wollte, du würdest für immer aus seinem Leben verschwinden!"

Er winkte abfällig mit der Hand.

Sina entfuhr ein Schrei des Entsetzens.

„Nein! Das wollte ich wirklich nicht!" Sie schüttelte hilflos den Kopf. „Nein! Nein! Nein, bestimmt nicht!"

Damit drehte sie sich um und hastete so schnell sie konnte zur Tür hinaus. Ohne auf irgendetwas zu achten, stürzte sie durch die Gänge, stieß mit schimpfenden Krankenschwestern zusammen, kippte eine Blumenvase vom Tisch, hetzte immer weiter, erreichte schließlich den Ausgang, jagte wie von unsichtbaren Geistern verfolgt weiter, mit rasendem Herzen, rasend vor Liebe und Verzweiflung. Sie taumelte, wusste nicht wohin, wollte irgendwohin, nur weg, ganz weit weg. In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Sie war schuld an allem, an Davids Unfall, an seinen Schmerzen. Und wenn sie ihn liebte, musste sie ihn aufgeben, damit er wieder glücklich werden konnte. Aber das konnte sie nicht, weil sie ihn liebte, weil er ihr Leben geworden war.

Lange torkelte sie mit ihrer ganzen Verzweiflung durch die Straßen der Stadt, bis sie schließlich erschöpft stehen blieb. Sie schaute sich um.

„Wohin jetzt? Mein Gott, ohne ihn weiß ich nicht einmal wohin!"

Sie sah die nächtlich leeren Straßen der Stadt.

Ohne ihn war sie verloren, das wusste sie.

So stand sie da und starrte vor sich hin. Erinnerungen standen vor ihren Augen, Erinnerungen an damals, an die Zeit, bevor sie David kennen lernte. Sie legte wieder die Hände vor die Augen, so als ob sie die Bilder nicht sehen wollte. Aber sie konnte die Gedanken nicht verdrängen. Alles fiel ihr ein; klar und deutlich tauchten die Bilder vor ihren Augen auf, die Bilder von der schrecklichen Zeit ohne ihn.



3


„Nein, nein, nein!", murmelte Frau Mertens und warf sich in ihrem Bett von einer Seite auf die andere. „Nein, verdammt noch mal! Ich will schlafen!"

Sie steckte den Kopf unter das Kopfkissen, schob es aber gleich wieder beiseite, weil sie wusste, dass sie nicht weiterschlafen konnte. An der Wohnungstür hatte es geklingelt. Sie griff nach dem Wecker und schüttelte den Kopf. Es war kurz nach halb drei. Erneut ertönte die Wohnungsklingel.

„Hat sie wieder die Schlüssel vergessen!"

Sie schimpfte, weil sie auch erst seit kurzem zu Hause und eben erst eingeschlafen war, schlurfte ärgerlich zur Tür und rieb sich die Augen.

„Nur nicht aufregen!", dachte sie. „Nur jetzt nicht aufregen! Das hat eh keinen Sinn!"

Wenn Sina so spät nach Hause kam, müde und gereizt, war sie meist nicht ansprechbar. Morgen früh konnte man vielleicht mit ihr sprechen, aber nicht jetzt, das war Sinas Mutter klar und sie selbst hatte auch keine Lust dazu. Eigentlich gab es auch nichts mehr zu reden. Es war alles gesagt zwischen Mutter und Tochter.

Sie öffnete die Türe und erschrak. Sina war nicht allein. Zwei Polizisten stützten sie mit ernsten Mienen.

„Entschuldigen Sie die späte Störung, Frau Mertens!", begann der eine. „Ist das Ihre Tochter?"

Frau Mertens nickte und betrachtete Sina. Sie war groß und schlank, aber die weit geschnittene Jeans und der verwaschene Pulli verbargen ihre zierliche und feingliederige Figur und ließen sie plump, schlampig und verwahrlost aussehen. Ihr schmales Gesicht mit dem hervorspringenden Kinn waren hinter ihren ungewaschenen, langen, schwarzen Haaren nicht mehr zu erkennen, ihre dunklen Augen, die schmale Stupsnase, ihre ebenfalls etwas zu schmalen Lippen, alles war versteckt hinter diesem Gestrüpp aus pechschwarzen, verklebten Haaren.

„Ja, das ist meine Tochter!“, seufzte sie.

„Wir haben sie schlafend neben dem Eingang der Diskothek gefunden. War gar nicht so leicht, die wach zu kriegen! Komasaufen, verstehen Sie? Und dann hatte sie noch diese Ecstasy-Tabletten bei sich. Wahrscheinlich hat sie die auch genommen“, erklärte der Polizist. „Sie sollten ein Auge auf sie haben!“

Die Mutter schüttelte den Kopf. „Wenn das so einfach wäre!“

Sina stand mit gesenktem Kopf vor ihr und obwohl ihre Mutter ihre Augen nicht sehen konnte, wusste sie, dass Sina sie nicht anschaute, nur trotzig oder gleichgültig auf den Boden starrte, je nachdem wie müde sie war, unerreichbar jedenfalls.

„Was ist denn nun wieder los?", fragte Frau Mertens ärgerlich. „Ist was passiert oder hat sie was angestellt?"

„Dürfen wir einen Augenblick reinkommen?", fragte der eine Polizist und sah seinen Kollegen vielsagend an.

„Mitten in der Nacht? Muss das sein?"

„Es ist wichtig, Frau Mertens", fügte er hinzu und versuchte freundlich zu bleiben.

„Wir müssen Anzeige erstatten", ergänzte sein Kollege.

„Gegen Sina? Was hat sie denn angestellt?"

„Gegen Sina und gegen Sie!"

„Gegen mich? Was wollen Sie denn von mir?", fragte Sinas Mutter ungläubig. „Nein, nein! Sie kommen mir jetzt nicht in die Wohnung! Anzeige gegen mich, das ist ja lächerlich!"

„Dann müssen wir es Ihnen eben auf dem Gang mitteilen."

„Tun Sie, was Sie nicht lassen können!"

„Wir müssen Anzeige gegen Sie wegen Aufsichtspflichtverletzung erstatten. Sina ist erst fünfzehn. Sie haben dafür zu sorgen..."

„Papperlapapp! Was wollt ihr immerzu von mir?“ Sie schüttelte enttäuscht den Kopf. „Haben Sie Kinder?“

Die beiden Polizisten, die noch sehr jung waren, verneinten.

„Na also!“, meinte Frau Mertens. „Keine Ahnung habt ihr, keine Ahnung!“ Sie seufzte. „Wissen Sie, das läuft nicht immer so glatt mit Kindern wie Sie denken. Da geht vieles schief, eigentlich das meiste!“

„Mag sein, aber wir müssen dafür sorgen …“, wollte sich der Polizist rechtfertigen.

„Es ist mir egal, was ihr müsst!“, schimpfte Frau Mertens nun. „Lasst uns doch in Ruhe! Kümmert euch lieber um die Ganoven!"

Der Polizist wurde unfreundlicher.

„Frau Mertens, wir werden Anzeige gegen Sie wegen Aufsichtspflichtverletzung erstatten. Weiterhin werden wir dem Jugendamt Meldung machen. Dort kennt man Sie ja, wie wir wissen."

„Mein Gott, die nehmen doch alle das Zeug, was ist denn schon dabei? Bringen sich doch nur in Stimmung damit. Die haben es doch heute eh schwer genug", versuchte sich Sinas Mutter zu verteidigen. „Deswegen brauchen Sie sich doch hier nicht so aufzuspielen."

„Frau Mertens, es handelt sich um Drogenkonsum. Und Sie haben Ihre Aufsichtspflicht verletzt und den Rausch ermöglicht. Was, wenn Schlimmeres passiert wäre?"

„Erzählen Sie mir nicht, dass Sie noch nie einen Rausch hatten. Aber da sagt ja keiner was."

Sie sah die Polizisten herausfordernd an.

„Und du komm endlich rein!", fuhr sie Sina an. Sie packte sie am Arm, zog sie schnell in die Wohnung und schlug den Polizisten die Türe vor der Nase zu.

„Mensch, kannst du denn nur Blödsinn machen, du dumme Nuss!" Sie lehnte sich mit dem Rücken an die Wohnungstür. „Als ob ich sonst keine Probleme hätte!"

Sina starrte ins Leere und sagte nichts.

„Mensch, weißt du nicht, wie gefährlich das Zeug ist? Da ist schon mancher dran krepiert."

„Na und, das wär dir doch egal!", murmelte Sina in sich hinein. "Hättest mich dann endlich los und könntest machen, was du wolltest."

Sinas Mutter war einen Augenblick lang sprachlos. Dann packte sie Sina bei den Schultern, zog sie zu sich heran, strich ihr die Haare aus dem Gesicht und zischte sie wütend an.

„Sag mal, spinnst du? Wie kommst du denn auf so `ne Scheiße? Hat dir wohl dein Macker erzählt, dieser Taugenichts?"

„Lass Bert aus dem Spiel, ja!", kreischte Sina zurück. „Der hält wenigstens zu mir!"

„Einen Mist tut der! Ausnutzen tut er dich und dir Flausen in den Kopf setzen, das kann er! Dich aufhetzen will er! So ein Käse, ich wollte dich loshaben!"

„Hast du selbst gesagt! Hast du mir ins Gesicht gesagt, damals, gleich nachdem Vater ausgezogen war!"

Sinas Mutter ließ sie los und schaute sie erschrocken an.

„Damals habe ich so Manches gesagt und gedacht. Sogar an Selbstmord, dass du`s nur weißt! Damals dachte ich, dass alles aus ist, alles vorbei, alles sinnlos."

Sie streichelte über Sinas Haare und sah ihr in die Augen. „Keine Angst, was ich damals gesagt habe, das zählt nicht! Aber was du heute tust, das zählt! Du machst dich doch kaputt, Mädchen, du ...!"

„Oh, nicht schon wieder die Leier!", unterbrach sie Sina und machte sich los. „Ich kann das Gelaber einfach nicht ab!"

„Schon gut, Sina! Das kann ich ja alles verstehen. Aber du gehst zu weit. Du hast schon einige Anzeigen gehabt und beim Jugendamt biste auch schon vorgemerkt. Die Typen dort warten doch nur darauf, sich in so ´nem Fall aufzuspielen. Hat ihr Job doch erst ´nen Sinn, wenn sie so eine wie dich in ihre Finger kriegen. Ruckzuck biste im Heim und stehst ohne mich da. Wenn du das willst, bitte!"

„Jetzt tu doch nicht so, als ob dich das interessieren würde, wenn sie mich hier wegholen. Das käme dir doch grade recht!"

Sinas Mutter fuhr herum, ergriff sie an den Haaren und sah sie mit blitzenden Augen an.

„Was soll das heißen?", schnaubte sie wütend. "Na los, sag schon, was soll das heißen?"

„Na is doch klar! Wenn ich hier raus wäre, dann hättest du die Wohnung ganz für dich allein und für einen deiner Typen. Was weiß denn ich, welcher Heini grade bei dir dran ist. Einer hat`s mir ja schon mal gesagt, dass ich hier nur störe, wenn`s zur Sache kommt."

Sina zuckte zusammen und fiel gegen die Wand, weil sie ihre Mutter geohrfeigt hatte.

„Du elende, undankbare Göre!", brüllte sie Sina an. „Mein ganzes Leben hab ich für dich geopfert, nur für dich hab ich geackert und auf alles verzichtet, als uns dein sauberer Herr Papa im Stich gelassen hat. Wenn die anderen zum Tanzen oder ins Kino gingen, bin ich hier zu Hause gesessen, bis mir die Decke auf den Kopf gefallen ist, nur damit du nicht allein warst. Und wenn ich jetzt, wo du fast erwachsen bist, auch mal was vom Leben haben will, dann kommst du mir so!"

Frau Mertens drehte sich um, hielt sich den Kopf und wankte den Gang entlang zu ihrem Schlafzimmer.

„Und das ist nun der Dank!", hauchte sie kalt.

„Mami!"

Sina torkelte hinter ihr her.

„Mami, bitte, ich wollte dir nicht wehtun, bitte, ich wollte doch nicht, dass du traurig bist, bitte ...!"

Frau Mertens schlurfte weiter.

Sina stützte sich an der Wand des Ganges ab und wollte schnell zu ihrer Mutter laufen. Plötzlich blieb sie stehen. Ihr wurde schwarz vor Augen und ihr Bauch fühlte sich an, wie ein mit Wasser aufgeblasener Luftballon. Sie rannte zur Toilette, riss die Türe auf und übergab sich ins Klo. Frau Mertens war ihr nachgeeilt und hielt ihren zitternden und vor Anstrengung bebenden Körper.

„Oh Gott, Kind, du machst dich kaputt!".

Frau Mertens senkte den Kopf und schloss verzweifelt die Augen, während sie ihre Tochter stützte. Endlich war es vorbei und sie sackte in sich zusammen. Ihre Mutter zog sie zu sich heran, legte ihren Kopf auf ihren Schoß und streichelte ihr Haar.

„So kann das doch nicht weitergehen!", sagte sie leise in die Stille der Hochhauswohnung.

Sina begann zu weinen.



4


Gleich nach der Schule ging Sina zu Berts Werkstatt. Eigentlich war es keine richtige Werkstatt, sondern Bert hatte eine Garage auf ihrem heruntergekommenen Bauernhof am Rande der Stadt mit dem nötigsten ausgestattet, um Motorräder reparieren zu können. Im mehr und mehr zerfallenen Haus wohnte noch seine Mutter mit ihm, um die er sich aber kaum kümmerte.

„Nervt doch nur noch die Alte!“, knurrte er böse, wenn er sie zufällig am Fenster sah.

Er selbst wohnte in einem anderen Flügel des Hauses.

Da er keine abgeschlossene Berufsausbildung besaß und arbeitslos war, hielt er sich mit solchen Gelegenheitsarbeiten über Wasser. Natürlich mit Schwarzarbeit.

„Hi, Bert!“, flötete Sina, als sie ihn in der Werkstatt antraf. Sie ging zu ihm hin umarmte ihn und gab ihm einen Kuss auf die Wange.

„Lass das!“, brummte er zurück, ging an ihr vorbei und hätte sie dabei beinahe umgeschubst. In beiden Händen hielt er einen Motorradreifen.

Sina hüpfte zur Seite, damit sie nicht von den in Berts Händen hin und her schwingenden Reifen getroffen und umgeworfen wurde.

Bert eilte an ihr vorbei zur Garagentür hinaus. „Jetzt nicht, Baby, jetzt nicht! Ich hab´s verdammt eilig!“ Er lief schnell zu einem weißen Sprinter und warf die Reifen in den Laderaum.

Sina folgte ihm und sah ihm zu.

„Kannst dich ruhig auch nützlich machen!“, fuhr er sie an. „Siehst doch, dass ich´s eilig habe. Hab den Sprinter von `nem Freund während seiner Mittagspause geliehen. Der braucht ihn in einer Stunde wieder, sonst rastet sein Chef aus. Na los, schnapp dir die Reifen aus der Garage und wirf sie in den Wagen!“ Damit stürzte er an Sina vorbei und holte die nächsten Reifen.

Sina folgte seinem Beispiel und gleich darauf waren alle Reifen im Wagen.

„Los, steig ein, du kannst mir beim Abladen helfen!“

Sie fuhren mit dem Sprinter hoch hinauf zum Forst.

„Was machen wir denn hier?“, wollte Sina wissen, die angenommen hatte, dass sie zum Wertstoffhof fahren würden.

„Wirst du gleich sehen!“, antwortete Bert knapp.

Dann bog er vom Hauptweg ab und hielt den Sprinter in einem kleinen Waldweg an. „Los, aussteigen!“

Sie sprangen aus dem Sprinter. Bert ging zur Tür des Laderaums, sah sich vorsichtig um, lauschte auch kurz, dann öffnete er sie.

„Los, hilf mir die Reifen da hinter die Büsche zu werfen!“, befahl er Sina und begann mit der Arbeit.

Sina packte einen Reifen, schleppte ihn hinter die Büsche und holte dann den nächsten. Sie bemerkte, dass Bert ständig nervös aufsah.

„Warum bist du denn so nervös?“, wollte sie allen Ernstes wissen.

„Quatsch nicht so viel Blech und hilf mir lieber. Ich muss die Karre in einer Viertelstunde zurückgebracht haben.“

„Bringt man solche Reifen nicht eigentlich zum Wertstoffhof? Ein Lover von Mama hat das mal so gemacht!“

Bert hielt inne, packte sie bei den Armen und sah sie böse an. „Jetzt hör mal zu. Wenn ich die Reifen beim Wertstoffhof entsorge, dann zahle ich 5 € pro Reifen. Das sind an die 30 Reifen. Wenn ich dafür bezahlen muss, bleibt von meinem Lohn für Reparaturen nicht mehr viel übrig! Also, lass das Gequatsche und mach dich nützlich!“

Sina dachte nach. „Da hast du natürlich Recht!“, meinte sie schließlich. Damit packte sie den nächsten Reifen.

„Ja, gut so!“, lobte er sie.

Als sie fertig waren, rasten sie wieder in die Stadt.



5


„He, was machen Sie denn da?“, rief David außer sich, stürzte zum Zaun ihres Grundstücks und schaute wütend hinüber. Er hatte von seiner Arbeit am Schreibtisch aufgeschaut, weil die Stille des Morgens vom Lärm einer Motorsäge zerrissen wurde. Er glaubte, seinen Augen nicht trauen zu können.

Der Nachbar hatte begonnen, seine Hecke komplett abzusägen und auch schon ein Feuer angemacht, in das er die Äste zum Verbrennen warf.

Da war David aufgesprungen und wie ein wilder Stier zum Haus hinaus in den Garten und zum Zaun gerannt.

Sofort begann er, auf den Nachbarn einzuschreien. „Sind sie komplett verrückt geworden?“, begann er außer sich. „Was fällt denn Ihnen ein?“

Der Nachbar hielt die knatternde Motorsäge in der Hand und starrte ihn ungläubig an. „Sag mal, spinnst du? Was fällt dir ein in einem solchen Ton mit mir zu reden? Ich glaube, ich muss mal mit deinen Eltern sprechen. Da scheint ja einiges in der Erziehung schief gelaufen zu sein bei dir!“ Er schüttelte verwirrt den Kopf.

David ging gar nicht darauf ein. „Hören Sie sofort auf, die Hecke abzusägen!“, brüllte er den Nachbarn an. „Sie vernichten doch Brutflächen für die Vögel!“

Der Nachbar schaute ihn kurz fragend an, dann brach er in Lachen aus. „Der Herr Biologiestudent will sich für die Vögel einsetzen. Daher weht der Wind.“ Er hielt sich den Bauch vor Lachen.

Das reizte David noch mehr. „Hören Sie damit auf, Sie Idiot!“, schrie er den Mann an. „Begreifen Sie denn nicht, was Sie tun?“

Nun wurde der Nachbar wieder ernst und sah David böse an. „Nu hör mal, mein Kleiner. Das, was ich hier mache, ist legal. Ich kann meine Hecke pflanzen und wieder abschneiden, wann ich will und so oft ich will. Und die Vögel machen hier nur so viel Lärm, dass wir im Frühjahr keine Nacht ausschlafen. Außerdem scheißen sie alles voll. Also, das was ich hier mache, ist ganz legal. Aber wenn du mich mit Idiot beleidigst, dann ist das eine Strafsache, Kleiner.“ Er atmete tief durch, um sich abzuregen. „Ich sag dir mal was: Weil wir jetzt schon ein halbes Leben in guter Nachbarschaft leben, will ich mal auf eine Anzeige verzichten. Aber du gehst jetzt besser wieder ins Haus, denkst über die Sache nach, kommst dann wieder raus, ich habe hier ja noch ´ne Weile zu tun, und entschuldigst dich bei mir. Sonst müsste ich wohl doch mal mit deinen Eltern reden!“, knurrte er.

David blieb unbeeindruckt. „Der einzige, der hier gleich angezeigt wird, sind Sie!“, begann er immer noch wütend und zeigte auf das Feuer und den Qualm, der den Garten bereits in dichten Nebel hüllte. „Das da, das ist nämlich nicht nur eine furchtbare Luftverschmutzung und ein Angriff auf unser Klima, nein, das ist wirklich strafbar. Ich rufe die Polizei, wenn Sie das Feuer nicht sofort löschen!“

Der Nachbar war sprachlos. „Also Bürschchen, jetzt reicht´s wirklich!“ Der Mann kam mit der Motorsäge bedrohlich nahe an David heran und fuchtelte damit vor seinem Gesicht herum. „Ein Wort noch und ich zeig`s dir mal so richtig und zwar ohne Zeugen, so dass das auch nicht strafbar ist, du Klugscheißer!“

David trat sicherheitshalber einige Schritte zurück, damit der Mann ihn nicht mehr erreichen konnte. Dann aber drohte er dem Mann mit ruhiger, sicherer Stimme. „Wenn Sie das Feuer nicht sofort ausmachen, rufe ich die Polizei!“

Der Mann hielt mit bösem Blick inne. „Na gut“ meinte er dann grinsend. „Mache ich eben das Feuer aus, ist ja gut!“ Er ging zu dem Feuer und trampelte es aus.

Dann kam er wieder zu David. „Aber die Hecke kommt heute doch noch weg, und zwar ganz und es kommt auch keine mehr hin!“ Damit begab er sich wieder an seine Arbeit.

David stand hilflos da. Er begriff, dass er nichts mehr tun konnte und wandte sich ab.

„Ich werde von nun an ein Auge auf dich haben, Bürschchen!“, rief ihm der Nachbar beim Weggehen zu. „Jedes Fehlverhalten von dir werde ich anzeigen. Zum Beispiel eure langen Geburtstagsfeiern im Sommer im Garten. Tja, das war´s dann wohl mit der guten Nachbarschaft.“

David stürmte wütend in sein Zimmer. Es dauerte eine Weile, bis er sich beruhigt hatte. „Ich werde mich weiter für die Umwelt einsetzen“, meinte er zu sich. „Aber vielleicht weniger aufgeregt, ruhiger, sachlicher. Irgendwie habe ich das nicht so gut gemacht!“



6


Bert und seine Jungens standen mit ihren Motorrädern an einer Ampel. Sie hatten beschlossen, den Tag für eine Spritztour zu nutzen. Auf dem Sozius saßen ihr Mädchen, Sina natürlich bei Bert.

„Schalt doch endlich auf Grün, blödes Ding!“, schimpfte Bert laut, da die Ampel schon lange Rot zeigte.

Die Mitglieder der Gang lachten böse auf.

Bert drehte vor Ungeduld am Gas und die anderen taten es ihm gleich. Die Straße war erfüllt vom gellenden Dröhnen der Motoren.

„Muss das sein?“, schrie plötzlich eine Frauenstimme die Gang an, um im Lärm gehört zu werden.

Sina und die anderen fuhren überrascht herum. Sie drehten ihr Gas herunter, um zu hören, was die Frau wollte.

„Geilt euch das Gedröhne auf oder was?“

Bert und die Jungens sahen die Frau mit offenem Mund vor Staunen an. Neben ihnen stand ein Sportcabrio, am Steuer ein unauffälliges Männchen, aber auf dem Beifahrersitz eine aufgedonnerte Schönheit, der man ansah, dass sie auch mit dem Mund zu beeindrucken wusste.

„Was willst du von uns, Alte?“, fragte Bert provozierend.

„Ich will, dass ihr mit dem Gedröhne aufhört, ihr Wichtigtuer!“, keifte sie. „Ich hab keine Lust auf euren Krach und euren Gestank!“

Bert lachte laut auf. „Du riskierst `ne ziemlich große Klappe, Alte!“, begann er. „Aber wenn mir danach ist, dann lass ich meine Maschine dröhnen, wie ich will!“ Damit gab er wieder Gas und die anderen taten es ihm gleich.

Gleich darauf stellten sie die Maschinen wieder leiser, weil sie hören wollten, was ihnen die Frau zurief. „Ihr seid doch nur Wichtigtuer mit eurem Gedröhne!“

„Was du nicht sagst, Alte?“, lachte Bert.

„Ist euch eigentlich klar, dass ihr einen Haufen Abgase produziert!“, rief die Frau entrüstet. „Habt ihr schon mal was vom Klimawandel gehört, wahrscheinlich nicht, ihr Schwachköpfe?“

Ein Raunen ging durch die Reihen der Biker. „He, die Alte beleidigt uns!“, rief einer. Aber alle lachten, weil sie die Frau nicht ernst nahmen.

Die fühlte sich von dem Gelächter noch mehr provoziert. „Ihr seid Lärmer und Stinker. Könnt ihr auch noch was Anderes!“ Sie lehnte sich aus dem Auto und schrie die Biker mit giftigem Blick an.

Ihr Mann zog sie verzweifelt zurück, flehte sie ängstlich an, den Mund zu halten und zerriss bei dem Versuch, sie wieder auf den Sitz zu bringen, den Ärmel ihres Kleides.

Die Biker grölten vor Lachen.

„Lärmer und Stinker, Lärmer und Stinker!“, schrie die Frau immer noch, obwohl sie ihr Mann auf den Sitz drückte.

Bert ließ den Motor aufheulen. „Das ist Freiheit, Alte, Freiheit!“, rief er ihr laut zu und seine Jungens stimmten lauthals ein.

„Freiheit, Freiheit, Freiheit!“, äffte die Frau nach. „Dummheit ist das, einfach nur Dummheit!“ Sie versuchte sich von ihrem Mann loszureißen. „Wenn es euch um Freiheit geht, warum haltet ihr dann an einer roten Ampel an. Fahrt doch einfach weiter!“, lachte nun sie wild auf.

Die Frau wollte noch etwas sagen, aber da schaltete die Ampel um und Bert fuhr mit einem Kickstart los.

„Dumme Tussi!“, schrie ihm Sina von hinten zu.

„Ganz dumme Tussi!“, meinte er.



7


„Ich glaub es nicht!“, rief David verärgert. „Das darf doch nicht wahr sein. Hab ich meine eigene Mutter bei einer Umweltsünde erwischt!“

Frau Köster stand bei den Mülltonnen und drehte sich ebenfalls verärgert zu ihrem Sohn um. „Sag mal, wie redest du eigentlich mit deiner Mutter?“, fuhr sie ihn an.

„Deine Mutter, deine Mutter!“, rief David. „Hier geht es doch nicht darum, dass du meine Mutter bist oder nicht. Hier geht es darum, dass jemand sich falsch verhält und dass dieses falsche Verhalten korrigiert werden muss! Und wenn du deinen Müll nicht trennst, obwohl ich dir für die verschiedenen Müllsorten Behälter besorgt, diese beschriftet und dir eine Einweisung gegeben habe und du dies völlig ignorierst und den Müll einfach in die Restmülltonne schmeißt, dann musst du von mir belehrt werden!“

Frau Köster stand für einen Moment sprachlos da. Dann holte sie tief Luft und hielt David ihrerseits einen Vortrag. „Sag mal, spinnst du komplett!“, begann sie. „Wie redest du denn mit deiner Mutter?“

David war überrascht von der Heftigkeit, mit der sie ihm antwortete. „Ich, ich wollte dich nicht verärgern, ich wollte doch dich doch nur an das richtige Verhalten erinnern!“

„Falsches Verhalten, richtiges Verhalten!“, schrie sie ihn an. „Darum geht es doch gar nicht!“

„Doch darum geht es!“, widersprach er heftig und sie standen sich vor den Mülltonnen wie zwei Kampfhähne gegenüber. „Es geht darum, dass wir alle uns so verhalten, dass wir unsere Umwelt schützen. Und das gilt auch für meine Mutter.“ Er holte Luft. „Ja, es ist doch wohl ein Witz, dass ausgerechnet meine Mutter, der ich täglich von meinem Engagement für die Umwelt berichte und die weiß, dass ich mir einen Studiengang mit dem Thema Umweltschutz ausgesucht habe, dass ausgerechnet meine Mutter sich gedankenlos über alles hinwegsetzt und die Umwelt verschmutzt, weil sie nicht in der Lage ist, ihren Müll zu trennen!“

Frau Köster dachte nicht daran klein beizugeben. „Und ich spreche davon, dass mein Sohn keinen Respekt vor seiner Mutter hat, sie anbrüllt, sie von oben herab behandelt wie ein Schulkind und sie anschreit!“

David zuckte zusammen und begriff, dass er zu weit gegangen war und sich im Ton vergriffen hatte.

Aber die Mutter war noch nicht fertig mit ihm. „Und ich will dir einen Rat geben!“, fuhr sie fort. „Es ist ja toll, dass du dich so engagiert für die Umwelt einsetzt!“, begann sie. „Aber glaubst du wirklich, dass du die Menschen auf deine Seite bekommst und sie für dich gewinnst, wenn du dermaßen oberlehrerhaft, besserwisserisch auftrittst und deine Haltung derart aggressiv vertrittst?“

„Ich, ich …!“, stammelte David. „Es tut mir leid!“

Die Mutter reagierte nicht auf seine Entschuldigung. Sie fuhr unbeirrt fort. „Ich kann dir genau sagen, was passieren wird, wenn du dich weiterhin so großkotzig benimmst. Bestenfalls wird man gegen dich sein und nicht auf dich hören. Und schlimmstenfalls wirst du eine ordentliche Tracht Prügel bekommen!“

David stand mit offenem Mund da und war komplett baff.

Da beruhigte sich die Mutter. Sie sah ihn liebevoll an, musste anfangen zu lachen und strich ihm mit der Hand über die Haare. „Na ja, dann will ich mal meinen Müll trennen!“, meinte sie und holte ihn aus der Resttonne wieder heraus. „Wo du Recht hast, hast du Recht. Wir müssen die Umwelt schützen, weißt du?“

Da mussten sie beide herzhaft lachen und David half seiner Mutter.



8


„Klasse, Bert, du bist toll, du gewinnst, du gewinnst!“, rief Sina begeistert und jubelte Bert zu, der mit seiner Geländemaschine und in Rennfahrermontur an ihr vorbeiraste, dicht gefolgt von einem Feld aus weiteren Fahrern.

Bert und die anderen Jungens aus der Gang interessierten sich nicht nur für Motorräder, sondern sie nahmen auch an Rennen teil.

„Wenn ich die Kohle für die Anmeldung habe!“, meinte Bert jedes Mal grinsend. „Na, meistens hilft da ein Besuch bei Muttern. Die gibt mir dann was von ihrer Rente ab. Wenn auch nicht immer freiwillig.“

Dieses Mal hatte das Geld für das Rennen gereicht und nun rasten Bert und die Jungens Runde um Runde an ihr vorüber.

Das Rennen fand auf einem nicht mehr genutzten Truppenübungsplatz statt. Ein großer Teil der Strecke verlief auf offenem Gelände, wo eine kurvenreiche und anspruchsvolle Strecke aufgeschüttet worden war, ein Teil verlief durch das angrenzende Waldstück, in dem Sina mit vielen Zuschauern stand und den Fahrern zujubelte.

Wieder kamen die Fahrer an Sina vorbei und diese jubelte erneut laut.

„Idiotensport!“, hörte sie da plötzlich jemanden hinter sich sagen.

Sie fuhr herum und bemerkte ein älteres Ehepaar, das sich hinter dem Zaun befand, der die Rennstrecke umfasste. Dort war ein Fußweg durch den Wald, den viele Spaziergänger gerne für ihre Ausflüge nutzten.

Sina sah die beiden an, schwieg jedoch und wandte sich wieder dem Rennen zu.

„Die sind doch völlig bekloppt!“, meinte der Mann und lehnte sich an den Zaun.

Da reichte es Sina und sie drehte sich zu den beiden um. „Das ist ein Sport, wie jeder andere!“, fuhr sie das Paar an.

Die grinsten sie ruhig an, sahen sich dann an und schüttelten den Kopf.

„Umweltzerstörung ist das, nichts weiter!“, meinte der Mann.

„Die Rennfahrer verpesten die Luft mit ihren Abgasen, sie verjagen die Tiere, der Lärm zerstört die ganze Ruhe hier, die man dringend nötig hätte!“, rief die Frau nun Sina zu.

„Das ist ein Sport. Und es ist ja wohl nicht verboten, dass man Rennen fährt, wenn man das als Sport haben will!“, warf Sina wütend ein.

„Leider nicht!“, konterte der Mann. „Und deswegen geht hier die Umweltverschmutzung sinnlos weiter.“

„Ein Sport für komplette Idioten!“, wiederholte die Frau.

„Das, das ist eine Beleidigung!“, schrie Sina sie nun an.

„Mag sein!“, antwortete die Frau. „Aber das da ….!“ Sie zeigte auf die Fahrer, die gerade wieder vorbeischossen. „Das ist ein Verbrechen!“

„Ein Sport für Idioten und Verbrecher!“, entschied der Mann.

Da reichte es Sina. Sie stürzte davon und suchte sich einen anderen Platz. Den ganzen Tag musste sie noch an die Leute denken, ärgerte sich, über das, was sie gesagt hatten und, dass sie an sie denken musste.



9


„Komm rein!", bat der Berufsberater. „Mein Name ist Schütz. Ich bin vom Arbeitsamt."

Sina setzte sich und schaute gelangweilt zum Fenster hinaus. „Immerhin besser, als den ganzen Tag Schule", dachte sie.

„Tja, dann will ich mal versuchen dir bei deiner Berufswahl zu helfen."

„Phh!", schnaubte Sina verächtlich. „Da wären sie der erste."

Der Berufsberater sah sie erstaunt an. „Was soll das heißen?"

„Ich bin doch eh allen egal."

Herr Schütz runzelte die Stirn. „Das wird schwierig!", dachte er. Er kam zur Sache. „Dein Lehrer hat mir erzählt, dass du dich am Gymnasium nicht wohl fühlst, auch schon durchgefallen bist und vor hast am Ende der neunten Klasse an der Hauptschule den Quali zu versuchen, damit du schon mal einen Abschluss hast. Er sagte mir, dass du bereits ein Betriebspraktikum abgeschlossen hast. Das heißt, dass du vielleicht schon bald eine Berufsausbildung beginnst. Wie hat dir denn das Betriebspraktikum gefallen?"

„Überhaupt nicht! Hat total genervt!"

Herr Schütz lehnte sich in seinem Sessel zurück und verschränkte die Arme. „Alles klar!", dachte er. „Keine Ahnung und null Bock auf Nichts."

„Wo hast du denn dein Praktikum abgeleistet?"

„In einem Büro. Industriehandelskauffrau schimpft sich das. Echt ätzend!" Sina kam sich ungeheuer cool vor.

„Und was hat dir nicht gefallen?"

„Nichts hat mir gefallen. Der Schreibkram den ganzen Tag und dass ich nicht die ganze Zeit Kaffee kochen musste, war alles. Die Tippsen wollten mir weismachen, was sie alles leisten und die Chefin nörgelte immerzu an mir herum."

„Was passte ihr denn nicht?"

„Ich soll nicht zu spät kommen, ich soll nicht rauchen, was weiß ich. Bis ich ihr gesagt habe, dass sie mich mal kann. Da musste mein Lehrer mich woanders hinstecken. Der hat vielleicht geflucht!", grinste sie.

„Und dann?"

„Ich kam in `ne Bank. Aber da hab ich mich krank gemeldet und bin gar nicht erst hingegangen. Ich lasse schließlich nicht alles mit mir machen!"

„Mensch, du hast noch nicht einmal den Hauptschulabschluss! Industriekauffrau und Bankkauffrau sind sogar für Leute mit Abitur Topjobs!"

„Was Sie nicht sagen!"

Herr Schütz stützte sein Gesicht auf seine Hände und grinste Sina frech an.

„Und welchen Beruf gedenkt unsere Prinzessin einmal zu erlernen?"

Sina ärgerte sich über seine schnippische Art. „Der Arsch will mich nerven. Aber nicht mit mir!", dachte sie wütend und überlegte, was sie antworten sollte. „Ich, ich weiß nicht!", stammelte sie nach einer Weile kleinlaut und ärgerte sich dieses Mal über sich selbst, weil sie keine vernünftige Antwort geben konnte.

„Ist doch gleich!", sagte sie und winkte mit der Hand ab. „Man kriegt doch eh keine Stelle."

„Ja, da hast du nicht ganz Unrecht!", meinte Herr Schütz nachdenklich, nahm die Brille ab und rieb sich müde Augen und Nase. „Es ist in den letzten Jahren wieder schwieriger geworden eine Lehrstelle zu bekommen. Trotzdem muss man sich bemühen einen Beruf zu erlernen."

„Wozu?", brauste Sina auf. „Da wird man nur drei Jahre ausgenutzt und angepfiffen. Und zu guter Letzt übernehmen sie dich doch nicht und schmeißen dich auf die Straße!"

„So ist es auch nicht", versuchte Herr Schütz sie zu beruhigen. „Qualifizierte und engagierte Leute werden immer gesucht und gebraucht."

„Gelaber, nichts als Gelaber!"

„Wieso meinst du?"

„Bei uns in der Gruppe ist keiner so blöd und lernt `nen Beruf. Jobben und machen lieber gleich Kohle."

„Da liegst du völlig falsch! Wenn du einen guten Beruf haben willst, musst du eine abgeschlossene Berufsausbildung haben. Das heißt gute Noten in der Schule und auch wieder auf der Berufsschule."

Sina tat so, als ob sie gähnte.

„Da seh ich bei deinem Zwischenzeugnis aber schwarz. Beste Note Vier. Damit kommst du nirgendwo an. Da kannst du froh sein, wenn du überhaupt eine Lehrstelle bekommst, Mädchen! Heilfroh!"

„Sie haben leicht reden. Sie sitzen doch sicher im Sattel und machen die dicke Kohle. Wenn ich..."

„Jetzt halt mal deinen vorlauten Rand!", fuhr Herr Schütz plötzlich dazwischen. „Dein großes Mundwerk kannst du dir sparen! Für alles, was ich heute habe, musste ich mich schwer ins Zeug legen. Ich bin hier, um dich zu beraten. Das heißt aber nicht, dass ich der Mülleimer für deine Frechheiten bin. Einen falschen Ton noch und ich werfe dich einfach raus! Dann kannst du allein sehen, was du machst! Ich glaube eh nicht, dass aus dir Taugenichts etwas Anderes werden wird als eine Sozialhilfeempfängerin. Ich hab mich noch bei keiner geirrt. Also spiel dich nicht so auf!"

Herr Schütz sah Sina herausfordernd an.

Sie war bei jedem seiner Worte kleiner geworden und saß nun wie ein Häufchen Elend vor ihm auf dem Stuhl. Am liebsten hätte sie losgeheult, denn sie spürte, dass er Recht hatte.

Es war totenstill im Raum. Herr Schütz überlegte, ob er zu weit gegangen war. Dann beschloss er, Sina hinauszuschicken.

„Entschuldigen Sie, bitte!", flüsterte Sina da. „Ich möchte, dass Sie mir helfen."

Herr Schütz glaubte seinen Ohren nicht zu trauen und sah sie überrascht an. Er musterte sie eine Weile verwirrt und versuchte sich dann wieder auf seine Aufgabe zu konzentrieren.

„Äh, nun ja", begann er verlegen. „Dann sag mir halt zunächst mal, was dich eigentlich interessieren würde."



10


„Noch eine halbe Stunde, dann hast du es überstanden."

Herr Reinders, der Leiter des Städtischen Tierheimes, war in den Hundezwinger gekommen und hatte Sina die Hand auf die Schulter gelegt. „Da freust du dich sicher?"

Sina fuhr erschrocken herum, wie sie immer erschrak, wenn sie jemand unverhofft berührte. Aber sie beruhigte sich sofort. Sie fühlte sich geborgen in Herrn Reinders Nähe. Sein freundliches Lächeln würde sie vermissen.

„Nun, du sagst gar nichts! Bist du nicht froh, dass es bald vorbei ist?"

„Doch!", antwortete Sina und bedauerte ihre Worte.

„Du kannst zufrieden sein. Ich werde dem Jugendrichter melden, dass du deine Strafe nicht nur abgeleistet, sondern deine Aufgaben gewissenhaft erledigt hast."

„Danke!"

„Anfangs warst du bockig und unwillig und wolltest deine Strafe samstags im Tierheim zu helfen nicht ableisten."

„Das war dumm von mir!"

Herr Reinders sah Sina nachdenklich an.

„Was ich bis heute nicht verstehe ist, dass du deine Komplizen nicht verraten hast. Der Richter hätte dir einen Teil der Strafe erlassen."

Er schaute ihr in die Augen, so als ob er darin ihr Geheimnis lesen wollte.

„Pass gut auf dich auf, dass du nicht nochmals bestraft wirst! Vielleicht triffst du es beim nächsten Mal schlechter als in unserem Tierheim."

Sina nickte.

„Jedenfalls wirst du froh sein, deine Samstage wieder mit deinen Freunden verbringen zu können."

„Ja, sehr froh!", sagte Sina leise. „Hoffentlich ist Herr Reinders jetzt nicht böse!", dachte sie. „Und auch wieder nicht", fügte sie schnell hinzu.

„Ja, das kann ich verstehen."

„Wie meinen Sie das?"

„Ich habe dich in den letzten Wochen beobachtet und gesehen, dass in dir viel Gutes ist, sehr viel Hilfsbereitschaft und Liebe. Die Art, wie du mit den Tieren umgegangen bist, hat mir gezeigt, dass du fähig bist, zu lieben und für jemanden zu sorgen. Viel mehr können Menschen nicht tun, wenn sie wirkliche Menschen sein wollen."

Sina wandte sich ab und senkte den Kopf.

„Ich sehe, du weißt es selbst!", fuhr er fort. „Du hast die Tiere lieb gewonnen und es genossen, dass sie sich an dich gewöhnt haben. Ich glaube, du wirst uns ganz schön vermissen."

Sina nickte traurig.

Herr Reinders legte den Arm um sie. „Komm, wir wollen zusammen durch das Tierheim gehen, damit du von deinen Freunden Abschied nehmen kannst."

Sie schritten an den Hundekäfigen vorbei.

„Die Hunde hatten es dir von Anfang an angetan", schmunzelte er.

Sina nickte und sie bleiben vor einem der Käfige stehen.

„Senta, einer deiner Lieblinge! Eine schwierige Hündin, als sie herkam. Total verängstigt und aggressiv. Du hast nicht aufgegeben, bis sie zutraulich wurde."

Sina beugte sich zu der Collie Hündin herunter, die auf sie zutrabte und streichelte sie durch die Gitterstäbe.

„Kein Wunder! Wenn man an der Autobahnauffahrt ausgesetzt und an einen Baum festgebunden wird und wer weiß wie lange ohne Futter bleibt! Da wäre ich auch aggressiv!"

„Das glaube ich wohl!", nickte Herr Reinders. „Da werfen die Leute einfach ein Tier so raus, weil sie irgendwohin rasen müssen. Eine Frechheit!"

Senta wimmerte enttäuscht, als sie zum nächsten Zwinger weitergingen.

„Mein Gott, Poldi, unser Zwergpudel!", lachte Sina und ließ sich die Hand lecken. „Das abgegebene Weihnachtsgeschenk. Alle wollten das süße Hündchen, nur der Junge nicht, der hatte sich einen Kampfroboter gewünscht und keine Verantwortung."

Sie drehten sich um, weil es hinter ihnen gebellt hatte.

„Linda, meine Gute, meine Allerbeste!" Sina beugte sich zu einer Schäferhündin herunter und kraulte sie liebevoll am Fell. „Meine treue Freundin! Ja, treu warst du immer, bis über den Tod hinaus."

„Eine furchtbare Geschichte!" Herr Reinders schüttelte den Kopf. „Hätte sie nicht tagelang bei ihrem toten Frauchen ausgeharrt und Tag und Nacht gebellt, hätte man die arme Frau erst nach Wochen gefunden. Die Besitzerin war ganz auf sich allein gestellt, die Kinder kümmerten sich nicht um sie, Freunde und Bekannte hatte sie keine, die Miete wäre jeden Monat ebenso vom Girokonto abgebucht worden wie die Rente darauf überwiesen wurde. Niemand hätte etwas gemerkt."

Sina hatte die Zwingertüre geöffnet und liebkoste die Hündin. Sie vergrub ihr Gesicht in ihrer Mähne, damit Herr Reinders nicht sehen sollte, dass sie weinte. Er bemerkte es aber doch, weil ihr Körper vor Kummer zitterte. Er beugte sich zu ihr herunter.

„Fällt dir der Abschied wohl schwer?"

Sie saßen da und schwiegen. Dann hatte Herr Reinders eine Idee.

„Hör doch mal zu!", überlegte er. „Von mir aus darfst du uns besuchen, wann du willst und darfst auch gerne helfen. Bezahlen kann ich dir nichts, weil wir auf die Straffälligen angewiesen sind. Aber das ist dir vielleicht nicht so wichtig?"

Sina drehte sich zu Herrn Reinders um. Nun strahlte sie über das ganze Gesicht.

„Sie, Sie meinen", stotterte sie. „Sie meinen, ich kann meine Freunde besuchen, wann ich will?"

„Was soll ich schon dagegen haben? Du leistest gute Arbeit und gehörst ja praktisch zur Familie."

„Das wäre ja Klasse!", rief Sina begeistert und gab Herrn Reinders einen Kuss auf die Wange.

Der wurde rot und stand auf.

„Na ja", überlegte er. „Bevor du wieder ein Ding drehst, nur um hier mithelfen zu können!"



Am Tag, als die Fische starben

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