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Solange es Menschen gibt, wird es Streit und Kampf und Krieg geben. Wer sich nicht verteidigen kann, der wird zum Opfer und verliert sein Paradies.


Dieser Roman ist dem Teil meiner Familie gewidmet, der sein Paradies in Siebenbürgen verlor und all denen, die ihr Paradies oder sogar ihr Leben verloren.

G. J. Wolff








1


„Sieh nur dort unten, die goldenschimmernde Goldstritz!“, meinte Johann Wolff, Vater und Oberhaupt der Familie Wolff, die im zwölfburgischen Heidedorf den Bauernhof mit der Nummer 64 hatte, zu seinen Söhnen, die ihm beim Zackern zur Vorbereitung des Säens halfen.

Das Dorf gehörte zu dem deotischen Bezirk Zwölfburgen, der seinen Namen von den zwölf Burgen hatte, die die Deoten gebaut und mit deren Hilfe sie über Jahrhunderte den Ansturm der Völker aus dem Osten aufgehalten und ihre und die europäische Kultur bewahrt hatten.

Der Vater hielt den Pflug, der von zwei Pferden gezogen wurde, auf einem Hügel hoch über dem Tal an und besah sich den in der Abendsonne glänzenden Fluss. „Zusammen mit der Sonne und der Erde schenkt er uns das Leben!“

„Und alles kommt von Gott, denn der gibt Sonne, Erde und Wasser!“, ergänzte Hans, sein ältester Sohn, sechsundzwanzig Jahre alt, ein großer bedächtiger Mann, der Erbe des Hofes.

„Ich freue mich darauf, in diesem Paradies leben zu dürfen“, meinte Martin, sein jüngster Sohn. Er war gerade 18 Jahre alt, hatte nach dem Besuch der Volkschule gerade die Ackerbauschule abgeschlossen und half nun dem Vater, wo er konnte. Er war etwas kleiner, aber stämmiger und kräftiger als sein Vater, der sehr groß und schlaksig war. Er sollte nun zügig in die Arbeit auf einem Bauernhof eingearbeitet werden, deshalb half er dem Vater. Wenn er erwachsen wäre, sollte er in einen anderen Bauernhof einheiraten, wie dies alle nachgeborenen Söhne taten.

Michael, der mittlere Sohn, vierundzwanzig Jahre alt, arbeitete in der Kreishauptstadt Goldstritz in einer Bank. Er wohnte noch bei seinen Eltern, konnte aber auch bei seinen Großeltern, den Eltern seines Vaters, in der Stadt übernachten, wenn dies einmal nötig war. Der Onkel war im Großen Krieg gefallen, nun aber war Frieden und nach nichts anderem sehnten sich die Völker und die Nationen.

Sie ließen ihren Blick über das Tal und den Fluss gleiten. Vor ihnen lagen die Weinberge, die steil bis hinunter zum Dorf hinabreichten, dann kam das Dorf, die Bauernhöfe, die dicht aneinander gebaut waren und deren Gebäude sich um einen Innenhof gruppierten, ein großes Holzhoftor schloss sie von der Außenwelt ab. Die Bauernhöfe umringten den Dorfplatz mit Kirche, Gemeindehaus, Kulturhaus, Schule, Kindergarten und Spielplatz. Zwischen dem Dorf und dem Fluss lagen die Äcker, Wiesen und Felder. Die einzigartige Heidelandschaft, die dem Dorf seinen Namen gab, schloss sich nach Osten hin an. Nur nach Westen folgte unfruchtbare Dürre.

„In was für ein Paradies hat mich Gott geführt!“, schwelgte der Vater fast träumerisch. Er kam aus einer Familie aus der nahen Verwaltungsstadt Goldstritz und hatte in den Hof der Familie Seidel eingeheiratet. Diesen Hof wiederum hatte seinem Stiefvater Michael Seidel und seiner Frau Maria Gottschick deren Vater erbaut und geschenkt, der alte, reiche Gottschick, und hatte so zwei Kindern eine Existenz gegeben, von denen jeder ihrem älteren Geschwister den Stammhof überlassen mussten. „Gott gebe, dass dieses Paradies niemals verlorengeht.“ Er sah die Söhne nachdenklich an. „Hier habt ihr schon viele schöne Jahre verlebt“, begann er. „Ihr hattet eine wunderbare Kindheit, eine Kindheit im Freien, in der Natur, im Frühling, Sommer und Herbst mit euren Freunden auf den Wiesen und in den Wäldern, im Winter beim Schlittschuhlaufen auf dem Weiher oder beim Skifahren an den Hängen.“

„Ja, das hatten wir“, bestätigte Hans.

Der Vater fuhr fort. „Und auch ich hatte hier schöne Jahre.“ Er zeigte weit über das Tal. „Dort drüben, wo die beiden Weinberge aufeinanderstoßen, habe ich zum ersten Male eure Mutter gesehen und mich gleich in sie verliebt.“ Er sah seine Söhne an. „Ja, hier habe ich mich verliebt, hier habe ich geheiratet, eine Familie gegründet und mit euch viele schöne Jahre verbracht. Ich wünsche euch, dass ihr das alles auch so erleben werdet und dass dieses Glück nie enden wird.“ Er sah seine Söhne liebevoll an und hatte Tränen in den Augen.

Martin blickte verlegen in die Augen seines Vaters. „Das, das wünsche ich mir auch, Vater!“

Sie sahen sich lange an. „Jetzt müssen wir aber weiterarbeiten!“, versuchte der Vater, die Situation nicht zu gefühlvoll werden zu lassen. „Damit wir vor der Dunkelheit zuhause sind.“ Dann gab er den Pferden die Zügel und sie zackerten die im Herbst grob gepflügte Erde bröselig, bis sie am Abend in das Tal hinunter fuhren.



2


„Das soll, ja das muss die schönste Hochzeit werden, die unser Dorf je gesehen hat!“, rief die fünfundzwanzigjährige Johanna begeistert aus und tanzte durch die Küche.

Die Mutter, die genauso, wie die Großmutter Maria hieß, sowie ihre Schwestern Maria, neunzehn Jahre, Sofia, zwanzig Jahre und Anna, die dreiundzwanzig Jahre alt war, hielten in ihrer Arbeit inne und sahen sie grinsend an und freuten sich für sie.

Sie waren alle schlank und für Frauen auch groß, hatten schwarze, lange Haare und dunkelbraune Augen.

Sie backten Kuchen für das große Familienfest, das nach der Tradition mehrere Tage dauern würde. Die Hochzeit begann stets mit der Kirche, es folgte die Hochzeitsfeier, die die ganze Nacht andauerte, im Gasthaus mit Speisen, Tanz, Musik und Hochzeitsspielen. Aber auch in den Folgetagen wurde noch gefeiert. Da die Hochzeit stets am Samstag gefeiert wurde, kam die Jugend am Sonntagnachmittag nochmals in die Gaststube und tanzte. Die Älteren trafen sich im Haus des Brautpaares zum Kaffee wieder und so ging es noch einige Tage, bis die vorbereiteten Speisen aufgebraucht waren.

„Da müssen wir uns aber noch sehr anstrengen“, wusste die Großmutter. „Dieses Dorf hat schon viele schöne Hochzeiten gesehen. Also komm lieber und hilf uns bei der Arbeit, tanzen kannst du an deinem Hochzeitsabend und in den Folgetagen noch genug!“

Nun mussten alle und auch Johanna lachen. Schnell begab sie sich wieder zu den anderen, die um einen riesigen, hölzernen Arbeitstisch in der Küche herumstanden und Teig für die Kuchen kneteten.

„Ach, ich glaube, das werden die schönsten Tage meines Lebens!“, rief Johanna plötzlich wieder unvermittelt aus. Sie war überglücklich, weil sie in wenigen Tagen in den Brecknerhof heiraten würde.

„Ich hoffe, dass die nächsten Tage schöne Tage werden, Johanna!“, wünschte ihr nun die Mutter und sah sie liebevoll an. „Aber ich wünsche dir noch viele solcher Tage, ich wünsche dir nur glückliche Tage!“

„Danke, Mutter!“, hauchte Johanna gerührt und warf sich ihrer Mutter in die Arme.

„Hoffentlich werden es auch so schöne Hochzeitstage, wie wir uns das wünschen!“, knurrte die Großmutter.

Alle sahen sie betrübt an und wussten, was sie meinte.

Hier in dieser Region, in ihren Dörfern, deren Kennzeichen die zwölf Verteidigungsburgen waren, da waren sie in ihrer Heimat, da waren sie unter sich und lebten ihr Leben. Aber in Wirklichkeit waren sie doch Fremde in einem viel größeren Land. Der Bezirk gehörte zu dem Staat Agisien. Und dieses Land betrachtete sie argwöhnisch und neidisch auf ihre Kultur und Leistungsfähigkeit und suchte nach Wegen, sie zu unterdrücken und ihre Lebensweise zu zerstören.

„Neulich störten Knechte durch lautes Gebrüll und wilden Gesang die kirchliche Feier einer anderen Hochzeit und hörten auch nicht auf, als man sie darum bat. Und auch die Hochzeitsfeier im Gasthaus wurde von ihnen noch gestört.“

„Ja, die Zeiten haben sich geändert“, ergänzte die Mutter.

„Daran ist nur dieser schreckliche Krieg und dieser ungerechte Frieden schuld!“, wusste die Großmutter.

Die Töchter lauschten gespannt ihren Ausführungen, obwohl sie die geschichtlichen Ereignisse genau kannten.

„Solange wir bei Österreich-Ungarn waren, lebten wir in Freiheit und Frieden. Die Österreicher ließen die Menschen leben. Aber seit wir durch den Versailler Vertrag zu Agisien gekommen sind, geht es uns schlecht. Ununterbrochen werden wir gegängelt und gedrückt. Der König ist vertrieben und die neue Regierung will uns unbedingt zu Agisen machen. Ununterbrochen denken sie sich etwas Neues aus, um uns zu demütigen.“

Bei ihren Worten herrschte unmittelbar lähmende Stille im Raum. Alle sahen traurig und gedrückt zu Boden. Niemand wagte etwas zu sagen, nicht einmal anzuschauen wagten sie sich.

„Ach, das muss doch gar nicht so kommen und so sein!“, meinte nun plötzlich die Mutter. Sie fühlte, dass es an ihr lag, die Töchter auf andere Gedanken zu bringen. „Wahrscheinlich wird alles gut. Wenn sie erst begreifen, dass es durch unsere Arbeit auch ihrem Land und ihren Landsleuten besser geht, dann werden sie uns schon die alten Freiheiten wieder gewähren.“ Sie sah ihre Tochter lächelnd an. „Und du, Johanna, du wirst die schönste Hochzeit haben, die dieses Dorf je gesehen hat.“

„Danke, Mutter!“, rief diese und stürzte sich wieder in die Arme ihrer Mutter.

Die Mutter drückte sie mit geschlossenen Augen fest an sich. Als sie jedoch die Augen wieder öffnete, sah sie in das traurige und ängstliche Gesicht der Großmutter.



3


„Sieh da, der Bürgermeister kommt“, meinte der Vater, sah von seiner Arbeit auf und begrüßte seinen Nachfolger, denn er war vor kurzer Zeit noch selbst Bürgermeister gewesen, hatte das Amt aber wegen der vielen Arbeit auf dem Hof abgegeben.

Der Großvater, der Vater und die drei Söhne waren im Hof und schlachteten ein Schwein für die Hochzeit, als Bürgermeister Rührig die Türe im Hoftor geöffnet hatte und in den Innenraum des Kastenhofes gekommen war. Die Männer ließen kurz vom Schwein ab, sahen hoch und betrachteten den Bürgermeister skeptisch. Sie hatten ein gutes Verhältnis zu ihm, mochten ihn, aber es ging meistens um nichts Erfreuliches, wenn er kam. Trotzdem begrüßten sie ihn freundlich.

„Guten Tag, Michael, Gott sei mit dir!“, grüßte der Großvater und die anderen nickten ihm zu. „Was führt dich zu uns? Die Hochzeit ist doch erst am Samstag und du siehst ja, wir müssen für die Schnitzel und den Braten noch sorgen.“ Er lachte und zeigte auf das Schwein.

Der Bürgermeister, der natürlich zur Hochzeit eingeladen war, versuchte ebenfalls zu lächeln, aber es fiel ihm sichtlich schwer. „Gott auch mit euch“, erwiderte der Bürgermeister. „Ich freue mich auch schon auf die Hochzeit.“

„Was führt dich zu uns?“, wollte nun der Vater wissen.

„Nichts Gutes“, erwiderte der Bürgermeister verlegen und zornig zugleich. „Eigentlich eine Unverschämtheit!“ Er räusperte sich.

Die anderen sahen ihn erwartungsvoll an.

Der Bürgermeister holte einen Zettel aus seiner Jacke und hob ihn demonstrativ in die Höhe. „Das ist eine Anweisung von einer agisischen Behörde aus der Bezirkshauptstadt. Sie bestimmt, dass alle Verwaltungspapiere im Bezirk in agisischer Sprache sein müssen. In der nächsten Woche wird ein agisischer Beamter in meinem Hause zu Gast sein, ihr müsst alle kommen und die Papiere, Pässe, Besitzdokumente usw. umschreiben lassen. Wer nicht erscheint, wird bestraft. Ich rate euch also zu kommen. Ich kann es auch nicht ändern.“

Die Männer brachen in wütende Flüche aus.

„Die wollen uns unsere Kultur, unser Deotentum nehmen!“, schrie Martin und auch die anderen stimmten in die wütenden Rufe ein.

„Seid froh, wenn sich der Kerl nicht auf Dauer in unserem Ort einnistet!“, kommentierte der Bürgermeister schließlich.

Da schwiegen plötzlich alle und sahen Rührig fragend an.

„Im Moment sieht es so aus, als ob der Beamte in unser Dorf kommt und dann auch wieder geht.“ Er holte Luft. „Aber wer sagt, dass das so bleibt. Wer sagt, dass die Agisen sich nicht auf Dauer in unserem Dorf festsetzen wollen?“

„Das, das würden wir nie zulassen, das trauen die sich nicht, das muss verhindert werden!“, riefen die Männer, außer dem Vater, empört durcheinander.

Der winkte ab. „Ich kann auch nichts tun“, meinte er traurig. „Die Zeiten ändern sich.“

„Die Zeiten haben sich schon geändert!“, ergänzte nun der Vater.

„Die Zeiten werden sich erst noch ändern, da könnt ihr sicher sein!“, ahnte der Bürgermeister.

„Ach, was!“, rief ein Mann namens Schuster, der auf ein Schwätzchen den Hof betreten hatte und das Gespräch verfolgt hatte. „Wahrscheinlich handelt es sich bei all dem nur um einen Irrtum.“ Er winkte ab. „Die Agisen sind doch einfach zu blöd, irgendetwas richtig durchzuführen, das kennen wir doch. Sicher handelt es sich um einen Irrtum, den sie bald wieder zurück nehmen müssen. Dann werden wir, wie so oft geschehen, über ihre Dummheit lachen. So wird es sein!“ Er schlug sich lachend auf die Schenkel und auch die anderen lachten.

Nur der Vater nicht. Er begrüßte den Mann und sah ihn dann nachdenklich an. „Nein!“, meinte er. „Das alles ist kein Irrtum. Das ist nur der Anfang von etwas richtig Bösem.“

Er bemerkte, dass seine offenen Worte die Anwesenden sofort verwirrt und ängstlich machten. Da beschloss er, eine andere Taktik zu verfolgen. „Ach, was unke ich hier herum.“ Er sah zu Schuster. „Wahrscheinlich hast du Recht und alles ist ein Irrtum.“ Es freute ihn, dass die Anwesenden sofort wieder beruhigt waren. „Also dann, bis Samstag. Lasst uns unbeschwert feiern, so lange es noch geht!“, entfuhr es ihm aber noch. Wieder bemerkte er die Wirkung seiner Worte. Er wusste, dass es ihm nicht gelang, sich zu verstellen. Da ging er.

Die anderen sahen ihm nachdenklich nach.

„Ich werde für uns beten“, hörten sie nun eine Stimme von der Veranda. Sie fuhren herum und sahen die Großmutter, die ihr Strickzeug weglegte und die Hände faltete.



4


Am Tag der Hochzeit war das ganze Dorf in die Kirche gekommen, um am Leben des Brautpaars teilzunehmen, die alten Bräuche zu leben und so sich der eigenen Identität bewusst zu sein. Die Hochzeitsgäste waren in der Tracht erschienen, das Brautpaar in der Hochzeitstracht. Während des Gottesdienstes hatte auch der Posaunenchor des Dorfes gespielt.

Nach der Kirche ging die Hochzeitsgesellschaft ins Gasthaus, wo man zu Mittag aß, man spazierte durch das Dorf, besah sich die Gehöfte, warf einen Blick auf die Äcker, die Weinberge und natürlich auf den Fluss, der wie die nahe Stadt hieß, freute sich über dies alles und besprach dann doch voller Sorgen die politische Lage.

„Sie wollen unsere deotische Kultur vernichten!“, meinte der Großvater mit ernster Miene. „Sie werden aus unseren Dörfern agisische Dörfer machen wollen.“

„Das ist eine logische Absicht eines Staates. Kein Staat hat es gern, wenn fremde Kulturen auf seinem Territorium sind“, urteilte der Vater, der das Gymnasium in der Stadt besucht hatte und vielleicht studiert hätte, wenn er nicht in den Hof eingeheiratet hätte. Er war durch seine Erziehung sowohl gebildet als auch an allem interessiert, was sich ja gegenseitig bedingt, und wusste daher in allem Bescheid.

Die Großmutter, die Mutter und die Schwiegereltern begleiteten die beiden mit nachdenklichen Mienen. Sie hörten aufmerksam zu.

„Vielleicht wird es doch nicht so schlimm kommen“, wollte der Schwiegervater die traurige Stimmung aufheitern.

Aber der Vater winkte ab. „Glaub mir, die werden keine Ruhe geben, bis sie erreicht haben, was sie wollen!“

„Aber, wir nutzen ihnen doch mehr, wenn sie uns unser Wesen lassen!“, warf der Großvater ein. „Ihre Leute sind ungebildet und faul. Die bringen ihnen doch keine Steuern.“

Der Vater schüttelte wieder den Kopf. „Das ist ihnen gleich. Es geht hier um das Prinzip!“

Die Frauen schwiegen mit ernsten Mienen. Sie konnten nicht so recht glauben, was sie hörten. „Es wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird!“, warf die Mutter ein und erklärte es mit einer Bemerkung aus einem Bereich, in dem sie sich auskannte, worüber die anderen schmunzeln mussten.

Dann spazierten sie zum Gasthaus zurück. Es folgte der Kaffee, schließlich das Abendessen, dann wurde die ganze Nacht zur Musik der Kapelle getanzt. Erst in den Morgenstunden gingen die letzten nach Hause, aber nicht ins Bett, sondern zum Füttern und Melken in den Stall.

Nun schlief man aus, aß eine Kleinigkeit zu Mittag, aber am Nachmittag trafen sich die Frauen, die an der Hochzeit teilgenommen hatten, zu Kaffee und Kuchen im neuen Zuhause der Braut, die ja in einen anderen Hof eingeheiratet hatte, die Männer saßen in der Gaststube im Gasthaus zusammen und die Jugend feierte nochmals mit Musik und Tanz in dem Raum über der Gaststube, wo auch die Hochzeit stattgefunden hatte.

Auf dem Weg zur Toilette begegneten sich der Vater und sein jüngster Sohn.

Der Vater nahm seinen Sohn bei den Schultern und sah ihn einen Augenblick nachdenklich an. „Feiert nur, ihr Jungen!“, sagte er leise. „Feiert nur und genießt das Leben, so lange es noch so geht!“

Martin wusste, was sein Vater meinte, denn man hatte die Lage schon des Öfteren diskutiert. „Mach dir keine Sorgen, Vater!“, begann dieser lachend. „Wir lassen uns unser Deotentum nicht nehmen. Erstens sind die Agisen viel zu dumm und zum anderen sind wir kampfbereit!“

Der Vater sah ihn milde lächelnd wegen seiner jugendlichen Unbekümmertheit an. „Wir sind allein in einem fremden Land. Die, die uns helfen könnten, sind weit weg. Möge Gott dafür sorgen, dass der Staat einsichtig wird und uns in Frieden lässt oder die Veränderungen nicht zu heftig für uns werden.“

„Ach, wir werden uns nichts gefallen lassen, Vater!“, rief der Sohn aus.

Der Vater sah, dass es sinnlos war, der unbekümmerten Jugend von den Erfahrungen des Alters zu erzählen. Da lächelte er. „Geh feiern, mein Sohn, genieße deine Jugend!“

„Das werde ich, Vater, das werde ich!“

Damit trennten sich ihre Wege.

Auch in den nächsten Tagen trafen sich die Hochzeitsgäste noch mehrfach zum Feiern, bis die Speisen und Getränke aufgebraucht waren.



5


„Was ist denn da draußen los?“, rief Martin und sprang vom Mittagstisch auf zum Fenster, an dem die ganze Familie versammelt saß.

„Setz dich wieder hin!“, befahl der Großvater grimmig. „Das gemeinsame Essen ist heilig und darf durch nichts unterbrochen werden.“

Martin achtete jedoch nicht auf die Worte des Großvaters, sondern verharrte gebannt von dem, was draußen vor sich ging.

„Komm zurück zum Tisch!“, befahl der Großvater erneut.

Aber inzwischen waren auch die anderen Söhne zum Fenster geeilt, angelockt von lauter Musik. Da begab sich schließlich sogar der Großvater zum Fenster. Nur der Vater und die Frauen blieben am Tisch sitzen und sahen sich ratlos an, der Vater mit trauriger Miene.

Draußen hielt gerade vor ihrem Haus ein von Pferden gezogener Wagen, auf dem einige Männer von einem Plattenspieler Musik erklingen ließen. Dann wurde die Musik unterbrochen und ein Mann erhob sich, hielt ein Megaphon an seinen Mund und begann zur Menge, die sich inzwischen um den Wagen eingefunden hatte, zu sprechen. „Hört ihr Leute von Deotora!“, begann er.

„Deotora?“, knurrte der Großvater den agisischen Namen ihres Dorfes. „Heidedorf heißt unser Dorf und dabei bleibt es!“

„Hört, ihr Leute von Deotora!“, wiederholte der Mann, der eine Uniform trug. „Hört, was der Staat euch zu sagen hat!“

„Der Staat hat uns nichts zu sagen!“, knurrte der Großvater wieder und die Söhne, die inzwischen neben Martin in den Fenstern lagen, stimmten ihm zu.

„Da in eurem Dorf auch viele agisische Familien wohnen …“

„Unsere Dienstboten halt!“, wusste Martin und grinste.

„Die Dienstboten sind, weil sie zu dumm, zu faul und zu schlampig sind, um sich etwas Eigenes aufzubauen!“, ergänzte Hans.

„… hat der Staat beschlossen, dafür zu sorgen, dass allen deotischen Einrichtungen der Gemeinde gleichzeitig und selbstverständlich agisische Einrichtungen, und zwar für die agisischen Bürger, zugesellt werden.“

„Wie bitte?“, fragte der Großvater erzürnt. „Das ist ein deotisches Dorf und das soll ein deotisches Dorf bleiben!“

„Ihr habt ja gesehen, dass der Staat einige leerstehende Gebäude beschlagnahmt und wieder in Stand gesetzt hat. In diese werden nun die agisischen Behörden kommen. Es werden dies ein Rathaus mit allen nötigen Ämtern, eine Polizei sowie ein Kindergarten und eine Schule sein. Diese werden von nun an hier die Angelegenheiten der agisischen Bevölkerung regeln!“

„Aber, aber, das ist ein deotisches Dorf! Das ist unser Dorf! Dieses Dorf gehört uns. Die Agisen sind nur Dienstboten hier!“, riefen die Söhne wild durcheinander.

Da ertönte wieder Musik und der Wagen fuhr unter den wütenden Blicken der Menschen, die sich um ihn versammelt hatten, weiter.

Die Stube war erfüllt von der hitzigen Diskussion der Familienmitglieder.

„Das lassen wir uns nicht gefallen! Wir müssen uns wehren!“

„Denen zeigen wir es!“

Lautes Stimmengewirr erfüllte den Raum. Und alle waren sich einig.

„Was wollt ihr denn machen?“, fragte da der Vater plötzlich leise.

Urplötzlich wurde es still im Zimmer und alle sahen ihn an.

„Aber, aber wir müssen uns doch wehren!“, meinte Martin hitzig wie immer.

„Wie willst du dich denn wehren?“ Der Vater sah ihn traurig an.

„Wir stellen eine Bürgerwehr auf und werfen die Agisen aus dem Dorf!“

„Damit der Staat Soldaten schickt und uns alle erschießen lässt!“, konterte der Vater.

Die Anwesenden erstarrten vor Schreck.

„Gar nichts werden wir tun!“, bestimmte der Vater. „Der Staat hat beschlossen, uns unsere Selbstständigkeit zu nehmen. Und das wird er tun!“

„Aber, aber …!“, stammelte Martin enttäuscht.

Die anderen sahen den Vater sprachlos an.

„Wenn wir Glück haben, bleibt es dabei, dass der Staat die Einrichtungen für seine Leute schafft und uns unsere Eigenständigkeit trotzdem lässt. Wenn wir Glück haben!“

„Was, was meinst du?“, wollte Michael wissen. „Was vermutest du, was ahnst du?“

Der Vater räusperte sich. „Der neue Staat will seine Macht überall durchsetzen. Das ist das legitime Recht eines jeden Staates. Und das könnte bedeuten, dass er uns alles nimmt und uns zu Agisen machen will oder uns wenigstens so behandeln wird.“

„Wir, Agisen?“, stammelte Michael entsetzt.

„Unsinn! Du gehst zu weit! Das trauen sie sich nicht! Sind doch unfähig und erreichen nichts ohne unser Können, unsere Organisationsfähigkeit und unsere Steuern. Und das wissen sie!“, meinte der Großvater bestimmt. „Was habe ich nur für einen Schwächling von Schwiegersohn!“

Die anderen stimmten ihm zu, sahen aber dann skeptisch zum Vater.

„Ich hoffe, dass ich Unrecht habe!“, meinte dieser ruhig. „Aber der neue Staat hat große Pläne und ist sehr ehrgeizig. Und die neue Regierung wird ihre Ziele mit aller Gewalt und Kraft durchzusetzen versuchen.“

„Ach, mit ihren eigenen Leuten ist doch nichts anzufangen. Ungebildet, faul und unzuverlässig. Wir erleben sie doch jeden Tag so.“

„Das werden sie zu ändern versuchen. Und vielleicht gelingt es, wenn sie ihre Leute bilden.“

„Du musst verrückt sein! Mit diesen Faulenzern und Dummköpfen ist doch nichts anzufangen!“, rief der Großvater empört aus.

„Dann werden sie es sicher an uns auslassen, wenn es nicht gelingt.“

„Dann werden wir uns wehren!“, wiederholte Martin.

„Mit Mistgabeln?“ Der Vater schüttelte den Kopf. „Die haben Polizei und Soldaten. Unser Vaterland ist weit weg, hat keine direkte Grenze zu uns und kann uns nicht helfen. Niemand kann uns helfen. Wir werden nur hoffen können, dass es ihnen genügt, dass wir friedlich neben ihnen leben wollen. Gnade uns Gott, wenn ihnen das nicht genügen wird!“

Die Anwesenden sahen den Vater erschrocken an.

„Dann sollten wir vielleicht den Herrgott darum bitten, dass er uns beschützt!“, warf da die Großmutter ein und begann wie stets, wenn sie nicht mehr weiter wusste, zu beten.



6


„Was ist denn da los?“, fragte sich Michael mehr selbst, als seinen Bruder Martin, dem er am Samstag bei den Arbeiten auf dem Feld half.

Die beiden Brüder fuhren Jauche mit einem Wagen, auf dem sich ein Holzfass befand, hatten den Hof verlassen und kamen gerade an einem der beschlagnahmten Häuser vorbei, das sich direkt neben dem Gemeindehaus lag, in dem sich auch der Amtssitz des deotischen Bürgermeisters befand.

Vor dem Haus lauschte eine Menschenmenge einem Mann, der ihnen lautstark auf Agisisch etwas ansagte und dies mit wilden Gesten unterstützte. Immer wieder riss er die geballte Faust in die Höhe, worauf die Menge in Jubel ausbrach.

Martin hielt den Wagen, der von zwei Pferden gezogen wurde, an und nickte mit verbitterter Miene. „Da bezieht gerade der neue agisische Bürgermeister seinen Amtssitz. Und die agisischen Dienstboten jubeln ihm und seinen Beamten zu!“

Die beiden Brüder schwiegen verbittert und betrachteten die Vorgänge.

„Dann macht also der Staat ernst!“, kommentierte Michael schließlich. „In allen unseren Dörfern wird es von nun an auch eine agisische Verwaltung geben. Da braucht man sich nicht fragen, wer da von nun an das Sagen hat, sicher nicht mehr unser Bürgermeister!“

„Die Schweine!“, knurrte Martin und ballte die Fäuste. „800 Jahre lang haben sie uns in Ruhe und uns unsere Freiheit gelassen und dabei ja auch gut Steuern kassiert, weil wir gut gearbeitet haben, nicht so, wie das Gesindel da. Und jetzt setzen sie uns diese Kerle vor die Nase und wollen über uns bestimmen. Warum machen sie denn das auf einmal?“ Er blickte mit zusammengekniffenen Augen zur Menge hinüber.

„Das ist doch ganz einfach. Es ist so, wie Vater vermutete: Der neue Staat und seine Vertreter wollen zeigen, dass sie in ihrem Land die Herren sind. Sie wollen ihren Machtanspruch in ihrem ganzen Land, in jeder Stadt und in jedem Dorf und somit auch in den deotischen Dörfern durchsetzen. Das ist doch verständlich. Nur leider ist es für uns nicht schön!“

„Das lassen wir uns nicht gefallen!“, brauste Martin erneut auf.

Michael sah ihn traurig an. „Das ist alles nicht gut, da hast du Recht. Aber wir können gar nichts tun. Wir sind nur eine Minderheit und können uns doch nicht gegen diese Übermacht wehren. Wir müssen es einfach geschehen lassen!“

„Geschehen lassen, bist du verrückt?“, brauste Martin auf und stand von der Bank des Wagens auf. „Wir werden uns wehren und es ihnen zeigen!“

„Wir werden froh sein können, wenn sie uns möglichst wenig überwachen und uns in Frieden leben lassen, so sieht es aus!“, erklärte Michael.

„Ich, ich werde mir nichts gefallen lassen, da kannst du Gift drauf nehmen!“, schimpfte Martin wild.

Michael bemerkte, wie der agisische Bürgermeister und die Menge auf sie aufmerksam geworden waren und sich mit bösen Blicken zu ihnen umgedreht hatten.

„Gar nichts wirst du!“, fuhr Michael Martin an. „Hinsetzen wirst du dich und Ruhe geben!“ Er deutete auf die Menge. „Du kannst froh sein, wenn sie uns nicht zu sehr gängeln. Ich mache mich auf das Schlimmste gefasst!“

Martin stand noch kurz sprachlos, angesichts der Worte seines Bruders, da, dann setzte er sich tatsächlich.

Michael gab den Pferden die Peitsche und sie fuhren unter den bitterbösen Blicken der Agisen weiter.

Die Brüder schwiegen beide eine ganze Weile.

„Das heißt, es wird nicht mehr so sein, wie bisher!“, murmelte Martin verbittert vor sich hin. „Allein schon durch die Einsetzung eines agisischen Bürgermeisters hat sich alles verändert.“

„Es ändert sich immer alles!“, wusste Michael. „Und glaube mir, wenn genügend Menschen es wollen, dann ändert sich viel. Und es gibt hier viele Menschen, die etwas wollen, viel mehr Menschen als wir es sind!“





7


„Was ist denn das für ein komisches Trampeln?“, fragte sich der Vater, der zusammen mit Martin beim Ausmisten der Kühe war. Sie schoben abwechselnd ihre mit Mist beladenen Schubkarren vom Kuhstall zum Misthaufen und kehrten mit den entleerten zu den Tieren zurück. Jetzt aber hielt der Vater inne und lauschte hinaus auf die Straße.

Martin hielt gleich darauf neben ihm und so sahen sie durch das geöffnete Hoftor hinaus, wo das Geräusch lauter und lauter wurde.

Im nächsten Moment klappte ihnen die Kinnlade nach unten und sie beobachteten sprachlos, wie ein Trupp agisischer Polizisten an ihrem Hof vorbeimarschierte.

Sie blickten sich kurz betreten an, dann stürzten sie zum Hoftor hinaus und sahen den Männern nach, die gleich darauf in das Haus neben dem Gemeindehaus, in der eine agisische Kommandantur eingerichtet worden war, abbogen.

„Das ist die angekündigte Polizei!“, erklärte der Vater seinem Sohn, was dieser eh schon verstanden hatte.

„Sie machen also ihre Absichten wahr“, ergänzte dieser verärgert.

„Wie es zu erwarten war. Es war ja wohl klar, dass sie nichts ankündigen würden, was sie dann nicht auch durchführen würden.“

„Ja, aber trotzdem habe ich es nicht so richtig geglaubt!“

„Weil wir es uns einfach nicht vorstellen konnten!“, erklärte der Vater.

„Dann haben wir jetzt also auch eine agisische Polizei im Dorf. Na ja, gut, dass wir unseren eigenen Polizisten haben und die uns nichts zu sagen haben!“, rief Martin laut aus.

Der Vater sah seinen Sohn skeptisch an. „Das wird sicher nicht so sein, Martin! Wenn der Staat alles kontrollieren will, dann wird seine Polizei auch über uns wachen.“

Martin sah ihn wütend an. „Aber sie haben uns unsere Eigenständigkeit versprochen!“

Der Vater nickte traurig mit dem Kopf. „Ja, aber das war unter der alten Regierung. Die neue hat neue Pläne. Und du weißt ja, neue Besen kehren gut.“ Er holte tief Luft. „Die Dinge ändern sich, die Dinge ändern sich dauernd.“ Er atmete nochmals tief durch. „Hoffen wir, dass es nicht so schlimm wird.“

Damit machte er sich wieder an seine Arbeit und sein Sohn folgte ihm.



8


Gleichzeitig machte auch der Großvater seine erste Begegnung mit der agisischen Polizei. „Was ist denn da los?“, fragte der er mehr sich selbst, als die Männer, die um ihn herum standen. Er hatte in aller Frühe gleich nach dem Melken wie jeden Tag die Milch in die Bezirksstadt Goldstritz gefahren und war nun schon wieder auf dem Nachhauseweg. Als er an dem vom Staat beschlagnahmten Gebäude vorbei kam, das die Agisen in den letzten Monaten unter den kritischen und wütenden Augen der Dorfbewohner renoviert hatten, war ihm natürlich sofort die Menge von Menschen aufgefallen, die vor dem Gebäude herumstand. Er hielt seinen Wagen an, stieg ab und ging zu den anderen Dorfbewohnern hinüber.

„Das siehst du doch!“, fuhr ihn ein Mann namens Rührig, ein Bruder des Bürgermeisters, an. „Heute lassen sie die Katze aus dem Sack.“ Er zeigte auf das Gebäude. „Weißt du, was sie da hinein tun?“

Der Großvater hob fragend und interessiert den Kopf.

„Sie setzen uns hier ihre eigene Polizei vor die Nase!“, schrie Rührig wütend.

Der Großvater sah ihn überrascht an. „Polizei?“

„Ja, das habe ich doch gesagt. Wir haben ab heute die agisische Polizei im Dorf!“

Nun schüttelte der Großvater den Kopf. „Aber wir haben doch unseren eigenen Polizisten. Wir brauchen doch nicht auch noch eine agisiche Polizei hier. Es ist doch bisher immer alles gut gegangen. Wir brauchen doch eigentlich gar keine Polizei hier“, murmelte er fassungslos vor sich hin. „Ich habe noch nie die Polizei gebraucht!“

„Mein Gott, bist du naiv!“, rief ein anderer Mann namens Dengler aus. „Wir brauchen die agisiche Polizei natürlich nicht. Im Gegenteil: Für uns sind die eine Beleidigung, ja sogar eine Bedrohung. Aber die agisische Regierung, die Regierung von denen ...“ Er zeigte auf die Polizisten, die einen Wagen entluden und Einrichtungsgegenstände und Aktenordner hineintrugen. Deutlich zu sehen war, dass jeder von ihnen einen Halfter mit einer Pistole sowie einen Karabiner trug.

„Die Regierung von denen, die braucht die Kerle, damit sie uns besser überwachen und kontrollieren und natürlich unterdrücken können.“

Der Großvater brauchte eine Weile, um das Gesagte zu verarbeiten und beobachtete mit offenem Mund, was vor sich ging. „Dann hat mein Schwiegersohn doch Recht!“, murmelte er verstört.

Inzwischen wurde es lauter und lauter, denn die Menge erregte sich mehr und mehr. Schließlich war der Platz erfüllt von den wütenden Rufen der Dorfbewohner.

„Verschwindet von hier!“

„Macht, dass ihr in eure Gegend kommt. Das hier ist unser Dorf. Das ist unser Land. Das ist uns versprochen worden. Hier habt ihr nichts verloren!“

Die Äußerungen aus der Menge wurden immer bedrohlicher.

„Packt die Kerle, setzt sie auf ihren Wagen und jagt sie aus unserem Dorf!“

„Werft die Kerle raus! Werft die Kerle raus!“, skandierten die Leute nun und auch der Großvater beteiligte sich daran.

Die Menge rückte langsam näher an die Polizisten heran, bis sie sie bedrohlich nahe umstellten. Auch der Großvater wurde von herandrängenden Männern nach vorne geschoben.

„Werft die Kerle raus! Werft die Kerle raus!“, riefen die Menschen lauter und lauter.

Dies bemerkten die Polizisten und hielten ängstlich in ihrem Tun inne. Das entging auch ihrem Hauptmann nicht. Er sah kurz auf seine Männer, dann zur Menge, dann trat er einen Schritt nach vorne, zog die Pistole und schoss in die Luft.

Sofort war es totenstill auf dem Platz.

„Geht nach Hause und erledigt eure Arbeit! Hiermit verbiete ich euch, hier herumzustehen!“, schrie er laut.

Die Dorfbewohner waren für einen Augenblick eingeschüchtert und schwiegen.

„Geh du nach Hause in eines deiner agisischen Dörfer!“, schrie nun aber der Rührig. „Hier ist ein deotisches Dorf und da hast du nichts verloren.“

Da ging der Hauptmann so schnell auf ihn zu, dass alle erschraken. Er stellte sich vor Rührig hin und brüllte ihn an. „Das war ein deotisches Dorf, damit du es nur endlich kapierst! Von nun an sind alle Dörfer in unserem Staatsgebiet agisisch. Es gibt keine Exklaven mehr!“

Rührig ließ sich zunächst nicht einschüchtern. „Wir haben die Zusage des Königs, dass wir hier nach unseren Gesetzen und Bräuchen leben dürfen. Wir haben die Zusage, dass unser Dorf ein deotisches Dorf ist.“

Der Hauptmann trat noch näher an die Menge heran. „Der König hat den Krieg und gleich darauf seinen Kopf verloren und er ist durch die Revolution beseitigt worden. Nun herrscht unsere Regierung und sie hat euch nichts versprochen. Nun gelten unsere Regeln und unsere Gesetze. Und die besagen, dass jeder Quadratzentimeter unserer Erde uns gehört und wir auf ihm bestimmen. Das ist das Recht jedes Staates. Und für euch gibt es nur zwei Wege: Entweder ihr fügt euch oder ihr verlasst unser Land!“ Er sah mit grimmigem Blick in die Menge.

Die Menschen schwiegen für einen Augenblick vor Überraschung.

„Das lassen wir uns nicht gefallen!“, schrie ihn nun Rührig an. „Los, werfen wir die Kerle einfach aus unserem Dorf hinaus!“ Damit wollte er den Hauptmann packen, um ihn auf den Wagen zu schmeißen, mit dem sie gekommen waren.

Der trat jedoch schnell einen Schritt zurück. „Polizisten, angetreten!“, rief er plötzlich.

Die Polizisten postierten sich sofort neben ihm.

„Legt an!“, ertönte es über den Platz und die Männer gehorchten seinem Befehl und zogen ihre Waffen.

Die Menge wich erschrocken zurück.

Nun richtete der Hauptmann die Pistole auf Rührig.

„Noch einen Schritt weiter und ich erschieße dich!“, drohte er und sowohl Rührig, als auch die Menge erstarrte.

„Ich habe keine Angst vor dir!“, knurrte Rührig ehrlich. „Hier geht es nicht um mein Leben, sondern um unser Volk. Was zählt da mein Leben?“ Er machte wieder einen Schritt auf den Hauptmann zu.

„Bleib stehen, oder ich erschieße dich!“, drohte er nochmals.

„Dann packen dich die anderen und lynchen dich!“, rief Rührig und die Menge bestärkte ihn.

„Dann kommen unsere Soldaten und töten euch alle!“, drohte der Hauptmann.

Das traf die Leute wie ein Schlag und sie erstarrten. Ungläubig sahen sie den Hauptmann an, begriffen jedoch, dass er vielleicht Recht hatte, verstanden zu ersten Male richtig, was ihnen drohte.

„Weg mit euch! Geht an eure Arbeit und gebt Ruhe, sonst geht es euch schlecht. Eure Eigenheiten lässt sich mein Land nicht mehr gefallen. Entweder ihr fügt euch oder ihr müsst gehen. Denkt darüber nach!“ Er stand noch immer vor der Menge. „Verschwindet, sage ich, geht an die Arbeit, macht, dass ihr fortkommt!“ Er unterstrich seine Worte durch Bewegungen mit der Pistole.

Da begriffen die Menschen, dass sich etwas verändert hatte und viele schlichen sich davon.

Der Großvater stand noch wie erstarrt da. Da zog der Vater, der alles von ihrem Hof aus beobachtet hatte und herangeeilt war, den Großvater weg, setzte ihn auf seinen Milchwagen, sprang ebenfalls auf und lenkte das Gespann zum Hof zurück. Sein Schwiegervater schwieg und starrte nur vor sich hin und der Vater verstand ihn, verstand, dass für ihn soeben eine Welt zusammenbrach.



9


„Seht euch das an! So kommt doch und seht euch das an!“, rief Anna und winkte die anderen mit der Hand zum Fenster.

Sie saßen gerade noch beim Frühstück, als man das Schreien und Lachen von Kindern von der Straße her im Esszimmer der Familie hörte. Anna war kurz nachdenklich dagesessen, war dann langsam aufgestanden und zum Fenster gegangen, um die Ursache des Lärms festzustellen. Sie war die Lehrerin der ersten bis vierten Klassen der Schule und es kam ihr komisch vor, dass jetzt schon Kinder auf dem Weg zur Schule waren.

„Was ist denn nun wieder los?“, fragte der Großvater mürrisch. „Können wir denn nicht einmal zusammen in Frieden frühstücken?“

„Da, da, da draußen gehen die agisischen Kinder in ihre neue Schule.“ Sie schüttelte noch immer ungläubig den Kopf. „Sie eröffnen heute tatsächlich ihre eigene Schule.“

Nun sprangen die Söhne und Töchter der Familie auf und stürzten zu den Fenstern, um das Ereignis ebenfalls mit ansehen zu können.

Die Alten blieben wie gelähmt sitzen.

„Wollt ihr euch das nicht auch ansehen?“, wollte Anna wissen.

Die Großeltern schwiegen.

„Wozu?“, fragte der Vater. „Es geschieht das, was sie angekündigt haben und es wird nicht nicht geschehen, weil wir es anders wollen.“

Alle sahen ihn mit einer Mischung aus Trauer und Unverständnis an.

„Die Zeiten, wo wir unser Schicksal bestimmten, sind vorbei!“, ergänzte der Vater. „Neue Zeiten, andere Zeiten stehen uns bevor!“, wusste er mit einem drohenden Ton. „Hoffentlich kommt es nicht zu schlimm.“

10


Hans und Martin waren auf dem Feld und säten Getreide. Hans saß auf der Sämaschine und kippte die Säcke mit dem Samen in den Verteiler, während Martin die beiden Pferde lenkte. Die jungen Männer unterhielten sich, während sie eine Spur nach der anderen einsäten.

„Jetzt wollen sie uns auch noch unsere verschiedenen Steuerbefreiungen nehmen!“, empörte sich Martin. „Die sind uns vom König seit Jahrhunderten garantiert. Das können wir uns nicht gefallen lassen. Wer weiß, was ihnen noch alles einfällt.“

„Der neue Staat braucht Geld!“, rief Hans von der Sämaschine herüber. „Und da müssen alle ihren Beitrag leisten, auch wir.“

„Du redest, als wärest du einer von ihnen!“, brüllte Martin zornig zurück. „Wir sollen jetzt alle Steuern zahlen, die die Agisen bezahlen und sogar noch mehr. So war das nicht abgemacht!“ Er schlug mit der Faust auf seinen Oberschenkel. „Und das bei einem Steuersatz, bei dem nicht mehr viel übrig bleibt zum Leben. Schon gar nicht bei den heutigen Preisen.“ Er stapfte wütend weiter.

Hans musste über seinen ungestümen und temperamentvollen Bruder lächeln. Aber bald wurde er wieder ernst. „Wir als deotische Volksgruppe interessieren den neuen Staat doch überhaupt nicht. Wir sind nur als gute Arbeiter und gute Steuerzahler interessant. Also müssen sie uns tüchtig besteuern, wenn sie Geld einnehmen wollen. Das ist doch ganz logisch.“

„Für dich ist immer alles logisch. Und damit begründest du immer deine nachgiebige Haltung.“ Er schnaubte so laut auf, dass die Pferde kurz scheuten. „Ich bin anders. Ich will mir nicht alles gefallen lassen. Ich will um alles kämpfen.“

„Wie willst du denn gegen einen Staat kämpfen. Das ist doch Unsinn!“

„Ich weiß auch nicht!“ Martin starrte kurz ratlos zu Boden.

„Sei froh, wenn es bei den Steuern bleibt. Wer weiß, was ihnen sonst noch einfällt, um uns zu drangsalieren?“

Da sah Martin ihn wieder zornig an. „Ich werde mir das nicht alles gefallen lassen. Ich werde kämpfen!“

„Wie willst du denn das machen?“

Martin bebte vor Zorn, wusste aber keine Antwort.

„Glaub mir, Bruder! Wir können froh sein, wenn sie es bei den Steuern belassen!“



11


„Warst du schon auf dem neuen Amt, das sie in unserem Gemeindehaus eingerichtet haben, um deine Volkszugehörigkeit eintragen zu lassen?“, fragte die Mutter Anna, als sie aus der Schule nach Hause kam.

„Nein, das war ich nicht!“, meinte Anna unbedarft.

„Dann beeile dich! Heute ist der letzte Tag, an dem man dies tun kann. Wir waren schon alle!“, rief die Mutter empört. „Und vergiss auch deinen Pass nicht! Man bekommt einen Stempel in seinen Pass, aus dem ersichtlich ist, zu welcher Volksgruppe du gehörst. Wir haben alle ein „D“ bekommen.“

Anna sah sie kurz nachdenklich an. „Ich gehe nicht!“, grübelte sie und dachte nach. „Es ist gar nicht sicher, ob sie das dürfen!“, wusste sie. „Völkerrechtlich, meine ich.“

Die Mutter begriff nicht, wovon sie redete. Sie sah sie nur entsetzt an. „Aber, aber du musst gehen, sonst musst du eine Strafe zahlen oder was weiß ich, was ihnen noch einfällt?“ Die Mutter war außer sich vor Angst.

„Die wissen doch eh, wer hier Deote ist und wer nicht, was müssen sie uns noch demütigen und auf ihr dummes Amt bitten?“, antwortete nun Anna.

„Anna, wie du redest! Du redest dich ja um Kopf und Kragen.“ Sie sah ihre Tochter flehend an. „Ich bitte dich, mach, was sie verlangen! Am Ende verbieten sie dir noch, Lehrerin zu sein.“

Anna schüttelte ungläubig den Kopf. „Das ist doch Unsinn, Mutter! Das widerspräche jedem Recht. Der deotische Bürgermeister setzt mit Genehmigung des Schulamtes die Lehrer in der deotischen Schule ein, das ist geschriebenes Recht.“

Die Mutter sah sie ratlos an.

Da mischte sich der Großvater ein, der bereits am Tisch saß und noch in der Zeitung las. „Du sprichst wie eine Lehrerin Anna“, begann er.

„Ich bin Lehrerin.“

„Ja, aber das Leben ist manchmal anders, als es in den Büchern steht.“ Er sah sie liebevoll an. „Geh und erfülle den Wunsch des Staates, damit du und wir keine Schwierigkeiten bekommen!“

„Aber gerade, wenn man sich nie wehrt und wenn man sich alles gefallen lässt und unwidersprochen hinnimmt, dann macht doch der Staat mit einem, was er will, schon gleich der Staat dieser ungebildeten Barbaren!“, rief Anna nun empört aus.

Der Großvater sah sie eindringlich an. „Ich bitte dich, Anna, ich bitte dich, geh auf das Amt und lass deine Volkszugehörigkeit eintragen! Glaube deinem Großvater, der schon vieles erlebt hat, was er nicht für möglich hielt, dass das Leben oft anders ist, als in den Büchern! Geh auf das Amt und erfülle ihren Willen! Wenn du es nicht wegen dir tun willst, dann tu es für deine Familie! Ein solcher Staat lässt seine Wut oft nicht nur an dem aus, der etwas gegen ihn getan hat, sondern auch an der ganzen Familie!“ Er blickte sie bittend an.

„Das wäre Sippenhaft!“, rief sie aus. „Das ist völkerrechtlich ebenfalls verboten!“ Sie betrachtete ihn kurz. „Mein Gott, Großvater, du hast ja Angst!“

Er nickte. „Die habe ich!“

Sie dachte kurz nach. „Ich bin gleich wieder da“, meinte sie dann und war im nächsten Moment zur Türe hinaus.



12


„Schnell, schnell, schnell!“, rief Maria die anderen Frauen, die im Hof beim Wäschewaschen waren, zusammen.

Sie hatten Wasser aus ihrem Brunnen nach oben gepumpt und in einen Kessel gegossen. Danach hatten sie das erhitzte Wasser mit Eimern in Schüsseln gekippt, in denen sie die Wäsche mit Hilfe von Waschbrettern wuschen.

Dann hatten sie von der Straße ein Geräusch gehört, Maria war zum Tor geeilt und hatte durch ein kleines Sichtfensterchen hinaus geschaut. Gleich darauf hatte sie ihre Mutter, die Großmutter und die Schwestern gerufen, die auch so schnell sie konnten zum Hoftor geeilt waren. Abwechselnd warfen sie nun Blicke hinaus.

„Was ist denn da los?“, wollte die Großmutter wissen, die als letzte am Hoftor ankam.

„Das ist doch nicht zu glauben!“, rief ihre Tochter aus.

„Es ist genauso, wie Vater vermutet hat!“, erklärte Anna. „Die agisiche Regierung siedelt lauter Tagelöhner und Dienstboten aus den Bergen in der neuerrichteten Siedlung am Rande des Dorfes an. Seht nur, wie viele Wagen es sind, seht nur, wie viele Menschen es sind!“

Die Frauen verfolgten den Zug der Wagen, die auf der Hauptstraße durch das Dorf zur neuen Siedlung zogen. Der Zug wurde begleitet von den jubelnden agisischen Tagelöhnern, die bisher den Deoten bei der Arbeit als Knechte und Mägde und als Dienstboten geholfen hatten.

„Ja, ja, ja, dann ist es genauso gekommen, wie es Vater gesagt hat. Wie konnte er das nur wissen?“, fragte sich Sofia.

„Großvater hat ihm erzählt, was er auf seinen Verkaufsfahrten erlebt und erfahren hat und was in anderen Dörfern passiert ist und er wusste, dass der Staat es bei uns auch so machen würde. Ganz einfach!“, wusste Anna.

Die Aufgabe des Großvaters war es, die Produkte des Hofes in die Kreisstadt sowie in die umliegenden Städte und Dörfer zu fahren und dort zu verkaufen. Oft fuhr er am Montagmorgen los bis weit hinauf in die Berge und kam erst wieder am Samstag von den Märkten oder Kunden zurück.

Die Frauen drängten sich um das kleine Sichtfenster, schoben sich beiseite und drängten erneut hinzu und schimpften dabei leise.

„Warum, warum tun sie das nur?“, wollte die Großmutter wissen.

„Der agisische Staat will seinen Menschen ein besseres Leben ermöglichen und dazu gehört eben auch eine bessere Wohnung. In den Bergen wohnten die Menschen doch oft nur in Erdlöchern oder Baumhütten. Nun bekommen sie wenigstens diese Häuschen. Das ist doch gut für sie“, meinte die Mutter.

„Aber warum gerade in unserem Dorf?“, wollte Maria wissen.

„Das ist ganz einfach!“, wusste Anna wieder. „Es geht ihnen nicht nur darum, ihren Menschen ein besseres Leben zu schenken. Es geht ihnen vor allem darum, überall ihre Macht durchzusetzen. Und das tun sie, indem sie ihre Leute in unserem Dorf ansiedeln.“ Sie zeigte auf den Treck, der sich vor ihren Augen vorbeischob. „Zählt nur einmal die Menschen!“ Sie sah die anderen Frauen auffordernd an.

Das taten diese auch sofort.

„Mit diesen vielen Menschen bekommen die Agisen in unserem Dorf die Oberhand. Zusammen mit unseren Dienstboten sind sie zahlenmäßig mehr als wir und erhalten damit die Mehrheit.“ Sie nickte. „Es ist so, wie Vater sagte: Sie wollen alles in ihrem Land beherrschen.“ Nun blickte sie plötzlich traurig zu Boden.

„Was, was ist denn?“, fragte die Mutter, die es bemerkte.

„Ach, nichts!“, meinte Anna da und lächelte gezwungen. Sie sah von ihrer Mutter zur Großmutter und dann zu ihren Schwestern. Dann streifte ihr Blick über ihren Hof. Sie konnte ihrer Familie nicht sagen, was der Vater noch meinte. Dass die Agisen alles übernehmen würden. Und dass er hoffte, dass sie sie wenigstens in Frieden leben ließen.

Dann fiel ihr Blick auf die Großmutter, die in der Ecke auf einem Sessel saß und wie so oft für sie betete.






Zerstörung

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