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Steinzeugen

Im letzten Frühsommer vor dem Ausbruch der weltumspannenden Seuche begegneten sie sich, ohne Einschränkung durch irgendwelche Seuchenschutzauflagen. Für sie, die Schöne, war das Aufeinandertreffen ein absoluter Glücksfall, ein Volltreffer wie das Knacken des Euro-Jackpots. Obwohl sie angesichts ihrer Lage sich das Lottospielen nicht leisten wollte, auch nicht konnte, traf sie das Glück unerwartet und genau zum richtigen Zeitpunkt. Als sie nicht mehr weiterwusste und ohne das gute Zureden ihrer Mutter längst aufgegeben hätte, alles hingeworfen. Amelia, die sie alle nur Melli riefen, sollte eine bessere Kindheit haben als sie selbst. Ihre eigene Kindheit wollte Anabelle keinesfalls, im Gegensatz zur Mutter, als rundum glücklich bezeichnen. Zwar gab es damals in der Pfälzer Kommune immer etwas zu essen, und auch Dope aus eigenem Anbau war zur Genüge vorhanden. Doch die zahlreichen Kinder, die nur mit Sicherheit sagen konnten, wer sie geboren hatte, dafür aber viele entspannte Väter um sich wussten, mussten auf vieles verzichten. Fernsehen zum Beispiel gab es nicht, Fleisch nur selten. Spielsachen waren Mangelware und heiß umkämpft.

Melli sollte nicht in ähnlich knappen, beinahe prekären Kindheitsverhältnissen aufwachsen wie sie selbst. Anabelles eigene Kindheit besserte sich erst, als ihre Mutter endlich, nach der Auflösung der Gemeinschaft, sich gegen ein promiskuitives Leben und für den Meister der Steine entschied. Er wurde Anabelles Vater, schuf nach und nach einen bescheidenen Wohlstand.

In ihrer jetzigen sorgenvollen Lage traf Anabelle genau im richtigen Augenblick auf ihn, ihr finales Glückslos in ein besseres, sorgenfreieres Leben ohne Angst vor dem Zustellungsbescheid des Amtsgerichts. Und eine strahlende Zukunft für Melli.

Carl-Peter seinerseits empfand dieses Zusammentreffen, nachdem er die ersten Gefühlswirren aufgearbeitet und sich mit der für ihn ungewohnten Situation angefreundet hatte, ganz ähnlich wie sie: Belle, die von ihm, dem frankophonen Ästheten, liebevoll als seine Schöne tituliert wurde. Er konnte sich nicht sattsehen an ihr, an ihrem wunderbar gleichmäßigen, edlen, mit südländischem Teint verwöhnten Gesicht, dem üppig proportionierten Körper, der lockigen, tiefschwarzen Haarpracht und den großen, leuchtenden, dunklen, fast nachtschwarzen Augen, die wie eine einzige Verheißung auf ihn wirkten. Als eben Sechsunddreißigjährige war sie einst als Kind freier Liebe gezeugt worden, lernte erst spät den Wert eines stabilen Familiengerüstes schätzen, genoss die späte monogame Liebe zwischen ihrem Vater, einem letztlich nur regional bekannten Bildhauer, und ihrer Mutter, die als Siebzehnjährige damals in die Hippiekommune im dichtesten Pfälzer Wald auf der Flucht vor dem jederzeit schlagbereiten Stiefvater gefunden und den dreißig Jahre Älteren nach der Auflösung der auf Gemeineigentum basierenden Kommune für immer erobert hatte. Obwohl die Eltern ihre Antibürgerlichkeit auch nach der Flucht in die scheinbar kleinbürgerliche Idylle deutlich lebten und daher auch wie selbstverständlich nie geheiratet hatten, wurde nach der Auflösung der Kommune klar, dass Loris ihr Vater war, auch wenn die Mutter, Klara, in all den wilden Jahren keine Scheu kannte bei der Partnerwahl.

Klara war es auch gelungen, Carl-Peter, den Großstadtbürger, dem in seinem bisherigen Leben alles Hippiemäßige schon immer zuwider gewesen war, ins kleine Restaurant zu lotsen, nachdem er sich auf dem Weg zum Wandern am Totenkopf auf den engen Sträßchen der Region vollkommen verfahren hatte. Sein Oldtimer-Jaguar besaß noch kein Navi, und am Smartphone wollte er nicht herumspielen während der Fahrt.

Die großzügige Lichtung auf der Hochfläche bot ihm zum ersten Mal seit gefühlten zehn Stunden wieder volles Sonnenlicht, Hunger und Durst stellten sich automatisch ein, ein zweites Frühstück in dem rustikalen, aber gemütlichen kleinen Gastraum brachte ihn wieder in die Spur, zauberte ein erstes Lächeln auf sein Gesicht. Über sein Handy – man hatte hier sogar Netz – verständigte er seine Wandergruppe und entschloss sich kurzfristig, nach der Mahlzeit gekräftigt, eine kleine Tour allein hier oben zu machen. Eine Karte erhielt er am Tresen ausgehändigt. Vielleicht erwies sich das Alleinwandern als bessere Alternative. So musste er weder das Geschnatter der Society-Ladies in der Gruppe noch das selbstherrliche Angeben der ehemaligen Beraterkollegen mit ihren Erfolgsprojekten ertragen, konnte sich ganz auf sich selbst besinnen. Die Jagdgeilheit des Unternehmensberaters in Verbindung mit Brunftschreien moderner Jäger auf immer neue Erfolge hatte er endgültig abgestreift.

Die urwüchsige Landschaft, Tannen und Kiefern von majestätischer Größe, die von gewaltigen Sandsteinfindlingen kreuz und quer umlagert waren, dazwischen uralte, stammrissige Buchen und Kastanien, gesäumt von üppig grünen Wiesen ohne jeden Weidezaun, weil sich hierher noch kein Rindvieh verirrt zu haben schien, klare, rieselnde Bäche, die jederzeit hinter einer Felswand oder einem mächtigen Kiefernstamm hervortreten konnten, um sanft, beinahe zärtlich auffordernd zu Tal zu plätschern, wo sie sich im Wiesengrund mit anderen zu einem breiten Bachbett zusammenfanden, vereinten, all das berührte ihn im Innersten stärker, als er es sich je vorzustellen gewagt hätte, und mit einem Mal spürte er, als er nach knapp vier Stunden Schuhe und Strümpfe auszog, um die heiß gewordenen Füße im frischen Bächlein zu kühlen, wie Tränen über sein Gesicht rannen, einzelne zunächst, dann immer mehr, und mit ihnen kam die Erinnerung an glückliche Kindertage auf dem Land, an den Kraichgauer Bauernhof der Großeltern, fernab von all dem Großstadtgetriebe, dem er sich später tagein, tagaus ausgesetzt sah.

Er fühlte, dass sich da so vieles im Innersten aufgestaut hatte, dass es da so manche Seelenschutthalde gab, die nach außen drängte. Er wollte, er konnte es endlich zulassen, seiner Melancholie gehorchen. Was war das Leben? Eine einzige, vierspurige Erfolgsautobahn? Wohin sollte diese führen? Manager des Jahres? Was bedeutete das schon! Burnout, wie bei etlichen Kollegen? Arme Welt, die sich diesem Zeitgeist-Terror verschrieben hatte, wie die Maus in Kafkas Parabel ausweglos festsaß. Hier in dieser nahezu unberührten Natur konnte er sich zum ersten Mal nach langer Zeit, eigentlich seit Beas Weggang, wieder selbst spüren. Er hörte wieder, roch, fühlte – ein Panikorchester sinnlicher Wahrnehmung spielte ihm hier auf.

Er hatte dieses sein Manager-Großstadtleben als Erwachsener nach dem VWL-Studium selbst gewählt, es lange Zeit angesichts seiner Verantwortung als selbstständiger Unternehmensberater für die wirklich großen Konzerne dieser Welt als optimal empfunden, schließlich war es zum Flughafen nie weit. Fliegen musste er praktisch jede Woche: London, Paris, Detroit, Bratislava, Singapur, Tokio. Man gewöhnte sich schnell an diesen Rhythmus, und Beate, seine Tanzstundenliebe, passte sich ihm dabei wunderbar an. Oft genug begleitete sie ihn in die Metropolen, wo sie dann noch zwei, drei Tage privat anhängen konnten. Zweifel kannte er nicht, empfand es lange als Befreiung, der ländlichen Abgeschiedenheit, der Kleinkrämermentalität entkommen zu sein. Zweifel kamen nie auf, jedenfalls so lange nicht, bis Beates plötzlicher Tod als Folge eines Aneurysmas im Gehirn ihm jäh den Boden dieser so gesichert scheinenden Existenz unter den Füßen wegzog, ihn mit zuvor nie gekannter Einsamkeit und Trostlosigkeit konfrontierte.

Die Nachdenklichkeit übermannte ihn zum ersten Mal nach diesem gravierenden Einschnitt, eine nie zuvor erlebte Melancholie erfasste ihn wie eine ins Tal donnernde Lawine in den Alpen, nahm ihn unmittelbar nach Beates Beerdigung abrupt in Besitz. Urplötzlich, praktisch noch am mit brauner Erde angehäufelten Urnengrab, sah er nichts Vernünftiges mehr in seinem Tun, in seinen jahrelangen Optimierungs-, Rationalisierungs- und Kostendämpfungsprogrammen für die Global Player dieser künstlichen Welt, die in aller Regel mit Arbeitsplatzverlusten verbunden waren. Verlusten für die kleinen Leute, für die, welche am Fließband seine Ideen mit immer weniger Personal umsetzen durften.

Alle waren überrascht, als er von heute auf morgen mit gerade sechzig Jahren ausstieg, auf dem Höhepunkt seines Schaffens. Ersparnisse waren zur Genüge vorhanden: Aktienpakete, ein Nummernkonto in der Schweiz, drei Firmenbeteiligungen bei aufstrebenden Startups. Zum Leben für einen kinderlosen Privatier mehr als genug. Die nach Beas Tod überflüssigen Lofts in New York und London waren schnell lukrativ verkauft, die Villa in Thonon les Bains am Genfer See behielt er einstweilen, ebenso das Appartement in Bretten, dem letzten Stützpfeiler seiner nie zur Gänze vergessenen badisch-beschaulichen Herkunft. Er machte sich auf die Suche. Auf die strapaziöse Suche nach sich selbst, nach all dem in seinem Innersten, das er lange nicht mehr gefühlt hatte. Fühlen, das brachte ihm einst die Großmutter im Kraichgau bei, war essenziell für das seelische und körperliche Wohlbefinden. Nicht umsonst hatte sie ihn immer wieder alles Mögliche fühlen lassen, seine taktilen, olfaktorischen und geschmacklichen Sinne geschärft. Ein Hühnerküken fühlte sich zart an, forderte Behutsamkeit. Eine Fliederblüte konnte die Sinne betören. Und ein Blatt der frisch gepflückten Pfefferminze aus dem Bauerngarten schmeckte vor allem im Sommer frisch und belebend, ersetzte ihm damals die Pfefferminzbonbons seines späteren Lebens. All das strömte urplötzlich wieder auf ihn ein, in der idyllischen Abgeschiedenheit dieses Fleckchens Erde. Er konnte noch fühlen, schmecken, riechen. Nahm sich und alles um sich herum wieder mit allen Sinnen wahr.

Die Tränen, die ihm am mäandernden Bächlein plötzlich eine Tür zu seiner Seele öffneten, schufen Platz für längst verdrängte Erinnerungen, ließen Bilder in ihm hochsteigen, die sowohl schmerzten als auch hin und wieder ein Lächeln auf sein unrasiertes Gesicht zauberten. Er lag im kniehohen Gras, die Füße im kühlen Nass, das scheinbar den nicht enden wollenden Tränenfluss mit immer neuer Nahrung versorgte. Hier vollzog sich die endgültige Wende in seinem Leben. Sein von stetiger Hektik geprägter Ausflug in die große weite Welt war beendet, hier, in dieser unaufdringlichen Landschaft, konnte er in die Balance früher Kindheitstage zurückfinden. Er ließ die Tränen einfach weiter fließen, bis sie von allein versiegten, bis sie allen angestauten Kummer hinweggespült hatten.

Carl-Peter zog Schuhe und Strümpfe wieder an, begann den Rückweg zur Pension. Schnell entschlossen buchte er nach seiner Rückkehr das kleine Gästezimmer mit Etagendusche, betrat den kleinen, geschotterten Parkplatz, auf dem sein gepflegter Oldtimer abgestellt war, und brachte seinen Koffer ins Haus. Das Zimmer war überschaubar, aber sauber. Blümchenvorhänge an den Fenstern, ein übergroßes Che-Guevara-Poster zierte die Wand über dem kleinen Tisch, das Bett bequem. Ein ausgebleichter, selbst geknüpfter Teppich aus einst wohl leuchtendem roten und gelben Garn diente vor dem Bett als Fußwärmer. Die Welt schien hier in den Sechzigern stehen geblieben.

Carl-Peter wollte für eine Woche bleiben, sich hier in der Ruhe und Abgeschiedenheit erholen. Nach einer ausgiebigen Dusche genoss er das rustikale Abendessen aus Pfälzer Wurst und Käse sowie dem leckeren hauseigenen Brot. Nach zwei Vierteln Pfälzer Riesling fand er früher als sonst den Schlaf des Heimgefundenen bis weit in den nächsten Morgen hinein, als die Septembersonne bereits fordernd in sein Zimmer blinzelte. Er frühstückte, anders als vor Monaten von der hippen Ernährungsberaterin empfohlen, Rührei mit Speckwürfeln, genoss das noch ofenwarme, frisch gebackene Bauernbrot aus dunklen Mehlsorten dazu, ehe er sich gegen elf auf seine geplante tägliche Wanderung begab. Überall vernahm er die Paarungsrufe der Meisen, Buchfinken, Girlitze und Zeisige, hörte zum ersten Mal nach einer gefühlten Ewigkeit einen Kuckuck auf der Suche nach einem aufnahmebereiten Nest für seine Schmarotzer-Brut selbstbewusst rufen. Ein Specht hämmerte wild auf einen morschen Fichtenstamm ein, Eichelhäher schwirrten streitend durch den sich zu einer Lichtung öffnenden Wald. Er blickte auf die Löwenzahnwiese, hörte Bienen und Hummeln zufrieden summen, fühlte, wie sich seine Wahrnehmung jenseits von Tablet, Laptop und Smartphone wieder schärfte.

Als er abends mit einem weiteren kräftigen Pfälzer Abendessen, Saumagen mit Bratkartoffeln und Karottensalat sowie zwei Gläsern Riesling und einem oder zwei Mirabellenschnäpsen zur besseren Verdauung diesen wunderbaren Tag abschloss, empfand er zum ersten Mal seit Beas Verlust wieder etwas Zufriedenheit. War es nicht das, was letztlich ein erfülltes Leben ausmachte? Nicht das große, sagenhafte, alles umfassende Glück, sondern täglich eine Prise Zufriedenheit mit sich und der Welt, trotz aller Kriege und Hungersnöte, an denen er nichts ändern konnte.

In der kleinen, wohligen Gaststube entging es ihm beim Abendessen natürlich nicht, dass die Mittfünfzigerin Klara, eine vollschlanke, aber noch immer attraktive Erscheinung mit großen dunklen Augen und sinnlich vollen Lippen, ihn permanent anbalzte, sich ihm fast unanständig aufdrängte, als sie sich grundlos und ohne Rücksicht auf die anderen Gäste an seinen Tisch setzte, sobald sie in ihrer kleinen Küche fertig war. Sie besaß die Eigenart, ihn im Gespräch, das stellenweise eher an ein Verhörgespräch erinnerte, ständig anfassen zu müssen, an den Händen, den Armen, und, manchmal ganz dreist, am Oberschenkel, während er nur Augen für die rassige, dunkelhaarige Tochter hatte, die hinter der Theke trotz voller Gaststube immer ein Lächeln auf den rotgemalten Lippen hatte. Für ihn? Für einen der anderen Gäste? Oder einfach für alle?

Die Jüngere faszinierte ihn. Schlug ihn in ihren Bann. Fast peinlich musste das wirken. War es, weil sie ihn mit ihren pechschwarzen, glänzenden Locken so sehr an Beate erinnerte, seine einzige und große Liebe. Sicherlich hatte sie deutlich größere, schwerere Brüste, die sich durch das leichte T-Shirt deutlich abzeichneten, und auch einen kräftigeren, rundbackigeren Hintern als seine eher knabenhafte Liebste. Doch ihr leicht rundes Gesicht mit den hohen Wangenknochen, umrahmt von schwarzen Locken, und die dunklen, strahlenden Augen, wie sie auch die Mutter besaß, erinnerten doch ganz deutlich an Beate, schienen wie aus ihren Bildern aus besseren Tagen geschnitten.

In der darauffolgenden Nacht schlüpfte Klara, hemmungslos wie sie nun einmal war, einfach nach dem ersten, zaghaften Klopfen in sein Zimmer, nahm sich wie eine wilde Steppenfürstin einfach alles, wonach ihr der Sinn stand. Carl-Peter, der Monate mit keiner Frau zusammengewesen war, ließ es geschehen und genoss diese unverhoffte Nacht mit einer leidenschaftlichen Gefährtin, die keine Tabus zu kennen schien. Fast schämte er sich ein wenig, wenn er daran dachte, dass womöglich die anderen Gäste im hellhörigen Gebäude diese Laute der Wollust nicht überhören konnten. Und Anabelle erst? Was dächte sie wohl von ihm nach dieser Nacht?

Als er am nächsten Abend müde und durchnässt von einem plötzlichen Gewitterregen nach seiner Tagestour ins Hotel zurückkam, empfing ihn Anabelle auf das Herzlichste, schien besorgt, nachdem ihn dieses heftige Wetter überrascht hatte, brachte ihm sofort einen heißen Tee mit Zitrone, ehe er sich eine heiße Dusche gönnte. Anabelle hatte, wie er erfuhr, heute frei, weil die holländische Wander- und Klettergruppe abreiste und die nächste erst am Freitag, also übermorgen, ankäme.

Unter der heißen Dusche auf der Etage genoss er das warme Wasser auf seiner Haut, als die angejahrte Tür zum Bad quietschend aufging und kräftig zugeschlagen wurde. Hatte er nicht abgeschlossen? Im Dampf des heißen Wassers konnte er nur schemenhaft eine Gestalt erkennen, die sich ihrer Kleidung entledigte. Da bewegte sich jemand. Eine Frau offensichtlich. Er krächzte ein „Hallo“, erhielt aber keine Antwort. Eben wollte er die Dusche abdrehen, als eine jetzt splitternackte Anabelle zu ihm unter den heißen Strahl glitt, sich an ihn drängte, ihren Körper an seinen presste und seinen Mund, noch ehe er Fragen stellen konnte, mit wilden Küssen schloss.

Er ließ es geschehen, ließ alles geschehen, was er sich bis dahin unter einer Dusche nicht im Traum hatte vorstellen können. Mit Bea wäre er nie auf solche Gedanken gekommen. Mit Belle war das ganz anders, ihr konnte er nicht widerstehen, ihr nichts abschlagen, sie nahm ihn einfach in Besitz, brachte ihren vom restlichen Schaum und dem weiter sprühenden Wasser glitschigen Körper in Positionen, die er in seiner bisherigen Erfahrung eher mit einem Physiotherapeuten als mit einer sexuellen Begegnung in Beziehung gebracht hätte. Irgendwann waren sie, nur spärlichst abgetrocknet, in sein Zimmer gehuscht, fielen wie berauscht in sein Bett, wo sie sich weiter liebten. Nachts musste er vor Erschöpfung eingeschlafen sein, denn er erwachte ausgeschlafen und von tiefer Zufriedenheit erfüllt, als die Sonne bereits im Zenit stand und ihn, durch den schmalen Spalt, welchen die Blümchengardinen frei ließen, an der Nase kitzelte. Belle musste sich noch in der Nacht aus dem Staub gemacht haben.

Im Frühstücksraum – er hatte Hunger wie ein Grizzly nach monatelangem Winterschlaf – erwartete ihn Klara mit schiefem Lächeln. Doch es schien ihr nicht peinlich zu sein. Sie brachte ihm sein Frühstück, und als er, mit den Worten ringend, eine Erklärung anbringen wollte, winkte sie ab und meinte: Alles gut so.

Auf seine Frage nach Belle erfuhr er, dass diese die Kleine zum kommunalen Kindergarten ins Nachbardorf brächte und anschließend noch beim Fleischer und beim Bio-Bauern vorbeischauen wollte. Er frühstückte die von Klara servierten Spiegeleier und den deftig angebratenen Bauchspeck, packte sich ein Vesper mit gut abgelagerter Salami in den Rucksack und brach voller Freude auf ein weiteres Naturerlebnis auf. Er fand den von Belle angesprochenen Weiher, stürzte sich nackt ins klare Wasser und ließ sich von der jetzt kräftig wirkenden Sonne trocknen, freute sich auf den Abend nach der Heimkehr. Heimkehr? Fühlte er sich hier tatsächlich zu Hause? Wie einst bei Oma?

Alles schien bestens zu laufen, doch als er von seiner Halbtagestour am frühen Abend zurückkam, fand er nichts als Tränen vor. Tränen bei Mutter und Tochter. Ob sie sich nun doch gestritten hatten seinetwegen? Nach dem Abendessen klärte sich alles auf. Der Bezirksschornsteinfegermeister hatte sich zur jährlichen Feuerstätten-Beschau angekündigt und sowohl die altehrwürdige Ölheizung als auch den Kachelofen in der Gaststube nicht mehr abgenommen. Hinzu kam, dass er auch die Entlüftung in der Küche zu kritisieren hatte. Es waren Investitionen von über fünfzigtausend Euro erforderlich.

Als Belle nachts endlich entspannt neben ihm im Bett lag, fragte er sie vorsichtig nach ihren eigenen Investitionsmöglichkeiten und erfuhr, dass ihr bereits ein Angebot vorläge. Doch das Wichtigste fehle ihr: das nötige Kleingeld. Er war dermaßen von dieser für ihn noch jungen Frau eingenommen, empfand zum ersten Mal seit Bea derart intensiv für jemanden, dass er nicht lange überlegte und ihr anbot, bei ihr zu bleiben und als investierender stiller Teilhaber die Renovierungen zu finanzieren.

Belle schien zunächst sprachlos, doch dann erwachte mit der neu keimenden Hoffnung erneut ihre Leidenschaft, und beide liebten sich bis zum Morgengrauen. Beim Frühstück ließ er sich das Angebot des Restaurant- und Küchenausstatters zeigen, verzichtete auf die heutige Tour und übernahm sofort die Feinplanung und führte noch am selben Tag erste Verhandlungen. Er inspizierte nachmittags mit Klara und Belle das Gebäude, erkannte Erweiterungsmöglichkeiten im angebauten Schuppen und der ehemaligen Werkstatt des verstorbenen Steinhauers. Die unzähligen herumliegenden Steinplatten sollten als Fußbodenbelag für den Neubau dienen, nachdem unter seiner lenkenden Hand eine komplett neue Küche mit modernster Technik planerisch entstanden war.

Nachdem in der ersten Oktoberwoche die letzte holländische Wandergruppe abgereist war, stürzte sich Carl-Peter mit Verve in den Umbau. Die alte Küche wurde demontiert, der dadurch erweiterte Gastraum mit einer hochmodernen Theke ausgestattet, so dass Platz für weitere vier Gästetische entstand. Belle und Klara sah er zum ersten Mal wirklich zufrieden und glücklich, und es wunderte ihn nicht, dass Klara an den Tagen, wenn Belle unpässlich war, sein Lager wie selbstverständlich und mit der Einwilligung der Tochter mit ihm teilte.

Nie hätte er es für möglich gehalten, dass ihn, den urban geprägten Weltreisenden, dieses ländliche Glück dermaßen aus den Stiefeln hauen könnte. Er liebte, intensiver denn je und erfüllter denn je, und unter seiner Regie entstand in wenigen Wochen, als im November ohnehin keine Gäste zu erwarten waren, ein völlig neues, ansprechendes Gästehaus für Wanderer und Ski-Langläufer. Die Toiletten und die Bäder wurden modernisiert, die ultramoderne Küche fand sich nunmehr im früheren Schuppen, ein geräumiges Kühlhaus für verderbliche Ware schloss sich unmittelbar an. Ein nagelneuer Pelletofen sorgte für behagliche Wärme im Gastraum, eine hauseigene Photovoltaik-Anlage auf dem Haus- sowie Scheunendach lieferte Strom für die Wärmepumpe, welche Heißwasser für die Duschen und Wärme für die Gästezimmer lieferte. Carl-Peter hatte, zog er die staatlichen Zuschüsse für die nachhaltige Renovierung ab, knapp hunderttausend Euro an Eigenmitteln investiert. Mit der Niederschrift ihrer Vereinbarung beim Notar im nahen Bad Bergzabern hatten sie es nicht eilig, das liefe ihnen nicht davon. Sie durften sich gegenseitig vertrauen.

Weihnachten und Neujahr gingen völlig entspannt vorüber. Beide Frauen und die kleine Melli freuten sich über seine großzügigen Geschenke. Er selbst fand Gefallen an Selbstgestricktem: einen dicken Wollpullover für den Aufenthalt im Freien, Strickmütze und Schal, alles in den passenden und sich ergänzenden Farben, fand er unter dem Tannenbaum. Es musste nicht immer Weihnachten in New York, Boston oder London sein. Das beschauliche Leben in der abgeschiedenen Ruhe des Pfälzer Waldes und in dieser kleinen, ihm schnell vertrauten Familie ließ ihn zum ersten Mal nach seinem Ausstieg wieder hoffnungsfroh in die Zukunft blicken, die paar Zipperlein, die sich in Knie und Hüfte eingestellt hatten, waren schnell vergessen. Das Glück hatte Vorfahrt.

Im Januar dieses die gesamte Welt verändernden Jahres 2020 hörten sie zum ersten Mal etwas über die in China ausgebrochene Seuche mit einem neuartigen Virus. Das war für die vier weit weg. An Ostern erlebte er zum ersten Mal die Freuden eines Vaters, als er Mellis strahlende Augen angesichts des neuen grünen Kinder-Fahrrades auf sich ruhen sah. Sie bereiteten sich auf die neue Saison vor, auch wenn in Deutschland erste Fälle mit dieser neuen Corona-Virus-Infektion auftraten, die von einem Tiroler Skigebiet eingeschleppt worden waren. Bald schon wurde ihnen ein Strich durch ihre Planungen gemacht, denn statt Anfang Mai die ersten Touristen zu begrüßen, mussten sie einen von den politischen Entscheidern verhängten Lockdown mit entsprechenden Kontakteinschränkungen hinnehmen. Die ersten Bilder im Fernsehen aus Italien wirkten verstörend. Überlaufende Kliniken, Verstorbene in unglaublichen Fallzahlen, die an die verheerende Spanische Grippe vom Anfang der 20. Jahrhunderts erinnerten. Frankreich und Spanien waren bald betroffen, England und Portugal. Deutschland wähnte sich nach der Schließung der Gastronomie, der Hotels und aller Schulen auf der sicheren Seite, war überzeugt, damit Infektionsketten unterbrechen zu können.

Nach einem rastlosen, umtriebigen Leben war Carl-Peter endlich angekommen, hätte vor lauter Glück fast seinen zweiundsechzigsten Geburtstag Ende Mai vergessen, hätten ihn Belle und Klara nicht mit einer kleinen Überraschungsparty daran erinnert. Als Belle später neben ihm im neuen breiten Ehebett ruhte, kam ihm endlich in den Sinn, um ihre Hand anzuhalten. Sie wirkte merklich abwesend, schien mit den Gedanken woanders und wich diesem von ihm gewählten Thema geschickt aus. Auf seine Nachfrage erfuhr er, dass nach dem Ende der Corona-Beschränkungen am dritten Wochenende nach Pfingsten eine holländische Wandergruppe einträfe, Stammgäste gewissermaßen, um die sie sich intensiv kümmern müsse und deshalb etwas weniger Zeit für ihn habe. Klara sollte sie vertreten.

Erst viel später wurde ihm klar, dass es einen Grund gab, warum sie ihm bei diesem Gespräch nicht in die Augen sehen konnte.

Die neu angekommenen Holländer erwiesen sich als trinkfest und feierfreudig, keine Nacht kamen sie vor drei oder halb vier in die Betten, obwohl sie an jedem Morgen nach dem Frühstück ins Dahner Felsenland zum Klettern aufbrachen. Dass diese lebenslustigen, trinkfesten Burschen es mit der Maskenpflicht und dem Abstandsgebot nicht so genau nahmen, kaum waren sie den Auflagen im eigenen Land entkommen, verstörte ihn zunehmend. Belle versah ihren Dienst wie gewohnt mit dem strahlendsten Lächeln bis tief in die Nacht, erwirtschaftete Umsätze wie selten und schlief deshalb in Klaras Zimmer, um ihn nicht jede Nacht aus dem Schlaf zu reißen.

Carl-Peter blieb zunächst arglos wie ein Schaf. Es war in der vierten Nacht, der Nacht auf Dienstag, als sich ihm endlich der Himmel öffnete und Klarheit in sein rosarot vernebeltes Gehirn brachte. Abends hatte es ihn länger als sonst in der Gaststube gehalten, und selbst als Klara ihn nach Erledigung der Küchenarbeit zum Mitkommen aufforderte, war er sitzen geblieben und hatte dabei ein oder zwei Pils mehr zu sich genommen als üblich. Die verstohlenen Blicke, die zwischen Belle und diesem blonden holländischen Hünen hin und her wanderten, entgingen ihm bei all seiner Blauäugigkeit nicht.

Morgens gegen fünf Uhr, das Zusammensein mit Klara verlief ungewohnt oberflächlich, drückte seine Blase, Pils geladen, dermaßen, dass er zur Toilette musste. Er fand sich inzwischen auf dem Stockwerk blind zurecht und verzichtete darauf, die Deckenbeleuchtung einzuschalten. Auf der Höhe von Klaras Zimmer erreichte ein ihm wohlbekanntes, lustvolles Stöhnen sein Ohr. Beim Nähertreten bemerkte er, dass die Tür nur angelehnt war. Er schob sie einen Spalt breit auf und erblickte seine Belle, wie sie eben mit weit gespreizten Schenkeln von dem rosaroten Hintern des blonden Holländers bearbeitet wurde. Als er, von einem Moment auf den anderen vollkommen desillusioniert, die Tür wieder zuziehen wollte, hob sich für einen Moment ihr Blick und sie blickte ihm erschrocken in die Augen, vermutlich durch das leichte Kratzen des Holzes auf dem Fliesenboden ausgelöst. Er erkannte das Entsetzen in diesen Augen, die ihn so treuherzig anblicken konnten, drehte ab und verrichtete seine Notdurft.

Zurück in seinem Zimmer stellte er fest, dass Klara verschwunden war, vermutlich stand sie unter der Dusche, weil sie bald schon mit ihren Frühstücksvorbereitungen beginnen musste. Das passte ihm in den Kram. Ein Gespräch konnte er jetzt auf keinen Fall brauchen. Ein Anruf mit dem Smartphone bei Madame Renaud in Thonon genügte. Abends wäre die Villa gereinigt und gelüftet, auch wenn er für die Reise dorthin den kürzeren Weg über die hermetisch abgeschottete Schweiz meiden musste. Er holte seinen großen Reisekoffer und die kalbslederne Reisetasche vom Boden und verstaute seine paar Utensilien. Die Wanderschuhe ließ er zurück. Er nähme seine einzigartigen Erinnerungen an einige wunderbare Monate mit, die ihn dem Leben zurückgegeben hatten. Seine Erinnerungen an das Gefühl des Geliebt-Werdens blieben ihm, auch wenn sie nicht in die Zukunft wiesen. Das, was er für Klara und Belle empfunden hatte, musste zurückbleiben. Das ließe er jetzt zurück, doch die restliche jüngste Vergangenheit bliebe ihm für immer. Sie hatte ihn verwandelt. Er wollte nicht vergessen. So wie er Bea nicht vergessen hatte, konnte er jetzt Belle auch nie vergessen. Sein befristetes Glück, das ihn so unerwartet getroffen hatte, bot ihm keinen Ausblick wie den vergeblichen Traum von einer neuen Familie. Das für ihn bittere Ende musste er zurücklassen, wollte er zurücklassen. Belle schien glücklich zu sein. Er hatte sich bei seiner Investition eben geirrt.

Auf seinem am Tresen hinterlegten Zettel stand in großen Drucklettern zu lesen: SCHADE!! WAR WOHL ZU SCHÖN!!

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