Читать книгу Mord im Regionalexpress - Gabi Thieme - Страница 8
ОглавлениеVorwort
In meinem Berufsleben als Journalistin habe ich in den vergangenen dreißig Jahren über viele schwere Verbrechen in Sachsen geschrieben. Mit etlichen Fällen war ich jahrelang befasst: bis zur Ergreifung und Verurteilung des Täters oder der Täterin.
Ich musste miterleben, wie ein Erstklässler morgens auf dem Schulweg verschwand und ein anonymer Bekenner die Ermittler über Monate auf Trab hielt. Ich habe mich mit einer jungen Mutter beschäftigt, die ihr Baby über Weihnachten allein in seinem Bettchen verhungern ließ, während sie zu einem neuen Internet-Bekannten an die Ostsee fuhr. Ich lernte einen Mann kennen, der als Mörder eines behinderten Kindes verurteilt wurde und bis heute sagt, er sei es nicht gewesen. Ich traf auf einen Bankräuber, der zwanzig Jahre am Ende der Welt untertauchen konnte und schließlich doch noch vor dem Kadi stand. Die Akribie und Hartnäckigkeit, an einem ungelösten Fall über viele Jahre dran zu bleiben, ihn faktisch zu meinem Fall zu machen, brachte mir nicht nur das Vertrauen der Ermittler, sondern das Vertrauen der Angehörigen ein.
Besonders deutlich erlebte ich das nach der Ermordung einer jungen Frau im Regionalexpress zwischen Dresden und Zwickau zwei Tage vor Weihnachten 1995. Es war für mich eines der brutalsten Verbrechen, mit dem ich je zu tun hatte. Vielleicht berührte mich der Fall auch deshalb so sehr, weil ich am Vormittag des Heiligabends beim Weihnachtsbaumschmücken mit der Tat konfrontiert wurde. Wann werden Journalisten schon am 24. Dezember von der Polizei zu einer Pressekonferenz zusammengetrommelt? Bereits an diesem Tag stellte ich mir die Frage: Welche Qualen muss die Familie des Mädchens jetzt durchmachen?
Ich sollte die Eltern bald kennenlernen und sie sieben Jahre lang durch die Tiefen ihres Lebens begleiten. Oft fragte ich mich: Woher nimmt der Vater einer ermordeten jungen Frau die Energie, die Ermittler zu unterstützen, eine fünfstellige Summe für die Belohnung aufzutreiben und schließlich im Gerichtssaal dem Mörder seiner Tochter gegenüberzutreten?
2017 erzählte mir ein altgedienter Kriminalist, dass seine Schwester vor 40 Jahren ermordet worden sei. Weil meine berufliche Laufbahn zu dem Zeitpunkt gerade begann, hatte ich nie etwas von diesem Verbrechen gehört. Was war damals passiert? Warum wurden die Ereignisse unter der Decke gehalten? Warum wurde einer der erfahrensten Mordermittler seinerzeit von dem Fall abgezogen? Wie konnte der Täter knapp zwölf Jahre später doch noch überführt werden?
Einen solchen Kriminalfall Jahrzehnte später zu recherchieren, geht nicht nur mit großem Aufwand einher. Es funktioniert nur, wenn Angehörige, Betroffene und die Ermittlungsbehörden dabei Unterstützung geben. Von beiden Seiten wurden mir großes Vertrauen und eine unerwartete Offenheit entgegengebracht. Ohne die hätte ich viele Details nicht so zu Papier bringen können.
Ich danke dem Vater und dem damaligen Freund von Andrea Dittrich für ihr Vertrauen. Ich danke dem Bruder der 1977 in Mittweida ermordeten Petra Lange. Und ich danke dem Chemnitzer Oberstaatsanwalt Bernd Vogel sowie dem langjährigen Chef der Mordkommission Chemnitz Dieter Wolfram, dass sie mich mit viel Hintergrundwissen für dieses »Buch gegen das Vergessen« versorgt haben.
Gabi Thieme, Sommer 2020