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2 Mein katastrophales Leben
ОглавлениеMein Vater, der Sportlehrer war, hatte sich immer gewünscht, dass ich ein Spitzensportler werde. Aber auf Gedeih und Verderb – denn beruflich geht das ja in den seltensten Fällen gut – hatte ich mich immer nur für Musik interessiert.
Meine Mutter sagte, sie habe stets gewusst, dass ich einmal Sänger werden würde. Als ich im Alter von dreizehn Monaten Elvis Presley singen hörte, stand ich in meinen Kinderbettchen auf, als wäre ich auf einer Bühne, klammerte mich am Schutzgeländer fest und versuchte, näher ans Radio heranzukommen. Offenbar sah meine Mutter damals das erste Mal, dass mich etwas wirklich faszinierte.
Meistens kam es ihr nämlich so vor, als befände ich mich in einer anderen Welt.
Von diesem Tag an sorgten meine Eltern stets dafür, dass mich Musik umgab, besonders wenn sie wollten, dass ich »in die reale Welt zurückkehrte«, wie sie es ausdrückten. Aber mein Kopf schwebte fast immer in den Wolken, und als ich sechs Jahre alt war, wurde bei mir Autismus diagnostiziert.
Nach dieser Diagnose beschäftigten sich meine Eltern weit mehr als früher mit mir, und darunter hatte meine kleine Schwester Claire zu leiden. Meine Mutter besorgte spezielles Unterrichtsmaterial, um mir möglichst jeden Tag neue Dinge beizubringen, aber fast alles, was ich gelernt hatte, vergaß ich sofort wieder.
Seinerseits versuchte mein Vater, mir das Einzige näher zu bringen, von dem er wirklich etwas verstand: Sport. Obwohl ich höchstens ein mittelmäßiger Sportler war, bemühte er sich jahrelang, mich zu einem Berufssportler auszubilden.
Im Sommer vor meinem Wechsel zu einer weiterführenden Schule ermahnte mich mein Vater, ich müsse als Sohn eines Sportlehrers den anderen Schülern ein gutes Vorbild sein. Aber ich war das genaue Gegenteil, denn ich brachte überhaupt kein Interesse für das auf, was die Lehrer sagten. (Hier trug ich auf meiner Liste ein Minus-Zeichen ein, weil ich gar nicht erst versucht hatte, mir Wissen anzueignen.)
Trotz der hartnäckigen Bemühungen meiner Eltern versagte ich in fast allen Fächern. Mit vierzehn Jahren wechselte ich zu einer Schule, die auf musische Fächer spezialisiert war. Dort fiel mir das Lernen leichter. Ich hatte Unterricht bei einem fantastischen Musiklehrer, der mir das Gitarrenspiel beibrachte.
Meine Eltern waren überglücklich darüber, dass ich endlich in eine Schule ging, von der ich nicht mehr weglaufen wollte. Dort lernte ich nicht nur, ein Instrument zu spielen, sondern auch eigene Stücke zu komponieren. Und da meine Lieder offenbar gut ankamen, beschäftigte ich mich während meiner Jugendjahre vor allem mit dem Komponieren. (An dieser Stelle setzte ich auf meiner Liste ein Plus-Zeichen, da ich gelernt hatte, ein Instrument zu beherrschen und Lieder zu komponieren.)
Ich wohnte in Liverpool, der Stadt der Beatles, und glaubte, es könne mit ein wenig Talent nicht so schwierig sein, Erfolg zu haben. Und wirklich brachte ich mit zwanzig Jahren mein erstes Solo-Album heraus. Doch zugleich zerstörte ich dadurch das Leben von zwei Menschen.
Kerry lernte ich in einer der örtlichen Szenekneipen kennen, in denen ich erstmals öffentlich mit meiner Gitarre auftrat. Als ich erfuhr, dass ihr Vater Duncan Fierce war, der Musikproduzent, der die Band Oasis entdeckt hatte, setzte ich alles daran, Kerry für mich zu gewinnen. (Ein Minus-Zeichen, da ich mit Kerry nur das Ziel verband, sie für meine Zwecke einzuspannen.)
Kerry verliebte sich sofort in mich. Drei Tage nach unserer ersten Begegnung ließen wir uns die gleichen Piercings machen – als Zeichen dafür, dass wir immer zusammenbleiben würden. Ich hätte ehrlich sein und ihr sagen sollen, dass ich mich mehr für ihren Vater als für sie interessierte, das ist mir bewusst. Aber einen solchen Musikproduzenten wie Duncan Fierce an meiner Seite zu haben, betrachtete ich als einmalige Chance. (Ein Minus, da ich Kerry etwas vortäuschte, das ich nicht empfand.)
Ich würde mir ja gern vormachen, dass Duncan mir nicht vorgeschlagen hätte, ein Album aufzunehmen, wäre ihm an mir nicht irgendein Potenzial aufgefallen. Doch in Wahrheit schlug er mir das erst vor, als Kerry ein Kind von mir erwartete. (Ein Minus, weil ich nicht für Verhütung gesorgt hatte.) Er verpasste mir sogar den Künstlernamen »Matt Kerr«, um mich daran zu erinnern, dass ich die Plattenproduktion allein Kerry verdankte.
Meinen Eltern gefiel die Aussicht, so bald Großeltern zu werden, zwar ganz und gar nicht, trotzdem boten sie mir jede nur erdenkliche Hilfe an. Mir war die Vaterschaft eigentlich auch zuwider, doch ich willigte in die Heirat mit Kerry ein, da sie mir nachdrücklich klargemacht hatte, dass ihr Vater mir nur dann unter die Arme greifen würde. (Ein weiteres Minus dafür, dass ich Kerry aus reinem Egoismus geheiratet habe.)
Und so nahm ich mein erstes Album mit gerade mal zwanzig Jahren und bereits verheirateter Mann auf. Duncan und sein Team brachten mir alles bei, was ich für eine solche Produktion wissen musste. Bei den Aufnahmen mussten wir vieles neu arrangieren und ändern, damit die Instrumentalisierung und meine Stimme gut klangen, aber letztlich rechtfertigte das Ergebnis die ganze Mühe. Den Rest erledigte das Heer von Duncans Marketing-Leuten, und wir verkauften dann tatsächlich 180.000 Exemplare des Albums. Die Marketing-Leute schafften es auch, mich in drei verschiedenen Fernseh-Shows unterzubringen. Und die Konzerttour durchs ganze Land erwies sich sogar als recht profitabel. (Ein Plus dafür, dass ich mit dem, was ich liebend gern tat, Erfolg hatte.)
Da für mich jetzt alles so gut lief, begann ich auch, anderen Menschen Gutes zu tun. Beispielsweise trat ich bei Wohltätigkeitskonzerten auf und sogar in einer Fernseh-Show, die mit einem Spenden-Marathon für soziale Zwecke verbunden war. Ich half auch meinem Nachbarn Rob. Er arbeitete in einer Autowerkstatt und kam nicht gut mit seinem Chef aus. Deshalb lieh ich ihm so viel Geld, dass er eine eigene Werkstatt aufmachen konnte. (Ein Plus dafür, dass ich andere Menschen – einschließlich meines Nachbarn – unterstützte, denen es nicht so gut ging wie mir.)
Meine Eltern waren stolz auf das, was ich erreicht hatte, aber nun begann sich mein Erfolg auch auf meine Schwester Claire auszuwirken. Sie begann meinen Kleidungsstil nachzuahmen, bat mich, ihr das Komponieren beizubringen, und traf sich sogar regelmäßig mit dem Schlagzeuger meiner Band.
Ich fühlte mich wie ein König und war davon überzeugt, dass meine Karriere gerade erst richtig angefangen hatte – doch in Wahrheit stand sie bereits kurz vor dem Ende. Ich war einfach zu jung, und die vielen verrückten Fans gaben mir das Gefühl, tatsächlich Talent zu besitzen. Ich wurde arrogant, begann, mit weiblichen Fans zu schlafen und mir Kokain reinzuziehen. Das Schlimmste daran war, dass Kelly, als sie es herausfand, völlig außer sich geriet und fast das Baby verloren hätte. (Ein Minus für meinen Drogenkonsum, meine Untreue und die Tatsache, dass ich damit das Leben unseres Kindes aufs Spiel setzte.)
Ich flehte um Vergebung, schwor Kelly, dass ich zur Ruhe kommen würde. Sie verzieh mir in der Annahme, dass sich alles ändern würde, sobald ich unser Baby zum ersten Mal sah. Doch mit Spencers Geburt änderte sich nichts. Ich war einundzwanzig und wollte keine Verantwortung übernehmen, sondern nur in meinem Ruhm schwelgen und Spaß haben.
Als Spencer sechs Wochen alt war, entdeckte Kerry ein Foto in einer Musikzeitschrift, auf dem ich ein Mädchen im Arm hielt. Noch am selben Tag wechselte sie unsere Türschlösser aus und schickte mir einen Koffer mit all meinen Klamotten. (Ein Minus dafür, dass ich Kerry weiterhin betrogen hatte und damit unsere Ehe zerstörte.)
Ich versuchte Kerry zu erklären, dass ich bei diesem Foto auf Drogen gewesen sei und gar nicht mehr gewusst hätte, was ich tat. Aber das gebrannte Kind scheut bekanntlich das Feuer, sodass Kerry mir meine Beteuerungen nicht mehr abnahm. Und natürlich wollte mich ihr Vater Duncan nun nicht mehr als Produzent vertreten und kassierte alle Einnahmen aus der Konzerttour und dem Verkauf meines Albums ein, um die Kosten für alles, was er in mich investiert hatte, abdecken zu können. Vergeblich hielt ich nach einem Produzenten für mein nächstes Album Ausschau, also beschloss ich, es allein auf den Markt zu bringen. (Ein Plus dafür, dass ich die Sache nun selbst in die Hand nahm.)
Kerrys Rechtsanwalt forderte mich auf, mit einem Teil meines Einkommens für meinen Sohn Spencer aufzukommen. Aber da Kerry mir jede Besuchserlaubnis verweigerte, sah ich nicht ein, für Spencers Erziehung zu zahlen. (Ein Minus, weil ich mich von jeder Verantwortung für mein Kind freisprach.)
Um mein neues Album aufnehmen und dafür Werbung machen zu können, musste ich meine Eltern um Geld bitten. Anfangs weigerten sie sich, da sie ein solches Darlehen für riskant hielten, aber ich setzte sie unter Druck und versprach, ihnen jeden einzelnen Penny zurückzuzahlen. Schließlich nahmen sie eine Hypothek auf ihr Haus auf, um mir 80.000 englische Pfund zu leihen. (Ein Minus, da ich meinen Eltern eine riskante Investition aufdrängte.)
Schließlich konnte ich mein zweites Album aufnehmen und schloss einen Vertrag mit demselben Team ab, das auch bei meinem ersten Album alle musikalischen Arrangements beigesteuert hatte. Alles Geld, das noch übrig war, investierte ich ins Marketing. Es gelang mir – selbstverständlich mit einer Bestechungssumme –, einen meiner Songs bei einem Radiosender als Nummer drei in den Pop-Charts zu platzieren, der meinen Song dann zwei Wochen lang häufig spielte. Aber das brachte mir nichts. Das ganze Album fiel trotzdem durch und die Konzerttour war schlicht eine Katastrophe.
Als die Musiker und Tontechniker meines Teams merkten, dass kaum jemand meine Konzerte besuchte, verlangten sie von mir, sie unverzüglich zu bezahlen.
Also bat ich meine Eltern um einen weiteren Kredit und beglich mit dem Geld meine Schulden.
Ich spielte alle meine Verbindungen aus, um meine Konzerte öffentlich bekanntzumachen. Trotzdem tauchte kaum jemand bei diesen Gigs auf, was mir völlig unbegreiflich war. Immerhin hatten die Musiker mir gesagt, mein zweites Album sei viel besser als das erste. Aber niemand wollte es kaufen. Ebenso wenig verstand ich, wieso die Leute, denen meine Musik während der ersten Tournee offenbar sehr gefallen hatte, sie zwei Jahre danach nicht mehr hören wollten.
Die Mühe, die ich in das zweite Album gesteckt hatte, erwies sich als völlig nutzlos. Das raubte mir schließlich jegliche Energie und Selbstachtung. In mir setzte sich der Gedanke fest, dass meine Musik nichts taugte und mein erstes Album nur deshalb Erfolg gehabt hatte, weil mein Schwiegervater damals so viel Geld in die Werbemaßnahmen gesteckt hatte. Wegen all dieser Niederlagen hatte ich das Gefühl, kaum noch tiefer sinken zu können, und es ging mir wirklich schlecht. Ich wollte nicht mehr singen und auch nichts mehr komponieren, hatte nicht einmal mehr Lust, mir Musik im Radio anzuhören. Jeden Morgen fiel es mir schwer, überhaupt aufzustehen, und ich konnte es nicht mehr ertragen, in den Spiegel zu sehen oder einen Anruf entgegenzunehmen.
Ich schämte mich sehr, als ich mitbekam, dass meine Familie in ein kleineres Haus umziehen musste. Das war allein meine Schuld, und mein Vater warf mir auch vor, dass ich die Familie finanziell ruiniert hätte. (Ein Minus, weil ich mein Wort nicht gehalten und die Schulden bei meiner Familie nicht beglichen hatte.)
Schließlich versuchte ich meine Schuldgefühle und mein Versagen durch den Konsum von Alkohol und Kokain zu verdrängen. (Ein Minus, da ich mich selbst aufgab und mich in den Drogenkonsum flüchtete.)
Aber ich verdrängte die schlimme Situation nicht nur, sondern landete auch noch in einer Abwärtsspirale des Kummers und der Selbstzerstörung, die ich keinem Menschen wünsche.
Eine Weile konnte ich in den Wohnungen meiner besser gestellten Fans unterkommen, und sie versorgten mich auch mit Kokain. Doch letztlich warfen sie mich alle irgendwann raus. (Ein Minus, weil ich meine Fans ausnutzte.)
Also musste ich zu meiner Familie zurückkehren und dort auf dem Sofa übernachten, denn in ihrem neuen Haus gab es nur zwei Schlafzimmer. Mein Vater war anfangs zwar dagegen, da ihm klar war, dass ich immer noch drogenabhängig war, doch meine Mutter überzeugte ihn davon, dass die Familie mich aufnehmen müsse.
Tatsächlich zählt im Leben eines Junkies nur, an Drogen heranzukommen. Alles andere betrachtet er entweder als Mittel zu diesem Zweck oder als Hindernis dabei.
Zu diesem Zeitpunkt lebte ich einzig und allein von meiner Familie, von niemandem sonst. Einige Monate lang stahl ich ihr sogar Geld, um mir Kokain zu besorgen – bis meine Eltern es merkten und das Geld vor mir versteckten. (Ein Minus, weil ich meine Familie bestahl.)
Als ich keinen Zugang mehr zu den Geldbörsen meiner Familie hatte, brachte ich den Schmuck meiner Mutter heimlich zu einer Pfandleihe. Das muss ihr sehr wehgetan haben, da sie den Schmuck von ihrer Mutter geerbt hatte. Doch sie sagte meinem Vater nichts davon, weil sie nicht wollte, dass er mich aus dem Haus warf. (Ein Minus dafür, dass ich meiner Mutter ihren Schmuck raubte.)
Als Kerry schließlich einwilligte, sich mit mir zu treffen, erkannten wir einander fast nicht wieder. Im vergangenen Jahr hatte ich mich körperlich sehr verändert, und sie war nicht nur Mutter geworden, sondern mittlerweile auch eine erfolgreiche Geschäftsfrau. Ich erzählte ihr vom Misserfolg meines zweiten Albums und bat sie um ein Darlehen, aber das lehnte sie ab. Ich bat sie auch darum, Spencer sehen zu dürfen, was sie ebenfalls verweigerte. Ihrer Meinung nach war es für Spencer besser, seinen Vater für tot zu halten, als die Wahrheit zu erfahren: dass sein Vater ihn im Stich gelassen hatte. Ich erwiderte, es sei mein gutes Recht, meinen Sohn zu sehen, und drohte ihr damit, sie ständig zu verfolgen, wenn sie nicht klein beigebe. Als sie das hörte, wurde sie nervös und warnte mich davor, mich meinem Kind zu nähern. Ich bot ihr an, sie in Ruhe zu lassen, wenn sie mir 300 Pfund lieh, und sie gab mir das Geld. (Ein Minus, da ich das Kind zur Erpressung von Kerry benutzt hatte.)
Natürlich hielt ich mein Versprechen ihr gegenüber nicht. Ein paar Wochen später wollte ich noch mehr Geld aus Kerry herausholen, musste jedoch feststellen, dass sie umgezogen war. Ich habe Kerry und Spencer niemals wiedergesehen. (Ein Minus dafür, dass ich meine frühere Frau und meinen Sohn zum Umzug zwang.)
In kürzester Zeit war ich von mehreren Drogen abhängig geworden. Mein Körper war geschwächt, mein Gesicht angeschwollen, meine Stimme rau und heiser. Mir fiel auf, dass die Menschen jetzt häufig wegsahen, wenn sie an mir vorbeigingen. Und ich nahm es ihnen nicht übel – ich wäre mir ja am liebsten selbst aus dem Weg gegangen.
Irgendwann war ich so fertig mit mir und der Welt, dass ich nicht mehr die Kraft hatte, meine Eltern davon abzuhalten, mich in eine Entzugsklinik einzuliefern. Sie brachten mich in die beste Großbritanniens. Zu dieser Zeit dachte ich nicht darüber nach, wie sie überhaupt das Geld dafür hatten zusammenkratzen können. Erst viel später fand ich heraus, dass meine Eltern die Rechnungen für meinen Klinikaufenthalt mit dem Geld bezahlt hatten, das sie für das Universitätsstudium meiner Schwester zurückgelegt hatten. Nun konnte Claire nicht nur das Studium vergessen, sondern musste auch in einem Restaurant arbeiten, um Geld für meine Therapie beizusteuern. (Ein Minus, weil ich meiner Schwester die Chance zu studieren nahm.)
In der Klinik fand ich es zunächst entsetzlich. Das Personal war zwar sehr freundlich und tüchtig, aber in diesem Umfeld versank ich nur noch tiefer in meinem Schwarzen Loch. Alle diese perfekten Menschen um mich herum verstärkten bei mir noch das Gefühl eigener Wertlosigkeit. Wäre ich der Leiter dieser Einrichtung gewesen, hätte ich nur frühere Drogenabhängige eingestellt, denen die Zähne ausgefallen waren. Denn sie allein wissen, was es bedeutet, sich selbst zu zerstören.
Mit der Zeit halfen mir die Therapeuten allerdings sehr. Mit ihrer Unterstützung begriff ich, dass ich, um mich selbst wieder aufzubauen, lediglich lernen musste, mich selbst und andere Menschen wieder zu achten. Das war nicht leicht, doch nach zehn Monaten innerer Kämpfe voller Höhen, Tiefen und Rückfälle schaffte ich es schließlich, meine Niederlagen und Ängste hinter mir zu lassen und meine Drogenabhängigkeit zu überwinden. (Ein Plus dafür, dass ich die Drogenabhängigkeit überwand.)
Als ich nach Hause entlassen wurde, freuten sich meine Mutter und meine Schwester sehr, und ich glaube, auch mein Vater – wenn es ihn vielleicht auch vor allem erleichterte, die monatlichen Überweisungen an die Klinik einstellen zu können. Wir alle wollten die Situation vor meinem Absturz wiederherstellen und taten deshalb so, als wäre nichts passiert. Aber natürlich war mir klar, dass sich mein Leben zwangsläufig verändert hatte, da meine Jahre als Drogenabhängiger einen hohen Preis gefordert hatten.
Bei meiner Rückkehr erfuhr ich, dass meine Mutter inzwischen Geschäftsfrau war. Um die Kosten der Klinik mittragen zu helfen, hatte sie die Arbeit bei einem Immobilienmakler aufgenommen. Und als die Inhaberin in den Ruhestand ging, kaufte meine Mutter ihr das Maklerbüro ab und bot mir eine Stelle in dem Büro an. Ich nahm sie ohne zu zögern an, obwohl mein Vater mir eine solche Arbeit keineswegs zutraute. Bei der Entlassung aus der Klinik hatte ich mir vorgenommen, Ordnung in mein Leben zu bringen, weit weg von der Welt der Musik, und diese Stelle kam mir wie eine wunderbare Chance vor. (Ein Plus dafür, dass ich mich wieder in die Gesellschaft integrierte.)
Meine Mutter erklärte mir, der Schlüssel zum Verkauf von Immobilien liege darin, den Käufer davon zu überzeugen, dass er eine Villa erwerbe, und dem Verkäufer das Gefühl zu geben, er könne froh sein, seine Bruchbude loszuwerden. Schon nach wenigen Wochen gelang es mir, ein Haus zu verkaufen. Das erfüllte mich mit gesundem Stolz darauf, dass ich eigenständig etwas zustande gebracht hatte. (Ein Plus für den Versuch, etwas eigenständig in Gang zu setzen.)
Doch als ich das zweite Haus verkaufen wollte, machte ich alles kaputt. Offenbar hatte der Konzessionsgeber der Agentur meiner Mutter angebliche »Kunden« auf den Hals geschickt, um ihre Geschäftspraktiken zu überprüfen. Beim Verkaufsgespräch übertrieb ich allzu sehr, als ich die Vorzüge des Mietswohnhauses hervorhob, und versuchte zu verschleiern, dass sich im Keller Feuchtigkeit gesammelt hatte. Das führte dazu, dass uns der Konzessionsgeber die Lizenz als Immobilienmakler in seinem Verbund entzog.
Als ich feststellen musste, dass dieser Rausschmiss meine Mutter 30.000 Pfund kostete, die sie als Kredit bei der Bank aufgenommen hatte, tauchten alle Gespenster meiner Vergangenheit wieder auf. Da ich das Gefühl hatte, meiner Familie ständig neue Probleme aufzuhalsen, beschloss ich, auszuziehen und ihr Leben nicht mehr durcheinander zu bringen. (Ein Plus dafür, dass ich meiner Familie die Last abnahm, sich ständig um mich kümmern zu müssen.)
Ich fand ein großes, aber preisgünstiges Apartment, das mir eine Witwe namens Margaret vermietete. Als sie merkte, dass ich früher drogenabhängig gewesen war, bat sie mich, die Miete für ein halbes Jahr im Voraus zu bezahlen. Mir fehlten aber 60 Pfund für die von Margaret verlangte Summe. Die einzige Möglichkeit, die mir einfiel, das Geld aufzubringen, bestand darin, als Straßensänger in einer der U-Bahn-Stationen in Liverpool aufzutreten.
Ich wappnete mich mit Mut, griff nach meiner Gitarre und suchte mir eine U-Bahn-Station mit einem großen Eingangsbereich und guter Akustik aus. Meine eigenen Lieder wollte ich nicht singen, da ich Angst hatte, erkannt zu werden. Also wählte ich Imagine von John Lennon. Ich musste einfach daran glauben, dass alles besser werden würde. Dieser erste Tag war hart. Meine Stimme klang viel schlechter, als ich sie in Erinnerung hatte, und ich konnte auch keine innere Ruhe finden, da ich mich ständig vergewissern musste, dass nicht die Polizei auftauchte und mich nach draußen beförderte.
Die meisten Leute gingen so an mir vorbei, als wäre ich gar nicht da. Manche sahen mich voller Verachtung an. Aber andere lächelten mir zu, und hin und wieder warf mir jemand eine Münze hin. Vermutlich merkten die meisten dieser Menschen meiner Stimme an, dass ich früher ein Junkie gewesen war, und spendeten das Geld aus Mitleid. Aber für mich zählte nur, dass ich die 60 Pfund zusammenbringen musste. Am Ende dieses Tages war ich erschöpft und völlig heiser, hatte aber 71 Pfund in der Tasche. Also konnte ich das Apartment bei Margaret mieten und schlief mit dem befriedigenden Gefühl ein, das Geld für die Miete aus eigener Kraft aufgebracht zu haben. (Ein Plus dafür, dass ich etwas eigenständig geschafft hatte.)
Im folgenden Jahr nahm ich jeden Job an, den ich kriegen konnte, arbeitete als Kellner, Verkäufer und sogar als Lagerarbeiter in einem Supermarkt. Doch jedes Mal tauchte dabei das Problem auf, das ich seit frühester Kindheit hatte: Ich konnte mich einfach auf nichts konzentrieren, außer auf Musik. Und da diese Jobs in keiner Weise etwas mit Musik zu tun hatten, griff ich wieder zur Flasche. Ich versuchte mein Trinken zu verheimlichen, aber früher oder später flog es stets auf. (Ein Minus dafür, dass ich wieder zu trinken begann und dadurch jede Festanstellung vermasselte.)
Schließlich ging mir auf, dass es für mein weiteres Leben nur zwei Möglichkeiten gab: Entweder ich würde allen Menschen in meinem Umfeld im Weg sein, oder ich würde an der U-Bahn-Station singen. Also beschloss ich, mein Geld als Straßensänger zu verdienen. Ich war davon überzeugt, dass ich, sobald ich wieder spielte und sang – selbst wenn es nur in Stationen der U-Bahn war –, keinen Alkohol mehr brauchen würde. Doch das war ein Irrtum. Es fiel mir schwer, Tag für Tag als Straßensänger aufzutreten, und einzig der Alkohol half mir beim Überleben.
Wer oder was das Auftreten so schwer machte, war nicht die Polizei, die mich alle zwei oder drei Wochen rausschmiss. Es war auch nicht der Dieb, der mir mein Körbchen mit den Einnahmen stahl und davonrannte. Es waren nicht einmal die Verrückten – Neo-Nazis oder Hooligans –, die mich schikanierten. Was wirklich schwierig war: sich vor ganz normalen Leuten zur Schau zu stellen.
Die meisten gingen an mir vorbei, ohne mich zu beachten. Aber manche glotzten mich so an, als hätten sie noch nie ein menschliches Wesen gesehen, musterten mich von Kopf bis Fuß, als wollten sie herausbekommen, wie und warum ich zu dem Mann geworden war, den ich jetzt darstellte.
Andere sahen mich so ängstlich an, als hätte ich womöglich vor, sie auszurauben. Wieder andere zeigten offen ihre Verachtung, so als wäre meine Musik unangenehmer Lärm oder ich ein Umweltverschmutzer.
Das verstand ich nicht. Ich wusste, dass der Alkohol und die Drogen meinem Aussehen geschadet hatten. Aber selbst wenn ich mich bemühte, mich gut anzuziehen und sauber zu wirken, sahen sie mich so an, als würde ich die Pest verbreiten.
Eines Tages glotzte mich ein Mann dermaßen angewidert an, dass ich nicht mehr an mich halten konnte. »Verzeihen Sie mir bitte die Unverschämtheit, Ihnen kostenlos meine Musik anzubieten«, sagte ich, weil ich nicht anders konnte. Denn mir war noch allzu gut in Erinnerung, dass Menschen nur ein paar Jahre zuvor 30 Pfund für die Eintrittskarten zu meinen Konzerten bezahlt hatten. Und nun schienen sie tatsächlich bereit, mich dafür zu bezahlen, dass ich zu spielen aufhörte.
Ich beschloss, die feindseligen Blicke der aggressiven Menschen so gut es ging zu ignorieren und mich auf die anderen zu konzentrieren, die meinen Gesang und das Gitarrenspiel zu schätzen wussten. Ich gab mir damit wirklich Mühe, doch die meisten waren so in sich gekehrt und müde, dass ich gar nicht zu ihnen durchdrang. Manchmal hatte ich das Gefühl, unsichtbar zu sein oder die Wände anzusingen, und dann musste ich mein Spielen abbrechen.
Anfangs war es wirklich schrecklich, und ich dachte Tag für Tag: Das war das letzte Mal! Ich war davon überzeugt, dass selbst wenn John Denver hier sang, kaum jemand stehen bleiben würde. Es sei denn, jemand erkannte, dass er ein berühmter Sänger war. In diesem Fall würde sich eine Menschenmenge um ihn versammeln und jeder um ein Autogramm bitten.
Eines Tages bezeichnete mich eine ältere Frau als einen Penner, forderte mich auf zu verschwinden und fragte mich, wieso ich mir keine anständige Arbeit suche, wie der Rest der Menschheit. Ich nannte sie eine alte Hexe und forderte sie auf, sich zu verpissen. Aber in Wirklichkeit taten mir ihre Worte weh. Dieser Tag endete damit, dass ich in meiner Wohnung heulte, denn es machte mir schwer zu schaffen, dass ich mir meinen Lebensunterhalt nur auf diese Weise sichern konnte. Ich trank noch mehr als sonst, um mich zu betäuben.
Meine Vermieterin Margaret wusste, dass ich trank, aber wir hatten eine stillschweigende Vereinbarung: Betrinken würde ich mich nur in den eigenen vier Wänden, und sie würde mir keine Vorhaltungen deswegen machen.
Am folgenden Morgen wachte ich mit dem Gedanken auf, dass die ältere Frau, die mir gegenüber so ausfallend geworden war, durchaus Gründe dafür gehabt hatte. Sicher hatte sie den Eindruck gehabt, ich wolle Geld von ihr erbetteln. Ich beschloss, mich von jetzt an nur noch auf meinen Gesang und mein Spiel zu konzentrieren, ohne von jemandem irgendetwas zu erwarten. Falls jemand mich beleidigte oder mich nicht beachtete, sollte es mir ab sofort egal sein. Meine Aufgabe bestand lediglich darin, das Einzige, das ich gut konnte, bestmöglich zu tun. Und wenn irgendjemand stehen blieb, um mir Geld zu geben, würde ich ihm mit einer Geste danken und mich dann gleich wieder auf meine Musik konzentrieren.
Noch am selben Tag tat ich genau das. Es fiel mir schwer, gut zu spielen und dabei irgendwelche aggressiven Reaktionen zu ignorieren. Doch zu meiner Verblüffung merkte ich abends, dass ich längst nicht so erschöpft war wie an den Tagen zuvor. Und da ich mich mehr und mehr auf meine Musik konzentrierte, gelang es mir auch zu improvisieren und neue Songs zu komponieren. (Ein Plus dafür, dass ich lernte, meine Wut auf die Pendler in der U-Bahn-Station in den Griff zu bekommen.)
Eines Tages kam ein Nachbar meiner Eltern auf dem Gang der U-Bahn-Station an mir vorbei und erkannte mich. Neugierig blieb er stehen, um zu sehen, was ich hier trieb. Am folgenden Tag suchten mich meine Eltern und meine Schwester Claire im Gang auf. Sie hatten sich große Sorgen um mich gemacht und waren sehr erleichtert, als sie merkten, dass ich nicht mehr oder wieder auf Drogen war. Meine Eltern boten mir an, in Claires Zimmer zu wohnen, da sie gerade mit ihrem neuen Freund zusammengezogen war. Aber ich erwiderte, ich sei gerade in die »Top Ten« der U-Bahn-Sänger aufgestiegen und käme ganz gut allein zurecht. Ich versprach ihnen jedoch, sie an jedem ersten Freitag im Monat zu besuchen. Und zum ersten Mal in meinem Leben hielt ich dieses Versprechen auch. (Ein Plus dafür, dass ich diesmal mein Versprechen hielt.)
Meinen Eltern war es peinlich, mich in der U-Bahn-Station spielen zu sehen, wie es auch mir unangenehm war, dass sie mich dabei entdeckt hatten. Sie suchten mehrere Arbeitsstellen für mich, die ich jedoch stets ablehnte. Claire bemühte sich am meisten, mir zu helfen. Monatelang versuchte sie ein Studio zu finden, in dem ich meine neuen Songs aufnehmen konnte, und schließlich fand sie tatsächlich eines, in dem es klappte. Danach versuchte sie, mehrere Schallplattenfirmen für meine Arbeit zu interessieren. Doch ein, zwei Jahre nach Aufnahme meiner Songs besuchte sie mich eines Tages in der U-Bahn-Station und weinte. Sie erzählte mir, eine Schallplattenfirma habe jüngst einen Teenager namens Melvin unter Vertrag genommen und ein Album von ihm mit meinen Songs auf den Markt gebracht – ein Riesenerfolg.
Ich glaubte es nicht, bis ich die Platte hörte und die Songs mit Recht als meine bezeichnen konnte. Ich war zwar wütend, doch irgendwie freute ich mich auch, weil es bedeutete, dass diese Songs den Menschen gefielen und daher auch ich wieder Erfolg haben könnte.
Melvin wurde auch international gefeiert. Deshalb suchten wir die Schallplattenfirma auf und drohten sie zu verklagen, falls sie die Songs nicht als von mir komponierte anerkannten. Da man sich dort weigerte, uns überhaupt anzuhören, beauftragte Claire einen Rechtsanwalt mit unserem Fall und wir verklagten das Unternehmen. Der Anwalt versicherte, wir hätten das Urheberrecht auf unserer Seite. Wenn wir den Prozess gewannen, würden wir sehr viel Geld und die Aufmerksamkeit der Medien haben. Ich war in Hochstimmung, denn genau das war der Sprung, den ich für den Neustart meiner Karriere brauchte. Ich war auch davon überzeugt, dass ich dann auf die Bühne zurückkehren würde.
Deshalb verbrachte ich die folgenden achtzehn Monate damit, auf den Prozess zu warten und währenddessen neue Songs zu komponieren und aufzunehmen.
Ich hatte vor so vielen verschiedenen Menschen gespielt, dass ich endlich wusste, was sie sich wünschten. Claire half mir dabei, die Songs aufzunehmen, die den Leuten in der U-Bahn-Station am besten gefallen hatten. Beide warteten wir ungeduldig auf den Sieg vor Gericht, damit wir danach mit der Werbung bei den Radio- und Fernsehsendern beginnen konnten.
Eine Woche vor der Gerichtsverhandlung betraten zwei jugendliche Skinheads mit Stirnbändern den Gang der U-Bahn-Station, in dem ich spielte. Ich erinnerte mich noch an den Kleineren der beiden, da er mich schon früher unflätig beschimpft hatte. Doch ich beschloss, die beiden gar nicht zu beachten, und spielte weiter – eine vom Reggae inspirierte Improvisation. Und nach nicht einmal einer Sekunde zückte der kleinere der Skinheads doch tatsächlich eine Waffe und schoss mir in den Kopf.
Ich starb sofort, ermordet von den beiden Jugendlichen. Sechs Tage, bevor ich bei der Gerichtsverhandlung hätte beweisen können, dass Melvins Erfolg auf meinen Kompositionen beruhte. Mir blieb keine Zeit mehr, die neuen Songs, an denen ich gearbeitet hatte, herauszubringen. Keine Zeit, mich von Claire oder meinen Eltern zu verabschieden.
Auf diese Weise zu sterben ist nicht fair …
Doch vielleicht sollte ich froh sein, dass ich nun keine weiteren Enttäuschungen mehr ertragen musste. Im Rückblick sehe ich nämlich nur das eigene Versagen.
Seit frühester Kindheit war ich für meine Eltern eine Last, meine Frau und mein Kind ließ ich im Stich. Und am Ende meines Lebens war ich ein frustrierter, alkoholabhängiger Sänger, der in einer U-Bahn-Station bettelte.
Und jetzt, nach meiner Ermordung, hat mein Schutzengel nicht nur Mitgefühl mit mir, sondern behauptet auch, er habe mir oft geholfen und mein Leben sei wirklich erfolgreich verlaufen.
Was sollte ich denn so Tolles getan haben? Meinte er, dass ich auf wundervolle Weise versagt habe? Wenn das Versagen meinen Lebensplan ausgemacht hatte, war mein Leben in der Tat ein absoluter Erfolg gewesen.