Читать книгу Fürstenkrone 80 – Adelsroman - Gabriela Stein - Страница 3
Оглавление»Gloria! Wie schön, dich zu sehen!« Rechtsanwalt und Notar Dr. Henry Kröger verließ mit raschen Schritten seinen Schreibtischbereich und eilte seiner ernsten jungen Mandantin entgegen. Seine Freude wirkte echt, aber auch prüfend-besorgt.
Nach der freundschaftlichen Umarmung hielt er die hübsche junge Frau dann auch ein wenig von sich ab, ihre Augen findend. Und nach einem Moment trat tatsächlich ein verhaltenes Lächeln auf ihre Lippen.
»Geht es dir gut, mein Kind?«, forschte er väterlich-besorgt, die Trauer in ihrem offenen Gesicht noch erkennend, um dann gleich die Frage anzuschließen: »Wie ist die Auktion gelaufen?«
»Gut, Onkel Henry! Für die Sommerzeit sogar überraschend gut. Der Kunsthandel zeigt sich erstaunlich stabil.« Gloria de Vries war die Erleichterung anzumerken. Ihre erste Auktion, für welche sie verantwortlich zeichnete, hatte sie erfolgreich hinter sich gebracht!
»Wunderbar!« Der agile ältere Herr mit dem weißen Haar und der zurückhaltenden hanseatischen Noblesse nickte zufrieden. Wie gut, dass die Kleine, wie er sie gedanklich immer noch nannte, einen guten Einstieg in die alleinige geschäftliche Verantwortung gehabt hatte.
Er wollte sie im Moment nicht nach den erzielten Erlösen befragen. Den Wert der Dinge würden die beiden langjährigen Mitarbeiter des Kunsthandels de Vries im Auge behalten, da war er sich sicher. Charlotte von Bellwange und Hans Christensen waren erfahrene Kunsthistoriker und seit Jahrzehnten in dem renommierten Haus für hochwertige Kunst tätig.
»Komm, nimm Platz, mein Kind«, sagte er daher, sie mit zu jenem ausladenden Mahagonischreibtisch nehmend, welcher das Herzstück in dem weiten Arbeitsraum darstellte. Mit den kostbaren Holzvertäfelungen an Decken und Wänden, den eingebauten hohen Aktenschränken und antiken Ledersesseln wirkte das Büro wie ein hanseatisches Kontor alter Kaufmannschaft.
Und während er ihr einen Sessel zurückrückte und selbst am Tisch gegenüber Platz nahm, bekam dieses Treffen etwas Formelles.
Gloria de Vries registrierte diese Tatsache gefasst. Seit dem Tod ihrer Mutter hatte es viele solcher Termine gegeben. Auch die notarielle Überschreibung des Kunsthauses de Vries auf sie als Erbin hatte Henry Kröger als rechtlicher Beistand der Familie in die Wege geleitet. Seine umsichtige Hand und freundschaftliche Verbundenheit waren Halt gewesen – und waren es noch. Das Leben würde weitergehen und allmählich helfen, jene Selbstsicherheit aufzubauen, welche man im Geschäftsleben brauchte.
»Tee oder Kaffee?«, fragte er mit einem Blick auf die freundlich wartende Kanzleiangestellte, die noch dienstbereit in der offenen Tür stand.
»Tee, bitte!« Glorias Lächeln begleitete den Wunsch, bevor sich ihre Aufmerksamkeit wieder dem Familienfreund zuwandte. Dabei bemerkte sie zum ersten Mal das helle Kuvert, welches ziemlich allein in der Tischmitte lag. Ein freundlich wirkendes Rechteck, seltsam unschuldig und wenig schicksalsschwer.
Henry Kröger plauderte derweil Unverbindliches, locker um eine entspannte Atmosphäre bemüht. Sein joviales Altherrengesicht signalisierte Gelassenheit und jenen Hauch von Altersweisheit, welche einem jungen Menschen noch fremd war.
Der Tee kam, und sein Genuss wurde zelebriert, als sei im Moment nichts wichtiger. Zwischen Teetassen, Silberkännchen und Salzgebäck aber lag immer noch der Brief. Fast schien es so, als sei sein Inhalt das Warten gewohnt.
Vielleicht aber war er auch ganz einfach dort vergessen worden. Eine Unwichtigkeit des Lebens ohne besonderen Inhalt. Eigenartig, sich darüber Gedanken zu machen.
Gloria de Vries verrührte das braune Kandisstückchen im Tee, horchte auf dessen helle Laute, als es gegen die zarte Porzellantasse trieb – und sah immer noch auf das helle Kuvert.
»Bring etwas Zeit mit«, hatte Henry Kröger gesagt, als er sie zu einem weiteren Termin in seine Kanzlei gebeten hatte. Und genau diese Worte wiederholte er jetzt als Frage:
»Hast du etwas Zeit mitgebracht, mein Kind?«
Und während sie dies lächelnd bestätigte, trat wieder das Prüfende in seinen Blick.
»Fühlst du dich auch ein wenig entspannter als noch vor Wochen?«, forschte er weiter, sich unsicher fragend, ob der heutige Zeitpunkt für eine höchst brisante Mitteilung richtig gewählt war.
»Ja, sicher …« Unruhe trat in Glorias Blick. Was, um alles in der Welt, gab es noch, welches den Tod ihrer geliebten Mama noch übertreffen konnte an Schwere und Schmerz?
Erstaunt erkannte sie eine Mischung aus Unsicherheit und Zweifel im Verhalten des sonst so lebenssicheren Beraters und Freundes. So sah sie, wie er sich nervös erhob, ein eleganter schlanker Herr im feinen blauen Nadelstreifenanzug, der scheinbar jeder Lebenssituation gewachsen war. Jetzt aber schien er um Worte zu ringen.
»Onkel Henry, geht es immer noch um das Erbe?«
»Nein, nein, mein Kind, das geht alles seinen Gang«, winkte er ab. »Ich habe noch eine ganz andere Mission zu erfüllen.« Er nahm wieder Platz, und sein Blick richtete sich nun gezielt auf den hellen Umschlag. Auf dieses schwerwiegende Geständnis, welches seit nunmehr fünf Jahren in seinem Tresor lag, als sei es nur hinter gepanzerten Wänden gut aufgehoben.
An meine Tochter Gloria, stand darauf und dazu das Datum der Abfassung. Weiter unten der Vermerk: Spätestens nach meinem Tode auszuhändigen.
Seine Hände zogen das letzte Vermächtnis Elise de Vries’ zu sich heran, strichen nachdenklich darüber hin. Warum war es so schwer, Wahrheiten auszusprechen, welche unbedingt ausgesprochen werden mussten?
»Onkel Henry?«, fragte Gloria de Vries irritiert, auf den unspektakulären Umschlag sehend, der so wenig schicksalsschwer aussah. »Geht es um etwas Unangenehmes?«
»Wie?« Dr. Kröger schreckte auf, und sein heller Blick pendelte zwischen ihr und dem Brief ihrer Mutter. »Unangenehm?«, wiederholte er ihre Frage und bewegte leicht den Kopf. »Nein, es geht um ein grundsätzliches Wissen, um Identitäten und Lebenswurzeln, wie sie jeder kennen sollte, um sich selbst zu begreifen.«
Seine Stimme klang nachdenklich, und sein vornehmes Altherrengesicht überzog sich mit großem Ernst.
»Du machst mich neugierig, Onkel Henry. Wessen Lebenswurzeln müsste ich denn kennenlernen? Denn meine eigenen sind doch recht klar – oder?«
Gloria neigte sich etwas vor, zunehmend beunruhigter und den so unschuldig wirkenden Umschlag plötzlich als Bedrohung empfindend.
Henry Kröger, welcher sich eine Weile überlegt hatte, ob er seiner jungen Mandantin den Inhalt des Briefes nahebringen sollte, indem er ganz bestimmte Wahrheiten aussprach, entschied sich ganz plötzlich anders.
Diese junge Frau war kein Kind mehr und wollte so auch ganz sicher nicht behandelt werden.
So schob er ihr mit einem etwas zwanghaften Lächeln den hellen Umschlag entgegen und sagte:
»Liebe Gloria, lies erst einmal, was deine Mutter dir zu sagen hat. Wir reden dann darüber …«
Das helle Rechteck kam auf sie zu. Seine optische Makellosigkeit, verbunden mit der geradlinigen Schrift ihrer Mutter Elise.
Alles an diesem Umschlag wirkte klar – so klar, wie auch der Mensch Elise zu Lebzeiten gewirkt hatte – nämlich aufrichtig und zu keinen Geheimnissen fähig. Dann hielt sie das leichte Kuvert in der Hand und las nun aus nächster Nähe:
An meine Tochter Gloria und weiter unten den Vermerk: Spätestens nach meinem Tode auszuhändigen.
Sie sah eine ganze Weile darauf, starr vor Trauer und Betroffenheit, bevor sie bewusst das beigefügte Datum registrierte.
Ihr Blick fuhr hoch. »Der Brief ist fünf Jahre alt, Onkel Henry! Und er wurde am Todestag meines Vaters geschrieben! Was hat das zu bedeuten?«
Der notarielle Freund und Vertraute ihrer Familie nickte. »Ja, ich weiß, mein Kind. Erst an diesem Tag war es deiner Mutter möglich, Wahrheiten aufzuzeigen, welche dein Vater längst für überholt hielt.«
»Das klingt alles sehr geheimnisvoll, Onkel Henry.« Ein Gefühl von Unbehagen beschlich die junge Frau. Dann aber sah sie sein zuversichtliches Lächeln. Und in diesem Wissen, dass er gemeinsam mit ihr diesen Weg beschritt, öffnete sie im raschen Entschluss das Briefsiegel und entnahm dem Umschlag einen handgeschriebenen Brief ihrer Mutter.
Und während sie ihn mit klopfendem Herzen entfaltete, begegnete ihr auch hier das klare, geradlinige Schriftbild Elises. Ein Schriftbild, das besagte, dass diese Zeilen nichts Schockierendes enthalten konnten.
So dachte Gloria noch, als sie das Vermächtnis ihrer Mama zu lesen begann und sich schlagartig die klare Ordnung ihres bisherigen Lebens mit Unsicherheit auflud.
Meine liebe Gloria, stand dort, wenn Du diese Zeilen liest, dann wird es mich wahrscheinlich nicht mehr geben. Es sei denn, ich bringe zuvor den Mut auf, Dich mit einer Wahrheit zu konfrontieren, die Dich nicht nur erstaunen wird, sondern auch wundern – vielleicht sogar schmerzen. Aber ich denke, Du solltest Deine wirklichen Wurzeln kennen, wie jeder Mensch sie kennen sollte.
So lass Dir denn sagen, dass Albert de Vries nicht Dein leiblicher Vater ist. Und doch war er mehr Dein Vater, als ein leiblicher es je hätte sein können. Denn er übernahm freiwillig diese Aufgabe. In ihm verband sich Großzügigkeit mit Liebe und menschliches Verständnis mit grenzenloser Herzenswärme.
So warst Du sein ganzer Stolz, sein Lebensinhalt und auch seine Lebensleistung – aber ich denke, das weißt du.
Gloria ließ das schicksalhafte Geständnis ihrer Mutter sinken und blickte maßlos betroffen Henry Kröger an. Jenen still abwartenden Freund und Berater, dem sicherlich nichts Menschliches fremd war.
»Albert de Vries war nicht mein leiblicher Vater, Onkel Henry … Wusstest du das?«
»Ja, mein Kind.«
»Aber wieso erfahre ich das erst heute? Ich bin sechsundzwanzig Jahre alt – und somit seit Langem erwachsen. Sollte man nicht bei einem Menschen dieses Alters Verständnis für menschliche Lebensläufe voraussetzen können?«
Mit zunehmender Betroffenheit erhob sich Gloria jetzt und ließ den halb gelesenen Brief auf dem Tisch zurück. Trat dann an eines der hohen Fenster, welche zur Außenalster hinausgingen. Boote glitten auf dem glänzenden Wasser dahin, traumschön und voller Harmonie.
Noch wusste sie nicht, was sie mehr schockierte: War es die Tatsache, dass ihr geliebter Vater nicht ihr Vater gewesen war – oder aber die lange Zeit des Verschweigens?
Henry Kröger erhob sich nun ebenfalls.
»Weißt du, mein Kind, die Angelegenheit ist komplizierter, als du ahnst. So gibt es Versprechen, welche einen hohen moralischen Wert und bindenden Charakter besitzen. Albert de Vries war dein Vater mit allen rechtlichen Konsequenzen geworden – und er wollte diese Tatsache auch für alle Zeit so behandelt wissen. Deine Mutter hat sich daran gehalten.«
»O bitte, Onkel Henry!« Glorias blonder Kopf flog zu ihm herum. »Papa ist seit fünf Jahren tot – und damit so lange, wie diese Zeilen auf Offenlegung warten!« Ihre blauen Augen sprachen von Unverständnis.
»Komm, nimm wieder Platz, mein Kind, ich werde versuchen, dir die ganze Geschichte nahezubringen.« Der lebenserfahrene Mann griff nach ihrem Arm und führte sie zurück zu jenem Tisch, auf dem der Brief noch immer lag und wartete.
»Deine Mama jobbte als blutjunge Studentin im Kunsthaus de Vries, als sie von einem Mann aus dem Hochadel schwanger wurde«, berichtete Henry Kröger. »Seinen Namen wirst du den Zeilen vor dir entnehmen können. Von vornherein war es eine Beziehung ohne Zukunft.«
Er begann nun in groben Umrissen eine Situation zu skizzieren, die kompliziert war und die man sich so keinesfalls aussuchte: Ein verheirateter Fürst mit einer kränklichen Ehefrau. Bedrängt von den Zwängen seines Standes und einem großen Gefühl. Eine junge Frau, die die Ehe nicht zerstören wollte – und sich zurückzog, als sie merkte, dass ihre Liebe zu dem zärtlichen Fürsten nicht ohne Folgen geblieben war.
»Albert de Vries. Er war damals doppelt so alt wie deine schöne Mama – und er war Junggeselle. Dazu war er ein integerer und liebenswürdiger Mensch. Dass er außerdem noch ein erfolgreicher Geschäftsmann war, sicherte in der Folge nicht nur den Lebensweg deiner Mutter ab, sondern auch den deinen.«
»Also eine Vernunftehe?«, fragte Gloria sachlich.
»Nein, das würde ich so nicht sagen. Albert de Vries war zwar sehr viel älter als deine Mama, aber er besaß Charme und Esprit – gekoppelt mit einem guten Aussehen.«
Bewusst ließ sich Henry Kröger viel Zeit mit seiner Sicht der Dinge. Er war um Entspannung bemüht und stellte fest:
»Die Ehe deiner Eltern war doch sehr glücklich, nicht wahr?« Sein Lächeln traf sie und erwartete eine Bestätigung.
Gloria nickte nachdenklich. Bilder tauchten in ihrer Erinnerung auf, die von großer Harmonie sprachen. Ja, sie hatte eine wunderbare Kindheit gehabt, eine sorgenfreie Jugend und glückliche Studienzeit.
Und doch! Man hatte sie bis heute um gravierende Wahrheiten gebracht! Um ihre väterliche Herkunft! Das war unverzeihlich und warf einen Schatten auf diese wunderbaren Eltern. Auf diesen liebenswerten Ersatzvater – und auf eine Mutter, welche sich offensichtlich seinem Diktat gebeugt hatte.
Still fragte sich Gloria, wie lange sie wohl noch auf diese Aufdeckung hätte warten müssen, wenn die Mutter nicht auf so tragische Weise bei einem Autounfall ums Leben gekommen wäre?
Erst mit ihrem Tod war für den Anwalt und Notar Dr. Henry Kröger der Zeitpunkt gekommen, ihr, Gloria, das späte Geständnis auszuhändigen – dem Willen der Mutter entsprechend, aber nicht dem ihres Ersatzvaters.
Zunehmend begann sie mit Abstand an ihn zu denken, enttäuscht über seinen Besitzanspruch. Tat das ein wirklich großzügiger Mensch?
»Weißt du, Onkel Henry, es ist schon eigenartig, so um eine längst fällige Wahrheit betrogen worden zu sein.« Gloria lachte bitter auf. »Und ausgerechnet meine Eltern haben mich stets zur Offenheit angehalten. Ich sollte durchsichtig für sie bleiben, während sie sich selbst ganz andere Regeln setzten.«
Henry Kröger wirkte nachdenklich. »Manchmal sind es die menschlichen Urängste in uns, Geliebtes zu verlieren«, sinnierte er. »Wobei die verschwiegenen Gründe deiner Mutter noch etwas anders gelagert sein könnten.« Er deutete auf den Brief. »Vielleicht solltest du erst einmal weiterlesen, mein Kind.«
Aufmunternd nickte er ihr zu. »Hol dir die Antwort und sei offen für die Tatsache, dass es da noch einen Menschen gibt, der dir auf einer ganz bestimmten Ebene sehr nahe steht.«
So nahm Gloria schließlich die späte Beichte ihrer Mutter wieder auf und las:
Dein leiblicher Vater ist Carl-Philipp Fürst zu Thornbach und Seeland. Ein Mann aus dem Hochadel und aus einem ebenso bekannten wie hoch angesehenen Geschlecht in Schleswig-Holstein. Schloss Thornbach liegt in der Holsteinischen Schweiz, jener bezaubernden Landschaft um den Plöner See herum. Und so besonders wie diese Landschaft ist auch Dein Vater. Eine Durchlaucht von großer Noblesse, integrem Charakter und weltmännischer Ausstrahlung.
Gloria verzog das Gesicht. Direkt peinlich, wie beeindruckt ihre Mama von diesem Mann immer noch gewesen war. Hochadel, integrer Charakter, mein Gott! Dieser Herr aus höchsten Kreisen verführte kleine Studentinnen und zeugte außereheliche Kinder!
Ein faszinierender Mann, welcher seinerzeit sofort meine Gefühle auf sich zog, las sie weiter. Uns verband eine große Liebe, von kurzer Dauer zwar, aber nachhaltig in Wirkung und Ergebnis. Denn Dein Leben ging aus dieser Begegnung hervor – Du, mein ganzes Glück, mein Stolz und meine dankbare Erinnerung an etwas, das einem nur einmal im Leben begegnet …
Gloria ließ das Blatt sinken und blickte über den Tisch hinweg Henry Kröger an.
»Meine Entstehungsgeschichte ist so banal, wie all diese Geschichten um die Liebe banal sind«, sagte sie und war versucht, sich das Ende dieser Beichte zu schenken. Doch dann senkte sie wieder den Blick auf die Zeilen und las laut:
»Fürst Thornbach besaß Familie. Eine Frau und einen Sohn.«
Gloria seufzte. Ja, natürlich – wie konnte es auch anders sein! Wichtig war jetzt nur noch, wie dieser hochwohlgeborene Vertreter von Glanz und Unantastbarkeit das Malheurchen, nämlich sie, aufgenommen hatte.
Dein leiblicher Vater weiß nichts von Deiner Existenz, las sie dann aber überrascht weiter. Ich wollte ihn nicht in Gewissensnöte bringen, denn seine Bindung an eine kranke Frau und einen halbwüchsigen Sohn ließ das nicht zu.
»Wie edel«, murmelte Gloria ohne Verständnis. War sie denn so wenig wichtig gewesen?
Ich zog einen scharfen Schnitt – und habe ihn nie wiedergesehen …, stand da, und das Schriftbild verlor einen Moment lang seine Haltung, als hätten Gefühle besonderer Art es erschüttert.
Gloria sah lange auf diese Zeilen. Da hatte sie also einen biologischen Vater, der von ihrer Existenz nichts wusste! Zudem war ihr mit dieser späten Beichte ihrer Mutter der Ersatz-Vater genommen – ohne zum leiblichen eine Brücke zu bauen.
Meine eigene Situation wurde von Deinem geliebten Ziehvater Albert de Vries aufgefangen, teilte die Schreiberin mit. Er warb um mich und mein ungeborenes Kind und schenkte uns in der Folge seine ganze Liebe und Umsicht. Ja, er wurde zum wundervollen Vater für Dich. Aber das weißt Du ja.
Ist es da nicht zu verständlich, dass es mir in der Folge unmöglich war, Dich aufzuklären? Für Albert warst Du sein Kind, und er Dein Vater – nur so schien es richtig.
Der Versuch einer Rechtfertigung lag in diesen Zeilen und doch auch wieder dieser Zwiespalt.
Mit dem Tod wäre nun der Zeitpunkt der Aufklärung gekommen gewesen, überlegte die Schreiberin. Denn Du musstest doch die Wahrheit über Deine väterliche Herkunft erfahren! Aber Du trauertest so sehr um Deinen geliebten Ersatz-Papa, hieltst sein Andenken so hoch – wie konnte ich das zu diesem Zeitpunkt zerstören?
Nachdenken schien einen Moment lang die Feder anzuhalten, bevor Elise de Vries das späte Geständnis fortsetzte:
Stattdessen schreibe ich diese Zeilen nieder, stand da. Diese hinterlege ich bei unserem lieben Freund Henry Kröger. Er wird sie sicher verwahren, bis einer von uns den Mut aufbringt, sie Dir zu überreichen …
Gloria hob den Blick und sah den Rechtsanwalt ihrer Familie an. Unverständnis lag in ihren Augen.
»Fünf lange Jahre!«, sagte sie. »Ist das nun Feigheit oder falsche Rücksichtnahme, Onkel Henry? Denn meine Trauer um Albert de Vries hat sich längst beruhigt.«
Der Angesprochene räusperte sich. Er wusste, wie diese junge Frau sich fühlte. Dennoch versuchte er beruhigend auf sie einzuwirken:
»Ich erwähnte bereits die menschlichen Urängste in uns, Geliebtes zu verlieren, mein Kind. Aber auch gegebene Versprechen spielen eine Rolle und der unbedingte Wunsch, deinem leiblichen Vater keinen Schaden zuzufügen. Was bedeutet, nicht in bestehende Familienstrukturen einzugreifen.«
»Du meinst, Anerkennung, Erbansprüche und ähnliches?«
»Zum Beispiel.«
Gloria sah mit wachsender Bitternis auf die Zeilen ihrer Mutter. Auf deren klares Schriftbild und das ganz und gar nicht klare Verhalten.
Ach, hättest du doch geschwiegen! dachte sie, bevor sie sich dem letzten Anliegen dieses Bekenntnisses stellte.
Bitte, mein Kind, stand dort, halte es so wie ich und konfrontiere das Haus Thornbach nicht mit Deiner Existenz. Meine Liebe zu Carl-Philipp von Thornbach soll eine Liebe ohne Anspruch und Verpflichtung bleiben.
»Wie edel, wie edel, liebe Mama!« Glorias Stimme lud sich mit bitterer Ironie auf. »Das fürstliche Malheurchen wird unter den Teppich gekehrt, damit alle anderen ihren Seelenfrieden haben. Nur wie sich das Malheurchen dabei fühlt, ist wohl nicht so wichtig, wie?«
Wieder erhob sie sich und suchte erneut den Ausblick auf die Alster, auf die ruhig dahingleitenden Boote. Nur diesmal beruhigte der traumschöne Blick sie nicht.
War nicht ohnehin alles nur Schein?
Rasch kam sie an den Tisch zurück, eine attraktive junge Frau in heller Kleidung. Erneut griff sie nach dem späten Geständnis ihrer Mutter, las nur noch mäßig interessiert deren letzte Zeile: In Liebe, Deine Mama. Dann ein scharfer Laut, als sie das Blatt zerriss – und auf die Tischfläche fallen ließ.
»Entschuldige, Onkel Henry«, murmelte Gloria und verließ mehr laufend als gehend das Büro.
»Aber, Kind!«, rief der alte Herr ihr erschrocken nach, bevor er ratlos nach den beiden Hälften des folgenschweren Briefes griff – um sie automatisch wieder zum Ganzen zusammenzufügen.
Er wusste, die späte Wahrheit hatte drei Personen beschädigt: Die bis dahin geliebte Mama, den vergötterten Vater, der nicht der Vater war – und einen Unbekannten, der ein Vergnügen gesucht hatte und von den Folgen keine Ahnung besaß.
Ratlos verließ Henry Kröger die Räume seiner Kanzlei und stieg durch das hochherrschaftliche Haus die Stufen zu seiner Privatwohnung hinauf. Er musste mit seiner Frau Julia reden. Vielleicht hatte sie eine Idee, wie die heraufbeschworene Identitätskrise einer jungen Frau zu besänftigen war.
*
Die Mittagssonne stand über dem Land und bescherte sommerliche Wärme. Schönes Schleswig-Holstein! Land zwischen den Meeren mit einem weiten Himmel und satten Farben zu seinen Füßen.
Gloria de Vries ließ langsam den Wagen ausrollen. Fast zögernd geschah das, und fasziniert blickte sie auf eine weite Anlage, welche wie ein Reich für sich wirkte.
Sie hatte Schloss Thornbach erreicht! Und sie spürte ihr Herz schlagen. Dieses Herz, welches seit einer Woche so zerrissen war wie nie zuvor.
Ihr ganzes Leben war ins Schwimmen geraten. Der bisher so sicher gewähnte Boden ein einziger schwankender Grund. So hatte sie sich nicht einmal beim Tode ihrer Mama gefühlt. Denn ihr vermeintlich so sicheres Elternhaus hatte Risse bekommen. Es bot den Halt nicht mehr, der doch eigentlich für ein Leben hätte ausreichen müssen.
Albert de Vries war nicht ihr leiblicher Vater! Diese Tatsache schmerzte sie unendlich, weil sie ihn abgöttisch geliebt hatte. Und Mama? War ihr Leben nur Hingabe und Anpassung gewesen?
Darüber würde nun kein Gespräch mehr zu führen sein. Eine vertane Chance, welche so wichtig für sie gewesen wäre.
Eingespannt in einen Knäuel widerstreitender Gefühle blickte Gloria hinüber zu der prachtvollen Anlage.
Zwischen zwei Torhäusern gelegen, strebten die mächtigen schmiedeeisernen Flügel der Zufahrt in den Himmel, gekrönt mit einem aufgebrachten Familienwappen. Vergoldet strahlte dieses Symbol einstiger Herrlichkeit zu ihr hin, wirkte freundlich und entgegenkommend.
Die stille Betrachterin hinter dem Steuer ihres Wagens lächelte bitter.
Freundlich und entgegenkommend? Was man sich doch so alles einbilden konnte!
Ach, Mama! Wie konntest du dich mit Protz und Prunk nur einlassen?
Und jetzt stand sie hier! Sie, Gloria, das Malheurchen eines kleinen Abenteuers. Eine Antwort suchend, ein Gesicht, welches so zu ihr gehörte wie die andere Hälfte ihrer Existenz, ihre Mama.
Tiefe Ratlosigkeit erfüllte sie.
Das filigrane Gitterwerk der Torflügel lag auf einer Linie mit dem Haupteingang, seinem säulengetragenen Portikus, dem umlaufenden Sims, hell abgesetzt zum Lichtgelb der Gebäude. Ein Ausschnitt wie eine Visitenkarte, leuchtend und auf den ersten Blick alles sagend.
Gepflegte Vornehmheit lag über allem. Dem mächtigen Hauptgebäude, den Seitenflügeln mit Pavillons und der repräsentativen Zufahrt.
Geradlinig durchschnitt diese Zufahrt zwei kultivierte Rasenflächen und mündete auf dem Schlossplatz. Wenige Wagen standen dort, parkten glänzend in der Sonne.
Stille lag über der Anlage. Vornehmheit vertrug sich nicht mit Betriebsamkeit. Und Neugier nicht mit wirklicher Noblesse.
Was aber hatte sie hergetrieben? War es nicht auch Neugier gewesen. Die Suche nach einer Erklärung?
»Mach dir ein Bild!«, hatte am Morgen Constanze von Bellwange, die getreue Freundin und Mitarbeiterin, ihr geraten. »Die ganze Geschichte muss ein Gesicht bekommen.« Nachdrücklich hatte sie gesprochen, während sie den Zustand zweier flämischer Meister prüfte. Hochwerke alter Malkunst und selten angeboten.
Kaufen – oder nicht kaufen, stand zur Diskussion. Ein ständiges Wägen und Abwägen. Der Kunsthandel war ein schwieriges Geschäft, ging es doch zumeist um hohe Summen.
»Das Risiko muss überschaubar bleiben!«, hatte Albert de Vries stets verkündet. »Allerdings darf man auch nicht zum Brötchenverkäufer mutieren.«
Albert de Vries! Geliebter Papa und großmütiger Mensch! Musste sie wirklich Abschied von dieser Vorstellung nehmen? Er hatte ihr Leben in seine Hände genommen, aber eben mit diesem Besitzanspruch. Seine Großmütigkeit hatte totale Übergabe gefordert. Anders konnte sie es nicht sehen.
Gab es überhaupt menschliche Selbstlosigkeit?
Einige Tage nach dem Gespräch mit Henry Kröger und der Offenlegung des Briefes hatte die resolute Mitarbeiterin und langjährige Vertraute Constanze von Bellwange Glorias Niedergeschlagenheit nicht mehr mit ansehen können.
Sie hatte die Brille auf die hellgrauen Locken hochgeschoben und die dunklen ausdrucksstarken Augen auf sie gerichtet.
»Gibt es Probleme mit dem Erbe?«, hatte sie dann direkt gefragt, ahnend, dass Glorias Stimmungslage mit dem letzten Besuch bei Notar Kröger zusammenhängen musste. »Wenn ja, so sprich sie aus! Du weißt, wir sind ein Team – und wir helfen einander. Das war schon bei deinen Eltern so – und sollte auch so bleiben.«
Constanze, die lebhafte und lebenserfahrene Sechzigjährige, hatte im Büro zwischen Verkaufsraum und Auktionssaal zwei Stühle zurechtgerückt und sie zum Platznehmen aufgefordert.
»Also – was hast du in der Kanzlei Kröger erfahren, meine Kleine?« Ihre Stimme hatte Zuneigung erkennen lassen, schließlich kannte die treue Mitarbeiterin des Kunsthandels Gloria von Kindesbeinen an.
»Albert de Vries war nicht mein leiblicher Vater!«, hatte Gloria hervorgestoßen, der Langvertrauten anklagend in die aufmerksamen Augen sehend.
Constanze von Bellwange aber hatte nur genickt.
»Du hast es gewusst?«, hatte Gloria erstaunt gefragt.
»Sagen wir mal, ich habe es geahnt. Gesprochen wurde darüber von Seiten deiner Eltern nie.«
Stille Sekunden des Nachdenkens hatten bei Constanze eingesetzt. Überrascht? Nein, überrascht hatte sie sich nicht gezeigt.
»Weißt du, dein Papa war schon einmal kinderlos verheiratet gewesen, bevor er deine Mama traf. Ich denke, sie war ein Glücksfall für ihn – und die freudigen Umstände, in denen sie sich befand, ebenfalls.«
»Sie hätten längst mit mir reden müssen …« Glorias Verletzung war nur zu deutlich.
»Ja, das denke ich auch.« Constanze hatte das genauso gesehen. »Und Dr. Kröger hat es jetzt getan?«
»Nein, Mama hat einen Brief hinterlassen, der mir nach ihrem Tode auszuhändigen war.«
»Ich verstehe.«
»Mein leiblicher Vater ist demnach Carl-Philipp Fürst von und zu Thornbach und Seeland, ein Adliger aus dem Holsteinischen.«
»Ich bin beeindruckt!« Constanze hatte nur einen Moment lang gestaunt, bevor ihre gewohnte Nüchternheit wieder durchgekommen war.
»Lass mich raten! Seine Durchlaucht war verheiratet?«
»Ja, so war es wohl.«
»Nun, dann gilt es jetzt, die Karten offenzulegen!« Constanze von Bellwange war für klare Verhältnisse gewesen.
»Eben das möchte Mama nicht! Sie wollte mich nur über meine Herkunft in Kenntnis setzen, nicht aber auffordern, in bestehende Familienstrukturen einzugreifen.«
»Unsinn!«, hatte Constanze ausgerufen. »Vielleicht freut der Fürst sich ja, solch eine bildschöne Tochter zu haben.«
Die tatkräftige Mitarbeiterin hatte sich erhoben – und während sie bereits ihrem Schreibtisch zustrebte, hatte sie sich noch einmal den Namen des Adelsgeschlechts geben lassen.
»Thornbach«, wiederholte sie, gab ihn in ihren Computer ein – und hatte Erfolg. »Komm, sieh dir das an, meine Kleine! Das nennt man einen Volltreffer landen.«
Gemeinsam hatten sie dann das Bild einer Schlossanlage auf sich wirken lassen, welche sich nicht nur beeindruckend präsentierte, sondern gleichzeitig auch hell, freundlich und entgegenkommend wirkte.
Und als wäre das noch nicht Einladung genug, wurde von Seiten der Schlossverwaltung auch gleich zu einer Ausstellung eingeladen, die sich mit prähistorischer Kunst beschäftigte.
Und jetzt stand sie hier, draußen vor dem Tor, und fragte sich, was sie hier eigentlich wollte. Zwar wohnte hier angeblich ihr leiblicher Vater, aber was hieß das schon?
Als sie seitlich vom Tor das Plakat registrierte, welches auf die Ausstellung hinwies, da verließ sie ihren Wagen – und ging darauf zu.
»Prähistorische Kunst im Kontinentvergleich«, las sie – und darunter im Kleingedruckten die Dauer der Präsentation. Danach war diese gestern zu Ende gegangen.
Beinahe erleichtert dachte Gloria, dass sich damit das Vordringen in dieses Reich der Unantastbarkeit erledigt hatte. War dieses geschlossene Tor nicht ein Zeichen, die Vergangenheit ruhen zu lassen?
Nachdenklich stand sie da und blickte durch das filigrane Gitterwerk auf die makellose Schlossanlage. Und doch hätte sie ihn gern einmal gesehen, ihren leiblichen Vater.
Als die vornehme Stille durch das Geräusch eines Rasenmähers aufgehoben wurde, füllte sich die verträumte Schönheit der Anlage mit Normalität. Nach einer Weile sah sie ihn, den Rasentraktor – und wie er gleichförmig seine Bahn auf einer der beiden Grünflächen zog. Es war eine Art Aufsitzmäher. Der Mann, der darauf saß, schien ganz auf seine Arbeit fixiert.
Als er zum dritten Mal Glorias Blickrichtung kreuzte, hielt er das Fahrzeug jedoch an und kam mit langen Schritten auf sie zu. Auf eine junge Frau in weißen Jeans und farbiger Bluse.
Etwas Zielstrebiges, Energisches ging von ihm aus. Gloria war sich nicht sicher, ob sie eine höfliche Anrede zu erwarten hatte oder eine barsche Zurechtweisung, dass ungebetene Besucher hier nichts zu suchen hätten.
»Kann ich helfen?«, fragte er knapp, als er heran war.
Andeutungsweise lüftete er dabei seinen verwitterten Allwetterhut, der aussah, als hätte er schon wiederholt alle Klimazonen dieser Welt bereist. Aber auch seine khakifarbene Kleidung trug diesen Stempel erdverbundenen Wirkens.
Der Mann aber, der in dieser Kleidung steckte, kam schlank und voll drahtiger Energie daher. Ganz und gar unkonventionell wirkend, strahlte er eine gewisse Direktheit aus. Das schmale Gesicht im Schatten des breitkrempigen Huts war von harter Kantigkeit. Die größte Wirkung aber ging von seinen Augen aus. Ein heller, beobachtender Blick.
Gloria de Vries musste unwillkürlich an ungezügelte Präriereiter denken, welche körpergestählt mit ihren Pferden verwachsen zu sein schienen – dabei von verwegener Unerschrockenheit, die ledernen Gesichter geprägt von Hitze und Staub, von Anstrengung und Schweiß.
Aber wieso vermittelte ausgerechnet ein Gärtner auf dem zivilisierten Schloss Thornbach solch einen Eindruck?
Den Blick hell auf sie gerichtet, auf ihre makellose Gepflegtheit und städtische Schönheit, öffnete er jetzt das Tor, welches zwar geschlossen – aber nicht verschlossen gewesen war.
Und während er hindurchtrat, groß und verschwitzt, wandte sich Gloria halb dem Plakat zu und sagte:
»Ich sehe, die Ausstellung ist bereits zu Ende gegangen …«
Ein unsicheres Lächeln galt ihm, die Stimme seltsam matt und das schlechte Gewissen pochend wie ein Uhrwerk. Sah man ihr an, dass etwas ganz anderes sie herführte als die Ausstellung ›Prähistorischer Kunst im Kontinentvergleich‹?
Er nahm ihre Feststellung hin, das Bedauern, welches sie enthielt. Einen gewissen Zweifel drückte dann allerdings seine höfliche Nachfrage aus:
»Sie interessieren sich für vorgeschichtliche Forschungen?«, wünschte er zu wissen, dabei in unverfälschter Natürlichkeit den Hut lüftend und sich mit der großen Hand über die Stirn fahrend.
Gloria registrierte dunkelblondes Haar, eine hohe Stirn und erste Lebenslinien, welche von Anstrengungen sprachen.
»Ja«, sagte sie karg und befürchtete eine vertiefende Nachfrage, die aber nicht kam.
Nun ja, weshalb sollte ein Gärtner sie derart befragen? Aber kam doch noch das Interesse an ihrer fachlichen Qualifikation:
»Sie sind Archäologin?«, wollte er wissen, ihren unsicheren Blick festhaltend.
»Nein, Kunsthistorikerin.«
»In welchem Bereich arbeiten Sie?« Sein Interesse hielt an.
»Ich bin Kunsthändlerin in Hamburg.«
Er hob die Brauen. »Und in dem Zusammenhang interessieren Sie sich für die Urgeschichte menschlicher Existenz?«
»Entschuldigen Sie – aber was spricht dagegen?«
»Nun, ich denke, eine heutige Kunsthändlerin hat mit der Primitiv-Kultur aus den Anfängen der Menschheit gar nichts mehr zu tun.«
»Was heißen soll, ich darf mich auch nicht dafür interessieren?« Gloria schnappte nach Luft. »Hängen Sie die Wissenschaft nicht ein bisschen zu hoch? Schließlich haben wir alle auf diese urgeschichtlichen Anfänge aufgebaut.«
Er lachte. Ja, er lachte tatsächlich – und sein aufregend hageres Gesicht gewann überraschend an Charme.
Dann aber sagte er: »Sie sind nicht der Typ. Sie haben die Kultur heutiger Zeit schon zu sehr verinnerlicht, um die Anfänge vorgeschichtlicher Zeit noch genug bestaunen zu können.«
Gloria begann sich jetzt wirklich zu ärgern, bevor sie zurückschlug: »Sie, als Gärtner, müssen es ja wissen.« Damit wandte sie sich ab, um zu ihrem Wagen zurückzugehen. Hinter sich hörte sie ein amüsiertes Lachen.
»Kommen Sie«, lenkte er ein, »ich zeige Ihnen die Ausstellung – oder vielmehr das, was noch nicht für den Transport verpackt ist. Das Ziel der nächsten Präsentation ist Berlin.« Er stand da, die Hand einladend ausgestreckt und faszinierend in seiner ganzen eindrucksvollen Männlichkeit.
Und Gloria folgte ihm. Mit klopfendem Herzen betrat sie das Schlossgelände. Ließ sich über die Zufahrt führen, dabei immer das prachtvolle Gebäude vor Augen, dessen abgehobene Schönheit und unantastbare Erhabenheit.
Das Schloss ihres Vaters!
»Was ist der Fürst für ein Mensch?«, fragte sie aus ihren Empfindungen heraus – und erntete einen erstaunten Blick ihres Begleiters.
»Interessiert Sie nun die älteste Periode der Menschheitsgeschichte – oder aber deren heutiger Stand?« Ironie schwang in seiner Gegenfrage mit.
»Entschuldigen Sie meine Neugier, aber der Gedanke stellt sich ganz automatisch ein, wenn man solch ein Anwesen betritt.« Ihre Stimme klang unsicher, beklommen und seltsam unglücklich.
Er schien ihre Befangenheit herauszuhören, denn er raffte sich schließlich zu einem burschikos hingeworfenen: »Der Fürst ist okay« auf, bevor er am Ende des linken Seitenflügels eine Tür öffnete. Auf ihr klebte das gleiche Plakat wie draußen neben dem Tor.
Eine Reihe hoher, saalartiger Räume gliederte den Schlossflügel auf. Zwischen aufgestellten Vitrinen, Tischen und Stellwänden häufte sich überall Verpackungsmaterial. Ja, hier befand sich etwas in Auflösung. »Das Ziel der nächsten Präsentation ist Berlin«, hatte er gesagt.
Ihr Begleiter bewegte sich selbstbewusst in diesem Durcheinander. Er gab Anweisungen an die Packer, prüfte den Inhalt der Kisten und deren zeitliche Zusammenfassung.
Erklärend wandte er sich ihr zu: »Die Ausstellung setzt sich aus Leihgaben verschiedenster Museen zusammen, um ein möglichst aussagekräftiges Bild über die menschliche Vorgeschichte zu bekommen. Steinzeit, Bronze- und Eisenzeit zeigen die fortschreitenden Entwicklungsstufen von Homo erectus bis Homo sapiens, von ersten Steinwerkzeugen bis zur Höhlenmalerei.«
Gloria ließ sich von seiner Begeisterung anstecken, von der Bewunderung und Achtung, mit denen er diese urzeitlichen Belege menschlicher Existenz handhabte.
Und um auch das tiefste Gefühl für diese besonderen Funde in ihr auszulösen, gab er ihr eine der Tonschalen in die Hand. Ihre Hände berührten sich zart bei dieser Übergabe, und sie sahen einander sekundenlang an.
War dieser Mann wirklich ein Gärtner?
»War die Ausstellung gut besucht?«, fragte Gloria am Ende des Rundgangs. Beeindruckt von deren Vielfalt – und selten tief berührt.
Würde sie jemals wieder ein Kunstobjekt der heutigen Zeit so bestaunen können wie diese Schöpfungsakte der ersten Stunde?