Читать книгу Salzgras & Lavendel - Gabriele Behrend - Страница 4

2.

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Der Sturm treibt mich vor sich her, ich taumle durch die Dunkelheit. Ein Brausen umgibt mich, es tost, es rauscht. Der Atem wird mir von den Lippen gerissen. Ich schnappe nach Luft, laufe, renne. Reiße die Augen auf, doch es bringt nichts. Um mich herum ist alles tintenschwarz. Irgendwann verliere ich die Schuhe, erst den linken, ein paar Stolperer später den rechten. Festgebackener Sand scheuert an den nackten Sohlen. Ich bleibe stehen, stemme mich gegen den Wind. Schmerz schießt mir ins rechte Knie und ich schreie ihn in den Sturm hinaus.

Als beides vergangen ist, Schmerz und Schrei, weggefegt von einer Böe, verändert sich die Geräuschkulisse. Der Sturm nimmt ab, dafür höre ich jetzt Wellen, die donnernd an den Strand schlagen. Salz legt sich auf die trockenen Lippen, verkrustet dort. Alles wird klamm und kalt, ich zittere. Meeresschaum und Sand fegen über den Boden und brechen sich nass und körnig an meinen Knöcheln.

Dieses Aufatmen währt nicht allzu lange, schon gewinnt der Wind wieder an Stärke und schiebt mich über den Strand. Der Sand wird feuchter, die Brandung klingt näher. Wenn ich mich nicht endlich aufbäume, werde ich ins Meer gejagt. Werde zum Spielball der Wellen, die mich über den nassen rauen Sand schleifen, solange bis nichts mehr von mir übrig bleibt. Zerrieben, zerstört, vernichtet.

Inmitten des Tohuwabohus erklingt ein Lachen. Ein hämisches, keckerndes Lachen.

Ich erkenne es wieder und frage mich für einen Moment, auf welchem Weg es an diesen verfluchten Ort gefunden hat.

Sollte es nicht in mir eingesperrt sein?

Der Wind flaut ab. Die Wellen ziehen sich zurück. Die Dunkelheit reißt auf und gibt den Blick auf einen einsamen Strand frei. Das Lachen springt über Muschelschalen und angelandetes Treibgut. Es flieht einen schmalen Pfad hinauf, der sich über Felsen windet und bis zum Scheitelpunkt der Steilklippen hinaufführt. Dort verliere ich es aus den Ohren.

Ein Hauch von Lavendel weht mir um die Nase und ich weiß, dass ich den gleichen Weg werde nehmen müssen. Wer weiß schon, was mich hinter den Klippen erwartet …


Als Douglas am Morgen in die Bahn steigt, ist er unruhig. Noch immer spürt er den Sand an den Knöcheln, ein Mitbringsel des verwirrenden Traumes der letzten Nacht. Das Lachen beunruhigt ihn. Es hat sich fortgestohlen, ist verschwunden. Er weiß nicht, was er davon halten soll, ob er sich befreit fühlen darf oder ob er besorgt sein soll. Was wird es ohne ihn anstellen. Wird er Dinge tun, an die er sich nicht erinnern kann? Hat er die Kontrolle verloren?

Abwesend starrt er aus dem Fenster. Die Bahn taucht in die Tiefe ab, rast an den inzwischen verwaisten Stationen vorbei, mit denen das Getto einst an die Strecke angeschlossen war. Die Namen sind ausradiert worden, jetzt sind es nur noch römische Ziffern, die die Abfolge kennzeichnen. Bei VI schreckt Douglas auf. Sie befinden sich unter dem Herzen des Gettos. Seine Eltern haben hier gelebt, genau hier. Mommy? Douglas beißt die Zähne zusammen. Er will sich nicht an sie erinnern. Das hat noch nie gutgetan.

Schon will er die Augen verschließen vor den ungewollten Bildern, als ihm jäh bewusst wird, dass dies zwar ein probates Mittel ist, um der Außenwelt zu entfliehen, den Erinnerungen aber Tür und Tor öffnet. Also zieht er die Augenbrauen hoch, damit die Lider nur ja nicht zueinanderfinden und ihn in der Dunkelheit mit sich selbst allein lassen. Übelkeit überfällt ihn. Die Regung, einfach auszusteigen, um die nächste Bahn zurück zu nehmen, wird schier übermächtig.

Aber die Bahn rast weiter durch die Dunkelheit, vorbei an den vernagelten Stationen. Ein simples Umsteigen ist hier schon lange nicht mehr möglich. Er wird diesen Druck aushalten müssen, bis zum bitteren Ende. Seine Hand verkrampft sich um den Haltegriff, er schaukelt mit der Bahn, die sich in die Kurve legt. Irgendjemand hat weiter vorne das Fenster aufgemacht, Fahrtwind springt ins Abteil, zieht mit kalten Geisterfingern über Dougs Gesicht. Er wird diese Berührung den ganzen Tag spüren.


Kaynee liebt ihr Bett, an freien Tagen sogar mehr als üblich, denn niemand zwingt sie aus den Federn. Das ist ihr ganz persönlicher Luxus in den Zeiten, in denen sie keinen Besucher zu betreuen hat. Heute ist Freitag – und es fühlt sich an wie Sonntag. Kaynee blinzelt aus den Federn in die helle Sonne und lächelt.

Nach Santanas Abschied gestern hat ihr die Professorin noch keinen neuen Menschen an die Seite gestellt. Professorin Paulson ist es wichtig, dass man die Seelen, die sich hier einfinden, niemals als Nummer oder als Fall sieht. Sie betont immer, dass es sich hier um Menschen handelt – Menschen mit Wünschen, Sorgen, Nöten.

Für Kaynee war das eine Umgewöhnung gewesen. Bevor sie nach Zenith gekommen war, hatte sie für ein kleineres städtisches CADIAS gearbeitet, in dem sie kaum eine Minute für sich gefunden hatte. Dort musste sie bisweilen drei Fälle gleichzeitig betreuen. Irgendwann hatte Karen gestreikt und Kora die Kündigung schreiben lassen. Als Kaynee sich unverhofft auf der Straße wiedergefunden hatte, war ihr dann die Anzeige von Zenith in die Hände gefallen. Was hatte sie schon zu verlieren gehabt? Nichts. Also war sie mit ihrem Koffer hierhergekommen, bereit, alles auf eine Karte zu setzen.

Kaynee schiebt den Arm unter das Kissen, dreht sich auf die Seite und schließt die Augen. Ihre Gedanken kehren wieder in die Vergangenheit zurück.

Als sie damals dem Taxi entstiegen war, das sie von der Bahn hierher ins Nirgendwo gebracht hatte, stolperte sie förmlich über einen Bär von Mann, der sich in blanker Wut gegen die gläserne Eingangstür warf. Kaynee konnte es sich selbst jetzt, drei Jahre später nicht erklären, warum ihre Meute so gehandelt hatte, aber letztlich hatte Katy, die jüngste unter ihnen, den Hünen an der Hand genommen und war mit ihm losgegangen. Sie umkreisten einmal den gesamten Komplex und Max, der Bär, redete, schwieg. Redete wieder. Katy hörte zu oder machte Witze. Max entspannte sich zusehends in ihrer Gegenwart. Sie funktionierten gut miteinander, und als sie wieder am Haupteingang eintrafen, wartete Professorin Paulson bereits auf das ungleiche Paar. Sie nickte Kaynee kurz zu, deutete an, dass sie doch bitte im Entree warten solle und verschwand an Max’ Seite in den Tiefen von Zenith.

Kaynee lächelt, als sie sich an Max erinnert. Das erste Patenkind in einem neuen Zentrum vergisst man nie, heißt es, und da ist was Wahres dran.

Da geht ein Zucken durch Kaynees Geist, es ist, als ob sich da jemand anderes in den Vordergrund schieben will.

»Er war ein toller Kerl«, raunt es in ihrem Kopf. »So stark und so willig.« Ein dunkles Lachen folgt.

»Oh nein«, murmelt Kaynee. »Halt dich zurück. Mach mir nicht den Morgen kaputt.«

Ein missbilligendes Schnalzen klingt in ihr wider.

Kaynee beschließt, es zu ignorieren. Schon seit einiger Zeit muss sie immer wieder zu diesem Trick greifen. Es ist, als ob Nachbilder ihrer verschiedenen Anteile durch ihren Geist ziehen oder, was schlimmer wäre, ein Eigenleben entwickeln.

Sie streckt sich ausgiebig. Ein paar Tage Freizeit würden ihr und der Meute sicherlich guttun, einfach mal unbeschwert vor sich hinleben und sich dabei nur um sich selbst kümmern. Das wär’s!

Kaynee schüttelt ihre Haare zurück. Die Sonne steht inzwischen kurz vor dem Zenit und ein lauer Wind lässt die Markise leise knattern. Es ist ein heißer Tag, ein trockener Tag, so wie der Tag zuvor und so wie wohl auch der nächste Tag sich zu werden anschickt. Tage, die das Leben ausdorren.

Kaynee wirft sich wieder ins Kissen zurück, dreht sich auf den Bauch und greift sich hinter das Ohr. »Kora«, denkt sie kurz, dann switcht ihr Bewusstsein bereits in das der allgegenwärtigen Organisatorin.

Die besieht sich die Werte, die durch die ständige Übermittlung an die Basisstation auf dem Nachttisch weitergeleitet werden. Nach der Beendigung der Analyse kommt Kora zu einem Schluss: Alles in allem ist ihre Entität eine gesunde junge Frau, die nur an einem, allerdings verzeihlichen Übel leidet. Faulheit. In milder Form, aber präsent genug, um einen Motivationsschub zu vertragen. Kurzum, Kora holt Luft, um Kaynee so richtig den Marsch zu blasen, doch da schaltet sich Karen ein und verordnet eine Runde Yoga für den allgemeinen Frieden.

Während Kaynee nun doch die Beine aus dem Bett schwingt und sich sogar auf den Morgengruß freut, hört sie mit einem Mal ein wildes Gezischel.

»Warum macht sie das denn jetzt?«

»Sie will’s doch gar nicht. Sie will viel lieber an ihrem freien Tag rumgammeln und wieso auch nicht?«

»Ist doch eh viel zu heiß für Sport!«

Kaynee fährt erschrocken herum. »Was?«, ruft sie in den leeren Raum hinein.

Alles ist still. Nach einem Moment des Zögerns, der angestrengten Wachsamkeit, entspannt sie sich wieder und geht zu ihrem Kleiderschrank hinüber. Sie will sich gerade die weit geschnittene Yogahose und das passende Top aus dem oberen Fach nehmen, da wird ihr schwarz vor Augen. Sie schwankt leicht, greift sich mit der einen Hand an die Stirn, mit der anderen stützt sie sich am Schrank ab, die Hose fällt dabei zu Boden. Sie schließt die Augen und zählt bis drei.

Als sie die Augen wieder öffnet, findet sie sich auf dem Balkon wieder, der zu ihrem kleinen Apartment gehört. Sie trägt ein durchsichtiges Babydoll, keinen Slip und liegt wie hingegossen auf dem Liegestuhl. Halb im Schatten, sommerlich träge, wie eine Katze, die sich in der Sonne rekelt.

»Scheiße«, entfährt es ihr leise. Wie viel Zeit ist ihr verloren gegangen? Und wer hat Kandy überhaupt auf den Plan gerufen?

»Kora!«, denkt Kaynee, »Kora, bitte übernimm. Schaff Ordnung!«

»Nein, Süße!« Eine dunkle Frauenstimme erklingt in Kaynees Kopf. »So schnell lasse ich mich nicht wieder einsperren.« Und anstatt wieder ins Zimmer zurückzukehren, rekelt sich Kandy, die nun vollends die Kontrolle über die Entität an sich genommen hat, tiefer in das Polster des Liegestuhls.


Als Douglas sich abends wieder in die Menge der Heimkehrer einpasst und sich die Treppen zum Gleis hinunterschieben lässt, wischt er sich über das Gesicht, als ob ihn dies wieder zur Besinnung bringen könnte. Tut es nicht. Hat es den ganzen Tag über nicht getan. Die Menschen um ihn herum sind heiterer als während des Restes der Woche. Das freie Wochenende verleitet zu gepflegtem Übermut und angepasster Vorfreude im Rahmen der sozial verträglichen Normen.

Douglas sieht sich um. Was den anderen so viel Spaß verspricht, macht ihn unsicher. Als er sich einen Sitzplatz gesucht hat, fängt er an, einen Achtundvierzigstundenplan zu entwerfen. Den Abend wird er so herumbekommen wie an jedem anderen Wochentag auch, da macht er keinen besonderen Unterschied. Er wird sich also vor seine Videowall setzen, ein Bier aufmachen und bis zur Besinnungslosigkeit Reiseberichte auf dem Traveller Guide oder Dokumentationen auf dem Science Channel sehen. Oder natürlich zocken. Alles andere ist ihm zu lästig, zu laut, zu aufdringlich. Am Samstag wird er früh aufstehen. Und dann? Douglas überlegt.

Letzte Woche ist er im städtischen Freibad seines Quadranten abgetaucht. Diese Woche könnte er eine Radtour zum Grüngürtel machen. Wobei der Teil des Grüngürtels, den er von seiner Wohnung aus am schnellsten erreichen kann, seinem Namen zurzeit wenig Ehre macht. Da wellt sich nichts Grünes bis zum Horizont, da ist alles graubraun verdorrt. Der Boden ist nach intensiver Bewirtschaftung ausgelaugt und wird neu aufbereitet. Die saftigen Weidegründe wandern währenddessen gegen den Uhrzeigersinn um City, Getto und Suburbia herum.

Im Augenblick befinden sie sich im zweiten Quadranten, im tiefen Südwesten. Er lebt im Nordwesten. Wenn er also wirklich Grün sehen will, dann hat er einen langen Weg vor sich. Oder er macht es sich einfach, schnappt sein Fahrrad, steigt wieder in die U-Bahn Richtung Süden und kürzt die Strecke auf diese Weise ab. Aber wer nimmt sein Rad schon mit in die Bahn? Das fällt doch nur unnötig auf.

Douglas beschließt, hart zu sich zu sein. Das ist leichter, als sich den leeren Stationen und seinem leeren Leben zu stellen. Also nimmt er sich vor, während er auf seinem genormten Hartplastiksitz über die Schwellen und Weichen der U-Bahn hinwegrattert, am Samstagmorgen in den Westen zu fahren und von dort aus am Rand von Suburbia südwärts zu radeln, solange bis ihm die Puste ausgeht. Irgendwann wird er danach wieder zu Hause ankommen, halb tot zwischen die Laken kriechen und traumlos bis in den Sonntagvormittag hineinschlafen. Nach einer langen Dusche wird er sich an den Rechner setzen und die Arbeit der letzten Woche überprüfen, während die Wäsche in der Trommel rotiert. Vielleicht wird er hinterher noch einen Spaziergang durch sein Viertel machen. Vielleicht aber auch nur putzen.

Douglas kraust die Stirn. Es sind ihm eindeutig zu viele »Vielleicht« in seinem Plan, aber der Tag war lang, er mag sich nicht mehr konzentrieren, er sehnt sich auf die Couch.

Als er eineinhalb Stunden später dort liegt, ist er für einen langen Augenblick glücklich. Vier Flaschen Stout tragen dazu bei. Auf dem Bildschirm laufen Musikvideos ohne Ton. Douglas nickt dazu in dem Rhythmus, den ihm sein Pulsschlag vorgibt. Jetzt muss er es nur noch in sein Bett schaffen und einschlafen, bevor das allgegenwärtige Grübeln einsetzt.

Bedächtig schwingt er die Beine über die Sofakante und setzt die bloßen Füße nebeneinander auf den kühlen Fließestrich. Nach drei Atemzügen erhebt er sich mit einem Ruck. Ein kurzer Schwindel erfasst ihn. Dann schleppt er sich ohne Umweg über das Badezimmer zu seinem Bett und fällt mit dem Gesicht voran in die Kissen. Schon glaubt er, gewonnen zu haben, da blitzt ein Bild vor seinem inneren Auge auf.

Mommy!


Douglas ist wieder Kind, ist wieder zweieinhalb Jahre alt. Er ist in den Kleiderschrank gekrabbelt, den Mommy aufgelassen hat. Poppa ist nicht da, das kennt Douglas bereits. Poppa kommt erst spät nach Hause, wenn Douglas schon im Schlafanzug in seinem Bettchen steht. Douglas wartet auf Poppa, kann erst dann schlafen, wenn der Vater nach ihm gesehen hat. Mommy ist deswegen wütend, immer wieder wird es laut hinter der Tür, die Poppa nach dem Gutenachtkuss hastig hinter sich schließt.

Wenn Mommy alleine ist, dann ist sie ganz anders. Sie nennt Douglas ihren kleinen Prinzen. Er weiß nicht, was das bedeutet, aber sie klingt warm und weich, wenn sie das sagt, also muss es etwas Gutes sein. Douglas ist vergnügt, als er in den Schrank krabbelt. Es ist dunkel hier und alles riecht nach Mommy. Er greift mit beiden Händen in die Kleider, sodass die Bügel aneinander klicken. Seine Finger sind vom synthetischen Honig verklebt. Das erste Kleid rutscht vom Bügel, dann das zweite. Douglas verschwindet unter einem Haufen Tüll und Chiffon. Es wird stickig. Douglas beginnt zu greinen.

»Was in Teufels Namen?« Mommy ist plötzlich da. Sie brüllt, das Gesicht ist wutverzerrt. »Satansbraten! Wie oft habe ich dir gesagt, dass du hier drinnen nichts zu suchen hast?« Sie holt Luft. Der rechte Mundwinkel krampft spastisch. Sie fällt in sich zusammen.

»Das sind meine Sachen. Alles, alles meine Sachen.« Mommy brüllt nicht mehr, Mommy quengelt. Mit einem Ruck zerrt sie ihm den Chiffonalbtraum vom Kopf. Douglas sieht, wie sich ihre schlanke Silhouette gegen das helle Rechteck der geöffneten Schranktüren abhebt. Mit dem Licht kehren auch die Farben zurück. Mommy fällt auf die Knie und birgt das Gesicht in dem hellblauen Stoff.

Sie holt tief Luft, hebt wieder den Kopf und lächelt auf das Kleid hinunter. Da krampft es erneut in ihrem Gesicht. Der rechte Mundwinkel verzerrt sich.

Mommy dreht und wendet das Kleid in den Händen. »Wann habe ich das gekauft? Wo habe ich es gekauft? Und warum?« Auf ihrem Gesicht spiegelt sich Erstaunen wider. Verwunderung. Schließlich Ekel. »Das trägt doch nur eine Nutte. Eine billige Nutte, die sich als reiche Frau tarnt. Aber letztlich geht es immer nur um das eine. Beine breitmachen.«

Douglas ist längst vergessen. Mommy steht auf, zerrt den Stoff hinter sich her ins Badezimmer und stopft ihn in die Badewanne. Aus dem Waschbeckenunterschrank greift sie sich das Waschbenzin, kippt es über die Chiffonfederwolke. Douglas ist ihr gefolgt. Mit großen Augen steht er im Türrahmen und sieht, wie sie ein Zündholz anreißt und in die Wanne fallen lässt. Die Flammen schlagen hoch. Es riecht nach geschmolzenem Plastik. Mit einem Ausdruck katzenhafter Zufriedenheit steht Mommy daneben.

Da. Der Mundwinkel zuckt spastisch.

»Nein, nein, nein!« Wieder das kleinkindhafte Greinen. »Meine Sachen, meine wunderschönen Sachen!« Mommy wirft sich auf die Knie. Versucht, die Flammen mit der bloßen Hand auszuschlagen.

Da hält sie für einen Moment inne. Holt Luft. Spastischer Krampf. Mundwinkel außer Kontrolle.

»Verdammt noch mal. Wer hat diese Sauerei angestellt?« Mommy ist wieder auf die Füße gesprungen und dreht den Wasserhahn auf. Die Flammen ersaufen unter dem sprudelnden Strahl. Sie lässt sich schwer atmend auf den Toilettendeckel sinken. Birgt das Gesicht in den Händen. Wischt sich über die Augen. »Scheiße«, murmelt sie. »Was ist nur passiert?«

Douglas verliert den Halt und plumpst auf den Hosenboden. Schon will er losgreinen, doch er verschluckt sich an der ersten ungeheulten Träne.

Mommy sieht unwirsch zu ihm hinüber, als wüsste sie nicht, was sie nun auch noch mit ihm anstellen soll. Hat sie nicht genug Sorgen? Sie holt tief Luft, muss sich sortieren. Da zuckt es erneut um ihren Mundwinkel. Sie springt von ihrem Sitz auf, den Blick auf Douglas geheftet, warm jetzt und liebevoll.

Sie klaubt ihn vom Boden auf und wiegt ihn in ihren Armen. »Shhh, mein Prinzchen. Alles ist gut. Alles ist gut.«

Douglas windet sich in ihrem Griff. Er hat Angst vor ihr.


Douglas presst sich die geballten Fäuste auf die Augen. Der Gegendruck vertreibt normalerweise diese Nachbilder. So auch heute. Aber das Gefühl der Unsicherheit bleibt. Douglas ist, als ob der Boden schwanken würde, als ob er weich und nachgiebig wäre. Das Stout, verordnet er sich selber eine Erklärung. Das war eine Flasche zu viel, definitiv.

Er dreht sich auf den Rücken. Schon kehrt die Übelkeit zurück. Wellenförmig drängt es ihm die Kehle hinauf. Er schluckt ein paar Mal trocken und säuerlich, fragt sich derweil, ob er den Weg zur Nasszelle schaffen würde, und entscheidet sich dagegen. Also aushalten. Immer aushalten. Er wird nicht kotzen, wenn er es nicht zulässt.

Er schwingt ein Bein aus dem Bett und presst die Fußsohle auf den Boden. Und tatsächlich, die Welt beruhigt sich um ihn herum, das Bett kreist immer langsamer. Nach ein paar Minuten zieht er sein Bein wieder ins Bett, dreht sich herum und schläft ein, ohne vorher vom Sozial-Ich in den privaten Modus zu wechseln.


Während Douglas schon eingeschlafen ist, gebeutelt von Bildern seiner Vergangenheit, steht Kandy nach einem Nachmittag der Muße und der lustvollen Zweisamkeit mit sich selbst vor dem Spiegel und ist sich weder Vergangenheit noch Zukunft bewusst, sondern sprüht und funkelt im Hier und Jetzt. Im Hintergrund war die demokratische Entscheidung getroffen worden, Kandy im Spiel zu behalten – schließlich war Freitagabend und wer konnte so einen Abend am besten gebrauchen, um auf ihre Kosten zu kommen?

Aber anstatt dankbar zu sein oder sich wenigstens darüber zu freuen, zickt der Sexualanteil von Kaynee unmotiviert herum. »Wurde ja auch mal wieder Zeit, ihr Sittenwächter. Moralapostel. Neidische Hühner.«

Kandy steht nackt im Raum, die Haare stecken noch in einem Turban. Sie greift zur Körperbutter und fängt an, die noch feuchte Haut einzucremen. Sie genießt es sichtlich.

»Wisst ihr«, sagt sie ins Blaue hinein, »Ich glaube, die anderen mögen mich nicht. Ich bin ihnen zu wild. Zu fordernd. Mir geht es um meine Bedürfnisse, klar.« Sie massiert die Creme sanft in ihre Haut, fährt dabei von ihrem Bauchnabel langsam höher, umkreist ihre Brüste und lässt die Hände dort schließlich ruhen. »Aber ich will doch nur spielen!«

Während Kandy die Augen schließt, lächelt sie leicht, denn in ihr erklingt zustimmendes Gezischel. Kandy verbringt viel Zeit mit Ken, sitzt vor der Tür im Keller. Dieser Tür, die Kora stets einen leichten Schauer über den Rücken sendet.

Kandy ist da anders. Sie sucht die Nähe zur Cloud, zu ihren Dämonen, denn sie sieht sie als Geschwister. Zudem – wenn sie sonst von niemandem Anerkennung bekommt, weil sie die meiste Zeit zugunsten der kleinen, harmlosen Katy verdrängt wird – an wen sollte sie sich sonst halten? Also sieht sie die Cloud als ihren höchst eigenen Hofstaat an und gibt demnach nicht Alarm, wenn der es hinter seiner Tür mal wieder bunt treibt. Sie vergisst ganz einfach, eine Notiz davon ins Übergabeprotokoll zu schreiben. So wie man manche Sachen einfach mal vergisst. Ganz bewusst.

Eine Dreiviertelstunde später verlässt Kandy das Zentrum, setzt sich ins Taxi und lässt sich in die Stadt bringen. Sie ist aufgerüscht im hautfarbenen, kurzen Chiffon, mit roségoldener Clutch und ebensolchen High Heels ausgestattet, die Haare sind groß gelockt und schimmern im Kunstlicht der Nacht. Kaynee ist zu einer Motte geworden und sie sucht die City Lights, denn alles in ihr will sich heute Nacht gehörig die Flügel verbrennen, damit sie sich selber wieder spürt. Einmal lebendig sein. Verdammt, wofür gibt es Kandy denn?


Am nächsten Morgen wacht Douglas um halb acht auf. Irgendjemand hat eine mittlere Metallstange auf seinem Kopf krumm gehauen, aber er kennt das Gefühl und weiß, dass es nach der richtigen chemischen Behandlung weichen wird. Dafür muss er aufstehen. Das sollte auch kein Problem sein, schließlich hat er gestern beschlossen, was er heute machen will. Den Ausflug in den Grüngürtel.

Douglas verzieht das Gesicht. Er will sich nicht auf das Rad schwingen. Er will stattdessen die Decke über das Gesicht ziehen und weiterschlafen.

Aber als er so da liegt, wandert sein Blick über die Decke. Da hängt eine schmucklose Lampe von der Decke, um deren unteres Ende ein Fliegenpärchen summt. Douglas sieht näher hin. Überall kleine braune Punkte. Fliegenkacke. Es kichert schrill in ihm. Das Lachen ist wieder da, voll Häme und mit voller Wucht fällt es über ihn her. Es lacht so sehr, dass es sich den Bauch halten würde, hätte es eine menschliche Gestalt. Douglas’ Kopf will explodieren. Doch das geht nicht, das Hirn will nicht aus dem Schädel suppen und so steigt der Druck im Kopf und steigt und steigt. Bis Douglas schreit. Da verstummt das Lachen.

Douglas hält inne. Horcht in sich hinein, horcht dann auf die Wände um ihn herum. Kommt da ein Klopfen von oben oder ein Poltern an der Wand? Es ist alles still. Douglas atmet aus. Langsam, vorsichtig. Da tönt es wieder in ihm los. Fliegenkacke, Fliegenkacke, alles voller Fliegenkacke! Es reicht.

Douglas schlägt die Decke zurück, entwirrt seine Füße und springt aus dem Bett. Drei Schritte weiter steht er in der Nasszelle, greift sich die Tablettendose auf dem Regal unter dem Spiegel und schüttelt sich eine Handvoll Pillen in die Hand. Fliegenkacke, Fliegenkacke, alles voll mit Fliegenkacke! Douglas legt den Kopf in den Nacken und zerbeißt die Kapseln. Erst als er den bitteren Brei auf der Zunge spürt, wie der aufquillt und die ganze Mundhöhle ausfüllt, kippt er ein Glas Wasser hinterher. Danach steckt er den Kopf unter den Wasserhahn. Das Rauschen übertönt das Lachen, das immer leiser wird, sowie die Chemie ihre Wirkung entfaltet.


Eine Viertelstunde später steht Douglas auf der Straße, das Fahrrad an seiner Seite. Er sieht sich um. Linksherum, rechtsherum. Dann steigt er auf. Er hat einen Plan zu befolgen. Der Grüngürtel wartet auf ihn. Tatsächlich?, wispert es da in ihm. Warum soll er gerade auf dich warten? Douglas schiebt den Gedanken beiseite und macht sich auf den Weg. Der führt ihn gen Westen. Bald schon hat er sein Viertel verlassen und radelt in die äußeren Ringe Suburbias.

Je länger er durch diese Gegend radelt, alles sauber, aufgeräumt und weitläufig, desto mehr hat er das ungute Gefühl, nicht hierher zu gehören. Das Gefühl der Fremde kriecht ihm die Arme hinauf, schiebt sich unter das leichte T-Shirt, das er trägt und von dort aus den Rücken hinunter. Er radelt schneller.

Kurz bevor er auf die Ausfallstraße zum Grüngürtel fährt, blickt er nach rechts. Neben ihm ragt ein mittelgroßes Haus in den blauen Himmel. An der Seite befindet sich ein kleiner Spielplatz mit Klettergerüst, Sandkiste und Schaukel. Douglas schließt die Augen. Er kennt das Gebäude. Er ist dort aufgewachsen. Damals, nachdem Mommy und Poppa – er steigt in die Eisen, dass die Bremse kreischt.

Er dreht sich noch einmal um. Ja. Das staatliche Sozialisationsheim, wie es in der Amtssprache heißt. Die Kinderverwahranstalt, wie es der Volksmund betitelt.

Douglas sitzt wieder auf und tritt in die Pedale. Während die Räder singend den Asphalt fressen, voran, voran, immer voran, wendet sich sein Geist rückwärts.


»Hallo, Douglas. Ich bin Mistress Keen. Keine Angst. Du wirst dich bei uns bestimmt ganz schnell einleben.« Mistress Keen lächelt ihn mit strahlend weißen Zähnen an. »Das hier ist Melody. Sie wird deine Patin sein und dir alles zeigen, was du wissen musst. Nicht wahr, Mel? Das machst du doch gerne.« Wieder zeigt Mistress Keen alle ihre Zähne. Danach erhebt sie sich und streckt den Rücken durch. »Dann geht mal, ihr beiden. Halte Augen und Herz offen, Douglas. Das hier ist ab heute dein Zuhause.«

Damit wendet sie sich an den Mann, der Douglas hierher gebracht hat, und überlässt Douglas der Obhut eines zwölfjährigen Mädchens mit blonden Haaren, das bislang noch kein einziges Wort gesprochen hat. Es vollführt einen Knicks, obwohl Mistress Keen mit dem Rücken zu ihm steht. Dann dreht es sich zu Douglas herum und weist mit dem Kinn leicht in Richtung Tür. »Lass uns gehen.«

Douglas dreht sich noch einmal zu Mistress Keen herum, die sich leise mit dem Mann unterhält. »Wilde, tatsächlich?« Sie klingt schockiert.

Der Mann räuspert sich. »Die Mutter war eine echte Multiple, ohne Kontrollmechanismus, er ein kleiner Vertreter, hat sich jeden Morgen an den Passierstellen zur City eingefunden. Kleine Jobs, kleines Geld, kein Raum für große Sprünge oder ein komplettes Persönlichkeitsset, aber er hatte immerhin die Basisversion. Nachbarn haben die beiden gestern Abend am offenen Fenster streiten hören. Er wollte sie und den Kleinen wohl endlich in ein billiges CADIAS schaffen, aber sie hat sich mit Händen und Füßen dagegen gesträubt. Das haben Beobachter vom Block gegenüber berichtet.«

»Und dann?«

Der Mann seufzt. »Sie sind bei dem Handgemenge aus dem Fenster gestürzt. Wer wen gezogen oder gestoßen hat, darüber gibt es unterschiedliche Aussagen. Diese Frage bleibt wohl für immer offen.«

»Und der Kleine war nie im postnatalen CADIAS? Warum müssen immer die Kinder unter diesen verwirrten Menschen leiden?« Mistress Keen streicht sich hinter das Ohr und sieht jetzt sehr streng aus. »Das werden wir also so schnell wie möglich nachholen müssen. Aber mehr als die Basisversion wird nicht drinnen sein, Sie wissen ja, die Kosten!«

Der Mann nickt knapp. »Hauptsache, es kümmert sich jemand um ihn.«

Douglas versteht nicht alles, was die beiden bereden. Aber das Herz schlägt ihm bis zum Hals und er fühlt sich verloren.

»Kommst du jetzt?« Melody lächelt ihn zuckersüß an, dreht sich um und geht los.

Douglas zuckt mit den Schultern, folgt ihr schweigend. Er weiß nicht, was er sonst machen soll. Er weiß nur, dass Poppa und Mommy nicht mehr wiederkommen. Das hatte ihm der fremde Mann gesagt, der ihn aus der Wohnung getragen hat, als sei Douglas nicht viel mehr als eine Lumpenpuppe. Sie seien tot. Ob Douglas das verstehen würde? Und dass es niemanden geben würde, der sich um ihn kümmern wollte. Deswegen würde er jetzt zu einer netten Tante gebracht, die ganz viele andere Kinder hat, denen es ebenso ginge wie Douglas selbst.

Douglas hat keine Zeit für Tränen. Er weiß nicht, was der Mann ihm da alles zu erklären versucht. Er versteht nur das eine: Mommy und Poppa sind nicht mehr da. Und nun geistert nur ein Wort durch Douglas’ gequälte Seele. »Wilde!« Zurück bleibt ein tiefes schwarzes Loch voll Angst.

Draußen vor der Tür bleibt Melody stehen. Sie greift sich an den Hinterkopf, genau hinter das rechte Ohr. Für einen Augenblick erstarrt sie, dann zuckt der Kopf wild hin und her. Einen Moment später dreht sie sich zu Douglas um, sie wirkt größer, bulliger. Der Blick ist scheel. »He, Kleiner. Dass du mich ja nicht verrätst, klar?«

Douglas sieht sie mit großen Augen an. Was hat die da gemacht? Und was sollte er schon verraten? Und wem?

Melody nestelt eine Packung Kaugummis aus ihrer Hosentasche, schiebt sich einen Streifen in den Mund und beginnt heftig zu kauen. Sie schmatzt dabei und wirkt so ganz anders, als eben noch in dem Büro von Mistress Keen. Sie mustert Douglas abschätzig. »‘n kleiner Wurm biste, nichts weiter. Pass mal ja auf, dass ich dich nicht zerdrücke. Und hey, das ist keine Warnung. Das ist ein Versprechen. Tu, was ich dir sage, dann geht’s dir gut. Aber wehe, wenn nicht.« Mel hebt die linke Augenbraue und schwenkt die rechte geballte Faust unter Dougs Nase. »Wenn diese Knospe aufgeht, gehst du unter. Verstanden?«

Douglas nickt und verschluckt seine Furcht. Ihm schwant, dass dieses Mädchen ihn nicht trösten wird. Mommy. Poppa, Wilde, Ungeheuer, Monster …


Douglas schüttelt den Kopf. Die alten Bilder sollen endlich aus seinem Kopf verschwinden, aber die Eintönigkeit des Summsumm der Reifen auf dem Asphalt ist wie ein zäher Klebstoff, an dem die Erinnerungen haften bleiben.

Douglas ist auf dem Damm unterwegs, der Suburbia umgibt. Innerhalb des Dammes – oder des Grenzwalles, wie Douglas ihn auch nennt – liegt das gelobte Land. Terra cognita. Alles ist bekannt, selbst die letzte dunkle Gasse im Getto. Es ist nicht alles schön, aber erforscht. Das gibt Douglas die Sicherheit, die er braucht. Außerhalb herrscht Wildnis. Da sind zwar die bewirtschafteten Felder, aber die sind letztlich nur ein Versuch der Menschen, der Natur habhaft zu werden, sie zu normieren und der Effizienz zu unterwerfen.

Douglas bremst sanft ab und lässt das Rad ausrollen. Warum nur scheut er sich so vor der Weite? Und warum zieht es ihn trotz dieser Furcht immer wieder auf den Damm? Er steigt ab, stellt das Rad ordentlich ab und bleibt am Rande des Weges stehen, die Arme in die Seiten gestemmt, den Blick auf die Ebene gerichtet, die ihm hier im Westen noch graubraun trostlos zu Füßen liegt. Er holt tief Luft. Schließt die Augen und denkt an den Traum der letzten Nacht zurück, an die Steilküste und das salzige, salzige Meer. Er sieht den kleinen Weg, der sich bis zum Kamm der Steilküste emporwindet, den Weg, auf dem das Lachen stiften gegangen ist. Vielleicht sollte er ihm folgen?

Douglas bläht seine Nasenflügel. Tief atmet er die schale Luft mit dem leichten Geruch nach Kunstdünger ein und stellt sich vor, das sei der Duft angelandeten Seegrases. Dann greift er sich ein Herz und beginnt in seiner Vorstellung den Aufstieg.

Der Weg ist anstrengend. Loses Geröll verrutscht unter seinen Schuhsohlen und klickert klackernd den Pfad hinunter. Kurz bevor er das Plateau erreicht, wird der Weg so steil, dass er sich mit seinen Händen abstützen muss. Auf allen vieren kriecht er den Hang hinauf, bis er sich endlich über die Kante schiebt und ins graue Salzgras rollt. Mit pumpendem Herzen bleibt er liegen und stiert in den von Wolken verhangenen Himmel. Mit einem Ohr lauscht er in die Ferne, ob er das Lachen hören kann, dieses impertinente Lachen. Aber er hört nichts als den Wind um sich herum, das Rauschen der Wellen unten am Strand und das Schreien der Seemöwen über ihm.

»He da, aufgepasst!« Ein schrilles Klingeln reißt Douglas aus seinem Tagtraum und lässt ihn einen Satz nach hinten machen. Ein Grüppchen Spandexradler rast lachend an ihm vorbei. Douglas ist vergrätzt. Blöde Typen, für wen halten die sich? Nur weil sie ihren Rädern Rennslicks aufgezogen haben und sich in grellbuntes Elastikgewebe stecken, gehört ihnen der Damm nicht allein.

Er schwingt sich wieder auf sein Rad. Alt ist es und gebraucht. Für zuverlässig befindet es Douglas, treu, stabil, sicher. Lowtech, die nicht kaputtgeht. Er tritt heftig in die Pedale.

So knapp war er davor gewesen, das Hinterland seines Traumes zu erkunden. Douglas würgt an seiner Wut. Schneller wird er, immer schneller. Bald fliegt er auf dem Damm dahin, so gut es der alten Mühle eben möglich ist, immer den Spandexclub vor Augen. Doch egal, wie er sich anstrengt, die Lücke zwischen ihnen und ihm wird immer größer. Nach einer Biegung verliert er sie endgültig aus den Augen.

Douglas verlangsamt das Tempo. Er keucht und schwitzt und ringt nach Atem. Als er den Kopf nach rechts wendet, sieht er das erste Grün. Douglas fährt langsam weiter, den Blick immer auf die Felder geheftet. Es ist der Sommerweizen, der dort heranreift. Noch ist es ein hellgrüner Flaum auf dunkler Krume, aber schon bald werden die Halme und Ähren hochstehen und sich im Wind biegen.

Douglas hält neben einem Stein an, stellt das Rad ab. Er zieht sich Sneakers und Socken aus und deponiert sie neben dem Stein. Danach richtet er sich auf. Ein Blick links, einer rechts, niemand zu sehen. Er ist tatsächlich ganz alleine hier. Douglas steigt den Damm hinunter, seine nackten Fußsohlen streifen zunächst über Unkraut und Wiesenblumen, dann erreicht er die Niederung, in der die Felder angelegt sind. Hier ist der Boden feucht und satt, er schmiegt sich an Douglas’ Sohlen. Es schmatzt leise, wenn er die Füße anhebt. Der junge Weizen ist noch weich und nachgiebig. Douglas geht vorsichtig durch die Reihen, konzentriert sich auf seine Füße, auf den Boden, auf die Kühle, die in ihn eindringt.

Irgendwann bleibt er stehen und schließt die Augen. Mit der rechten Hand tastet er nach dem Socket und legt den Schalter um. Das Sozial-Ich weicht. Douglas ist jetzt nur er selbst und niemand sonst. Er breitet die Arme aus und lässt den Wind an sich vorbeistreifen. Das ist es, denkt er. Das ist das Leben. So soll es immer sein. Und er steht weiter im Wind, eine lebende Vogelscheuche. Dabei wird sein Herz weit und leicht und das Glück fließt in ihn hinein. Es kriecht aus den Füßen zu seiner Wirbelsäule hoch und weiter in seine Brust. Von dort strömt es in die Arme und schließlich in den Kopf. Douglas fühlt sich dizzy und leicht entrückt. Kurz nur flackert sein innerer Alarmknopf auf – Achtung! Kontrollverlust! –, da holt er schon tief Luft und lässt den Atem langsam durch die Nase wieder entweichen. Für diesen Moment soll alles vergessen sein.


Als ein Taxi am Samstagmittag vor dem CADIAS von Professorin Paulson vorfährt, soll es keinen Bewohner abholen und in ein neues, verbessertes, weil aufgeräumtes Leben mitnehmen. Es bringt auch keinen Menschen, angefüllt mit Wünschen, Träumen oder Seelenpein. Das Taxi hält an, rollt ein Stück weit aus, als ob der Fahrer die Bremse nicht zu kräftig betätigen will. Nach ein paar Momenten öffnet sich die Beifahrertür und ein langes, schmales Bein schwingt sich auf roségoldenen High Heels hinaus. Einen Moment später folgt das zweite. Ein dunkles Lachen ertönt, dann erstirbt es in einem lang gezogenen Kuss.

Kandy schält sich nur wenig später vollends aus den Tiefen des Taxis, lässt die Tür zuklappen und klopft noch einmal auf das Dach des Wagens. Kutscher, fahre er hinfort! Und das macht der Fahrer auch. Zügig rollt der Wagen vom Hof, Kandy steht inmitten der aufspritzenden Kiessteinchen und sieht mit einem katzenhaft zufriedenen Ausdruck dem Wagen hinterher. Sie schwankt etwas.

Sanders, der das Ganze aus der Eingangshalle mit verfolgt hat, sieht seine Chance gekommen. Natürlich hat er Kandy erkannt, nur dieser Anteil von Kaynee kann auf solchen Absätzen unfallfrei durch die Welt stöckeln. Sanders liebt Kaynee schon lange, aber Kandy im Besonderen. Vor allem Stan, Sanders’ Pendant zu Kaynees Kandy, ist scharf auf die Frau, die dort in der Mittagshitze steht. Vielleicht hat er ja zur Abwechslung mal Glück. Manchmal geht es eben nicht darum, der Erste, sondern der Letzte zu sein. So bleibt man in Erinnerung.

Sanders schiebt Barbara einen Geldschein über den Tresen. »Danke für die Info, Babs.«

Diese streicht ihn unauffällig ein. Wenn Stan nur wüsste, dass sie in diesem Moment gar nicht Barbara ist. Verhalten zupft sie sich an den hochgesteckten Haaren. Am liebsten würde sie die Haarspange lösen und Sanders zeigen, dass auch sie einen Part hat, mit dem man Spaß haben kann. Am liebsten würde sie Becky von der Leine lassen. Aber ihr Organisator lässt sie nicht.

»Jederzeit wieder, Stan«, murmelt sie und wendet sich ihrem Rechner zu, als wolle sie nicht wissen, welche Rolle sie in diesem Spiel einnimmt. Verlegen legt sie den Schalter wieder um. Immer schön Distanz halten und niemals Stellung beziehen. Stattdessen mitnehmen, was gerade möglich ist.

Als Kandy langsam den Weg hinaufgeht, schlendert ihr Stan entgegen und stellt sich ihr in den Weg.

Kandy bleibt stehen und schiebt ihre Sonnenbrille in den zerzausten Haarschopf zurück. Sie kann Stan nicht leiden, der sich viel zu lässig, mit beiden Händen in den Hosentaschen, vor ihr aufgebaut hat.

»Ja, ich bin immer noch auf, Stan«, nimmt sie ihm den Wind aus den Segeln, »Und bevor du mir die Uhrzeit erklärst, nur um danach die Brösel aufzulesen, die von mir übrig sind – vergiss es einfach.« Sie lächelt ein überzuckert süßes Lächeln, das ihren Worten aber in keiner Weise die Schärfe nimmt.

Stan hebt beide Hände in gespielter Abwehr. »Gut gebrüllt, Löwin!« Er kommt einen Schritt näher. »Hast du vielleicht Lust auf einen Absacker, bevor sie dich wieder wegsperren?« Er lächelt wissend, hebt eine Braue.

Kandy überlegt kurz, gähnt kurz. Stan ist ein Arsch, aber Kaffee wäre gut. Zuckt dann mit den Schultern. »Auf einen Ristretto.«

Stan gönnt sich ein winziges Siegerlächeln, stellt sich an Kandys Seite und legt einen Arm um ihre Schultern. Seine Finger schließen sich um ihren Oberarm, spüren ihre Wärme. »Na, dann los«, murmelt er und bugsiert Kandy den Weg zur Empfangshalle hinauf.

Barbara sieht nicht zu den beiden hin, als sie eintreten. Sie ist am Rechner beschäftigt, jetzt wieder voll im Arbeitsmodus, irgendetwas gibt es immer zu ordnen. Nachträge der letzten Woche, Planungen für die nächste. Barbara ist immer anwesend, außer sonntags. Sie ist fleischgewordenes Inventar.

Als Stan und Kandy jedoch an ihr vorbeischlendern, legt sie den Kopf zur Seite. Sie mag Kandy nicht. Kaynee ja, aber dieses billige Flittchen, nach dem sich tatsächlich jeder umdreht – das nicht. Aber würde Sanders nicht sie, Barbara, fragen, in welcher Ausprägung Kaynee gerade durch das Camp läuft, gäbe es überhaupt keine Möglichkeit mit ihm zu sprechen. Babs seufzt.


Währenddessen löst sich Kandy aus Stans Griff. »Das ist nicht der Weg zur Cafeteria«, stellt sie trocken fest und will sich abwenden. »Guter Versuch, Stan.«

Stan erwischt noch ihr rechtes Handgelenk. »Nicht so schnell, kleine Lady. Du hast mir einen Espresso versprochen.« Mit einem Ruck zieht er sie an sich heran, vergräbt sein Gesicht an ihrem Hals, atmet tief ihren Duft ein. Während er sie in der Halsbeuge küsst, führt er ihre rechte Hand an seinen Schritt, der über seinen Zustand Auskunft gibt.

Kandy windet sich aus seinem Griff heraus, befreit ihre Hand. »Du willst es, nicht wahr?«, raunt sie ihm zu. »Mit jeder Faser deines Seins.«

Stan richtet sich auf. »Lass uns zu mir gehen. Es ist alles bereit für dich. Du musst nur zugreifen.« Er bietet ihr seinen Arm, fühlt sich jetzt als Gentleman, kurz vor seinem Ziel.

Da stutzt Kandy, mustert ihn und fängt an zu lachen. Sie taumelt ein, zwei Schritte zurück, zeigt mit dem Finger auf ihn und lacht, als sei er der Witz des Tages.

Stan hat nur zwei Möglichkeiten – entweder zieht er zurück, bevor noch irgendjemand von diesem Korb Wind bekommt, oder er setzt sich über Kandys Meinung hinweg und holt sich, was er will.

Da nimmt Kaynee ihm die Entscheidung ab. Karl hat Karen auf den Plan gerufen, nachdem er Stans Züge studiert hat. »Wag es nicht«, blafft er dem Techniker ins Gesicht. Das reicht schon, um ihn zurückweichen zu lassen.

Danach bringt Karen ihre Entität ins Bett.

Stan steht auf dem Flur und sieht Kaynee nach. Sie ist aus den Heels geschlüpft, tappt auf bloßen Sohlen den Gang entlang und schlenkert die Sandaletten mit der linken Hand herum. Seine Chance ist vorbei. Die Traumfrau hat anscheinend keinen Ausgang mehr. Stan wird per Schalter mit einem bedauernden Seufzen ins Repertoire zurückgeschoben und Sudresh erscheint auf der Bildfläche.


Nach einer kleinen Ewigkeit beginnt Douglas, zu frösteln. Er gräbt seine Zehen in den weichen Boden, lässt die Arme sinken und öffnet wieder die Augen. Es ist ihm, als würde er diesen Ort zum ersten Mal sehen. Er scannt Halm um Halm, dreht sich dabei um die eigene Achse und hält erst inne, als der Damm in das Blickfeld gerät. Er sieht sein Fahrrad links neben dem Stein. Rechts neben dem Stein steht ein Mensch.

Wie lange steht der schon da? Hat er ihn beobachtet? Hat er den Sicherheitsdienst des Agrarunternehmens benachrichtigt? Douglas greift sich unbewusst wieder hinter das Ohr und legt den Schalter um. Das Sozial-Ich lädt sich in den Vordergrund. Nur schön ruhig bleiben.

Douglas macht sich auf den Rückweg. Schritt für Schritt stapft er durch das Feld, doch diesmal ist er mit den Gedanken ausschließlich bei der Person, die noch immer neben dem Stein steht. Im Näherkommen sieht er, dass es sich um eine Frau handelt. Wieso geht sie nicht weiter? Stattdessen steht sie dort wie angewurzelt und starrt ihn an.

Douglas steht schließlich am Fuß des Dammes. Er legt den Kopf in den Nacken und schirmt seine Augen ab. Als Erstes bemerkt er, dass die Frau ihn doch nicht ansieht. Vielmehr sind ihre Augen auf das Feld gerichtet, wobei der Blick merkwürdig ziellos ist. Sie scheint tatsächlich nicht viel mehr zu sein als eine leere Hülle.

Douglas mustert sie eingehend. Lange blonde Haare fallen glatt auf schmächtige schmale Schultern, umrahmen dabei ein längliches eckiges Gesicht, das von großen Augen dominiert wird. Welche Farbe sie haben, kann Douglas von seinem Standort nicht ausmachen. Sein Blick scannt sie weiter ab. Die Oberweite ist kaum ausgeprägt, vielleicht eine Handvoll, mehr nicht. Mehr ist nicht von ihrer Figur zu sehen. Ein langes weißes Kleid mit buntem Blumendruck am Saum fällt gerade zu Boden. Nur die Füße schauen unter dem Stoff hervor. Sie stecken in einfachen Sandalen, die vom Alter schon dunkel sind. Bei näherem Hinsehen fällt ihm auf, das sie leicht vor und zurückwankt.

»Hallo?« Douglas nimmt die Hände herunter und stützt sie in den Seiten ab. »Geht es Ihnen gut?« Keine Antwort. Das Schwanken verstärkt sich.

Douglas zögert nicht. Er klettert, so schnell es geht, den Damm hinauf. Schließlich kommt er schnaufend neben der Frau zum Stehen. »Ist alles in Ordnung mit Ihnen?« Er fasst sie leicht am Ellenbogen, um sie zu stabilisieren.

»Wo kommen Sie her? Wo gehören Sie hin?« Er weiß nicht, was er sonst sagen oder fragen soll. Schon will er nach seinem Smartphone greifen und Hilfe herbeirufen, da fällt ihm etwas ein.

Es sieht alles danach aus, dass hier ein Reset ausgeführt werden muss. Vorsichtig streicht er der Frau die Haare über die Schulter und tastet hinter ihr rechtes Ohr. Nach einem Moment der Suche findet er den Schalter des Sockets.

Für einen Augenblick zögert er. Eigentlich ist er zu einem Eingriff dieser Art nicht befugt. So etwas ist nur den Mitarbeitern der MedCon gestattet. Aber es geht nur darum, einen Schalter umzulegen, nicht mehr. Danach kann er der Fremden immer noch sagen, dass sie zum Sanitätsdienst vor Ort gehen soll. Das würde beiden Zeit sparen.

Er holt tief Luft und schiebt den Schalter vor, bis er einrastet. Einen Wimpernschlag lang tut sich nichts. Dann sieht man förmlich, wie das Leben in ihre Augen schießt.

»Finger weg«, bellt sie, reißt sich los und tritt zu. Sie trifft sein Schienbein. Douglas taumelt nach hinten. Er will protestieren, doch er erhält keine Gelegenheit dazu. Der nächste Tritt trifft genau ins Schwarze. Und während Douglas sich keuchend am Boden windet, dreht sich die Fremde wortlos um und verschwindet in den Straßen Suburbias.


Als die dunkelroten Schmerzwellen nachlassen, kämpft sich Douglas langsam wieder auf die Beine. Er taumelt zum Stein hinüber, lehnt sich dagegen und zieht sich sehr langsam und hoch konzentriert die Socken und die Sneakers wieder an. Jede hastige Bewegung lässt den Schmerz wieder aufflammen, der ansonsten einem dumpfen Brandungsrauschen gleicht. Flüchtig denkt er daran, dass er den Sanitätsdienst jetzt tatsächlich in Anspruch nehmen könnte. Aber wie soll er den Vorgang erklären, ohne dabei zuzugeben, dass er sich in Sachen eingemischt hat, die ihn nichts angehen? Dass er das Persönlichkeitsrecht eines anderen auf seelische und geistige Unversehrtheit verletzt hat?

Er schüttelt den Kopf. Sie hat sich gewehrt. Besser gesagt, ihre Beschützerpersönlichkeit hat sich gewehrt. Das ist zwar ihr gutes Recht, aber ihm ist das jetzt gerade scheißegal. Soll sie doch mitsamt all ihren Facetten vor einen Bus laufen!

Douglas beißt die Zähne zusammen. Dann greift er sich sein Rad, schiebt es neben sich her und macht sich so auf den langen Heimweg. Er hat weniger gesehen als geplant und dabei mehr gefühlt als beabsichtigt, aber sei’s drum. Douglas kühlt seinen Schmerz in eisigem Sarkasmus. Der Trip hat genug Ablenkung mit sich gebracht. Douglas denkt an nichts anderes als seine schmerzenden Hoden und den nächsten Schritt. Einen Fuß vor den anderen setzen, nur das zählt jetzt. Die Stimmen in ihm schweigen. Das Lachen aus dem Salzmeertraum hat keinen Platz in seinem Hirn. Douglas verzerrt die Lippen zu einem schwachen Grinsen. Gut so.


Kaynee liegt in der Wanne und spürt den letzten Stunden nach. Kandy hat sich ausgetobt – auf der Tanzfläche in den verschiedenen Clubs. Im Letzten hat sie sich selbst an die Stange gestellt. Mit Kandy ist es immer ein Ritt auf der Achterbahn. Während die Fahrt in die Stadt die Spannung aufbaut, ist der Eintritt in den ersten Club der Anfang des Abstiegs. Mehr Musik, mehr Alkohol, mehr Männer. Und je länger Kandy unterwegs ist, desto mehr verliert sie den Halt. Das ist einer der Gründe, warum ihr Ausgang so reglementiert wird.

Kaynee schließt die Augen. Sie erinnert sich an die letzte Notiz im Übergabeprotokoll. »Stan is’n Arsch. Wovon träumt der nachts? Entwarnung: Da war nichts. K.« Also hat Kandy nicht die Beine für ihn breitgemacht.

Kaynee legt aus einem Reflex heraus die rechte Hand über ihre Scham. Rot schießt es ihr in die Wangen. Sanders? Nein! Aber wenn nichts war, dann kann sie ihm morgen ja ganz unbefangen gegenübertreten. Was für ein Glück.

Sie entspannt sich wieder und zieht die Hand zurück. Einen Moment später lässt sie sich noch tiefer in das warme Wasser gleiten.

Sanders mit den Hundeaugen. Sanders mit seiner klebrigen Freundlichkeit. Sanders ist eigentlich nur dann erträglich, wenn er als Sudresh durch die Gänge geistert oder in seinem Labor residiert. Oder, wenn er als Steward mit den Besuchern arbeitet. Sanders’ Sozial-Ich ist ihr viel, viel lieber als sein Privat-Ich.

Professorin Paulson hat recht – man muss nicht jeden mögen. Die Chemie muss nicht stimmen. Aber seit der Effizienzdiversität kommen alle viel besser miteinander klar. Denn auf der Arbeit herrscht Neutralität, Objektivität, Professionalität.

Kaynee lächelt leicht. Sie selber hat noch nicht den Einen getroffen, der sie von den Füßen haut – oder auch nur einen Teil ihrer selbst um den Verstand bringt. Wer weiß, kann es das überhaupt geben in einer derart aufgespaltenen Welt? Dass jemand wirklich jeden Aspekt des Anderen mit offenen Armen aufnimmt?

Kaynee holt tief Luft und taucht in das Badewasser ab. Hat’s doch noch nie gegeben! War doch alles immer nur ein Kompromiss gewesen, schon damals.

Nach ein paar ergebnislosen Gedankensprüngen nach rechts und nach links, taucht Kaynee wieder auf. Sie ist sich selbst genug und das ist ein schönes Gefühl. Keine Abhängigkeiten, keine unerfüllte Sehnsucht. Alles fein.

Sie steht auf, greift zur Brause und spült die letzten Schaumreste von ihrem Körper. Zum Schluss stellt sie den Wasserstrahl auf kalt, solange bis sie kreischend aus der Wanne springt.

Als sie sich in ihren Bademantel hüllen will, verschiebt sich etwas in ihrem Geist. Es ist ähnlich wie tags zuvor, nur kräftiger, entschiedener. Kaynee wird davon überrumpelt. Der Mantel fällt zu Boden, sie greift stattdessen zum Telefon. Hastig wählt sie eine Nummer. Nach ein paar Freizeichen wird am anderen Ende der Leitung abgehoben.

»Hol mir Stan ans Telefon«, herrscht Kandy den Menschen am anderen Ende der Leitung an. »Sofort, bevor ich es mir anders überlege.«

Einen Moment später raunt sie ins Mikro, gurrt beinahe schon: »Wenn du willst. Ich bin bereit. Lass mich nicht warten, Stan.« Danach legt sie auf.

Kaynee bekommt das alles mit. Allein, sie kann niemandem Bescheid geben. Kora, Karen, Karl – da ist niemand zu erreichen. Ihre Hand lässt sich nicht überreden, den Schalter zum Arbeits-Ich umzulegen. Und so bleibt Kaynee nichts anderes übrig, als in einem Winkel ihres Bewusstseins abzuwarten, bis es an ihre Tür klopft.

Kandy hat in der Zwischenzeit die Stilettos übergestreift und ein Kropfband umgelegt. Sonst ist da nichts, das ihre Blöße bedeckt und das ist auch so geplant. Denn während sich Kaynee entspannte, ist Kandy eine Idee gekommen und die schließt Sanders mit ein. Und damit er mitmacht: Nun. Mit Speck fängt man Mäuse. War schon immer so und ist heutzutage nicht anders. Give a little, take a little. Kandy lächelt süffisant.

Es klopft ein zweites Mal. Kandy wirft sich in Positur, schüttelt die Haare zurück, legt die Hand auf die Klinke.

Kaynee versucht, Kandy ein letztes Mal zurückzuhalten. »Bitte«, fleht sie. »Tu mir das nicht an!«

»Ach, Süße.« Kandys Spott ist rauchig, dunkel und ätzt sich in Kaynees Bewusstsein. »Halt’ die Klappe und lerne. Jetzt sind die Großen dran.« Dann öffnet sie schwungvoll die Tür.

Stan steht vor ihr, sein Blick ist glasig. Er fackelt nicht lange, schnappt sich Kandy und drängt sie in das kleine Apartment. Während die Tür hinter ihm ins Schloss fällt, beginnt Kaynee inwendig zu schreien – allein, es kann sie niemand hören.


Als sich die Sonne in den Abend verabschiedet, findet sich Kaynee in ihrem Bett wieder. Stan ist verschwunden. Kandy hat sich zurückgezogen. Kaynee rollt sich auf die Seite und zieht die Knie zum Kinn. Ihr tut alles weh.

Das hätte nicht passieren dürfen! Kaynee weiß nicht, an wen sie sich wenden soll. Professorin Paulson? Die würde sie sofort von ihrer Position abziehen. In bester Absicht zwar und durchaus zu Recht, aber Kaynee will unter keinen Umständen ihren Job riskieren. Sie überlegt fieberhaft.

Sie wird eine Nachjustierung vornehmen. Die Anteile müssen besser voneinander getrennt, die Basisfunktionen gefestigt werden. Ihr Verstand sagt ihr, dass sie da nicht drum herumkommt. Aber wer? Wie? Ohne dass es auffällt …

Sie erstarrt. Da gibt es nur einen, der ihr helfen würde. Sanders. Er ist der Einzige, der so einen Eingriff auf eigene Kappe machen könnte. Kaynee fröstelt es.


Douglas hat den Weg nach Hause ohne größeren Zwischenfall geschafft. Hat das Fahrrad im Keller verstaut, die Schlösser bedächtig verriegelt. Das eine, das seinen Verschlag sichert. Das andere, das den gesamten Keller absperrt. Danach ist er mit dem Lift in sein Apartment hinaufgefahren. Heute muss er nicht laufen, um sich zu fordern oder abzulenken. Das Ziehen in seinen Hoden ist zurückgetreten, aber immer noch vorhanden. Da kann er sich diesmal auch den Fahrstuhl leisten.

Nach einem ausgiebigen Bad schlüpft er in seinen Bademantel. Er überlegt, ob er sich ein Bier nehmen soll, aber er entscheidet sich dagegen. Greift zum Wasserhahn, lässt das Glas volllaufen, trinkt es, während er abwesend aus dem Fenster starrt. Er erinnert sich an das kühle Grün unter seinen Sohlen und stellt das geleerte Glas auf den Küchentisch. Schön war es gewesen. Alles andere eher anstrengend.

Douglas wischt sich mit der Hand über das Gesicht. Wendet sich dann zum Schlafzimmer und legt sich rücklings auf das ordentlich gemachte Bett. Der Bademantel verrutscht, die kühle Luft streift seinen Körper, aber das ist gut so, denkt Douglas, und schließt die Augen. Nur ein bisschen ruhen.

Douglas rutscht in einen Dämmerschlaf, hinein in diese salzige Traumwelt, die ihm noch neu ist und in der er eben erst lernt, sich zu bewegen. Seine alten Träume scheinen vergessen. Wie lange schon? Darüber will Douglas nicht nachdenken, er blendet alles aus. Es wird dunkel in ihm, ganz dunkel, dann schaltet sich das Traumkino ein und der Film spult sich hinter seinen geschlossenen Lidern ab. Eine neue Episode.


Ich liege auf dem Rücken inmitten einer graugrünen Salzwiese, die Augen weit aufgerissen. Über den Halmen, die sich in einem steten Wind wiegen, türmen sich Wolken in Grafit und diesigem Weiß. Es regnet nicht, aber Feuchtigkeit liegt in der Luft. Salzkristalle auf den Lippen, auf den Fingerkuppen, auf den Wangen. Und doch streicht ein zarter Duft durch das Gras. Ich kenne den Geruch. Wenn ich jetzt die Augen schließen würde, sähe ich sie vor mir. Sie, mit ihren goldenen Locken und dem weichen Zug um den Mund. Mommy. Ich richte mich auf. Prinzchen, tönt es sacht in meinem Kopf, Prinzchen, alles wird gut.

Ich springe auf die bloßen Füße und sehe mich um. Hinter mir liegt die Klippe, hinten dran das Meer. Von dort bin ich gekommen, doch wo werde ich hingehen? Ich sehe einen schmalen Pfad im Salzgrasmeer. Ein Schritt vor den anderen setzend, folge ich ihm langsam. Der Duft nach Lavendel verstärkt sich, je weiter ich ins Hinterland vordringe. In der Ferne sehe ich eine überwucherte Bruchsteinmauer. Gänseblümchen und verwilderte Rosen blühen büschelweise in den Ritzen. Ich werde schneller. Was ist jenseits der Mauer?

Der Pfad endet vor einem Tor. Rostiges Gestänge, von Efeu umwuchert und mit einer schweren Kette samt Schloss gesichert, versperrt mir hüfthoch den Weg. Dahinter Lavendelbüsche in langen Reihen. Wilder Weizen ragt vereinzelt aus dem violettblauen Meer, im Hintergrund sehe ich das dunkle Grün von Baumhecken. Ich lege beide Hände auf den obersten Holm und rüttle zaghaft. Das Tor gibt nicht nach.

Je länger ich auf den Lavendel starre, desto mehr weiß ich, dass ich dort hingehöre: in die Geborgenheit dieses Feldes. Und ich weiß auch, dass ich mich von einem Tor nicht aufhalten lassen werde. Ich taste die Mauer ab, suche einen losen Stein. Bohre mit den Fingern in den Ritzen herum, bis sich ein handlicher Felsbrocken löst, mir geradezu in die Hand fällt. Doch statt ihn zu benutzen, stehe ich vor dem verrosteten Schloss wie der Ochs vorm Berg und weiß nicht, wie ich es anstellen soll. Gewalt ist Gewalt und Gewalt ist verpönt. Ich kann nicht aus meiner Haut heraus.

Da springt das irrlichternde Lachen hinter einer Bodenwelle hervor. Es keckert und gackert und schrillt mir in den Ohren und springt unvermittelt in mich hinein, als sei ich ein leeres Gefäß. Ich fühle es in mir toben. Schon hebe ich den Stein, irgendetwas muss ich zertrümmern, um diese Tollheit loszuwerden, warum also nicht meinen Kopf? Irgendwer muss diesem Lachen endlich Einhalt gebieten!

Doch statt mir den Brocken an den Schädel zu schlagen, fange ich an, ihn auf das Schloss zu hämmern. Mein Arm synchronisiert sich mit dem Lachen. »Hey ho«, beginnt es jetzt auch noch in mir zu singen. »Hey ho, hey ho.« Ich füge mich dem Rhythmus, ich kann nicht anders. Jetzt bin ich wohl auch ein Wilder, genauso wie Mommy. Ein Tier, ein Untier, ein Monster. Bin ich das wirklich?

Mein Zorn treibt mich an, ein heißes Aufbegehren. Sie hatten nicht recht, Mistress Keen. Sie hatten nie recht mit Ihrer Behauptung! Sie kannten Mommy doch überhaupt nicht, wie kamen Sie dazu, meinen Verstand so zu vergiften?

Doch je länger die ganze Aktion dauert, desto mehr stumpfe ich ab, lasse mich fallen in die Monotonie der Schläge, in das herzschlagartige »Hey ho«-Gejohle und werde dabei immer ruhiger.

Als das Schloss mit einem Mal unter dem einen, dem einzig richtigen Schlag nachgibt und aufspringt, überrascht es damit das Lachen und mich gleichermaßen. Während das Lachen verwirrt schweigt, stopfe ich den Stein wieder dorthin, wo ich ihn aus der Mauer gebrochen habe. Danach richte ich mich auf und drehe mich zu der Salzwiese und dem Klippenrand herum.

»Geh spielen«, sage ich zu dem Lachen, das immer noch unschlüssig in mir herumlungert und dem es langsam dämmert, dass es zum ersten Mal von Nutzen gewesen ist. Das gefällt ihm nicht, ich spüre den Unwillen, der sich langsam in mir breitmacht. Das gefällt mir wiederum nicht, und daher brülle ich los. »Jetzt hau endlich ab, oder soll ich dir Beine machen?«

Da zieht es sich aus meinem Blut zurück, noch immer ganz verschnupftes, trotziges Schweigen, und sammelt sich schließlich in den Halmen zu meinen Füßen. Doch schon einen Moment später trollt es sich und findet seine vielen Stimmen wieder. Es lacht und keckert zur Klippe hin, danach verliert es sich im Dröhnen der Brandung, die weit unten auf den Strand schlägt.

»Danke!«, sage ich ins Nichts hinein und verbiete mir dabei den Sarkasmus. Erst dann wende ich mich wieder dem Tor zu, löse die Kette und hebe es vorsichtig an. Ein, zwei mühsame Schritte später ist es tatsächlich so weit: Ich stehe im Lavendelfeld. Willkommen daheim.

Salzgras & Lavendel

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