Читать книгу Land der Sonne e.V. - Gabriele Bärtels - Страница 5
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ОглавлениеWie überall auf der Welt gab es auch im Land der Sonne Arme und Reiche, Blöde und Gescheite, Weitgereiste und Stubenhocker. Die besonders Glücklichen oder Gutgestellten hatten ihre Parzellen am Flussufer, verfügten je über einen Badesteg, an dem auch ihr Segel- oder Motorboot in den Wellen schwappte. Dies waren zudem die größten Grundstücke - bis zu tausend lange, schmale Quadratmeter. Vierzig davon hätte man dem Gesetz nach in diesem Wochenendhausgebiet bebauen dürfen, aber nur die wenigsten residierten in derart kleinen Häuschen: Hier hatte sich ein Wintergarten in eine Anbauküche verwandelt, dort wurde einer Laube der Gartenschuppen einverleibt, um ein kleines Bad einzufügen, aus einer Etage wurden zwei, jedenfalls dann, wenn der Besitzer der dahinter liegenden Parzelle sich davon nicht beeinträchtigt fühlte. Laut Satzung durfte er dann ein Veto einlegen, und gelegentlich half Bargeld, solch ein Einverständnis zu erleichtern.
An manchen Lauben baute man schon Jahrzehnte herum, sie bestanden aus den unterschiedlichsten Materialien, waren verwinkelt, und man musste fürchten, dass sie umstürzen würden, entfernte man auch nur eine Latte.
Jahrzehnte war keines der Wassergrundstücke auf den Markt gekommen, aber nicht alle Vereinsmitglieder, die so alt und klapprig geworden waren, dass sie ihre Gärten nicht mehr pflegen konnten, hatten Kinder, die ihre Parzellen eines Tages übernehmen würden. Heutzutage lebten ihre Nachkommen häufig in anderen Städten, hatten dort selbst Familien gegründet und wollten mit dem Verkaufserlös lieber ihre eigene Hypothek schneller abzahlen, als eine weit entfernte Parzelle in Schuss zu halten, in der sie als Kinder in den Birnbaum geklettert waren.
So war kürzlich ein besonders schönes Ufergrundstück über einen Makler verkauft worden. ¨Für dreihunderttausend Euro! ¨, raunte man sich zu, und fragte sich, wer so viel Geld für ein abrissreifes Wochenendhaus hinblättern konnte, das allerdings auf einem Traumgrundstück lag.
Die gebrechlich gewordenen Besitzer, die den Garten angelegt, dreißig Sommer hier verbracht hatten und mit der Hälfte der Mitglieder per Du waren, räumten tagelang Schnickschnack aus ihrer Laube in den Kofferraum ihres Wagens, mühsam, langsam, hinkend. Für den Transport benutzten sie eine Schubkarre wie alle hier, denn die meisten hatten vom Parkplatz aus weite Wege durch die vier schmalen Gänge, die Barsch-, Wels-, Plötzen- und Hechtweg hießen, und durch die kein Auto passte. Von einigen Nachbarn verabschiedeten sie sich, anderen winkten sie nicht einmal zu, nachdem sie ihre Schlüssel an die neuen Besitzer übergeben hatten.
¨Es war sowieso nicht mehr wie früher¨, knurrte der alte Mann, als er das Auto ein letztes Mal vom Parkplatz steuerte. Beinahe hätte er Carola angefahren, die vom Gassigang zurückkehrte und gerade das Tor durchschritt.
¨Guck, die alte Eule und ihr Fifi!¨ kicherte er, als diese empört gestikulierte und ihr Hündchen aufhob. Seine Frau auf dem Beifahrersitz antwortete nicht, sondern überlegte angestrengt, was sie auf diesem Parkplatz eigentlich gewollt hatten. Bei ihr würde man bald beginnende Demenz feststellen.
Jeder, der von dem Verkauf wusste, begann für sich zu rechnen, was wohl sein eigenes Ackergold wert war. Die meisten kamen auf ernüchternd niedrige Beträge: Dreihunderttausend konnte man für eine Parzelle im Innern des Vereinsgeländes nie erzielen. Dort waren sie teilweise keine hundert Quadratmeter groß, auf drei Seiten von ebenso engen Grundstückchen umstellt, und eine gewisse Privatsphäre ließ sich nur durch hohe Wände und Hecken erreichen.
Für die Ohren gab es diese Privatsphäre nicht. Jedes Prusten, alle Gartenarbeitsgeräusche, Geschirrklappern, Radiostimmen, Handy-Klingeln, Kinderlachen und Hundegebell drang durch den Sichtschutz hindurch. Wasserblick hatte kaum jemand, Wasserzugang schon gar nicht. Die drei Segler unter diesen Vereinsmitgliedern mussten ihre Liegeplätze in der nahegelegenen Marina mieten, anstatt vom eigenen Badesteg in Badehosen direkt an Bord zu springen.
Doch auch hier lebten einige Leute ganzjährig auf engstem Raum, dekoriert mit Porzellanelefanten, bunten Plastikwindspielen und Led-Lichterketten, oder so karg wie der Lebenskünstler Krücke, nun in den Fünfzigern, der es bis jetzt geschafft hatte, unter allen Radaren staatlicher Einrichtungen wie Finanz- und Arbeitsämtern hindurchzusegeln. Sein Gärtchen hatte er mit Kieseln ausgelegt, so dass alles ordentlich aussah, es aber nichts zu gießen und zu mähen gab.
Krücke verdiente sein Geld schwarz mit PC-Nothilfe und hatte sich durch reine Mundpropaganda einen großen Kundenkreis geschaffen. Wann immer an diesem Stadtrand ein Laptop-Bildschirm schwarz wurde, oder sich ein Trojaner eingeschlichen hatte, rückte er auf dem Fahrrad an, eine dunkle Gestalt in einer undefinierbarfarbenen, an den Schultern ausgeblichenen Jacke. Er schob dann den nervösen Kunden zur Seite, ließ sich vor dem Schad-Computer nieder, legte dabei nicht einmal den Rucksack ab, geschweige denn die Jacke. Seine Finger streiften über die Tastatur wie ein Pianist, und er versenkte sich wortlos in das digitale Problem. Er erklärte nichts, wollte auch nichts trinken, tippte und enterte, dünstete kalten Zigarettenrauch aus, schob irgendwann - manchmal nach Stunden erst - den Stuhl zurück und sagte zu dem verzweifelten Kunden, der schon am Fenster stand und sich hinausstürzen wollte, falls er nie mehr ins Internet kommen sollte: ¨Funktioniert wieder.“
Der gerettete Kunde zahlte, was Krücke forderte, und es war nie unverschämt viel. Dann rückte der als Engel Gepriesene ab, zündete sich draußen eine Selbstgedrehte an, verschwand in der tiefen Nacht, in der er am liebsten lebte, radelte zurück ins Land der Sonne, schlich durch die Wege, schloss sein Gartentor auf, betrat sein Ein-Zimmer-Häuschen und schob das Geld in die Schachtel zu den anderen Scheinen. Darauf katapultierte er sich bis in die Morgenstunden mit einem Computerspiel ins fünfzigste Jahrtausend nach Christi.
Man sah ihn frühestens mittags, er war immer blass. Er hatte keine Ahnung, dass Carola ein Auge auf ihn geworfen hatte.
Diese sah noch dem davonbrausenden Auto der beiden Ex-Vereinsmitgliedern hinterher und schimpfte: ¨Bloß gut, dass der nie wieder auftaucht. ¨ Sie setzte ihr Hündchen wieder ab: ¨Hier, Mimi, lauf.¨ Dann wandte sie sich zu den Müllcontainern, vor denen noch ihre Eimer stehen mussten, doch die waren verschwunden.
¨Wer hat ...!¨ zischte sie, doch der Parkplatz war menschenleer. Carola meinte trotzdem, hinter jedem Kofferraum ein gehässiges Augenpaar aufblitzen zu sehen. Sie schob den gelben Wertstoffcontainer auf - und darin lagen sie. Auf den Zehenspitzen angelte sie ihre Eimer wieder heraus, ihre Jacke bekam einen Schmierflecken auf der Brust. ¨Das war der Ronald.¨ Sie beugte sich zu Mimi herab: ¨Eine Brut ist das, die hier lebt!¨
Mimi krümmte sich. Und auf einmal kam hinten herausgesickert, was auf dem Gassigang noch verstopft gewesen war: ein orangegelber, nicht besonders großer, aber sehr flüssiger Klecks Hundescheiße, direkt vor dem Flaschencontainer.
¨Das geschieht ihm nur recht!¨ fauchte Carola, lockte Mimi von der Bescherung weg und verschwand mit ihren Eimern im Barschweg.
Im Plötzenweg, wo Krücke wohnte, kam Carola nie vorbei. Sie hatte keinen Grund, dort entlangzulaufen, und außerdem wollte sie diesem Schotten möglichst nicht begegnen. Sie traf Krücke also nur selten einmal auf dem Parkplatz, aber er stieg ja nicht vom Rad ab, was er laut Satzung hätte tun sollen, sondern brauste einfach durch. Das Geräusch seiner quietschenden Bremsen war für sie unverwechselbar.
Krücke selbst kannte sie allerdings kaum, nur vom Sehen, und aus der einzigen Vereinsversammlung, die jedes Jahr im Herbst im Festraum einer nahegelegenen Pizzeria abgehalten wurde. Da hatte sie Zeit gehabt, sein blasses Gesicht näher zu studieren. Er hatte immer einen dunklen Schatten um Kinn und Wangen. Bestimmt war auch seine Brust behaart. Seine hellen Augen schauten selten jemanden direkt an. Auf dem Tisch vor ihm bröselte Tabak, denn während er gelangweilt dem Kassenbericht lauschte wie alle, drehte er sich schon die Kippe für danach.
Sie glaubte nicht, dass er überhaupt ihren Namen kannte, denn es gab außer dieser Sitzung wenig Vereinsleben, kein Versammlungshaus, nur den Vorsitzenden Werner, den Kassenwart und eine Handvoll anderer Ehrenamtlicher, die sich um den laufenden Betrieb kümmerten. Und das Sommerfest auf dem Rasenrondell Ende August, aber da wäre Carola nie hingegangen. Zu viele Feinde.
Wie Krücke zu Hunden stand, wusste sie nicht, aber sie bildete sich gerne ein, dass er ihre Mimi zärtlich hochnehmen und an seine Brust drücken würde. Hinter seiner Blässe und den Augenringen musste ein nachdenklicher Mann stecken, der sich auf dem Klo womöglich freiwillig hinsetzte, anstatt die Brille vollzupinkeln.
Außerdem meinte sie, Ähnlichkeiten festzustellen zwischen ihm und ihrer ersten, großen Liebe, der sie als vierzehnjährige Austauschschülerin in England begegnet war. Christopher hatte er geheißen, ein großer, ruhiger, sanfter, freundlicher Schüler, der nebenbei Aquarelle malte, von denen sie zwei noch besaß. Ihre Austauschfamilie rückte in den Hintergrund. Ohne viel zu reden, waren sie jeden Tag nach der Schule Hand in Hand durch die Stadt gelaufen und hatten sich hinter Büschen innigst geküsst. Das Schicksal hatte sie auseinandergetrieben: Mit einer tränenreichen Szene auf einem Bahnsteig der Victoria Station endeten die Ferien. Sie schrieben einander noch monatelang glühende Briefe, aber schon das Telefonieren war damals viel zu teuer, also starb die Liebe in handverzierten Briefumschlägen, bevor sie überhaupt zu erstem Sex führen konnte.
Ein ähnliches Verliebtheitsglück war ihr danach nie mehr begegnet. Schmerz ja, aber der hatte sich deutlich anders angefühlt als das süße Sehnen nach dem englischen Christopher in der Ferne. In ihrem letzten Job als Verwaltungsfachangestellte hatte sie ein Verhältnis mit ihrem Chef gehabt, doch als sie durchblicken ließ, dass sie sich noch Hoffnungen auf ein Kind machte, hatte er ständig Ausreden, sie nicht mehr zu treffen. Da war ihr die kleine Erbschaft gerade recht gekommen - sie kündigte.
Als sich graue Strähnen in ihr blondes Haar mischten, erste Hitzewellen der beginnenden Wechseljahre ihren Körper erröten und schwitzen ließen, hatte sie sich zwar geärgert, aber auch erleichtert geseufzt und sich geschworen, nie wieder einen BH anzuziehen, der scheuerte und kniff, und sich keine Sorgen mehr um ihr alterndes Gesicht zu machen. Was ihr ewig nicht gelungen war, gelang ihr jetzt, ohne dass sie sich erklären konnte, weshalb: Sie machte sich frei davon, einem Mann gefallen zu wollen, und stellte fest, dass das ungeheuer entlastend wirkte. Das bisschen Sex fehlte ihr nicht wirklich.
Dass die Parzelle 11 auf dem Land der Sonne e. V. zu verkaufen war, hatte sie auf einem Radausflug entlang des Flusses im Vorbeifahren entdeckt - es hing ein laminierter Zettel am Parkplatztor. Als sie das Gelände betrat, blühte gerade der Zierapfelbaum hinter den Müllcontainern, und die Hecken begannen zu sprießen, und sie war ganz verzaubert von dem zugewachsenen Gärtchen mit der dunkelgrünen Holzhütte, welche Waschbecken, Toilette, Küchenzeile und Wohnraum enthielt. Der Knöterich wuchs schon in das einzige, große Fenster. Ein Sonnenstrahl fiel in das Vogelbad aus rostigem Eisen, das auf der schiefen Terrasse stand, und auf dem Dach prangte eine grün bemooste Satellitenschüssel.
Hier wollte sie alt werden, das war überschaubar und grün, das kostete im Betrieb fast gar nichts und heizen würde sie mit einem Werkstattofen mit Gaskartuschen. Außerdem gab es die Vereinsbadewiese, zu der auch sie einen Schlüssel überreicht, bekam. Dort konnte sie sich auf die Bank am Ufer setzen und den Sonnenuntergang über dem breiten Fluss genießen, so oft sie wollte, während die bedauernswerten Innenstädter dafür eine halbe Stunde S-Bahn fahren mussten, um sich dann alle auf demselben Fleck zu drängeln.
Als sie ihre Laube bezog, die kaum größer als ein Wohnwagen war, warf sie ihren letzten Lippenstift weg und alle Spitzenunterhöschen, behielt lediglich die bequeme Baumwollunterwäsche. Handwerklich war sie nicht sonderlich begabt, ließ einfach alles, wie es war, strich nur die Wände innen weiß, riss das zerfledderte Linoleum heraus, verlegte neues, das sie ungeschickt zuschnitt, rollte einen dicken Teppich aus. Trotzdem hatte sie im Winter entsetzlich kalte Füße, Mimi diente dann nicht zuletzt als Bio-Wärmflasche.
Um nicht in der Enge der Vereinswege zu ersticken, packte sie das Hündchen mindestens einmal wöchentlich in eine Tragetasche, bestieg im Sommer ihr grasgrünes, rostiges Rad, ließ sich auf dem breiten, roten Sattelbezug mit den weißen Fliegenpilzpunkten nieder und radelte den Kilometer zur S-Bahnstation. Diese lag an einer vielbefahrenen Ausfallstraße, und es war jedes Mal ein Schock für Bewohner des Land der Sonne, wenn sie aus ihrem stillen, wasserreichen, grünen Paradies kamen, und dann bei Rot an dieser Ampelkreuzung standen, an welcher der Großstadtverkehr lärmend vorbeizischte, in den sie auch gleich eintauchen würden.
Carola wanderte durch Museen und über Flohmärkte, trank Jasmintee in einem Straßencafé, ließ Mimi auf einem Grünstreifen ihr Geschäft verrichten, und hatte keine Ahnung davon, dass sie ununterbrochen ihren Gedankenstrom auf ihren Kleinsthund niederredete. ¨Jetzt aber schnell über die Ampel, nachher noch Milch kaufen, dieses abartige Plakat da, bist Du auch so durstig wie ich.¨ Mit anderen Menschen redete sie nicht, und das war umso erstaunlicher, als Hundehalter einander häufig grüßten und zwanglos ins Gespräch kamen, gleichgültig, ob die Hunde sich mochten oder einander mit gesträubter Bürste auf dem Rücken auswichen. Carola fühlte sich angenehm unsichtbar, und das war sie auch, denn niemand schaute sich nach einer Frau mittleren Alters um, die so ungepflegt verwelkte.
Es war ausgerechnet Werner, der die flüssig-orangefarbene Hundescheiße übersah, die vor dem Flaschencontainer in der Sonne trocknete. Er trat so unglücklich mit dem Vorderfuß hinein, dass die stinkende Schmiere sich über die Sandalensohle zwischen seine Zehen quetschte. Er fluchte. Während er zurück zu seiner Parzelle hinkte, um Fuß und Sandale zu reinigen, schwor er, sich diese Carola Birkenhuhn noch einmal vorzuknöpfen. Kein anderer Hund als ihr Spielzeugviech konnte das gewesen sein.
Er war auf dem Weg zu Parzelle 32, wo die neuen Besitzer schon auf ihn warteten, damit er ihnen die Vereinsmitgliedschaft erklärte, Pflichten und Rechte aufzeigte und die hundert Jahre alte Satzung überreichte, die zwar in wenigen Bereichen modifiziert worden war, im Wesentlichen jedoch unverändert galt und sämtliche Eventualitäten, die im engen Zusammenleben in einer Kleingartenkolonie auftreten konnten, klug vorausgesehen und geregelt hatte.
Über die neuen Vereinsmitglieder freute er sich. Es waren intelligente Leute, er Ingenieur mit einem Patent, das ihm offenbar zu Wohlstand verholfen hatte, sie Lektorin, die viel zuhause arbeitete. Mit ihren etwa fünfzig Jahren senkten sie den Altersdurchschnitt im Verein deutlich. Vielleicht waren sie sogar zu ehrenamtlicher Mitarbeit zu gewinnen, denn nur ein Bruchteil der Mitglieder engagierte sich. Den meisten war der Verein egal, solange Strom floss, das Pumpensystem funktionierte, und niemand auf ihrem Parkplatz stand.
¨Wir sind ja so glücklich!¨ hauchte Violetta. Sie trug ein weißes Spitzenkleid, drängte sich an ihren Mann: ¨Nicht wahr, Alexander, Liebster?¨
¨Es ist wie Urlaub hier¨, bestätigte dieser trocken und musterte derweil den Vereinsvorsitzenden, dessen schleichender Gang ihn misstrauisch machte. Es würde mit der Übergabe doch alles in Ordnung gehen? Die Kaufsumme lag noch beim Notar auf einem Anderkonto und würde erst an den Vorbesitzer ausbezahlt, wenn die Vereinsangelegenheiten geregelt waren.
Werner war „von Amts wegen“ geübt in solchen Gesprächen, strahlte trotz seiner windschiefen Dürre Beständigkeit aus, und so schüttelten sie einander nach einer halben Stunde und zwei Unterschriften die Hände, der Vorsitzende wünschte viel Glück, und die beiden Neulinge würden gleich am eigenen Ufer stehen, in die Ferne schauen und langsam begreifen, dass sie das von nun an immer tun konnten, ganz allein, nur sie beide, oder an Sommerabenden mit Freunden aus der kochenden Stadt.
Das weiße Spitzenkleid allerdings würde Violetta auf diesem Gelände nie wieder tragen, zu viele Umbauarbeiten, zu viel Gartenarbeit. Zudem würde auch sie von nun an täglich ihre Schubkarre vom Parkplatz zu Parzelle und wieder zurückschieben, beladen mit Getränkekisten oder Rasenschnitt. Das ging in Jeans und Gummilatschen besser. Und weil hier eigentlich niemand hohe Schuhe trug, man viel behaartes Bein sah und reichlich ausgebeulte Sweatshirthosen, würde Violetta es eines Tages sogar aufgeben, darauf zu achten, dass ihr T-Shirt und ihre Ohrringe zueinanderpassten. So etwas interessierte hier nicht einmal die Frauen.
In Zukunft würde das Paar frühestens Anfang Oktober wieder, wenn die Nächte zu lang, kühl und zu feucht wurden, um draußen auf der Terrasse zu leben, in die Stadt zurückkehren, und aus Violetta würde erst im Winterhalbjahr wieder eine Dame werden, die im Etuikleid und mit lackierten Fingernägeln ein Symphoniekonzert besuchte.
Auf dem Rückweg von seinen Amtsgeschäften spürte Werner wieder die nasse Ledersandale an seinem Fuß und entschloss sich, einen Umweg durch den Barschweg zu machen, und dieses Fräulein Birkenhuhn zur Rede zu stellen. Kaum, dass er vor dem rostigen Gartentor stand, dessen zerfallenes Schloss ein Kind hätte aufbrechen können, ertönte hinter dem braunen Plastiksichtschutz das grelle Kläffen des Chihuahuas.
„Frau Birkenhuhn?“, versuchte sich Werner gegen die Geräuschkulisse durchzusetzen.
Carola konnte angesichts der lärmenden Mimi schlecht vorgeben, sie sei nicht zu Hause. Während sie umständlich nach dem Gartentorschlüssel kramte, schlug das Hündchen bellend einen Salto nach dem anderen.
Aus drei Richtungen riefen Nachbarn, die man durch die Büsche nicht sehen konnte, einstimmig: „Entweder, er hört auf, oder er landet auf dem Grill!“. Es klang, als hätten sie dies lange geübt, und das hatten sie wohl auch.
Carola beeilte sich deswegen nicht, schlurfte die wenigen Schritte zum Gartentor, scheuchte das Hündchen zur Seite, fummelte den Schlüssel ins Schloss, öffnete einen Spalt, sah Werner trotzig an: „Ja?“
Werner hasste solche Konfrontationen, zumal er sicher wusste, dass sie in diesem Fall nichts brachten.
„Ich bin in Ihre Kacke getreten, also die von Ihrem Hund. Ich hatte Sandalen an…!“
Mimi war inzwischen zurück auf ihr Kissen geklettert, behielt aber den Feind mit gebleckten Zähnen im Blick.
„Das war nicht mein Hund!“ , antwortete Carola und schüttelte ihr Haar vor das Gesicht.
„Wir können noch andere Maßnahmen einleiten!“ Werner sprach lauter, als es seine Art war, aus persönlicher Betroffenheit, und weil ihn diese unverschämte Lüge außerordentlich aufbrachte.
Hinter verschiedenen Hecken hörten verschiedene Nachbarn alles mit und hofften inständig, dass nun endlich durchgegriffen wurde.
„Ja, ja“, fiel Carola dem Vereinsvorsitzenden ins Wort, und schob die Gartenpforte wieder zu.
Ihr Herz pochte, und sie fühlte sich umzingelt. Sie horchte, wie Werners Schritte sich entfernten. Den Rest des Tages versuchte sie, vollkommen geräuschlos zu leben, damit nur ja kein Nachbar mitbekam, was sie gerade tat oder nicht tat. Diese trugen das Gehörte jedenfalls sofort an all diejenigen weiter, von denen sie wussten, dass es sie interessierte.
Während es in Werner noch brodelte, verfasste er einen kühlen Mahnbrief mit Vereinsbriefkopf. Er würde ihn diesmal per Einschreiben schicken, anstatt ihn Frau Birkenhuhn unter der Pforte durchzustecken.
Ronald erfuhr von der Sache noch am selben Abend. Er hatte bereits in seinem Fernsehsessel gelegen und gelangweilt mit der Fernbedienung gespielt, während seine Frau sich im engen Duschbad die Fingernägel machte. Er war kein Leser und kein Radiohörer, wusste auch mit vielen Fernsehsendungen nichts anzufangen. Sein einziger Luxus war ein Sportkanal-Abonnement, das ihm erlaubte, sämtliche Spiele von Celtic Glasgow zu sehen, der Fußballmannschaft, der er seit seiner Kindheit treu war. In den neunzig Minuten Spielzeit wurde er wieder zum Vollschotten: Trank Bier aus Dosen, fluchte auf Englisch, jubelte auf Englisch und trug dabei stets das schon stark ausgewaschene Fan-T-Shirt über das Oberhemd gezogen, welches ihm sein Bruder einmal geschickt hatte, es war ihm viel zu groß. Doch jetzt wäre er beinahe weggedöst, als er Fitze rufen hörte: „Ej Ronny!“
Fitze war mal Klempner gewesen, Vereinsmitglied in dritter Generation, nur im Sommer hier. Seine Frau hatte früher den Bürokram gemacht, aber jetzt genossen beide das Leben. Sie hatten bereits eine Mittelmeerkreuzfahrt absolviert und planten für den Herbst den Besuch eines Musicals mit Busanreise und Übernachtung. Auf seiner Parzelle hatte Fitze ein solides, schiefergedecktes Häuschen gebaut, am Giebel ein Hirschgeweih, dessen Träger er einmal selbst erschossen hatte. Noch vor zehn Jahren hatte er unter anderem Ronald regelmäßig mit frischem Wildschwein- oder Rehfleisch beglückt, aber heute hing seine Flinte verschlossen im Schrank, denn mit seinen Hüftproblemen konnte er nicht mehr weit laufen. Seine beiden Enkel würden bald für eine Woche anrücken, und er hatte ein Plantschbecken für die beiden gekauft.
Jetzt hängte er sich mit seinen Armen über Ronalds Gartenpforte ein, und Ronald ließ sich ächzend auf der Treppenstufe vor seinem Häuschen nieder. So hatten sie wohl schon an die zehntausend Mal geplaudert. Ronald, eben noch schwer vor Müdigkeit, war wie elektrisiert, als Fitze erzählte, was er über drei Ecken wusste. „Der Birkenhuhn ihr Köter hat dem Werner auf die Sandalen geschissen!“
„Nein!“ Ronald schlug sich auf die Oberschenkel, dass es klatschte. „Holy shit, man!“
Das verstand Fitze nicht, aber er antwortete: „Doch!“
Das war das Entree zu einem langen Palaver, in dem noch einmal sämtliche Vorfälle zu Tage befördert wurden, auch die längst vergessenen. „Weeste, wie se Dir ma vor de Füße jespuckt hat?“ , erinnerte Fitze.
Ronald schlug sich gegen den kahl werdenden Kopf, „Kann she nicht einfach machen, was she will! Das muss eine Ende haben. Mein Abend soll ich genießen, stattdessen reg ich mich hier auf!“
„Jenau! Det es doch keene Jemeinschaft! So funktioniert det doch nich“, feuerte Fitze ihn an und beide bekamen hochrote Gesichter.
„I tell you, der Werner, der macht nothing. Das verpufft alles wie immer“, zischte Ronald.