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1.2.2 Natur als ästhetischer Genuss

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Um die Natur oder eine Landschaft nicht nur mit den Augen eines Bauern, eines Handwerkergesellen auf der Walz, eines seine nächste Schlachtordnung entwickelnden Feldherrn oder eines an seine Staatskasse denkenden Fürsten zu sehen, brauchte das christliche Abendland sehr viele Jahrhunderte. Die Natur als „schön“ zu beurteilen, ihr auch eine ästhetische Dimension zuzugestehen, solch revolutionäre Gedanken kommen erstmals im 18. Jahrhundert auf.

Es ist die Zeit, in der der europäische Adel sich verstärkt zum Freizeitvergnügen in der Natur aufhält, ihr näher kommt als vom Pferderücken, den gepolsterten Sitzen einer offenen Kutsche oder den abgezählten Schritten durch das Gartenparterre oder die Laubengänge eines Schlossparks. Man nähert sich der Natur noch mehr. Die vornehmen Damen in ihren Seidenkleidern sitzen mitten im Gras, es wird musiziert, erzählt und gespielt, wie es beispielsweise die Gemälde von Jean-Antoine Watteau (1684–1721) zeigen. Schäferspiele kommen in Mode. Modern gesprochen: Der Aufenthalt im Grünen bekommt erstmals einen Spaßfaktor. Die berühmte Aufforderung „Zurück zur Natur“, die Jean Jacques Rousseau (1712–1778) zugeschrieben wird, gehört zur Zivilisationskritik des 18. Jahrhunderts.

In der Wahrnehmung der Alpen lässt sich verfolgen, dass die frühen Wanderer und Reisenden in Kutschen und Sänften, die angesichts des gruseligen Ausblicks lieber die Vorhänge zugezogen hatten, noch keinen Sinn für die Schönheit der Hochgebirgslandschaft besaßen. Noch im 19. Jahrhundert ist man zweigespalten, bzw. unterscheidet klar zwischen dem „Wechsel hier von angenehmen, landschaftlichen Parthien mit den entsetzlichsten Wildnissen.“ (ZSCHOKKE (1842), S. 62)

♦ Wissen: Auf dem Weg zum Gotthardpass (1842)

„Ringsum steigen die Berge der Schöllenen senkrecht, glatt und kahl in grausenhafter Nacktheit empor; schwarze Mauer 100–1000 Fuß hoch. Man wandelt wie auf dem tiefen Boden eines ungeheuern Felsenkessels, oder vielmehr an einer Rippe desselben, längs welchem die Straße sich, unter überhangendem Gestein, über jähen Abhängen fortwindet. Oft scheint der Ausweg zu fehlen; und wenn er wieder erscheint, öffnet er nur die Aussicht in noch furchtbarere Wüstenei. Man erblickt den Strom der Reuß, statt tief unter den Füßen, vor sich oben. […]

Der Ausweg vom Thal der Schrecken droht Eingang eines noch grauenvollern Schauspiels zu werden. Und die der Wanderer, nach etwa hundert Schritten, aus der Dämmerung des Urnerlochs an’s Licht des Tages hervortritt, umfängt ihn eine neue Welt. Ein geräumiges, ebenes Wiesenthal, von grünen Bergen umfangen, liegt träumerisch vor ihm da“

Quelle: ZSCHOKKE (1842), S. 63

Doch die Entdeckung der Schönheit der Alpenlandschaft und die erste erfolgreiche Werbung darf man dem Mediziner und Botaniker Albrecht von Haller (1708–1777) zuschreiben. 1728 war der junge Mann mit dem Naturforscher Johannes Gessner quer durch die Schweiz gewandert und hatte Pflanzen gesammelt. Doch er muss den Blick nicht nur auf den Boden geworfen haben, die Schönheit der Hochgebirgslandschaft außerhalb der Botanik ist ihm ebenso aufgefallen. In seinem Gedicht „Die Alpen“, erschienen 1732, schwärmt er von der Schönheit der Natur und fügt für den Leser gleich naturkundliche Informationen hinzu. Dieses 25 Seiten umfassende Gedicht wurde in alle europäischen Sprachen übersetzt und erlebte bereits zu Hallers Lebzeiten 30 Auflagen. Neben den Frühformen von Reiseliteratur konnte im 18. Jahrhundert ein solches Gedicht Reise-, korrekter Wanderbewegungen, auslösen. Gleiches gilt auch für Rousseaus 1761 erschienenen Liebesroman „ Julie oder die neue Héloise – Geschichte zweier Liebender am Fuße der Alpen“, der, wie ein Zeitzeuge beobachtete, Fremdenströme auslöste, an „die heiligen Orte der Héloise von Rousseau, wohin jetzt alle Fremden von Lausanne aus wallfahrten und wo sich besonders Engländer mit der ‚Héloise‘ in der Hand wochenlang aufhalten.“ (KNOLL (2006), S. 79)

Die Engländer als Pioniere und Weltmeister des Reisens im 18./19. Jahrhundert waren auch die Ersten, die en gros die Schönheit von Natur zu schätzen wussten und diese in anderen Landschaften als auf ihrer Insel und entfernteren Ländern suchten. Ihre bewusste Annäherung an die Natur lässt sich in der Erfindung und Gestaltung des Englischen Landschaftsparks (→ Kap. 1.2.3) ausmachen, aber natürlich auch in ihrem Reiseverhalten.

Auch wenn die Engländer maßgeblich Trends in der Landschaftswahrnehmung und dem Tourismus gesetzt haben, wie es auch am Beispiel der Reisen durch das Rheintal im Geist der Rheinromantik zu beobachten ist, soll jedoch am Beispiel deutschsprachiger Reisender dieser Wandel angedeutet werden. Als Zeitzeuge dient Friedrich Schlegel, der seine Eindrücke in den 1805 erschienenen „Köln und Rheinfahrt. Briefe auf einer Reise“ schildert: „Bei dem freundlichen Bonn fängt die eigentlich schöne Rheingegend an; eine reich geschmückte breite Flur, die sich wie eine große Schlucht zwischen Hügeln und Bergen eine Tagesreise lang hinaufzieht bis an den Einfluß der Mosel bei Koblenz; von da bis St. Goar und Bingen wird das Tal immer enger, die Felsen schroffer und die Gegend wilder; und hier ist der Rhein am schönsten. Überall belebt durch die geschäftigen Ufer, immer neu durch die Windungen des Stroms, und bedeutend verziert durch die kühnen, am Abhange hervorragenden Bruchstücke alter Burgen, scheint diese Gegend mehr ein in sich geschlossenes Gemälde zu überlegtes Kunstwerk eines bildenden Geistes zu sein, als einer Hervorbringung des Zufalls zu gleichen.“ (SCHNEIDER (1983), S. 105)

Weitgehend frei vom romantisch inspirierten Blick auf die Landschaft des Rheintals war dagegen noch Georg Forster, der 1790 im Mittelrheintal zu Fuß und per Segelschiff unterwegs war. Auf den Gedanken, die Natur- und Kulturlandschaft des Mittelrheintals für ein sorgfältig gestaltetes Gemälde zu halten, kam der Naturforscher und Reiseschriftsteller nicht! „Für die Nacktheit des verengten Rheinufers unterhalb Bingen erhält der Landschaftskenner keine Entschädigung. […] Einige Stellen sind wild genug, um eine finstre Phantasie mit Orkusbildern zu nähren, selbst die Lage der Städtchen, die eingeengt sind zwischen den senkrechten Wänden des Schiefergebirges und dem Bette des furchtbaren Flusses, – furchtbar wird er, wenn er von geschmolzenem Alpenschnee oder von anhaltenden Regengüssen anschwillt – ist melancholisch und schauderhaft.“ (a. a. O., S. 72)

Dass Landschaften schön und malerisch – vielleicht zeitgemäßer ausgedrückt: fotogen – sein können und allemal diejenigen, in denen sich Tourismus abspielt, auch ästhetische Erwartungen zu erfüllen haben, bezweifelt heute niemand mehr. Auch durch das von Forster noch so negativ beschriebene obere Mittelrheintal, das es 2002 immerhin zum Weltkulturerbe der UNESCO gebracht hat, ziehen sich durch die Hänge viel begangene Fernwanderwege, zum Beispiel der zu den Top Trails of Germany gehörende Rheinsteig auf dem rechten und der Rheinburgenweg auf dem linken Ufer. Welche Landschaften Wanderer heutzutage in Deutschland besonders schätzen, verrät → Kap. 3.1.1.

Literatur

FORSTER, G. (1791): Ansichten vom Niederrhein. In: SCHNEIDER, H. (Hrsg.) (1983): Der Rhein. Seine poetische Geschichte in Texten und Bildern. Insel, Frankfurt, S. 67–86.

KNOLL, G. M. (2006): Kulturgeschichte des Reisens. Von der Pilgerfahrt zum Badeurlaub. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Primus, Darmstadt.

OPPENHEIM, R. (1977): Die Entdeckung der Alpen. Büchergilde Gutenberg, Frankfurt.

STEINECKE, A. (2010): Populäre Irrtümer über Reisen und Tourismus. Oldenbourg, München, S. 97–108.

SCHLEGEL, F. (1805): Köln und Rheinfahrt. Briefe auf einer Reise. In: SCHNEIDER, H. (Hrsg.) (1983): Der Rhein. Seine poetische Geschichte in Texten und Bildern. Insel, Frankfurt, S. 87–115.

ZSCHOKKE, H. (1842) Die klassischen Stellen der Schweiz und deren Hauptorte. Kunst-Verlag, Karlsruhe, Leipzig, Nachdruck Harenberg, Dortmund 1978.

♦ Website

▶ Der Universalgelehrte und Entdecker der Schönheit der Alpen

www.albrecht-von-haller.ch/d/index.php

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