Читать книгу Im Galopp durchs Nadelöhr - Gabriele Plate - Страница 4
Eine abscheuliche Nacht
ОглавлениеSchon am zweiten Tag ihrer Abwesenheit hatte man Karl ein anderes Mädchen ins Haus geschoben, um Luz zu ersetzten. Er war empört, Luz konnte man nicht ersetzen. Eine dralle, nicht hässliche aber schmuddelig wirkende junge Frau stand am Abend verschwitzt vor seiner Tür. Er schickte sie mit ungeduldig doch freundlich gehaltenen Worten davon. Karl hatte nicht mit der Beharrlichkeit der Mädchen gerechnet. Eine von ihnen musste diesen vorerst leeren Platz in seinem Haus besetzen und ebenfalls nach eigenen Wünschen ausnutzen. Eine große Überraschung wartete auf ihn.
Solange Luz del Mar ihren kranken Onkel pflegte, musste er täglich in der Bau-Kantine essen und seine Hemden der Camp-Wäscherei anvertrauen. Auch wenn ihn das mit der Gemeinschaftswäsche der Junggesellen noch mehr ekelte als das Essen der Kantine, hielt er es für unter seiner Würde, seine Waschmaschine in Gang zu setzen oder selbst zu kochen.
Ihm fehlten Luz del Mars unsichtbaren Fingerabdrücke auf seinen gebügelten Hemden, ihm fehlte ihr Geruch im Haus, den er sich einbildete, denn sie roch nicht. Ihm fehlte ihr Schlurfen in den Mokassins, ihr Essen, ihre Eigenwilligkeit, ihre Anwesenheit, alles an ihr fehlte ihm so sehr, dass er sich körperliche Schmerzen wünschte, um sich von diesem unfreiwilligen Verzicht abzulenken.
Karl hielt der Sehnsucht nicht mehr stand und hatte entschlossenen in ihr Dorf zu fahren und nach ihr zu fragen. Erst dann fiel ihm auf, dass er nicht einmal wusste, welchem Dorf sie angehörte. Am nächsten Tag machte er eine Runde durchs Camp, alle Putzfrauen verneinten, obwohl ihm jede von ihnen diesen Wohnort hätte mitteilen können. Eines der Mädchen gab ihm schließlich mit bösem Gesichtsausdruck die gewünschte Auskunft. Also machte er sich auf den Weg, das Abendessen hatte er verschmäht. Mit Hilfe einiger unfreundlicher, holperiger Auskünfte der Anwohner, stand er eine halbe Stunde später vor dem Pfarrhaus und war äußerst erstaunt, dass sie hier wohnen sollte. Sie hatte ihre Wohnverhältnisse nie erwähnt, er hatte auch nicht danach gefragt. Sicherlich hatten diese schmutzverklebten Dörfler ihn missverstanden und an die falsche Stelle geschickt!
Er ging trotzdem durch den gepflegten, von Zypressen beschatteten Eingangsbereich und klopfte mit einem Bronzeengel, der eigens dafür angebracht war, an die hölzerne Haustür, in der festen Annahme, dass hier keine Luz del Mar wohnen würde. Aber hier könnte er möglicherweise an einen zuverlässigeren Ansatz seiner Suche gelangen. Sie öffnete ihm die Tür und bat ihn freundlich einzutreten.
Karls Herzschlag machte einen Satz, er war vor ihm in die Zukunft der nächsten Sekunde gehüpft. Karl lief rot an vor Freude, ergriff schnell und behutsam mit beiden Händen ihren Kopf, hielt diesen fest und küsste ihr beide Wangen. Dann trat er ins Haus. Luz del Mar lachte leise und legte den Zeigefinger auf ihren Mund. Sie ließ ihn wissen, dass sie etwa noch zwei Wochen brauche, bis ihr Onkel wieder gesund sei, und dass sie ihn auf jeden Fall bis dahin pflegen wolle. Er schliefe gerade, aber später einmal, würde sie ihm diesen Onkel, den Pfarrer, gerne vorstellen. Falls Señor Karl das wünsche.
Karl war mit Allem einverstanden, in diesem Moment hätte er eine Verzichtserklärung auf sein Leben unterschrieben, wenn sie nur zurückkäme. Ihm entschlüpfte, sie schmerzlich vermisst zu haben. Auch dazu lachte Luz und lud ihn zum Abendessen ein.
Als er zum dritten Mal in das Pfarrhaus eingeladen wurde, hatte er sich richtig in Schale geworfen. Heute sollte er den genesenden Pfarrer kennenlernen, jene Bezugsperson, die Luz als die ihr wichtigste bezeichnete. Diese Person erschien Karl eher ein Vater, als ein Onkel zu sein. Ihre Mutter lernte er ebenfalls kennen. Eine energische Frau, etwa Anfang vierzig, die recht uninteressant auf Karl wirkte. Sie beteiligte sich kräftig und unpassend am Gespräch, lachte aber nicht ein einziges Mal, obwohl sie Spaß miteinander hatten, und sie verabschiedete sich sehr früh, um in der Küche zu verschwinden. Eigenartigerweise vermittelte ihm etwas undefinierbar Gedrungenes dieser Frau, den Eindruck, als hätte nicht sie in diesem Haus das Sagen, sondern ihre Tochter. Und als geschähe das mit ihrem Einverständnis. Karl spürte nicht den geringsten Anflug von Machtkampf zwischen den Frauen, dafür hatte er ein sicheres Gespür. Zu dem Pfarrer spann sich gleich beim ersten Treffen ein gutes Einvernehmen. Karl fühlte sich wie ein Mann an dessen Seite, nicht, wie ein um die Tochter werbender Hammel, der er eigentlich war. Er versuchte seine hungrig bewundernden Blicke auf Luz unter Kontrolle zu halten, seine Sehnsucht zu verbergen. So war es ihm gelungen sich halbwegs wie ein normaler Mensch zu benehmen.
Am nächsten Morgen, sehr früh, Karl kam gerade in seinem geliebten Morgenmantel aus dem Bad, stand die nächste junge Frau vor der Tür. Diese war entschieden beherzter als das schmuddelige Ding einige Tage zuvor. Sie wirkte auch appetitlicher, trat sofort ins Haus und stürzte sich in die Küche. Der Señor Bauleiter hätte sie geschickt. Was natürlich gelogen war.
Karl hatte sich schon verspätet, heute sollte ein wichtiger Abschnitt der Sprengung für den Tunnelbau begonnen werden, dabei musste er unbedingt anwesend sein und dem Sprengmeister einige Bedenken, was die Bohrung der Sprenglöcher betraf, unterbreiten. Er ließ die junge Frau im Haus zurück und stürzte in seinen Pickup. Um diese Putzwillige könnte er sich noch später in der Mittagspause kümmern. Es konnte ihm nur recht sein, dass sie vorher alles in Ordnung brachte. Doch ein Unfall auf der Baustelle ließ ihn nicht vor dem Abend zurückkommen. Als er dann am Abend müde und abgespannt zu Hause eintraf, hatte er die junge Frau total vergessen.
Sie hatte auf ihn gewartet, das Haus blitzte, alles war bestens erledigt. Sie brachte ihm das Essen, von dem er sehr wenig zu sich nahm. Es schmeckte abscheulich. Da stand sie nun vor ihm, mit geöffnetem Blusenknopf und sah ihn auffordernd an. Sie wirkte munter und sehr selbstbewusst.
Karl war schlicht und einfach zu müde, um sie hinauszuwerfen. Sie blieb und unterhielt ihn. Er wollte ihre Unterhaltung nicht, aber er fühlte sich neben seiner Müdigkeit auch stumpf und vor allem überrumpelte ihn die Einsamkeit, die auf seiner Seele klebte, wie eine schwere nasse Wolldecke. Er ließ sie reden, lachen, scherzen und ihm den Wein immer wieder nachschenken. Der Wein schmeckte gut, aber ganz anders. Das war nicht seine bevorzugte Sorte, Tacama, aus seinem Weinregal?
Nein, Señor, das ist unser selbst gekelterter „vino de la casa“, etwas ganz besonderes, zu meinem ersten Tag in ihrem Haus, zur Begrüßung. Sie wies grinsend auf den fast leeren Krug.
Der erste Tag wird auch dein letzter sein, dachte Karl entschlossen und trank mehr als für ihn üblich war. Schnell fühlte er sich eher benommen als betrunken, er wollte nur noch ins Bett. Sie kam ohne Aufforderung mit ihm, entkleidete ihn und sich in Windeseile und legte sich neben ihn. Er lallte mit letzter Willenskraft, sie solle sofort verschwinden, leistete aber keinen Widerstand, obwohl ihr Verhalten ihm schmerzhaft zuwider war, denn sie stürzte sich auf ihn, und er war nicht mehr Herr seiner Sinne.
Karl fiel in einen Rausch, den er sich nicht erklären konnte, denn er mochte diese Frau ganz und gar nicht. Verdammt, warum hatte er so viel getrunken. Er fühlte sich wie gelähmt und trotzdem sexuell überaus erregt, was seinen Penis allerdings bis zu einem gewissen Grad unbeeindruckt ließ. Dieser war nicht bereit, in die Vagina dieses dreisten Wesens einzudringen, immer wenn sich ihr Schambereich näherte, so sehr sie sich auch bemühte, „schlupfte“ er. Doch als sie ihre breite, kurze Nase, mit den unproportioniert großen Riechöffnungen, zwischen seine Oberschenkel schob, sie hockte rittlings schräg über ihm, und sein Glied in ihrem Mund versank, huschte der blaue Tassenhenkel durch seinen benebelten Sinn. Er entledigte sich seines Spermas in ihre Mundhöhle. Das missfiel dieser Frau nicht, denn genau das diente ihrem Bestreben. Karl schlief sofort danach wie besinnungslos ein.
Einige Male wurde er von dieser Verrückten in der Nacht geweckt, sie wollte mehr. Er musste mit gelähmten Erstaunen, wie aus weiter Ferne, feststellen, dass sie sich schon wieder mit ihren Zähnen, Lippen, Zunge, alles was ihr Mund hergab, an seinem Glied zu schaffen machte. Er spürte sogar die Rillen ihres Gaumens bis zum Zäpfchen. Spürte er das wirklich?
Karl war immer noch wie gelähmt und trotzdem geil, er wollte sie nicht, war aber unfähig sie abzuschütteln. Er konnte sich und diese Furie in seinem Bett, im nächtlichen Schein der Camp-Laternen, beobachten, doch er vermochte sich nicht zu wehren. Er meinte das Opfer einer Vergewaltigung zu sein, als sei er gefesselt und geknebelt mit unsichtbarer Schnur. Er konnte auch nichts sagen, sie zum Beispiel beschimpfen. Etwa alle Stunde wurde er wach, da sie sich wieder an ihm zu schaffen machte. Sie würde ihn zu Tode auslaugen. Dann schlief er wieder ein.
Was Karl natürlich nicht bemerkte war, dass es ihr nicht um die fraglichen Sinnesfreuden ging, sondern um sein Sperma, bis zum letzten Tröpfchen, welches sie nicht schluckte, sondern sorgsam zwischen ihren körperwarmen Mundschleimhäuten aufbewahrte. Sie hatte mit der Oral-Version spekuliert und sich vorbereitet. Wenn er wenige Sekunden nach ihrem Übergriff eingeschlafen war, schlich sie ins Badezimmer, erwärmte zwischen ihren üppigen Brüsten einen kleinen, fleischfarbenen Gummiball mit einer Öffnung an einem seiner Pole, an der eine Kanüle angebracht war. Sie presste mit einer Hand das Bällchen luftleer und saugte durch das erzeugte Vakuum das glibberige Gut mit dieser Kanüle aus ihren Backentaschen und schob es sich so tief in ihre Vagina, wie die Kanüle es zuließ. Der kleine Ball verschwand beinahe in ihrem Körper.
Sie lag auf einem Handtuch auf dem Fußboden, den Hintern hatte sie halb, mit leicht gespreizt erhobenen Beinen, an die Wand gelehnt. Sie drückte den Ball leer und spürte die warme Fracht in sich verschwinden. Diese Prozedur vollbrachte sie während der nächsten zehn Stunden erstaunliche acht Mal.
Es war die Zeit ihres Eisprungs, und sie hatte diesen gutgebauten Gringo schon ausgewählt, bevor diese Schlampe mit den Glasaugen ihn ihr weggeschnappt hatte. Sie wollte unbedingt von diesem Mann schwanger werden, das entsprach einer Lebensversicherung. Zugegeben, er war ein Schwächling, kein Mut und Durchsetzungsvermögen, aber er war ein reicher Europäer, mit gesunden Zähnen und ohne Brille, das gab es nicht oft. Außerdem lag die Schwäche in der jeweiligen Erziehung, und dafür würde sie zuständig sein. Ihr Sohn würde ein Held werden.
Neuerdings zog eine Advokatin durch die Dörfer, die von unwilligen Vätern Vaterschaftstests erzwang, auch von Ausländern. Sie half den jungen Mädchen, die schwanger aber nicht geheiratet worden waren, mit Forderungen nach Alimenten aus der Patsche. Auch wenn es nicht immer das wünschenswerte Resultat einbrachte, denn viele der Männer hatten, außer ihrer “fuerza en la canut“, der Kraft im Kanu, nichts zu bieten. In diese Patsche wollte die Aushilfe erst einmal geraten, um dann wohlbedacht herausgezogen zu werden. Es gab wenig Möglichkeit vor Ort, eigentlich kaum eine greifbare Alternative, um „etwas“ zu werden. Von einem Gringo entjungfert, wurde ein Mädchen fortan von jedem Mann unter den Einheimischen verachtet. Von einem Gringo geschwängert zu werden, bedeutete ein Verstoß aus der Dorfgemeinschaft, was, wenn man es schlau anstellte, zur bedauernswerten Nebensächlichkeit schrumpfte. Man erhielt eine großzügige Abfindung, hatte genug zum Leben ohne Arbeit und konnte sogar in die Schule gehen, wenn man das wollte. Man konnte in die Stadt ziehen und einen richtigen Mann suchen.
Dieses Gelingen schwebte der Aushilfe vor Augen. Einige Tropfen glitten aus ihr heraus. In Empfangsstellung, den Hintern halb hoch gegen die Wand gelehnt, unterdrückte sie ein Husten. Sie blieb noch eine ganze Weile liegen und entschied, dies war der letzte Gang. Den kleinen Gummiball hatte sie aus dem Hausmüll der vorherigen Señora gefischt, ihrer letzten Brotgeberin, die sie hinausgeworfen hatte. Angeblich hatte sie dem Herrn des Hauses verführerisch zugeblinzelt und ihm in den Schritt gegriffen. Dabei hatte war er es, der geblinzelt hat, ihr an den Hintern grapschte und verstohlene Handküsse zuwarf. Lächerlich, dieser Dickmops mit der Glatze.
Sie hatte täglich die Müllsäcke durchforstet. Diese Leute waren dumm, sie warfen brauchbare Sachen weg und kauften Neues, was ebenso, irgendwann, ohne dass es etwa unbrauchbar geworden wäre, auch wieder im Müll verschwand. Ein kleiner Gummiball, wie dieser, war auch den Frauen im Dorf bekannt. Man füllte ihn mit Salzwasser und blies es in den Darm, die übliche Säuberungsaktion vor einer Niederkunft. Mit diesem Ball führte man auch Zitronensaft oder Essiglösung in die Vagina, wenn man von Trichinen oder Pilzbefall geplagt wurde. Ja, es war ein nützliches kleines Gerät, aber eine künstliche Befruchtung damit, war sicher nicht im Sinne des Erfinders gewesen. Das war ihr eigener genialer Einfall, ihr Trick, und sie würde es niemandem verraten. Nicht über den Tod hinaus. Aber warum der Ball hier im Müll gelegen hatte, war ihr ein Rätsel, denn jede Europäerin bekam ihr Baby im Hospital, als wäre sie erkrankt. Und Pilzbefall? Das konnte sie sich bei diesen sterilen Frauen nicht vorstellen.
Was sie nicht alles und wie oft gesäubert haben wollten. Bettbezüge, Fenster, Töpfe, Schuhe und jeden Tag erneut, alle Teller. Hier war es auch allgemein üblich, sich mehrere Male am Tag einzuseifen und mit heißem Wasser abzuwaschen. Warum? Um sich nicht selbst riechen zu müssen?
Sie mochte ihren Geruch und fand es komisch, dass dieses Reinlichkeitsbedürfnis als normal galt, dass es sogar gefordert wurde. Sie schlief in Decken, die man zweimal im Jahr lüftete, ohne Laken. Bettbezüge hatte sie nie zuvor in der Hand gehabt. Die Existenz dieser unpraktischen Stoffteile waren ihr aber aus der Fernsehreklame, schon vor der Arbeit im Camp, bekannt gewesen,
In ihrem Dorf hatte es lange Zeit nur einen einzigen Fernsehapparat gegeben, der stand auf einer überdachten Veranda des Dorfkrämers, dem einzigen Ladenbesitzer weit und breit. Unterhalb dieser Veranda entstand jeden Abend eine kleine Menschenansammlung. Kinder, alte Leute und Jene, die ihre Tagesarbeit vollbracht hatten, stierten in die blau flimmernde Glut, gefesselt von all den Herrlichkeiten und Versprechungen, hockten sie im Staub. Der Krämer war großzügig, er verlangte keinen Eintritt, denn er stellte „la tele“ sowieso an. Jeden Abend, für sich und seine Frau, also keine zusätzlichen Kosten. Außerdem hielt er seine Kunden damit bei Laune und machte sie mit Hilfe des Fernsehers auf bisher unbekannte Produkte aufmerksam. Einige verdienten jetzt sogar Geld, dadurch hatte er sein Lager weniger vollgepackt mit Tauschobjekten, was ihn immer zusätzliche Arbeit kostete und auch ein gewisses Risiko mit sich brachte, da er Käufer dafür suchen musste. Für dieses Risiko verlangte er allerdings ein Vielfaches an Gegenwert.
Der Generator orgelte gegen den Lautsprecher an, aber was verstanden werden sollte, wurde gesehen. Man sehnte sich nach amerikanischen Jeans, nach Tisch und Sofa und nach elektrischen Geräten, obwohl es kein öffentliches Stromnetz gab. Da sah man Toiletten mit Wasseranschluss und Autos mit eigener Garage. Ganz oben, auf ewig unerreichbar in der Wunschliste, thronte das Auto. Solch eine Garage aus der Fernsehserie, mit Betonboden, Fenster und Tür und einem Dach aus Ziegeln, erschien den Dorfbewohnern wie ein Luxushaus. Sie wollten es sich holen.
Karl versuchte am nächsten Abend schrittweise, diese abscheuliche Nacht in sein Gedächtnis zu rufen. Die Erinnerung verschwand in einem Nebel. Kein schwarzes Loch, aber auf eine ihm unbekannte Weise nicht greifbar. Er stöberte verstört einige Fetzen der Erinnerung auf, sie huschten davon, er befürchtete den Verstand zu verlieren. Sein Erinnerungsvermögen hatte noch nie zuvor versagt.
Was Karl nicht wusste, betraf das offene Geheimnis, dass es in diesen Landen, hoch oben in den Bergen oder im tiefsten Regenwald auf der „anderen Seite“, Beeren, Kräuter, Wurzeln, Pilze, Kaktusfrüchte oder spezielle Rinden gab, die man sorgsam sammelte und je nach Bedarf einem Feind oder Freund verabreichte. Auch hochgeschätzte Gifttropfen, aus diversen Schlangenzähnen oder Froschkehlen abgesaugt, wurden von den dafür talentierten Menschen gesammelt. Man konnte all das in versteckten Hütten erwerben. Unter diesen Schätzen bildeten die bewusstseinserweiternden Pülverchen und die Aphrodisiaka die Renner. Auch die Nachfrage nach der tödlichen, im Blut nicht nachzuweisenden Dosis, für einen gehassten, gefürchteten oder einfach überflüssigen Menschen, der einem das angestrebte Ziel verwehrte, war beachtlich.
Karls selbsternannte Aushilfe hatte sich eingedeckt und den angeblich hausgekelterten Wein für ihn präpariert. Diese Gegend war kein Weinanbaugebiet, das hatte Karl ebenfalls nicht beachtet. Er hatte sich eine besonders hohe Dosis einverleibt, eine teuflische Mischung eines Aphrodisiakums und verschiedenen Lahmlegern des eigenen Willens. Er konnte denken was er wollte, der Wille gehorchte ihm nicht, und seine Libido spielte dazu verrückt. Er war nicht überaktiv gewesen, nur sein Geschlechtsteil war es, etwa so als hätte er in Kokain gebadet. Ansonsten aber war seine Aktivitätsmöglichkeit, bis auf eine reduzierte Denkfähigkeit, fast lahmgelegt gewesen.
Der Angst- und Ekelauslöser saß allerdings in dem intakten Bereich des Gehirns, er kam direkt aus dem unkontrollierbaren Teil des Unterbewusstseins der forcierten Libido in die Quere. So siegte dieser Effekt über die hinterhältig eingeflößte, provozierte Geilheit. Sein Penis ließ sich zwar reizen bis zum Bersten, aber er ließ sich nicht in „ihr Loch“ befördern. Und genau das Wenige aber Ausschlaggebende war es, woran Karl sich noch erinnern konnte, einzig und allein an die Tatsache, dass er nicht in ihr „drin“ war.
Er schüttelte sich, es war ein Alptraum. Wie konnte er das zugelassen haben, betrunken oder nicht. Er füllte die Schüssel mit heißem Wasser für das Kamillebad. Es war die größere Schüssel aus der Küche, in der Luz immer die Zwiebelringe für das ceviche in Salzwasser ausdrückte. Die Kamilleblüten hatte sie ihm vor Wochen mitgebracht. Warme Umschläge damit, hatten ihn von einer üblen Bindehautentzündung befreit. Dieser ewig staubige Wind. Ach, Luz del Mar, dachte er sehnsüchtig.
Es war Abend, er saß breitbeinig auf einem Stuhl, die Schüssel zwischen den Beinen. Sein Penis war wund und baumelte über den Rand in dem wohltuend warmen Heilwasser. Die Vorhaut war leicht eingerissen und blutete ein bisschen. Karl empfand Schmerzen und hätte am liebsten geweint, nicht wegen der Schmerzen, er fühlte sich einfach zum Heulen elend. Seiner Erinnerung der vergangenen Nacht war nicht weiter auf die Sprünge zu helfen, mit Klarheit erfasste er nur den nächsten Morgen und ihren Rausschmiss.
Karl hatte am späten Vormittag, nach dem Besäufnis, wie er es unwissend nannte, dieses Weib nackt neben sich vorgefunden. In seinem Bett! Er hatte sie erschrocken und mit Abscheu betrachtet. Stellte sie sich schlafend? Mit spitzen Fingern hatte er sie angetippt, als sei sie eine Leiche, als wolle er auf diese Weise herausfinden, ob sie noch am Leben sei. Hatte er sie etwa erwürgt? Dann schlug sie die Augen auf, sie lebte und sah ihn mit ihrem breiten Grinsen an.
Guten Morgen Geliebter, mi Cariño, mein Zärtlicher, dröhnte es gegen seine Gehörorgane. Karl rollte sie aus seinem Bett und schob sie mit Gewalt vor die Haustür, und da sie es verweigert hatte sich anzukleiden, war sie noch splitternackt. Ihre Kleidung flog aus dem Fenster.
Endlich war sie draußen. Aber während sie sich mit erstaunlich wenig Eile in diesem Draußen angezogen hatte, Karl hatte durch das Fenster gelugt, trat sie im Fünfsekundentakt gegen die Tür. Zur Erheiterung einiger Zuschauer, die stehengeblieben waren, um dem Spektakel beizuwohnen. Keine außergewöhnliche Szene im Camp. Sie hatte laut nach ihm gerufen, schrie beinahe und bediente sich dabei, für alle hörbar, der üblichen Kosenamen für einen Geliebten. Die Tür blieb ihr verschlossen, und sie zockelte nach etwa fünf nervenaufreibenden Minuten davon.
Karl atmete bei dieser Erinnerung tief ein und mit einem schweren Seufzer wieder aus. Wohlig entspannt lag nun sein geschundener Penis in dem warmen, duftenden Kräutersud. Plötzlich, ein energisches Klopfen an der Haustür.
Karl schreckte auf und drückte die Beine zusammen. Es war schon dunkel, wer wollte so spät noch etwas von ihm? Luz del Mar? Freudig sprang er auf, die Schüssel kippte, die Hälfte des Wassers schwappte auf seine Hose, die zu seinen Fußknöcheln lag. Er klemmte schnell das bereitliegende Handtuch zwischen seine Schenkel, tupfte in Eile, aber doch mit äußerster Vorsicht den wunden Freund trocken und zog das nasse Kleidungsstück mit seinen beschädigten Bügelfalten wieder hoch. Er öffnete die Tür. Die Aushilfe stand auf der Schwelle. Karl stieß vor Schreck einen Schrei aus, als stünde der Teufel leibhaftig vor ihm. Er warf sich von innen mit der rechten Schulter gegen die Tür, eine Hand hielt gleichzeitig seine rutschende Hose, die noch nicht geschlossen war. Die Frau schob blitzschnell den Fuß zwischen Tür und Rahmen und schlüpfte in den Raum, während Karl in Panik versuchte den Reißverschluss seiner Hose hochzuziehen. Dieser hatte sich verhakt, es klappte nicht. Sie bemerkte, dass er an seinem Hosenschlitz tätig war und riet ihm augenzwinkernd, sich noch ein paar Minütchen zu gedulden, erst wolle sie hier Ordnung schaffen, dann erst käme das Vergnügen.
Karl rannte mit offener Hose aus dem Haus und sprang in sein Auto. Seine lästige Angewohnheit, den Autoschlüssel stecken zu lassen, erfreute ihn jetzt. Er stob in unpassender Geschwindigkeit und nasser Hose über die staubige Camp-Straße, die Schranke öffnete sich, bevor er dort anhielt, da der Posten ihn schon von weitem erkannte. Karl raste in die nächtliche Wüste hinaus.
Die Straße aus der Richtung Chilete war schmal und schlecht asphaltiert. Wenn sich zwei PKWs entgegenkamen, konnten diese ohne Mühe aneinander vorbei, wenn aber nur ein Lastwagen an der Begegnung beteiligt war, musste schon eins der beiden Fahrzeuge weit an den Rand ausweichen und bedeutend die Geschwindigkeit drosseln. Einer Geschwindigkeit von sowieso nur höchstens sechzig Stunden Kilometer.
Kamen sich zwei Lastwagen entgegen, musste einer der beiden Fahrer sich schnell entschließen in den Straßengraben zu lenken und anzuhalten. Der Entgegenkommende rauschte dann wie ein Gewinner an ihm vorbei. Meist erkannte man schon von weitem, welcher der größere Wagen war, und diese Tatsache entschied, wer an den Rand der Straße auszuweichen hatte, der kleinere. Ein ungeschriebenes Gesetz. Tagsüber, bis spät in den Abend hinein marschierte eine nicht enden wollende Reihe von Menschen an diesem Straßenrand entlang. Mit Säcken, Hühnern, Krügen oder Kindern beladen, marschierten sie in beide Richtungen. In ein Dorf hinein oder aus einem Dorf hinaus, in das nächste. Wenn sich ein entfernter Lastwagen schon mit Hupgetöse anmeldete, stoben diese Menschen auseinander, sprangen schimpfend vom Asphalt, einige Meter in die Seitenbereiche der Straße hinein und rissen ihr Vieh, das sie oft neben sich herlaufen hatten, mit sich.
Karl raste einem dieser belebten Dorfausfahrten entgegen. Er roch die Nähe des Dorfes schon von weitem, sie stank nach Urin und Müll. Plötzlich erkannte er einen Tanklastwagen, dessen Rücklichter nicht funktionierten, direkt vor ihm. Karl hupte anhaltend und versuchte im letzten Moment zu überholen. Er hatte auch die oberen Scheinwerfer des Pickup angestellt, und so wirkte sein Wagen, wahrscheinlich durch den Rückspiegel des anderen Fahrers, bedrohlicher als er war. Vor allem größer!
Der Lastwagenfahrer reagierte zwar, aber nicht ganz wunschgemäß, er fuhr nur wenig an den Rand der Straße, nicht weit genug, um ihn überholen zu können, und er bremste vorher nicht genügend ab. Um einen Auffahrunfall zu vermeiden, war Karl gezwungen eine Vollbremsung zu machen. Es krachte fürchterlich. Menschen schrien und Hunde bellten.
Karl stand mit dem Heck im Graben der Gegenfahrbahn, ihm war nichts passiert. Er stieg aus und sah einen großen, dunklen Körper vor dem Lastwagen auf der anderen Straßenseite liegen. Ein Bauer schimpfte fürchterlich, seine Frau weinte. Der Lastwagenfahrer sprang von seinem hohen Sitz herunter, eilte um den Kühler und betastete besorgt den rechten Kotflügel und seinen stark beschädigten Scheinwerfer. Er fluchte ebenfalls.
Karl war zuerst zu dem dunklen, leblosen Körper geeilt und hatte erleichtert festgestellt, dass es sich um einen Esel handelte, er lag halb auf der Straße. Sein Besitzer schimpfte immer noch. Endlos geschriene Sätze flogen Karl um die Ohren. Es sei sein einziges Zugtier und nun könne er morgen nicht das Feld pflügen. Die alte Frau begleitete das Gezeter mit anhaltendem Klageton, als sei ein Familienangehöriger verstorben. Dieses Jammern drang in alle Poren. Jetzt brüllte Karl den Lastwagenfahrer an und überschrie das Spektakel. Seine Fluchtreaktion im Camp hatte sich zu Wut gestaut und explodierte, er packte sogar den Mann drohend beim Kragen und schüttelte ihn. Dieser Mistkerl habe verdammt noch mal kein einziges Rücklicht in Ordnung, das gäbe eine Anzeige, er würde jetzt über Funk die Polizei rufen.
Sein Spanisch platzte gut verständlich, laut und aggressiv aus ihm heraus. Karl suchte nicht eine halbe Sekunde nach einem Wort. Der Fahrer zeigte ihm den Mittelfinger, stieg in sein Gefährt und fuhr davon. Danach verschwand der Rest des Menschenauflaufs spurlos, ohne einen weiteren Laut von sich gegeben zu haben. Das Wort Policía hatte alle in die Flucht geschlagen, niemand wollte gezwungen werden, Zeuge für irgendetwas zu sein. Die beiden Besitzer des Esels hatten ihr Klagen nicht eingestellt, sie umkreisten Karl und schimpften auf ihn ein. Sie zerrten an ihm.
Ein anders Auto kam vorbeigerauscht und hätte beinahe Karls unbeleuchteten, immer noch halb quer auf der Straße stehenden Pickup gerammt. Karl sprang in seinen Wagen, lenkte ihn aus dem Dreck und schaltete die Warnlichtanlage an. Dann stieg er noch einmal aus und sah sich den Esel mit der Taschenlampe an. Er wollte sicher gehen, dass das Tier tot war. Die Frau klammerte sich schnell an seinem Arm fest und jammerte ihre unverständlichen Worte, der Mann machte allerdings eine sehr verständliche Geste. Er rieb seinen geschwollenen Daumen mit nach oben gerichtetem Handteller gegen die Kuppen von Zeige- und Mittelfinger. Im Schein der Taschenlampe, vor dem blutigen Kopf des Esels, konnte man eindeutig erkennen, dass es sich um eine Geldforderung handelte.
Karl fühlte sich nicht schuldig, oder nur ein wenig, aber das Gejammer der Frau zerrte so bedenklich an ihm, dass er sich von ihr losriss und völlig entnervt zum Auto hechtete. Der alte Mann sprang flink auf die Ladefläche und klopfte wütend aufs Dach. Die Alte klemmte sich vor sein Auto. Karl holte aus seinem Handschuhfach ein Bündel Geldscheine heraus, stieg aus und reichte es der Frau. Ohne nachzuzählen verschwand sie im Schatten der Nacht. Als Karl sich nach dem Mann umdrehte, war dieser ebenso im Dunkel verschwunden, lautlos, wie verschluckt. Keine Menschenseele war zu sehen, wohin waren denn all diese sonnengegerbten Geschöpfe plötzlich verschwunden? Schnell und lautlos, wie die Eidechsen.
Da stand er nun, einsam auf der Landstraße, in dunkler Nacht, neben einem toten Esel. Kein Ton war zu hören, nur die wenigen, verdorrten Blätter eines einzigen Baumes in der Nähe verursachten ein unerwartetes, zartes Rascheln. Man konnte doch dieses tote Tier nicht hier liegen lassen.
Er blickte in das funkelnd klare Sternenzelt, wie in etwas völlig Unpassendes in diesem Pfuhl der gewaltlosen Gewalt. Dieser Reichtum an Schönheit mit seinem Gegensatz zur Macht der Armut, ergriffen Karl und er blieb benommen einige Minuten neben dem toten Esel stehen, als sei er ein Freund. Karl spitzte die Ohren, dann hörte er von Ferne das Bellen eines Hundes, oder war es ein Wolf? Er hörte sogar ein Quaken der Frösche. Konnte das sein, hier in dieser staubigen Trockenheit? Wo sollten diese Tiere hergekommen sein, vielleicht aus der letzten Regenzeit überlebt?
Ungewöhnliche Gedanken für Karl, eigentlich kümmerten ihn Frösche einen Scheißdreck, er wusste nicht einmal, dass sie existierten, und nun wunderte er sich über ihren Aufenthaltsort und war besorgt, ob sie genug Wasser hätten? Er versuchte das tote Huftier in den Unrat des Straßengrabens zu schaffen, sonst würde das nächste Auto es möglicherweise noch einmal überfahren. Vielleicht einen weiteren Unfall verursachen! Er zerrte und schob das schlaffe noch warme Tier, ergriff mit beiden Händen die Hinterhufe, ein Vorderbein, die Ohren, konnte es aber keinen Zentimeter vom Fleck bewegen. Erschöpft entschuldigte er sich bei dem toten Tier. Etwas ebenfalls sehr Ungewöhnliches für Karl, etwas, das er selbst gar nicht bemerkte. Es überkam ihn eine schmerzhafte Abscheu, Mitleid oder Ekel, er wusste es nicht. Warum ließen sie dieses Tier hier liegen?
Karl empfand die abschreckend erstrangige Gier dieser Menschen nach Überleben, ihre festgefressene Armut, als beleidigend, gegenüber der puren Schönheit des Sternenhimmels über sich. Gegenüber der Nacht. Diese erhabene Stille und sein Glanz aus der Weite geschöpft, erschien ihm wie nicht zugehörig als Gegenüber, das konnte nicht der Spiegel der Welt sein. Einer Welt mit gewaltiger und trotzdem passiver, so erschreckend offensichtlicher Lebensgier, die auf der Stufe gleich nach dem Atemschöpfen hockte und ihre Prioritäten in Soles gewickelt sah. Das Geld, dreckige Papierlappen besaßen uneingeschränkte Macht über Leid oder Freude, über Lachen oder Weinen, und es gab niemals genug davon, um die Gier versiegen zu lassen, sie ans Kreuz zu nageln. Es stieß ihn ungeheuer ab.
Er stieg in sein Auto und fuhr los. Erst nach einigen Kilometern erkannte Karl, dass er sich wieder in Richtung Camp bewegte. Die Richtung, aus der er geflüchtet war. Doch er hatte sich beruhigt, er war erschöpft und auf eigenartige Weise von einem Glücksgefühl ergriffen. Von der Stille entfacht, die er während seines kurzen Ausflugs in den nächtlichen Wüstenhimmel erhascht hatte? Von der Demut, die er empfand, ohne dass sich seine sonst so überragende Überheblichkeit einstellte? Eine Art unausgesprochener Dankbarkeit seinem Schicksal gegenüber, der Erkenntnis, dass es ihm gut ging, dass er gesund war und kein peruanischer Kleinbauer oder ein Esel? War er wirklich kein Esel? Karl rollte ins Camp zurück, in sein Bett. Allein.
Am nächsten Nachmittag ergab es sich, dass Karl, da der zuständige Sprengmeister erkrankt war, eine Nachlieferung Dynamit begleiten musste und an dem nächtlichen Unfallort vorbeifuhr. Der Esel lag aufgedunsen in der prallen Sonne. Er würde jeden Moment platzen und Karl hoffte inständig, es möge nicht in dem Moment passieren, wenn er vorbeifuhr. Alle Autos vor ihm machten noch einen Bogen um das Tier. Die Menschen mit ihren hohen Hüten und der vor Sonne schützenden Kleidung hielten die Hand vor Mund und Nase oder ein Tuch, sie machten ebenfalls einen kleinen Bogen um den Kadaver herum. Karl visualisierte voller Entsetzen für einen Moment das verweste Gedärm des Tieres auf seiner Windschutzscheibe. Doch diese Vorstellung verwirklichte sich nicht.
Am übernächsten Tag war das Tier platt gefahren, und als Karl etwa acht Tage später diesem Fleck seine Aufmerksamkeit noch einmal zuwandte, sah er nur noch ein paar Fellfetzen, die am Straßenrand klebend, leicht vor- und zurückflatterten und sich schon vereinzelt im Wüstensand verloren. Bald wären auch diese davon geweht, zu Staub zerfallen. Irgendwann, zu noch weniger als Staub und dann zu Nichts. Wie jedes Leben, dachte Karl. Lohnte sich dann überhaupt der Aufwand? Der Aufwand im Einzelnen, im Allgemeinen und überhaupt?
Er begann zu begreifen, warum sich keiner um die Beerdigung des Tieres bemüht hatte. Aber tolerieren wollte er es nicht. Er trat das Gaspedal bis zum Anschlag durch, schnell vorbei an einem nicht mehr stinkenden, flüchtig erlebten Symbol der Vergänglichkeit. Karl fühlte Trauer und Gelassenheit im selben Herzen, im selben Moment, und wusste nicht mehr, wer er war. Wo waren seine Richtlinien, seine Prinzipien, wo war sein Halt, Moral und Ästhetik, wo war der deutsche Karl mit Titel. Wohin versank, entglitt all das ihm so Wichtige?
Es schien ihm, als würden seine lebenslangen Wichtigkeiten in einem Moor versinken. Nicht entfliehen, verirrt sein oder von anderen missbraucht, nein, sie ertranken in der Überflüssigkeit ihres eigenen Bestehens, die sich ihm am Horizont zeigte. Er hatte das Gefühl, als sei er einer großen vergoldeten Kiste entstiegen und bewege sich zum ersten Mal in der Welt der Wirklichkeit. Weit und windig war es dort, wo war die Aufforderung zur Landung? Er schwebte noch, hatte noch keinen Landeplatz in Aussicht. Oder gab es keine Landung, etwa niemals mehr eine Festlegung seiner selbst? Es war, als hätte sich eine andere Seele seiner bemächtigt, wobei ihm das vorherige, ihm bekannte Selbst, fremder war als die neue unbekannte Besatzung. Es schien, als hätte er die Trennung von diesem bekannten Selbst, die sich normalerweise im Laufe des Erwachsenwerdens durch das Ich-Bewusstsein vollzieht, überwunden. Als hätte er einen tiefen Blick zu sich zurück gefunden, wobei er aber seine gewohnte Art von Wahrnehmung, seine bisherige Haltung dem Dasein gegenüber, wie es ihm die fassbare Weltansicht aufgedrückt hatte, immer noch als gültige Wahrheit empfand, als zurückgelassenes Wahres. Dadurch ergab sich in ihm das Gefühl ein verbotenes Terrain zu betreten.
Karl hatte bei seinem letzten Treffen mit dem Pfarrer dieses neue Empfinden und seine Verwirrung darüber, vorsichtig angesprochen. Dadurch ergab sich im Gespräch die Frage nach dem richtigen oder falschem Verhalten im Leben, dem Irrtum darin, dem Bösen und dem Guten und die daraus erwachsenen Fehler.
Der Pfarrer meinte, dass das Gute oder Böse nicht festzulegen sei, ebenso wenig wie das Richtige oder das Falsche. Einen Teufel gäbe es nicht. Man könne über Gut und Böse, Richtig oder Falsch, keine starre, absolute Norm errichten, obwohl das leider seit Menschengedenken immer wieder vollzogen würde. Das Gute und das Böse seien veränderliche Größen, deren Werte man festlegte, je nach Zeit und Bedürfnis einer Gesellschaft. Das sei eine gefährliche Wahrheit und dürfe nicht falsch verstanden werden. Doch die Gefahr, die Grundgesetze der Lebenseinstellung mit dieser Aussage zu verwirren oder die Ethik zu enthaupten, bestünde nur, wenn wir keine Klarheit und Beweglichkeit in unsere eigene, höchst persönliche Erkenntnisbereitschaft zulassen. Eine Norm sei immer vergänglich, und doch mag sie für den Moment ihrer Zeit Gültigkeit haben. Auch wenn sie das Gegenteil der ethischen Gesetze beinhaltet. Es ginge hier nicht nur um Krieg und Totschlag, um Lüge und Verrat, im Großen im Kleinen, der Gesellschaft, der Familie oder sich selbst gegenüber. Die einzige festliegende Richtlinie sei, an seinem Mitgefühl und der Bereitschaft zum Verständnis zu arbeiten. Darin zu wachsen, ohne sich dadurch erheben zu wollen, ein Mitempfinden für dieses sich windende, ringende Menschengeschlecht zu entwickeln und zu verfeinern. Mit aller Güte und Demut, die eines Menschen Kraft zulässt. Alle anderen Maßstäbe der Ethik seien separat von der Natur und der ewigen Wahrheit zu sehen, der göttlichen Wahrheit. Die Verständnisbereitschaft für Ethik, sei das Ausschlaggebende, ein Verständnis, das nicht von ständig wandelnder Erziehungsbasis ausgehe. Weniger verwirrend ausgesprochen, könne man behaupten, dass das individuelle Begehren, mit seinen meist fehlleitenden Bedürfnissen, einer untersten Stufe der Lebensrichtlinien entspräche, die fast jeder Mensch durchschreite, kurz oder länger oder im tragischen Fall ein ganzes Leben lang. Die nächste Stufe der menschlichen Entwicklung sei das Wachstum der Seele und mit ihm, das kollektive Wohlergehen. Die höchste Stufe, die ein Mensch in seiner Entwicklung erreichen könne, sei die Suche nach dem Wahren und seiner Ankunft in Gott.
Diese kleine Rede hatte Karl in Erstaunen versetzt, es waren nicht die üblichen Worte eines Priesters. Das Gespräch hatte ihn sehr beeindruckt, ebenso das gesamte Ambiente des artfremden, familiär duftenden Pfarrhauses. Karl hatte sich einer weiteren Rüstung entledigt, seiner luxuriös eleganten Aufmachung. Er hatte sich stets in dieser glänzenden, unantastbaren Schale in Sicherheit gefühlt. Man hatte auf Grund seines Outfits über ihn gedacht, was er gedacht haben wollte, das gab ihm diese allgegenwärtig anzutreffende, zweifelhafte Art von Sicherheit. Nun war seine Rüstung nicht etwa verrostet, oder er eingerostet in ihr, nein, sie war einfach aufgesprungen und hatte ihn ohne Vorwarnung herauskatapultiert. Ohne Schutz stand er da, wie eine Schneckenhaus-Schnecke ohne ihr Haus.
Das Erstaunliche daran war, dass er keinen Schmerz empfand, nicht so, als hätte die Zeit und das Geschehen ihm gewaltsam etwas aus dem Leib gerissen. Er fror nicht einmal und vermisste das lebenslang aufgebaute Rüstungswerk keine Sekunde. Ebenso war ihm die enorme Wichtigkeit des guten Eindrucks, den er bei einflussreichen oder gesellschaftlich hochgestellten Persönlichkeiten bisher zu hinterlassen bemüht gewesen war, in den Abgrund geraten. Mit dieser Wichtigkeit verhielt es sich, wie mit dem Fell des Esels.
Karl wollte noch schnell seine Wäsche aus der Wäscherei abholen, bevor er, nach einem nervenaufreibenden, langen Arbeitstag, mit einem Glas Wein auf sein Sofa plumpsen würde, um sich nicht mehr vom Fleck zu bewegen. Er hatte gerade den ersten Sperrbereich der geöffneten Schranke zum Camp durchquert, fuhr langsam hindurch, als sich ein junger Mann in seinen Weg stellte. Er trat auf die Bremse. Ein anderer Mann stellte sich an sein Seitenfenster. Man hatte den beiden Männern den Zugang zum Camp verwehrt, darüber waren sie besonders erbost und hatten ihm, in dieser ohnehin nicht freundlichen Stimmung, aufgelauert.
Karl schimpfte, sie sollten gefälligst sofort aus dem Weg gehen. Die beiden Männer öffneten schnell die Fahrertür und zerrten ihn heraus. Der Wachmann verlangte eilig über Funk, Verstärkung an. Er kannte die Männer, es waren frühere Freunde und Fußball Kameraden aus seinem Dorf. Freunde mussten nun wie Feinde behandelt werden.
Karl war kein bisschen erschrocken, nur ungehalten, weil sich nun sein Moment der Entspannung auf dem Sofa, mit den ungestörten Gedankenformationen gefüllt mit Luz del Mar, durch diese Idioten verzögerte. Was sollte das?! Er riss sich ärgerlich los und wollte zurück ins Auto. Sie boxten ihn, schlugen gegen seine Schultern und schubsten ihn in den Straßengraben. Sie schrien gemeinsam auf ihn ein.
Karl verstand kein Wort, und nachdem er einem der Beiden einen gewaltigen Tritt gegen das Schienbein versetzt hatte, mischte sich der Wachmann endlich ein. Seine Pistole allerdings ließ er im Gürtel stecken. Er half Karl auf die Beine, denn sie hatten ihn wieder umgeworfen. Entehrt, war das Wort, das sie am lautesten schrien. Dieses Wort hörte er aus dem doppelten Wortschwall heraus. Er kannte es. Hatte er nicht die Tasse mit dem blauen Henkel entehrt?
Hier aber handelte es sich nicht um eine fast vergessene Entweihung einer Tasse, sondern, wie der Wachmann in verständlicherem Spanisch mitteilte, um die Schwester dieser beiden Männer. Karl stutzte. Mit Hilfe des Wachmanns wurde ihm nun erklärt, dass er, Karl, diese Schwester entjungfert haben sollte, und dass er sich nur durch eine Heirat dem sicheren Tod durch Ganzkörperhäutung bei lebendigem Leibe, Dolchstößen, Kastration und abschließendem Erhängen entziehen könne. Niemand würde je seine Leiche finden, er hätte eine Woche Bedenkzeit. Der junge Wachmann lachte und entblößte sein fehlerhaftes Gebiss. Drei weitere Camp-Polizisten waren inzwischen eingetroffen und begleiteten die Morddrohungen mit gutmütigen, machohaften Schlägen, die auf den Schultern der jungen Männer landeten. Danach versicherten sie Karl, ein paar Dollar, und die Sache könne gütlich aus der Welt geschafft werden. Dann vertrieben sie pflichtbewusst ihre Landsleute von dem Gelände und rieten Karl beschwichtigend, er solle sich über diesen Vorfall keine Sorgen machen, der Kaffee würde nicht so heiß getrunken, wie er gebraut würde.
Während Karl ins Auto stieg, hörte er, wie ein Polizist dem anderen zurief, das sei nur die erste Drohung gewesen, noch kein Grund zum Eingreifen.
Karl war empört über die Behauptung dieser Brüder. Entjungfert und entehrt? Heiraten? Unverschämte Bande! Die waren verrückt, samt ihrer Schwester, dieser liebestollen Aushilfe. Ihm war nicht einmal ihr Name bekannt, der interessierte ihn auch nicht. Gehirnschaden durch Inzest in den Dörfern, das war ja bekannt. Er beruhigte sich schnell, am nächsten Morgen war der Vorfall für ihn vergessen.
Noch in der selben Woche wiederholten sich Blockade und Drohungen. Karl hätte beinahe einen der Brüder, der sich ihm in den Weg gestellt hatte, überfahren. Dieser warf sich im letzten Moment, als er bemerkte, dass Karl nicht gewillt war anzuhalten, zur Seite. Er streifte sogar mit seinem Arm das Auto. Oder streifte das Auto ihn? Die Flüche vernahm Karl nicht mehr, er sah nur im Rückspiegel die wütenden Drohungen des einen Mannes. Der zweite wand sich vor Schmerzen und hielt seinen verletzten Arm an den Leib gepresst.
Die Brüder waren sich einig, nun warf man Karl zusätzlich das Vergehen der vorsätzlichen Verletzung mit Fahrerflucht vor. Doch zuerst musste man die erstrangige Forderung in Ordnung bringen, dagegen war die Fahrerflucht lächerlich preiswert.