Читать книгу Auszeit - Gaby Trippen - Страница 6
Freitag...
Оглавление„Das war‘s!“ Eine Sekunde später fällt die Eingangstür hinter ihm ins Schloss, mit genau dem Geräusch, das sie immer macht, wenn man sie nicht ganz sanft zuzieht. Tausendmal habe ich dieses Geräusch schon gehört, in vielen alltäglichen Situationen: Ich trage einen Karton oder sonst irgendetwas Sperriges oder Herr Schröder zerrt so heftig an der Leine, dass ich nicht mehr dazu komme, die Tür leise zu schließen, damit nur ja nichts das kostbare weiße Holz beschädigt. Richard passiert das eigentlich nie, weil alle seine Bewegungen so kontrolliert und korrekt sind. Wenn er allein in diesem Haus leben würde, bräuchte man es nur alle hundert Jahre einmal zu renovieren, er macht einfach nichts kaputt…
Heute ist es anders. Heute ist die Tür schon fast mit lautem Knall zugefallen. Heute ist alles anders, denn mit diesen Worten hat mein Mann einen Schlussstrich unter 25 Jahre Ehe und 33 Jahre Gemeinsamkeit gezogen…
Ich höre, wie er zur Garage geht, höre, wie sich das automatische Tor öffnet, und wie unmittelbar darauf der Motor angelassen wird. Kurze Zeit später vernehme ich das Klirren von Metall… Ich vermute, er hat seinen Hausschlüssel und die Fernbedienung für die Garage, die in seinem Wagen liegt, in den Briefkasten geworfen. Dann gibt er Gas und fährt unsere kleine Stichstraße hinunter Richtung Hauptstraße.
Und ich stehe im Flur, wie angewachsen an der Stelle, an der ich schon die letzten grauenhaften 20 Minuten gestanden habe, als er in den Keller gegangen ist, einen Koffer vom Schrank genommen und einige Kleidungsstücke hineingelegt hat. Genau habe ich nicht gesehen, was es war, vielleicht ja nur ein paar Freizeitklamotten fürs Wochenende, und das Nötigste zum Waschen? Es ist Freitagabend, und er muss erst am Montag wieder ins Büro und zu einem Kunden - wer weiß, vielleicht ist dieser Alptraum ja am Montag schon wieder vorbei?
Ich stehe immer noch da und starre auf die geschlossene Haustür. Unfähig, mich zu bewegen und überhaupt zu realisieren, was da eben passiert ist. Mein Kopf ist wie in Watte gepackt, völlig leer, das Einzige, was ich spüre, ist mein Herzschlag. Wie lange ich so dastehe, ich weiß es nicht.
Das Erste, was ich wieder bewusst wahrnehme, ist die Fanfare der Tagesschau. Die Nachrichten fangen an, es ist 20 Uhr am Freitagabend, danach kommt „Ein Fall für Zwei“, und sicher kriegt Matula wieder eins auf die Mütze. Es wäre keine richtige Folge, wenn er nicht wenigstens einmal von einem Verdächtigen zusammengeschlagen würde. Richard und ich warten immer schon darauf…
Hinter mir fiept es, zweistimmig. Unsere beiden Hunde, meistens „Mäuse“ genannt, stehen da, schauen mich an, Fräulein Meier tritt von einem Vorderbein aufs andere, wie immer, wenn sie ungeduldig ist und Hunger hat. Herrn Schröder reicht das nicht, er springt an mir hoch, was er eigentlich nicht soll. Normalerweise schimpfe ich auch deshalb mit ihm, aber heute registriere ich es gar nicht.
Was ist bloß passiert? Vor einer halben Stunde noch stand ich in der Küche und bereitete das Abendessen vor, damit wir wie immer freitags pünktlich zur Tagesschau essen können, die Mäuse bekamen wie immer ihr Futter vorher, sie das vegetarische Seniorenfutter, er seine Welpenkost. Richard saß in seinem Büro, checkte ein letztes Mal vor dem Feierabend seine E-Mails, kurz vorher hatten wir noch mit den beiden eine Runde übers Feld gedreht. Es wird Herbst, unverkennbar, die Abende sind kühl, die Bäume haben sich verfärbt, die Ernte ist eingefahren. Ich hatte das erste Mal seit dem Frühjahr meine dicke Strickjacke an, mit gemischten Gefühlen, einerseits Bedauern darüber, dass der Sommer sich wohl endgültig verabschiedet hat und ich bald wieder eingepackt und dick wie ein Marshmallowmann morgens in aller Früh auf dem Feld stehen würde, andererseits auch Vorfreude auf lange Spaziergänge durchs Herbstlaub, kuschelige Abende vor dem Kamin, die Vorweihnachtszeit mit Glühwein auf den unzähligen Weihnachtsmärkten, die wir auch in dieser Adventszeit wieder besuchen würden, denn Richard ist hoffnungsloser Fan von Weihnachtsmärkten. Mir reicht eigentlich einer, vorzugsweise der in Monschau, er hat nur von Freitag bis Sonntag in der Adventszeit geöffnet und man sollte tunlichst vor elf Uhr dagewesen sein, denn danach fallen die Touristenbusse ein und es ist vorbei mit der Beschaulichkeit.
Diese abendlichen Runden nutzen wir immer, um uns vom Tag zu erzählen, nicht den „offiziellen“ Bürokram, dafür gibt es die mittägliche Telefonkonferenz und die Protokollmail über die tägliche Mitarbeiterbesprechung, nein, abends kann jeder rauslassen, was ihm tagsüber passiert ist, wer angerufen hat, wer was über wen Neues zu berichten weiß, jeder erzählt aus seinem ganz persönlichen Mikrokosmos, lässt den anderen teilhaben an seiner Welt. An weiten Teilen dieser Welt zumindest…
Heute war Richard still, das war mir schon aufgefallen, aber dafür hatte ich umso mehr zu erzählen. Hauptsächlich vom morgendlichen Treffen der Hundemafia. Wir sind sechs Frauen, wenn alle da sind, jeden Morgen zwischen acht und neun Uhr, mit zurzeit acht Hunden, Birgit hat auch zwei, wie wir, einen Senior und einen Welpen, damit die Leere nicht so groß ist, wenn der Senior geht. Die Tochter von Regina hat einen neuen Freund, den ich weiß nicht wievielten in den letzten zwei Jahren, ein Wunder, wie Manuela das immer schafft, bei ihrer chronischen Magersucht und den damit verbundenen psychischen Problemen. Und so schicke Typen schleppt sie immer an, angeblich schickt sie die aber immer nach ein paar Wochen wieder in die Wüste, weil sie ihr „intellektuell“ nicht gewachsen sind, wir anderen vermuten aber vielmehr, dass die Jungs von selbst Reißaus nehmen. Und Branka wäre beinahe wieder auf Suleika losgegangen, dabei hatte Rolf doch steif und fest behauptet, er hätte sie jetzt im Griff. Rolf gehört nicht zum offiziellen Kreis der Hundemafia, schon deshalb, weil er ein Mann ist. Gitta, seine Frau, könnten wir aufnehmen, sie hat sich aber bislang noch nicht wirklich darum bemüht, die beiden gehen auch abwechselnd und teilweise zu anderen Zeiten als wir. Die anderen haben schon mal behauptet, Rolf baggere mich an, flirte mit mir, obwohl ich doch morgens völlig ungestylt und je nach Wetter auch ziemlich dreckig daherkomme. Es soll Leute geben, die mich nicht erkennen, wenn sie mich nur morgens im Feld sehen und mich dann mal tagsüber im Business-Outfit treffen. Ich bin natürlich geschmeichelt, gehe auf seinen Ton auch manchmal ein, aber er ist nicht mehr als ein netter Kerl für mich, der absolut nicht in mein Beuteschema passt. Das sieht Richard leider nicht so.
Aber um Rolf ging es gar nicht heute. Eigentlich ging es um gar nichts Bestimmtes, außer um Manuelas neueste Eroberung und die Tatsache, dass wir ab nächsten Monat mit Herrn Schröder nicht mehr in die Welpenspielstunde kommen können, weil er dann ein Jahr alt ist, und somit sonntags mal wieder Zeit für ein ausgedehntes Frühstück haben könnten. Ja, und dann trafen wir den netten alten Herrn von der Ecke mit seiner uralten Dackeldame, die sich vor lauter Rheuma und Arthrose kaum noch bewegen kann, und sind mit ihm zusammen noch ein Stück gegangen.
Eigentlich hätten bei mir schon die Alarmsirenen schrillen sollen, so still wie Richard war. Gab nur knappe Antworten und Kommentare, sprach auch nur das Nötigste mit dem älteren Herrn und schimpfte auch nur in Maßen mit Herrn Schröder, als der den Rest von dem toten Kaninchen aus dem Feld schleppte. Normalerweise ist er sehr gesprächig auf unseren Spaziergängen, manchmal mehr, als mir lieb ist, wenn ich einfach nur die Stille und die Natur genießen und den Hunden zuschauen möchte. Irgendwie habe ich das aber wohl ignoriert, war zu eingebunden in meine eigene Welt, blieb auf meiner Insel, statt auf seine rüberzuspringen, so haben wir das kürzlich in der Weiterbildung zum psychologischen Berater gelernt.
Zuhause schloss er die Tür auf und ging gleich durch in sein Arbeitszimmer. Ich reinigte acht Hundepfoten und fing an, den Salat fürs Abendessen vorzubereiten. Das ist das letzte Normale, an das ich mich erinnere. Was danach kam, das blendet mein Verstand zurzeit noch aus.
Aber immerhin bin ich jetzt wieder in der Lage, mich zu bewegen. Eskortiert von den Hunden schaffe ich es irgendwie, steifbeinig und wie in Trance, in die Küche zu gehen. Ich fülle die beiden Näpfe mit dem jeweiligen Futter, Fräulein Meier bekommt noch ihre Tabletten gegen Osteoporose dazu, sie ist irgendwo zwischen dreizehn und vierzehn Jahre alt, genau wissen wir es nicht, weil sie aus dem Tierheim kommt. Wir haben sie seit über zehn Jahren, unsere meistens absolut liebe und verträgliche Deutsch-Kurzhaar-Jagdhündin. Ihren Namen hatte sie schon, als wir sie bekamen, ob ihre Vorbesitzer sie so genannt haben oder erst die Leute im Tierheim, wissen wir nicht. Aber da sie nun einmal darauf hörte und wir ihn auch ganz witzig fanden, haben wir ihn beibehalten und Herrn Schröder dann analog einen ähnlichen Namen verpasst.
Dem geht das alles mal wieder viel zu langsam. Er fiept und hopst um mich herum, als ich die Tabletten aus der Verpackung drücke und möglichst unauffällig unters Futter mische, damit die Dame sie auch wirklich frisst und nicht aussortiert, nach dem Motto, „Du, Frauchen, das gehört da nicht rein, hab ich liegengelassen, war doch in Ordnung so?“
Wenn ihr Napf fertig ist, kommt seiner an die Reihe. Dann werden beide auf den Boden gestellt, jeder in eine Ecke, ihrer zuerst, dann seiner. So ist die festgelegte Reihenfolge, so muss es sein, dann gibt es in der Regel auch keine Kampfhandlungen.
Im Großen und Ganzen verstehen sich die beiden nämlich sehr gut, Fräulein Meier hat den kleinen Dalmatinerrüden zwar nicht unbedingt als Sohn angenommen, als wir ihn mit neun Wochen bekamen, sieht ihn aber doch mittlerweile als liebenswerten und nur manchmal etwas nervigen Familienzuwachs an. Ärger gibt es nur, wenn es ums Essen geht, da müssen wir nach wie vor aufpassen. Deshalb muss die Rangordnung auch ganz strikt eingehalten werden: Erst bekommt sie ihr Futter, danach er. Stehen die beiden Näpfe zu dicht beieinander, fühlt sie sich bedroht und knurrt, und ich würde auch nicht meine Hand dafür ins Feuer legen, dass sie nicht zuschnappen würde. Seit ein paar Tagen hat sie aber eine neue Angewohnheit: Wenn sie ihre Portion etwa zur Hälfte aufgefressen hat, geht sie mit gefletschten Zähnen auf ihn und seinen Napf los, er nimmt daraufhin sicherheitshalber Reißaus und überlässt ihr den Rest seiner Mahlzeit. Das geht natürlich gar nicht, und so steht zurzeit immer eine „Autoritätsperson“ zwischen den beiden Näpfen und überwacht das Essensritual. Wenn beide fertig sind, ist der Friede sofort wiederhergestellt und wird meistens durch eine intensive Schmuseeinheit besiegelt. Wenn es doch bei uns Menschen auch so einfach wäre…
Nebenan im Wohnzimmer hat der Freitagskrimi mittlerweile angefangen, ich muss wohl völlig unbewusst auf das Zweite Programm geschaltet haben. Normalerweise säßen wir jetzt vor dem Fernseher, jeder sein Tablett auf dem Schoß beziehungsweis neben sich auf dem Beistelltisch, ich koche meist so, dass wir gemütlich vor dem Bildschirm essen können, das Esszimmer wird bei uns nur selten, meist wenn Besuch da ist, benutzt. So hätte es auch heute Abend sein sollen, noch vor einer Stunde deutete für mich nichts darauf hin, dass nur wenig später diese normale Welt so vollständig aus den Fugen geraten sein würde. Jetzt stehe ich allein hier und starre auf den Fernseher, sehe die Gestalten, ohne dass wirklich etwas davon in mein Bewusstsein dringt. Ähnlich wie in dem edel eingerichteten Anwaltsbüro auf dem Bildschirm, mit dem vielen Glas, den vielen Fenstern, sieht es auch in unserem Büro in der Innenstadt aus. Nicht ganz so vornehm, aber doch sehr repräsentativ, weil wir auch oft Kunden dort empfangen, in unserer Unternehmensberatung, die sich aus einem Anderthalb-Mann-Unternehmen zu einer renommierten Firma entwickelt hat, in den letzten zwanzig Jahren. Ob er wohl dorthin gefahren ist? Auf dem Sofa in seinem Büro könnte er zur Not schlafen, für ein Nickerchen zwischendurch hat er es schon öfter genutzt. Und vielleicht auch für andere Dinge „zwischendurch“.
Soll ich dort anrufen? Die Zentralnummer zu wählen, macht wenig Sinn, dort höre ich nur meine eigene Ansage auf dem Anrufbeantworter. Die eigene Stimme am Telefon zu hören, klingt immer komisch, finde ich. Ich weiß noch, als ich den Text aufgesprochen habe, beim Üben, als das Gerät noch ausgeschaltet war, ging es wunderbar, aber in dem Moment als die Aufnahme lief, fand ich das alles nur noch lustig und hatte einen Lachanfall nach dem anderen. Erst mithilfe intensivster Gedanken an das Finanzamt - das half bisher bei mir immer - gelang es uns, eine halbwegs seriös und professionell klingende Ansage hinzubekommen: „Guten Tag, lieber Anrufer! Sie sind mit der Unternehmensberatung Häussler in Leverkusen verbunden. Unser Büro ist montags bis freitags von 9 bis 17 Uhr besetzt, das heißt aber nicht, dass wir nicht auch später noch für Sie da sind. Bitte hinterlassen Sie uns nach dem Piepton eine Nachricht mit Ihrer Telefonnummer, und wir melden uns umgehend bei Ihnen. Vielen Dank!“
Richards persönliche Durchwahl kennen nur die besten Kunden, die, für die er wirklich „rund um die Uhr“ zur Verfügung steht, für die wir schon so viele Urlaube verschoben oder ganz abgesagt haben. Dann natürlich die Mitarbeiter und ja, wer noch? So genau weiß ich das gar nicht und vielleicht möchte ich es auch lieber gar nicht wissen.
Wie lange ist er jetzt eigentlich schon weg? Eine halbe Stunde vielleicht, vierzig Minuten. Wenn, dann sollte er inzwischen im Büro angekommen sein. Soll ich? Dort oder auf seinem Handy? Aber nein, es würde nicht zu ihm passen, dass er rangeht, schließlich sieht er unsere Privatnummer auf dem Display, und er ist nicht der Typ für Diskussionen am Telefon. Ich könnte auf meinem Handy die Funktion zur Rufnummernunterdrückung suchen, aber irgendwie ist mir das zu albern. Ich probiere es. Das Ergebnis ist wie erwartet: Seine Durchwahl im Büro ist auf sein Handy weitergeleitet und da läuft die Mailboxansage. Ohne die Möglichkeit, eine Nachricht aufzusprechen. Seltsam, wann hat er das denn geändert? Wie oft hab ich ihm dort schon etwas hinterlassen, wenn ich ihn nicht gleich erreicht habe. Lange Zeit habe ich mir nichts dabei gedacht, wenn er nicht an sein Handy ging. Ein anderer zeitgleicher Anruf, ein Funkloch, Gespräch mit einem Kunden oder Mitarbeiter, was auch immer. Bei mir ist es ja auch so. Mein Vater zum Beispiel hat die wundersame Angewohnheit, immer kurz vor Richard anzurufen, so dass ich den zweiten Anruf nicht schnell genug entgegennehmen kann. Und wie oft ist es wirklich vertrackt: Stundenlang ruft überhaupt niemand an und dann gleich mehrere Leute gleichzeitig. Als wenn sie sich abgesprochen hätten.
Nun stehe ich da, immer noch mitten im Wohnzimmer, und starre abwechselnd auf das Telefon und den Fernseher. Lessing und Matula haben den Fall gelöst und gehen zusammen etwas trinken, und irgendwie habe ich die Prügelszene von Matula diesmal überhaupt nicht mitbekommen. Stattgefunden haben muss sie, denn er hat ein Pflaster auf der Stirn.
Ich setze mich hin und stehe sofort wieder auf. Mein Magen knurrt, mir fällt ein, dass meine normale Abendessenszeit lange vorbei ist. Bei dem Gedanken an konkrete Nahrung ist das Knurren schlagartig vorbei und ich habe einen riesigen Kloß im Hals. In der Küche liegt noch der geputzte und halb vorbereitete Salat auf der Arbeitsplatte, die Tomaten hatte ich schon aus dem Kühlschrank genommen und die Pfanne für das Fleisch auf den Herd gestellt, Öl hineingegeben. Jetzt fällt es mir wieder ein, ich wollte den Herd gerade einschalten – wir haben uns im vergangenen Jahr einen Induktionsherd geleistet, als die Welt noch in Ordnung war, der alte hatte schon fast 20 Jahre auf dem Buckel, er tat es zwar noch, aber Richard meinte, ein neuer müsse her. Und im Nachhinein hat sich dieser Herd, der sich nur dann erhitzt, wenn ein Topf mit etwas Essbarem draufsteht, als segensreich erwiesen, denn sonst hätte Herr Schröder, der mir beim Kochen „hilft“, seit er groß genug ist, um die Herdplatte zu erreichen, schon längst gegrillte Vorderfüße - als Richard in der Küchentür stand, mit diesem Gesichtsausdruck, den ich so fürchte und sagte: „Andrea, kommst du bitte mal mit!“, mehr Befehl als Bitte…
Rund 40 Minuten später bin ich, Andrea Häussler, 50 Jahre, 4 Monate und ein paar Tage alt, sozusagen „frisch getrennt“.
Was mache ich denn mit dem Salat? Und dem Fleisch? Appetit habe ich kein bisschen darauf, wenn überhaupt auf irgendetwas, dann vielleicht Zwieback, oder Hühnersuppe, so wie meine Mutter sie mir früher gemacht hat, wenn ich krank war. Andererseits, ich kann doch jetzt nicht einfach zur Tagesordnung übergehen und mich mit irgendetwas Essbarem vor den Fernseher hocken und „Soko Leipzig“ anschauen, das eben angefangen hat. Obwohl ich ja Marco Girnth normalerweise schon sehr gern sehe…
Wenn ich jetzt den Salat wegwerfe und Richard kommt womöglich morgen Abend schon wieder, das wäre doch pure Verschwendung. Könnte ich doch das für heute vorgesehen Abendessen morgen machen, das Fleisch ist noch in der Verpackung und der Salat sieht auch noch ganz knackig aus. Und wenn ich ein bisschen mehr von dem Balsamico-Dressing nehme, das er so gern mag, dann fällt es vielleicht gar nicht auf, dass der Salat schon einen Tag alt ist…
Richard ist weg, Andrea, er ist nicht nur mal eben ins Dorf gefahren, Eis holen, oder noch mal kurz ins Büro, weil er wichtige Unterlagen vergessen hat, die er heute Abend noch durcharbeiten will. ER IST WEG! Er will dich nicht mehr! Er hat gesagt, er könne so nicht weiterleben, ob er ohne dich leben könne, wisse er noch nicht, aber er wisse definitiv, dass er nicht mehr mit dir leben könne. Nicht nach allem, was vorgefallen sei.
Da ist diese Stimme in mir, die sich nur dann meldet, wenn etwas schiefläuft oder ich mal wieder den von mir selbst oder anderen an mich gestellten Ansprüchen nicht genüge: „Würdest du dich bitte KON-ZEN-TRIE-REN!“, sagt sie beispielsweise, wenn ich morgens mal wieder ungeschickt mit meinen Kontaktlinsen herumfuhrwerke, obwohl ich nun schon seit mehr als dreißig Jahre jeden Morgen die Dinger einsetze, manchmal klappt es einfach nicht sofort. Oder „Der Müll MUSS in die Garage! JETZT!!!“, wenn ich eigentlich tausend wichtigere Dinge zu tun habe. Und jetzt gerade in diesem Moment versucht sie, mir unmissverständlich klarzumachen, dass ich diesmal wirklich richtig tief in der Tinte sitze.
Ich weiß nicht, wie andere Frauen mit so einer Situation umgehen. Weinen sie, schreien sie, zertrümmern sie Porzellan oder zerschneiden sie Fotos, trinken sie so viel Wein, bis sie in ein gnädiges Vergessen schenkendes Delirium fallen, aus dem das Aufwachen am nächsten Morgen umso schmerzhafter ist? Ich bin offensichtlich anders, ich habe nicht das Bedürfnis zu weinen oder mich sonst irgendwie „gehenzulassen“. Es ist, als ob mein Verstand ein großes Rolltor heruntergelassen hätte und damit diese ungeheuerliche Tatsache, dass mein Mann mich soeben verlassen hat, einfach außen vorlässt. Auf der anderen Seite des Tors ist zurzeit nur Platz für praktische Gedanken, eben was ich mit dem Salat mache, ob ich jetzt besser die Mäuse noch mal in den Garten lassen sollte, weil in ein paar Minuten die elektrischen und zeitschaltuhrgesteuerten Jalousien an den Terrassentüren heruntergehen, und ob ich die Haustür schon abgeschlossen habe. Das Andere wird später kommen, dessen bin ich mir gewiss. Aber eins nach dem anderen, wie sagte schon Scarlett O´Hara, nachdem Rhett Butler sie verlassen hat? „Verschieben wir‘s doch auf morgen“. Bin ich vielleicht so eine Art reinkarnierte Scarlett? Ach nein, das war ja nur eine Kunstfigur, erfunden und zu Unsterblichkeit gebracht von Margaret Mitchell. Dennoch, gewisse Ähnlichkeiten im Verhalten sind eindeutig vorhanden. Ich sollte das später vielleicht einmal analysieren.
Irgendwie stehe ich immer noch in der Küche herum, nehme mal diesen, mal jenen Gegenstand in die Hand, schaue ihn unschlüssig an, stelle ihn wieder weg, ohne wirklich zu wissen, was ich damit anfangen soll: kompletter geistiger Ausnahmezustand, anders kann man das wohl nicht beschreiben.
Ob ich noch mal auf seinem Handy anrufe? Oder im Büro? Ob ich mich wohl noch mal zum Affen mache? Vielleicht lass ich ihn wirklich mal eine Zeitlang in Ruhe, so bis morgen, vielleicht hat er es sich ja dann schon anders überlegt.
Möglicherweise ist er auch zu Guido gefahren. Ja sicher, dass ich darauf noch nicht gekommen bin. Meines Wissens nach ist Guido aktuell gerade mal wieder Single, die letzte 25-jährige 150-Kilo-Dame hat ihn vor kurzem ad acta gelegt und in seiner Wohnung findet sich sicher ein Schlafplätzchen für seinen ältesten Freund. Eigentlich mag ich Guido, oder „Drei-Buchstaben-Guido“, wie ich ihn seit einigen Jahren insgeheim nenne, nicht besonders. Er ist ein absoluter EDV-Freak geworden, nachdem er nach seiner Elektrikerlehre eine Fortbildung zum Programmierer gemacht hat, und sein Vokabular besteht zumindest für meine Ohren hauptsächlich aus diesen kryptischen Dreibuchstabenwörtern, die entweder Firmennamen sind oder die Abkürzung für irgendwelche datentechnischen Verfahren darstellen. IBM, UCS, ACT, VPN, CAT5 und unzählige andere. Manchmal meine ich, er kann keinen vernünftigen Satz äußern, ohne dass irgend so eine Bezeichnung darin vorkommt.
Ich kenne Guido genauso lange, wie ich Richard kenne, genauer gesagt, ich lernte beide am gleichen Abend vor mehr als dreißig Jahren kennen. Wie es damals so Usus war, gab es in unserer Stadt ein Jungensgymnasium und ein Mädchengymnasium. In den Zeiten vor der Erfindung der Koedukation hatte man nicht geglaubt, dass man beide Geschlechter auch in einer zu höheren akademischen Weihen befähigenden Lehranstalt zusammen unterrichten kann, ohne dass deren Gemüter dadurch dauerhaften und irreparablen Schaden nehmen. Ich also besuchte brav das Städtische Mädchengymnasium und hatte, da ich auch auf der Grundschule in einer reinen Mädchenklasse war, noch so gut wie keine Erfahrungen im Umgang mit Jungen.
In unserer Schule war es Brauch, dass ab der 9. oder 10. Klasse so genannte Klassenfeten veranstaltet wurden. Die 9. Klasse unserer Schule beispielsweise lud die 10. Klasse des benachbarten Jungensgymnasiums ein. Nicht nur wir, sondern auch Generationen von Schülerinnen vor uns hatten die Erfahrung gemacht, dass es mit Gleichaltrigen nicht funktioniert, die Jungen aus der 9. Klasse waren uns noch viel zu kindlich und unreif, als dass wir es für lohnenswert erachtet hätten, ihnen einen ganzen Abend kostbarer Freizeit zu opfern. Ort des Geschehens war immer eins der ansässigen Jugendheime, solche Einrichtungen, in denen nachmittags gebastelt und getöpfert wird, während abends sich dort die unterschiedlichsten Jugendgruppen trafen. Eine halbwegs vernünftige Musikanlage war vorhanden, Getränke gab es auch, und Zapfenstreich war definitiv um Viertel vor zehn, dann wurde das Heim abgeschlossen und das Aufsichtspersonal hatte seine verantwortungsvolle Aufgabe erfüllt. Das Ganze hatte natürlich den Charme einer Bahnhofshalle, aber den meisten von uns war das egal, zumal ja immer auch mit dem unangekündigten Besuch eines Lehrers gerechnet werden musste. Und irgendwie hatten wir früher mehr Respekt vor dem Lehrkörper. Heute gehen die Jugendlichen ganz anders mit ihren Lehrern um, das hätten wir damals ganz sicher nicht gewagt.
Für uns war schon die Vorbereitung dieser Klassenfeten ein Highlight. Da es sich ja um quasi von der Schule organisierte Veranstaltungen handelte, musste die Vorbereitung auch während des Unterrichts geschehen. Wir schafften es jedes Mal, diverse Schulstunden mit kolossal wichtigen Detailfragen zu verbringen, obwohl das Schema dieser Feten eigentlich immer gleich war. Alle zwei bis drei Monate beziehungsweise durchschnittlich zweimal pro Halbjahr war Fetenabend angesagt, meistens Dienstag, warum, weiß ich gar nicht mehr, vermutlich passte es nicht anders in den Veranstaltungsplan des Jugendheims. Mittwochs hätte uns besser gepasst, denn donnerstags war in der ersten Stunde Schulgottesdienst, und den hat so manche von uns meistens verschlafen.
Das Problem war, dass die ins Auge gefasste Jungensklasse nach einiger Zeit nicht mehr so richtige Lust hatte, sich mit uns abzugeben. War die Klasse bei den ersten paar Terminen noch fast vollzählig erschienen, so mussten wir doch im Lauf der Zeit ein gewisses Nachlassen des Interesses feststellen. Sie waren halt noch arg unreif, die Boys vom Albert-Schweitzer-Gymnasium.
Damit das Ganze nicht ins Wasser fiel, brachten wir - natürlich wir, von allein wären die Jungs doch nicht darauf gekommen - die Idee ins Spiel, dass die Jungen die Lücken in ihren eigenen Reihen durch Geschwister und Freunde von außerhalb der Schule auffüllen könnten. Voraussetzung war, dass die Ersatzspieler alters- und umfeldmäßig einigermaßen zu uns passten.
Und so tauchten an jenem denkwürdigen Dienstagabend im Januar dann neben den üblichen Verdächtigen und einigen nicht sonderlich erwähnenswerten Gestalten zwei Jungen auf, die sofort unser aller Interesse weckten: Richard und Guido. Sie waren um einiges älter als die anderen Jungen, genauer gesagt ist Richard zwei Jahre älter als ich, er und Guido standen damals kurz vor dem Abitur. Während es Guido dann mehr zum Handwerklichen zog und er eine Lehre als Elektriker begann, hatte sich mein Richard sofort zur Bundeswehr gemeldet und machte danach eine Banklehre, und im Anschluss daran ein BWL-Studium.
Eigentlich waren die beiden damit schon zu alt für das von unserer Lehrerin genehmigte Zusatzkontingent, irgendwie waren sie aber doch durchgerutscht und wurden von uns allen gespannt beäugt. Kein Wunder, Guido ist groß, über 1,90 Meter, schlank, und hatte damals wunderschönes schwarzes Haar, Richard ist mit seinen 1,86 Meter nur wenig kleiner, auch drahtig und dunkelblond. Das hat sich in den ganzen Jahren nicht wesentlich geändert, er hatte zeitweilig mal ein paar Kilo mehr auf den Rippen, und die Haare haben sich etwas gelichtet, aber im Großen und Ganzen sieht er immer noch so aus wie damals, das Gesicht reifer, mit ausgeprägteren Konturen natürlich, aber immer noch eine Erscheinung, nach der sich die Frauen umdrehen. Guido dagegen hat leider später als Mann nicht das gehalten, was er als Junge versprach. Er ist kräftig geworden, manche Leute würden ihn schon als leicht korpulent bezeichnen, und die schönen Haare haben sich gänzlich verabschiedet, sprich, er hat heute eine Glatze. Einige Frauen finden das ja sexy, mir gefällt es nicht, aber ich bin ja auch voreingenommen, was ihn betrifft.
Ich war als Teenie eher unauffällig, fand mich allerhöchstens durchschnittlich, in meinem Gesicht waren zwar alle notwendigen Dinge vorhanden, aber irgendwie passte das alles nicht zusammen. Andere fand ich immer viel viel hübscher, Mädchen mit langen lockigen dicken Haaren und einer kleinen Nase und natürlich schlanken Beinen, so hatte man auszusehen, dann kam der entsprechende Status in Klasse und Freundesclique von selbst. Ich dagegen hatte dünnes Haar von undefinierbarer Farbe, heute nennt man das „straßenköterblond“, aber damals hatte ich eigentlich gar keine Haarfarbe. Hinzu kam, dass ich unter Akne und fettigen Haaren litt und außerdem, das war das Übelste an meiner ganzen Erscheinung, bis zu meinem 15. Lebensjahr eine Brille tragen musste. Als ich Richard kennen lernte, hatte ich zum Glück seit ein paar Monaten Kontaktlinsen, und fühlte mich, wenn ich mal gerade meine Pickel im Zaum halten konnte, nicht mehr ganz so hässlich.
Trotzdem konnte ich mein Glück nicht fassen, als im Laufe des Abends doch tatsächlich immer wieder Richard auf mich zukam und mich aufforderte. Wir tanzten, unterhielten uns und er lud mich zu einer Cola ein - andere, gar alkoholische, Getränke waren selbstverständlich tabu an diesem Abend. Ich, die unscheinbare, stille Andrea, hatte das Interesse eines der tollsten Jungen der ganzen Veranstaltung geweckt, ich war absolut hin und weg und ich glaube, ich redete den ganzen Abend ziemlichen Blödsinn. Umso gesprächiger war Richard, er erzählte vom Abi, das in ein paar Monaten anstehen würde, davon, dass er zum Bund gehen würde, aber ihm davor ziemlich grauste, von seiner Familie und als es dann leider Viertel vor zehn war und das allgemeine Zeichen zum Aufbruch gegeben wurde, fragte er sogar nach meiner Telefonnummer! Wir könnten ja dieser Tage mal was zusammen trinken gehen, oder ins Kino, meinte er. Er gab mir auch seine Nummer, schrieb sie auf die Rückseite einer alten Kinokarte und ich war völlig aus dem Häuschen. Wir vereinbarten, dass er sich am darauffolgenden Samstag melden würde, ich sagte, aber nicht vor neun Uhr, denn bis dahin sei ich mit meinen Eltern unterwegs.
Meine Eroberung war natürlich nicht unbemerkt geblieben, und es gab entsprechende Kommentare am nächsten Tag in der Schule. Guido hatte sich den ganzen Abend mit Karin Weber unterhalten, die ich nett fand, mit der ich aber nicht so viel zu tun gehabt hatte bisher. Jetzt gluckten wir beide natürlich die ganze Zeit zusammen und tauschten uns aus: Was hat Richard hier gesagt, wie hat sich Guido da verhalten, werden sie sich denn wohl melden, vielleicht können wir mal etwas zu viert unternehmen. Und überhaupt, ich glaube, ich hatte mich schon an diesem ersten Abend in Richard verliebt.
Meine zu diesem Zeitpunkt beste Freundin hieß Angela. Wir hatten uns in der 8. Klasse angefreundet, nachdem sie sich mit ihrer ursprünglich besten Freundin auf Lebenszeit zerstritten hatte, und ich zur selben Zeit zwangsweise von meiner bis dato besten Freundin, Sybille, getrennt wurde. Sybille übte angeblich einen schlechten Einfluss auf mich aus, hielt mich zum Schwätzen und Schwänzen an und verkehrte mit Jungs, die nie und nimmer Zugang zu unseren Klassenfeten gehabt hätten. All das hatte meine liebe Klassenlehrerin meinem Vater gesteckt und die beiden hatten beschlossen, uns erst einmal so weit wie möglich auseinanderzusetzen. Darüber haben wir beide uns dann tatsächlich zerstritten, und Angela und ich wurden nebeneinandergesetzt. Aus der anfänglichen Zweckgemeinschaft wurde dann recht schnell eine Freundschaft, von der beide profitierten. Angela war, im Gegensatz zu mir, ein Genie in Naturwissenschaften und Mathe, während ich in allem, was nichts mit Sprachen oder Geschichte zu tun hatte, die absolute Niete war. Sie sorgte dafür, dass ich meine Noten in diesen Fächern wenigstens im Viererbereich halten konnte, dafür konnte ich ihr in Deutsch oder Englisch helfen. Angela war nicht hübsch im klassischen Sinne, aber sie hatte irgendwie schon damals etwas Edles, im Englischen würde man sagen, ihre Erscheinung war „sophisticated“. Viele Jungs trauten sich an sie gar nicht ran, und ich glaube, dass sie in den Tagen nach dieser bewussten Fete ziemlich neidisch und eifersüchtig war, weil eben ich es war, für die sich der Supertyp Richard interessiert hatte.
Sie wusste natürlich von der Telefonverabredung für den Samstag und wollte umgehend angerufen werden, sobald sich Richard gemeldet hatte.
Der Samstagabend kam heran, meine Eltern und ich waren pünktlich um Viertel vor neun zu Hause, wir saßen vor dem Fernseher, das heißt, die beiden saßen und ich tigerte durch die Wohnung, immer in Hörweite des Telefons. Damals gab es ja noch keine schnurlosen Apparate, unser Telefon stand im Esszimmer. Mit Angela und Karin hatte ich überlegt, dass es taktisch am klügsten sein würde, so nach dem dritten oder vierten Klingeln abzunehmen. Gleich beim ersten oder zweiten Klingeln ranzugehen hätte so ausgesehen, als hätte ich den ganzen Abend neben dem Telefon gesessen, länger zu warten, hätte das Risiko beinhaltet, dass Richard auflegt, weil er dachte, ich sei nicht zu Hause…
Meinen Eltern hatte ich nur erzählt, dass ich einen netten Jungen kennen gelernt hatte, mehr nicht, und schon gar nichts von dem erwarteten Anruf. Meine Mutter hatte natürlich gemerkt, dass irgendwas im Busch war, aber sie fragte nicht, sie war überhaupt genial, immer verständnisvoll, immer auf meiner Seite, ihr konnte man sehr viel anvertrauen. Von ihr bekam ich immer Rückendeckung, im Gegensatz zu meinem Vater, der in jedem Jungen, der sich für mich interessierte - so viele waren es ja nicht, aber einige dann doch schon - einen potenziellen Rivalen und Todfeind sah. Ich weiß noch, dass er sich einmal strikt geweigert hatte, mich nach einer Fete vom Jugendheim abzuholen, weil ich ja dort mit einem Jungen zusammen war. „Soll sie doch gucken, wie sie nach Hause kommt oder sich von dem Typen bringen lassen, ICH jedenfalls fahre nicht.“ Erst als meine Mutter sich Richtung Bushaltestelle aufmachte, um mich halt mit den öffentlichen Verkehrsmitteln abzuholen, bequemte er sich dann doch noch, über die Stimmung im Wagen muss man allerdings kein weiteres Wort verlieren.
Es wurde neun Uhr, es wurde Viertel nach, es wurde halb zehn. und es passierte... Nichts. Ich nahm sogar ein paar Mal den Hörer von der Gabel, um sicherzugehen, dass die Leitung funktionierte, aber gegen zehn Uhr musste ich dann einsehen, dass er nicht mehr anrufen würde. Meine Enttäuschung war grenzenlos, hinzu kam der unweigerliche Gesichtsverlust gegenüber Karin und Angela. Wenn Liebe sooo ist, dann verzichte ich vielleicht besser darauf“, redete ich mir an dem Abend ein. Was wusste ich damals schon von Liebe?
Ein Hahn kräht. Kein echter, sondern diesen Ton hat Richard auf meinem Handy für SMS eingerichtet. Vor einigen Jahren habe ich eine Woche Wellnessurlaub in einer sehr ländlichen Gegend gemacht und der Hahn vom Nachbarhof hat jedes Mal geantwortet, wenn ich eine SMS bekommen habe… Verdammt, warum muss ich aufwachen aus dieser schönen Erinnerung an damals, als alles gerade angefangen hatte und die Welt so einfach war, auch wenn sie mir damals schon nicht so vorkam? Aber vielleicht ist die SMS ja auch von Richard?
Nein, es ist eine Nachricht von Georg und Bettina, langjährige Freunde von uns, sie fragen, ob es bei unserer Verabredung morgen Abend nach Köln zum Essen und danach in die Altstadt bleibt… Von mir aus schon… Nichts würde ich morgen Abend lieber tun. Was um Himmels willen antworte ich denen denn? Die Wahrheit? Dazu bin ich noch lange nicht bereit, und außerdem, wer weiß, vielleicht ist Richard ja bis morgen Abend schon wieder da und dann wäre es ja blöd, wenn ich die Pferde scheu gemacht hätte. Dann doch lieber eine Ausrede aus meinem unerschöpflichen Fundus, der da reicht vom plötzlichen Unwohlsein meinerseits über Notoperation eines der Hunde bis hin zu, was oft genug auch stimmt, einem unerwarteten Arbeitseinsatz von Richard bei einem wichtigen Kunden. Nur, bei letzterem bin ich mir heute nicht mehr so sicher, ob das nicht auch manchmal Richards Ausrede für mich gewesen war… Ich glaube, ich antworte erst mal noch gar nicht. Schließlich ist es schon fast elf Uhr, wir könnten theoretisch ja schon schlafen. Wie sagte Scarlett noch? „Verschieben wir’s doch auf morgen“…
Für den Sonntagnachmittag nach jenem denkwürdigen Samstagabend, an dem nichts geschehen war, hatte ich mich mit Angela verabredet, zum Mathepauken. Das hieß damals, ich paukte, und sie versuchte, meine mathematischen Minimalkenntnisse auf einen halbwegs dem Niveau der Klasse angemessenen Stand zu bringen. Angela schrieb generell Einsen in Mathe. Ich dagegen hangelte mich in diesem Fach seit der 2. Gymnasialklasse mehr oder weniger erfolgreich an der Vier entlang, schaffte es aber tatsächlich, in meiner gesamten Schullaufbahn von der „Fünf“ im Zeugnis verschont zu bleiben. Am Schluss hatte ich dann doch immer das berühmte Quäntchen Glück, auch wenn es zwischendurch oft ziemlich düster ausgesehen hatte.
Um drei Uhr sollte ich bei Angela sein, vormittags war ich mit meinem Vater unterwegs, und wir waren zum Mittagessen mit meiner Mutter und einer guten Freundin der Familie in Leverkusens damals einziger Pizzeria verabredet. Den ganzen Morgen über hatte ich dieses mulmige Gefühl im Bauch, zum einen wegen der Enttäuschung, zum anderen beim Gedanken an den mehr oder weniger unverhohlen zur Schau gestellten Blick des Triumphes von Angela, dieser „Siehste, hab ich doch gleich gesagt, der meldet sich nicht“-Blick, den ich unweigerlich am Nachmittag von ihr sehen würde.
Aber dann: Wir hatten uns gerade in der Pizzeria hingesetzt, da bekam meine Mutter dieses schelmische Grinsen im Gesicht und meinte: „Ach übrigens, Andrea, da hat jemand zu Hause für dich angerufen, du hattest gar nicht gesagt, dass du einen Anruf erwartest.“ Kunstpause. „Richard hieß er und er meldet sich heute Abend noch einmal, ich habe gesagt, um sieben bist du sicher zu Hause. War doch richtig, oder?“ Um dann noch einen draufzusetzen: „Ich glaube, der hat uns zwei verwechselt. Jedenfalls hat er mich mit ‚Na, Kleines?‘ angeredet...“
Na super! Ich freute mich total, natürlich, aber ich war auch sauer, dass ich nicht selbst da gewesen war, als er anrief. Nur, wer hätte das ahnen können, wir hatten eindeutig Samstagabend ausgemacht. Was hatte das jetzt zu bedeuten? War ihm gestern Abend etwas dazwischengekommen? Oder war für ihn die Sache so unwichtig, dass er die Details unserer Abmachung vergessen hatte? Egal, erst mal konnte ich mich auf den Abend freuen, und Angela, na, der würde ihre Stichelei gleich im Hals stecken bleiben.
So war es auch: Gleich das Erste, was sie sagte, war wie erwartet: „Hat nicht angerufen, stimmt’s?“ Als sie meine Antwort hörte, fiel ihr beinahe die Kinnlade herunter. Ich weiß bis heute nicht, ob sie sich wenigstens ein bisschen für mich freute, aber ich bin ziemlich sicher, dass sie neidisch war.
Und dann war er auch superpünktlich. Natürlich wuselte diesmal die ganze Familie mehr oder weniger betont unauffällig im Esszimmer herum, aber zum Glück verzogen sich meine Eltern dann doch recht schnell wieder vor den Fernseher, als das Telefon Punkt 19 Uhr klingelte. Aber diesmal war er vorsichtig. „Hallo, hier ist der Richard, bist du das, Andrea?“ „Man kann ja nie wissen“, hat er später gesagt, „womöglich hättest du noch weitere weibliche Familienmitglieder mit einer Stimme wie deiner aus dem Hut gezaubert.“
Die Erklärung für sein Nichtanrufen am Abend zuvor war so süß, dass ich sie nie vergessen werde: Er konnte sich nur noch daran erinnern, dass ich „neun Uhr“ gesagt hatte, nicht aber, ob ich neun Uhr morgens oder abends meinte. Seine gesamte Familie inklusive hochnobler Großmutter war der Meinung, man könne am Wochenende morgens um neun NOCH nicht bei fremden Leuten anrufen und abends um neun NICHT MEHR. Um diesem Dilemma auszuweichen, hatte er sich dann für Sonntagmorgen elf Uhr entschieden, eine Zeit, zu der jeder halbwegs kultivierte Mitteleuropäer am Sonntag wohl wach sein sollte.
Als er das so erzählte, so locker und lustig und wortgewandt, waren die Unsicherheit und Nervosität bei mir schnell verflogen. Ich weiß noch, dass wir uns für den darauffolgenden Mittwoch am späten Nachmittag in einer der wenigen In-Kneipen Leverkusens verabredeten, dort Mettbrötchen aßen und ganz viel erzählten. Zwischendurch nahm er mal meine Hand, und streichelte mir über die Wange, aber er hielt nichts von diesen ungeschickten Annäherungsversuchen und missglückten Zungenküssen, mit denen andere Jungs ihr Glück versucht hatten. Auf dem Weg zur Bushaltestelle legte er den Arm um mich und schaute mir zum Abschied lange in die Augen. „Du bist schon eine Süße“, sagte er und winkte mir dann noch nach, bis der Bus außer Sicht war… Spätestens zu dem Zeitpunkt war ich rettungslos verloren, und er hat mir später einmal gesagt, ihm ginge es genauso.
Ich muss doch tatsächlich gähnen! Es geht auf Mitternacht zu, eigentlich unsere normale Schlafenszeit, nachdem wir entweder noch eine ganz kleine Mäuserunde gedreht haben oder, je nach Wetter, den bequemeren Weg in den Garten gewählt haben.
Soll ich ins Bett gehen? Werde ich überhaupt schlafen können? So etwas wie Schlaftabletten besitzen wir nicht, vielleicht hat ein Cognac die gleiche Wirkung? Aber dann hab ich eine Fahne, falls Richard heute Nacht zurückkommt. Oder soll ich lieber hier auf der Couch schlafen? Bis ich mich ausgezogen und bettfertig gemacht habe, bin ich wieder hellwach. Und die Gedanken beginnen wieder zu kreisen…
Wenn man bedenkt, dass Richard mit Hunden, mit Tieren überhaupt, so gar nichts im Sinn hatte, als wir uns kennen lernten, wohingegen ich schon immer wild auf alles mögliche Getier war, ist es schon erstaunlich, wie liebevoll er mit den beiden Mäusen umgeht, und wie problemlos er sie in unseren Alltag integriert hat.
In seiner Familie gab es keinen Platz für Tiere. Im Gegenteil, er wuchs mit der Überzeugung auf, dass alle Hunde unberechenbare beißwütige Geschöpfe seien. Seine Großmutter verbrachte einmal an Allerheiligen zwei geschlagene Stunden auf der Toilette, als sie zusammen mit dem Pekinesen seines Großonkels lieber zu Hause geblieben war, statt den Rest der Familie auf Friedhofstour zu begleiten. Besagter Pekinese hatte zwar zugelassen, dass Großmutter auf dem Klo Platz nahm, aber aufstehen ließ er sie dann nicht mehr, jeder Versuch in diese Richtung wurde mit wütendem Knurren quittiert. Den Heimkehrenden muss sich ein Bild für die Götter geboten haben. Statt eines leckeren Mittagessens gab es eine völlig derangierte und genervte Großmutter, die nicht wusste, was schlimmer war: die Tatsache, dass diese Bestie von Hund sie zwei Stunden lang am Kochen gehindert hatte oder dass sie ganz eindeutig vor der ganzen Familie die „Contenance“ verloren hatte.
Richards Familie war schon so ein Thema für sich. Er sprach viel von ihr, sie hat ihn sehr geprägt. Oft sind wir stundenlang händchenhaltend spazieren gegangen und er erzählte mir die eine oder andere Geschichte von ihr. Ich genoss es, dass er mich einbezog, war stolz, dass er mich teilhaben ließ an seinem Leben. Ich kann mich noch genau erinnern, wie ich damals für Richard empfunden habe. Grausame Ironie des Schicksals? Jetzt, da alles vorbei ist, fällt mir wieder ein, wie es war, in Richard verliebt zu sein.
Aber ist es denn wirklich zu spät? Was habe ich denn da gerade gedacht? Habe ich wirklich diesen Gedanken bewusst zugelassen, dass es wirklich und tatsächlich aus ist zwischen Richard und mir? Und das, nachdem wir uns in den vergangenen Monaten eigentlich wieder so schön berappelt hatten, unsere großen Konfliktpunkte abgearbeitet hatten, jeder Riesenschritte auf den anderen zugetan hatte? War all das auf so wackligem Boden gebaut, dass der sprichwörtliche Tropfen das Fass zum Überlaufen gebracht hatte? War die Basis, die wir uns erarbeitet hatten, von der Richard immer sprach, letzten Endes doch nur Makulatur? Und bricht nun das ganze Konstrukt unserer wiederbelebten Beziehung wie ein Kartenhaus zusammen, während ich nicht die leiseste Ahnung habe, was genau er mir vorwirft?
Ich muss kurz an Sven denken. Aber komisch, da ist nichts mehr. Der Reiz, das Kribbeln, da ist mittlerweile überhaupt nichts mehr. All das, was ich mit dem Gedanken an ihn verbunden habe, ist wie weggeblasen. Es fühlt sich schal an. Wie etwas völlig Nebensächliches angesichts dieses immensen Kraters, der sich gerade vor mir auftut. Vielleicht geht es mir wie einem Unfallopfer, dem beide Beine abgetrennt wurden. Das Bewusstsein registriert noch keinen Schmerz, begreift auch noch nicht die Tragweite dessen, was vorgefallen ist, hat aber schon wahrgenommen, dass da etwas ganz Schlimmes, Fürchterliches passiert ist, etwas, dessen Konsequenzen es jetzt noch gar nicht absehen kann. Neben dieser Erkenntnis verblasst alles andere.
Ich habe einen ganz trockenen Hals, kein Wunder, seit Stunden habe ich nichts getrunken. Gegessen schon gar nichts. Mit einem Glas Apfelschorle gehe ich zurück ins Wohnzimmer. Der Fernseher läuft immer noch, ein Krimi, ein Spielfilm oder ein Thriller, keine Ahnung. So spät schauen wir nur sehr selten Fernsehen, meistens sitzt Richard vor seinem Computer und ich liege mit einem Buch im Bett. In den letzten Monaten ist er allerdings nur noch selten so spät ins Bett gekommen, meistens sind wir aneinandergekuschelt eingeschlafen, sehr oft angenehm entspannt und zufrieden nach gewissen wiederentdeckten Aktivitäten im ehelichen Schlafzimmer.
Ob ich wohl doch mal ins Bett gehe? Sollte Richard morgen zum Frühstück wieder hier sein, wäre es gut, wenn ich nicht total übernächtigt und verquollen aussehe.
Knapp zehn Minuten später bin ich ausgezogen und bettfertig. Normalerweise trage ich nachts nur einen Slip, nur, wenn ich mal allein nächtigen muss, ziehe ich ein T-Shirt an. Nachthemden besitze ich gar nicht, schon lange nicht mehr. „Kind, was ist, wenn du mal ins Krankenhaus musst, dann hast du nichts anzuziehen!“ Ich höre noch meine Mutter, die nicht nur aus Sauberkeitsgründen darauf achtete, dass ich immer ordentliche Unterwäsche und Strümpfe anhatte, sondern sehr stark auch für den Fall, dass ich mal einen Unfall haben könnte und ins Krankenhaus müsste. „Stell dir vor, du hast dann einen ausgeleierten Slip an oder ein Loch im Socken!“ Aber heute besitze ich kein Nachthemd mehr. Das T-Shirt trage ich auch nur für den Fall, dass ein Einbrecher kommt, der soll mich ja nicht gleich nackt sehen, wer weiß, auf welche Gedanken ihn das bringen könnte. Komisch, dass mir das egal ist, wenn Richard neben mir liegt. Er schläft übrigens auch nackt, sommers wie winters.
Was er wohl jetzt anhat, oder vielleicht gar nichts? Wo mag er wohl sein, jetzt, in diesem Moment? Ob ich noch mal auf seinem Handy...? Fünf Stunden ist er jetzt schon weg, langsam kann es doch mal gut sein mit dem Ehefrau-Verlassen-Spiel, oder? Jeder Spaß hat mal ein Ende. Aufwachen, Andrea, das ist kein Spaß!
Jetzt kommt die absolute Gewissensfrage: Soll ich die Schlafzimmertür auflassen oder nicht? Die offene Tür bedeutet nämlich sofortige Beschlagnahme des Bettes durch die Mäuse. Eigentlich haben die Mäuse nachts striktes Schlafzimmerverbot. Es reicht schon, dass sie tagsüber auf der Tagesdecke liegen, das heißt, hauptsächlich Fräulein Meier liegt dort, und pocht auch auf ihr Recht als die Dienstälteste in diesem Hause. Herr Schröder hopst ab und an auch mal aufs Bett, bleibt dort aber nie lange liegen, entweder es ist ihm zu langweilig, oder, und das kommt häufiger vor, Fräulein Meier erklärt ihm, dass das hier einzig und allein ihr Reich ist.
Ganz zu Anfang, als Herr Schröder noch ein Hundebaby war, hat sie ihn geduldet neben sich auf dem Bett. Da kam er noch gar nicht allein hoch, sondern wurde von Richard oder mir wie ein Menschenbaby herumgetragen und halt manchmal auch ins Bett gelegt, weil er ja „soooo süß“ war.
Wenn wir morgens die Schlafzimmertür aufmachen, kommen sie einträchtig aus dem „Mäusequartier“ gelaufen, meist genau zeitgleich und nebeneinander durch die Tür, das klappt nicht immer ohne Rempelei. Das Mäusequartier, das ist Richards Arbeitszimmer, da steht eine Couchgarnitur mit einem Glastisch, ursprünglich einmal die Einrichtung seines früheren Chefbüros von vor einigen Jahren, als die Unternehmensberatung Häussler noch nicht in dem vornehmen Innenstadtbüro residierte, sondern etwas bescheidener in einem Gewerbegebiet am Stadtrand. Sofa und Sessel haben nun die Mäuse mit Beschlag belegt, Fräulein Meier als die Größere schläft auf dem Sofa, und Herr Schröder kringelt sich gemütlich auf dem Sessel zusammen. Als Herr Schröder noch ein Baby war, hatten wir Angst, dass er sich nachts langweilt und eines der zahlreichen Stromkabel anknabbert und auf diese Weise sein junges Leben aushaucht, aber toi toi toi, bis heute ist nichts passiert.
Früher hat Fräulein Meier nachts zwischen uns im Bett geschlafen. Bis auf Richard, der es hinnahm, aber nicht eben begeistert war, fanden wir das alle toll. Ihr weiches Fell, ihre Wärme, manchmal schnarcht sie, meistens aber schnurrt sie vor Wohlbehagen, wie eine Katze, ihr gefiel es und ich bin ja eh immer froh, wenn ich all meine Lieben nachts warm und sicher um mich herum weiß. Das ist mein Gluckentum, ansonsten vielleicht nicht so stark ausgeprägt wie bei anderen Frauen.
Ziemlich genau vor einem Jahr haben wir dann Fräulein Meier nachts aus dem Schlafzimmer verbannt. Erst wusste sie überhaupt nicht, wie ihr geschah, aber schon nach wenigen Nächten spazierte sie von selbst rüber ins Arbeitszimmer, wenn wir Anstalten machten, ins Bett zu gehen. Letztendlich glaube ich, dass sie gar nicht so böse darüber war, denn in den letzten Jahren ist sie zunehmend gereizter geworden da zwischen uns im Bett. Wenn sich mal einer von uns nachts rührte und sie dabei versehentlich anstieß und aus dem Tiefschlaf riss, gab’s erst unwilliges, zuletzt aber schon richtig böses Geknurre, und manchmal hat sie dann auch geschnappt, nicht böse, das auf keinen Fall, Fräulein Meier ist eine Seele von Hund, eben aus Schreckhaftigkeit. Zum Glück hat sie bis jetzt keinen von uns erwischt, aber ich denke, auch das wäre nur noch eine Frage der Zeit gewesen. Und als dann Herr Schröder kam, war sowieso klar, dass das Schlafzimmer nachts den zweibeinigen Hausbewohnern vorbehalten war.
Richard steht am Wochenende meist so gegen acht Uhr spätestens auf und geht an seinen Computer. Mails lesen, eBay-Auktionen verfolgen, Fernschach spielen, und macht, was weiß ich noch alles. Das ist für die Mäuse, vor allem für Herrn Schröder, aber schon viel zu spät, wenn wir wochentags um halb sieben aufstehen, schläft er meistens noch, aber irgendwann zwischen halb acht und acht Uhr spätestens steht er bei uns vor der Tür. „Quietsch quengel, quengel, quietsch“, hört man dann. Das heißt: „Ich bin wach und möchte beschäftigt werden.“ Meistens macht Richard die Schlafzimmertür gleich wieder hinter sich zu, damit ich weiterschlafen kann, aber manchmal ist er nicht schnell genug und dann wird volle Attacke geritten: Beide Hunde stürzen sich auf mich, so dass ich gar nicht schnell genug die Decke fest um mich herum stopfen kann, denn Hundekrallen auf nackter Haut muss man nicht wirklich haben. Fräulein Meier stupst mich sanft an, gibt zärtliche, aber zahlreiche und sehr feuchte Küsschen, Herr Schröder springt mit allen Vieren gleichzeitig aufs Bett und zwickt und kneift mich überall, wo er mich kriegen kann. Entweder jage ich die beiden dann noch mal raus oder ich gebe mich geschlagen und stehe auf. Dann ist das Bett ja wieder ihr Reich…
Heute Nacht ist mir ganz sicher nicht nach Toben zumute, wohl aber nach Kuscheln und Richard sieht’s ja nicht… Wenn er morgen früh wieder da sein sollte, höre ich ja sein Auto und kann immer noch schnell genug die Mäuse aus dem Bett werfen, also warum nicht?
Vor vielen Jahren hatten wir einen Kompagnon in der Firma, eine ganz kuriose Figur war das. Der hatte sich, nachdem wir den Vorgänger von Fräulein Meier bekommen hatten, auch einen Hund anschaffen müssen, obwohl das bei seinem unsteten Junggesellenleben absoluter Blödsinn war. Ende vom Lied war jedenfalls, dass ich auch auf diesen Hund aufpasste, eine ganz liebe Hündin war es übrigens, ein Schäferhund-Irgendwas-Mix, aber auf den Namen komme ich absolut nicht mehr. Schon länger nicht mehr, aber heute Nacht ganz sicher nicht. Wann immer tagsüber Geschäftstermine anstanden, zu denen er die Hündin nicht mitnehmen konnte, blieb sie bei mir im Büro, und wenn Richard und er über Nacht wegblieben, nahm ich halt beide Hunde mit nach Hause. „Aber untersteh dich und lass diese Töle auch noch in unser Bett!“, waren Richards mahnende Worte Was sollte ich denn machen? Das Bett war so groß und die beiden, unser Bazi und dieses liebe Schäferhundmädchen haben sich so süß aneinandergekuschelt, oder mich in die Mitte genommen, und so war ich dann auch nicht so ganz alleine.
Das Nächste, was ich wahrnehme, ist eine Bewegung am Bett: Fräulein Meier krabbelt auf Richards Seite hinein und rollt sich gemütlich zusammen. Mein Blick fällt auf die Uhr auf seinem Nachttisch: 2:48. Da muss ich doch kurz eingenickt sein. Bis auf Fräulein Meier und mich ist das Bett leer, der Alptraum also immer noch nicht vorüber.
So fest kann ich nicht geschlafen haben, denn das Erinnern kommt sofort, Richard ist gegangen, gestern Abend, mit diesen furchtbar endgültig klingenden Worten: „Das war‘s!“ Und hat mich hier zurückgelassen, in unserem Zuhause, der Fluchtburg, die wir uns gemeinsam erschaffen haben, als Heim, als Rückzugspunkt von der großen bösen Welt draußen. Wie soll ich denn nun allein hier leben können? Ohne ihn, ohne diesen Menschen, um den in den vergangenen mehr als drei Jahrzehnten der Großteil meines Denkens und Fühlens gekreist ist? In dieser ganzen Zeit hat es für mich immer nur „wir“ geheißen, in jede Entscheidung, die einer von uns traf, wurde der andere einbezogen. Ich empfand uns immer als eine Person, verteilt auf zwei Körper, zwei Organismen. Aber war das wirklich immer so?
Sicher hat es auch bei uns immer wieder mal kräftig gekracht in diesen vielen Jahren, aber die Möglichkeit einer Trennung hat bis letztes Jahr nie im Raum gestanden. Wenn ich bedenke, wie viele Partnerschaften wir schon haben beginnen und enden sehen, wie viele unserer Freunde sich zwischenzeitlich schon einmal getrennt hatten, viele Beziehungen haben jene Belastungsproben der frühen Jahre, die da hießen Bundeswehr oder Auslandsstudium, nicht überstanden. Wir haben beides mitgemacht und uns viele Jahre lang gemeinsam weiterentwickelt, die Horizonte erweitert, unsere beruflichen Ziele erreicht oder auch nicht, jedenfalls ist keiner von uns für den anderen langweilig oder gar lästig geworden. Und doch hat es auch bei uns Bereiche gegeben, die dem jeweils anderen vorenthalten wurden, aus denen er ausgeschlossen wurde, nicht böswillig, das ganz bestimmt nicht, und auch ganz sicher nicht in der Absicht, den anderen zu verletzen oder die Gemeinsamkeit aufs Spiel zu setzen. Das, woran der andere nicht teilhatte, war nicht wirklich wichtig, niemals, bis auf einmal, als sich die Prioritäten zu verschieben schienen, und das war der Punkt, an dem wir beide feststellten, dass es auch bei uns, die wir im Freundeskreis immer als das absolute Traumpaar galten, erhebliche Beziehungsdefizite gab.
Einer der Gründe war sicherlich, dass wir nicht genug geredet haben. Wobei, geredet haben wir immer sehr viel, uns gehen auch nach mehr als drei Jahrzehnten die Themen nicht aus. Wie oft haben wir uns schon lustig gemacht über die anderen Paare, die wir im Restaurant beobachten, die einander gegenübersitzen und sich anschweigen, aneinander vorbeisehen, genauso gut hätte jeder allein für sich essen gehen können, es wäre kaum weniger Konversation da. „Da haben wir’s doch besser“, sagten wir oft und waren uns dabei immer so sicher.
Bis sich herausstellte, dass wir ganz wichtige Bereiche unseres Lebens einfach stillschweigend ausgeklammert hatten. Wir redeten über andere, über Freunde, Familie, unsere Tiere, über das, was wir im Leben gemeinsam aufgebaut hatten, aber viel zu selten wurde über unsere ureigensten Befindlichkeiten und Bedürfnisse gesprochen. Warum auch, da war doch augenscheinlich immer alles in Ordnung, und es war doch viel wichtiger, geschäftliche Strategien zu erarbeiten und unsere vielfältigen Aktivitäten zu organisieren und zu koordinieren. Alles gut und schön, aber wir selber, wir ganz tief drinnen, kamen dabei zu kurz.
Es war gewissermaßen fünf vor zwölf, als wir das bemerkt und das Steuer, wie wir glaubten, noch herumgerissen hatten. Ohne dass irgendwer von außerhalb etwas davon mitbekommen hätte. Ich kenne viele Menschen, die ihre Umwelt an ihren Problemen teilhaben lassen, die sich ständig „aussprechen“ müssen, die immer wieder Bestätigung und Rückmeldung von anderen brauchen, wie oft bin ich diese Vertrauensperson gewesen, für andere, Männer genauso wie Frauen, aber ich selber kenne in persönlichen Krisen nur eine Sorte von Gesprächspartner: meine Hunde. Wenn ich wirklich Sorgen habe, gehe ich spazieren, stundenlang, und halte endlose Monologe, in den letzten Jahren immer an Fräulein Meier gerichtet. Die gibt zwar keine klugen Kommentare dazu ab, aber das Verbalisieren von Gefühlen, Tatbeständen hilft mir, klarer zu sehen und meinen eigenen Standpunkt zu finden.
Richard geht es ähnlich, wobei ich mir ziemlich sicher bin, dass Drei-Buchstaben-Guido so einiges aus unserem Privatleben weiß, wovon mir lieber wäre, er wüsste es nicht. Aber generell ist Richard, so extrovertiert er sonst immer erscheint, in Bezug auf die privatesten Dinge im Leben genauso wenig mitteilsam wie ich.
Wie formulierte es Sven einmal? „Der einzige Mensch, dem du dich anvertraust, ist vielleicht genau derjenige, der dich dann in die Pfanne haut.“ Er sprach wohl aus Erfahrung.
Deshalb wird es für unsere Umwelt ein Schock sein, wenn sie erfährt, dass Richard und ich uns getrennt haben. Bei uns war nach außen hin ja alles immer eitel Sonnenschein, wir schienen immun gegen die Unbilden, denen eine Partnerschaft in so vielen Jahren ausgesetzt ist, das Bild, das wir nach außen transportieren, ist das des immer noch verliebten Pärchens, das sich auch nicht scheut, sich in der Öffentlichkeit ein Küsschen zu geben oder Händchen zu halten.
Wie soll ich all dem gegenübertreten, wenn es wirklich so ist, dass er nicht wiederkommt? Wie werden die Leute mir begegnen? Betroffen, das werden alle sein, geschockt, einige werden ganz sicher auch schadenfroh sein, dass auch uns, die wir heute, in Zeiten, in denen man nicht mehr vom „Lebenspartner“, sondern vom „Lebensabschnittspartner“ spricht, schon als Fossilien aus der Steinzeit gelten, das Trennungsschicksal ereilt hat. Und viele werden ihre Hilfe anbieten, ernst gemeint oder nicht, ich als die Verlassene werde bedauert werden, hintenherum wird viel geredet werden, Richard sei der Böse, aber ganz sicher wird es dann auch heißen: „Es gehören immer zwei dazu“. Dann kommen die Mutmaßungen: „Wie hat sie ihn aus dem Haus getrieben? Hat sie einen anderen oder hat er jemanden oder beide gleichzeitig?“
Ich will das alles nicht. Ich will jetzt wieder einschlafen und morgen früh, oder nachher wie immer von „Quengel quietsch quietsch quengel“ geweckt werden, Richard neben mir, wie fast immer schon vor mir wach. Ich kann mir genau vorstellen, wie er aussieht und sich anfühlt, schlafwarm und noch ein bisschen gefangen im letzten Traum… Na klasse, jetzt hab ich genau das, was ich befürchtet hatte: Ich liege im Bett, es ist drei Uhr früh und ich bin hellwach. An Schlaf ist jetzt nicht mehr zu denken.
Richard ist quasi ein Einzelkind. Es gibt zwar eine vier Jahre ältere Schwester, aber die ist ein trauriges Kapitel und gewissermaßen das Tabu-Thema der Familie Häussler. Sie war wenige Wochen alt, ein normales und gesundes Kind, soweit man das Mitte der fünfziger Jahre beurteilen konnte, als sie schwere Fieberkrämpfe bekam und ins Koma fiel. Daraus erwachte sie nach einiger Zeit zwar wieder, aber das Gehirn war irreparabel geschädigt, und so blieb Dorothea auf dem geistigen Stand einer Dreijährigen. Die Mutter war wohl völlig überfordert mit der Kleinen und so kam Dorothea in ein Heim für Schwerstbehinderte. Ich weiß nicht, ob alle Familien so reagiert hätten, bei Häusslers jedenfalls galt dieses Schicksal als Schande, das kleine Mädchen wurde mehr oder weniger weggesperrt und seine Existenz weitgehend totgeschwiegen.
Als dann einige Jahre später Richard auf die Welt kam, war man mit ihm natürlich übervorsichtig, Eltern und Großeltern waren ständig um ihn bemüht, und seine Mutter muss einen arg schweren Stand gehabt haben, denn besonders die Großeltern machten sie mehr oder weniger offen für das Schicksal der älteren Tochter verantwortlich, obwohl sie nach heutigem medizinischem Wissensstand ganz sicher nichts dafür gekonnt hatte. Die Großmutter ging sogar so weit, Richard zeitweise zu sich zu nehmen, aus Sorge, ihm könne das gleiche Unglück widerfahren wie seiner Schwester, wenn er bei seinen Eltern bliebe.
Das Sagen in der Familie hatte Richards Großmutter, sie kam aus einer rheinischen Unternehmerdynastie und hatte seinen Großvater kurz vor dem Krieg geheiratet. Der wiederum kam ursprünglich aus einer Arztfamilie, zwei seiner Brüder waren sogar Universitätsprofessoren, sein Opa jedoch konnte kein Blut sehen und verlegte sich deshalb auf das Kaufmännische, zumal er ein phänomenales Zahlengedächtnis hatte. Das hat Richard sicherlich von ihm geerbt, wie er überhaupt sehr viel von seinem Großvater hat und ihn auch als sein großes Vorbild ansieht, mehr als seinen Vater.
Nach dem Krieg leitete der Großvater bis zu seiner Pensionierung Ende der sechziger Jahre eine große Maschinenfabrik in der Nähe von Köln, man lebte auf recht großem Fuß, das Wirtschaftswunder hatte ein Übriges dazu getan, so dass es den Häusslers finanziell recht gut ging. Für Dorotheas Heimunterbringung kam nach Großvaters Tod die Großmutter auf, das war aber auch alles, was in der Familie für dieses bedauernswerte Geschöpf getan wurde. In der ganzen Zeit ist Dorothea vielleicht zehn Mal von ihren Eltern besucht worden, Richard, der sie ja kaum kannte, hat sie vielleicht fünfmal gesehen und ich war ganze zwei Mal mit in dem Heim, in dem sie untergebracht war und fand es zugegebenermaßen jedes Mal schrecklich.
Vor ein paar Jahren ist sie dann umgezogen und lebt jetzt in einer kleineren Einrichtung der Lebenshilfe für betreutes Wohnen.
Ich lernte Großmutter Häussler natürlich auch noch kennen, sie lebte ganz in der Nähe von Richard und seinen Eltern. Leider war Richards Vater nicht in die väterlichen Fußstapfen getreten, um es mal ganz krass zu formulieren, aus ihm ist nicht wirklich etwas geworden. Der Kontakt zu den Eltern ist im Lauf der Jahre immer spärlicher geworden, Vater und Sohn waren zu verschieden, als dass sie sich viel zu sagen gehabt hätten.
Für Richards Ausbildung und sein Studium kam, wann immer es nötig war, die Großmutter auf. Während des Grundwehrdienstes und der Banklehre verdiente er ja nicht viel, und als Student sah es auch nicht besser aus. Zumal er sich voll aufs Lernen konzentrierte und nicht, wie viele seiner Kommilitonen, nebenbei jobbte, um die Kasse aufzubessern.
Dass Richard der Großmutter nicht allzu sehr auf der Tasche liegen musste und ihr auch später nie sonderlich viel Dankbarkeit zollen musste, lag an der weisen Voraussicht seines Großvaters. Dieser hatte nämlich alle Geldgeschenke zu Geburtstagen, Weihnachten, Kommunion und ähnlichen Gelegenheiten immer schön auf die Bank gebracht und dort gewinnbringend angelegt. Dadurch hatte Richard zu seinem 18. Geburtstag ein recht nettes Sümmchen zur Verfügung, davon konnten wir uns das erste Auto und eine kleine Wohnung leisten, und es blieb auch noch ein bisschen was zum Leben übrig.
Sie war dünkelhaft und hartherzig, diese Matriarchin, das muss man so sagen und das unterschreibe ich auch heute noch, nach so vielen Jahren. Den geringen Betrag, den sie monatlich zu unserem Lebensunterhalt beisteuerte, mussten wir uns redlich verdienen. Sie ließ uns antreten, wann immer es sie danach verlangte, wir kutschierten sie zu allen möglichen Gelegenheiten durch die Gegend, standen für sie stramm, wenn für die illustre Damenrunde Kuchen gekauft werden musste - natürlich ausschließlich Erdbeertorte vom angesagtesten Konditor der Stadt - wir hüteten ihre Wohnung und gossen die Blumen, wenn sie im Urlaub war, nur um dann zuschauen zu dürfen, wie sie das Silber nachzählte, um sicherzugehen, dass wir uns nicht daran bereichert hatten, und vieles mehr.
Unzählige Male nervte sie uns mit der späteren Verteilung ihrer Habseligkeiten auf die nähere und weitere Verwandtschaft, wer gerade hoch in ihrer Gunst stand, wurde entsprechend bedacht. In einer kurzen und einmaligen Phase der „innigen Vertrautheit“ zwischen uns bekam ich die Aufgabe, ihr Hab und Gut zu katalogisieren. Viele Nachmittage brachte ich damit zu, jedes einzelne Porzellanstück, Vasen, Silber, aber auch die zum Teil defekten Unterhosen ihres Verblichenen akribisch aufzulisten, hierzu sollten die durch das gerade frisch bestandene Abitur unter Beweis gestellten intellektuellen Fähigkeiten der künftigen Schwiegerenkelin ja wohl ausreichen. Was später aus dieser Liste geworden ist, weiß ich nicht, da Richard und ich zum Zeitpunkt ihres Todes nicht mehr zu ihren Günstlingen zählten, gingen diese und andere materielle Segnungen an uns vorüber.
Der Bruch kam an einem Silvesternachmittag, sie hatte die Feiertage in ihrem Stammdomizil im Schwarzwald verbracht und wollte eigentlich erst Anfang Januar zurückkommen. Aus irgendwelchen Gründen hatte sie sich aber mit der Hoteliersfamilie derart überworfen, dass man ihr die umgehende Abreise nahelegte, und so stand sie völlig außerplanmäßig am späten Silvesternachmittag bei uns auf der Matte. Zu ihrem Sohn und der Schwiegertochter wollte sie nicht gehen, auf die war sie zu der Zeit auch gerade mal wieder böse, und in ihre leere Wohnung, dazu noch ohne Lebensmittel, wollte sie auch nicht. Es war dann Richards und meine Sache, so lange bei ihren diversen Verwandten und Freundinnen herumzutelefonieren, bis wir ein Ehepaar fanden, das sich bereiterklärte, die alte Dame bis zum Neujahrstag bei sich aufzunehmen.
Wir holten sie also am Spätnachmittag vom Bahnhof ab und fuhren sie samt ihren Koffern zu Onkel Adi, Tante Else und Cockerspaniel Bruno, Gott hab alle drei selig mittlerweile. Wie sich herausstellte, wollte sie dort aber auch nicht lange bleiben, sie gab uns explizite Anweisungen: „Und morgen früh um acht Uhr holt ihr mich dann wieder ab und bringt mich in meine Wohnung.“ Punktum. Ohne Wenn und Aber, und schon gar nicht verbunden mit einem „Bitte“. Und da explodierte Richard. Normalerweise ist er ja eher ruhig, es braucht schon einige Zeit, um ihn so richtig in Rage zu bringen, wobei es zwei Varianten seiner Unmutsäußerungen gibt, vor denen man sich hüten sollte: zum einen, wenn er richtig laut wird und schreit, und zum anderen, wenn er ganz ruhig wird, aber nach außen hin völlig beherrscht auftritt, obwohl es in seinem Innern brodelt. An jenem Nachmittag trat Variante zwei in Kraft: Er war schneeweiß im Gesicht, hielt den Wagen an und sagte sehr leise, aber mit umso mehr Betonung: „Das reicht! Es ist Silvesterabend, Andrea und ich sind eingeladen und werden erst frühmorgens nach Hause kommen. Wie kommst du dazu, von uns zu verlangen, dass wir um acht Uhr früh auf der Matte stehen, um dich zu kutschieren, du kannst dir genauso gut ein Taxi nehmen. Wir können dich von mir aus morgen Mittag oder Nachmittag, wenn wir ausgeschlafen sind, abholen, aber ganz sicher nicht morgen früh!“
Es half nichts, sie bestand auf acht Uhr morgens. Und da legte Richard ihr nach wie vor in diesem gefährlich ruhigen Ton nahe, doch bitte künftig ihr Leben allein zu leben und uns in Ruhe zu lassen. „Wenn es dir schlecht geht und du bist wirklich in Not, kannst du uns gerne anrufen, aber ansonsten verschwinde bitte aus unserem Leben.“
Für Außenstehende mag sich diese Situation gar nicht so schlimm anhören, aber sie war der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Wir waren jung, gesund, hatten das ganze Leben mit all seinen Möglichkeiten noch vor uns, wir waren beide nicht wirklich materialistisch eingestellt, so verlockend konnte die Aussicht auf ein späteres Erbe gar nicht sein, als dass wir uns weiterhin so sehr gängeln und schikanieren lassen wollten.
Es kam, wie wir uns gedacht hatten: Von Stund an blieben die monatlichen Zuwendungen aus, es gab in den Jahren bis zu ihrem Tod vielleicht noch zwei oder drei belanglose Telefonate, das letzte Mal, als Richard sein Examen bestanden hatte und sofort im Anschluss eine Stelle in einer alteingesessenen und renommierten Kölner Unternehmensberatung bekam.
Als sie starb, war Richard nicht wirklich betroffen. Er nahm es hin, wie es war, sie hatte ihren Platz in seinem Leben regelrecht verwirkt. Ich hatte mir so manchmal Sorgen gemacht, dass er es bedauern würde, sich vor ihrem Tod nicht mit ihr versöhnt zu haben, aber diese Bedenken waren grundlos. Wer einmal weg ist, der ist weg aus dem Leben des Richard Häussler.
Oh je, welch blöde und beängstigende Assoziation ist mir denn da wieder gelungen? Denselben kalten und ruhigen Ton, in dem er seiner Großmutter die Verwandtschaft aufgekündigt hatte, hat er gestern Abend auch mir gegenüber angeschlagen. Als er mir die Liebe aufkündigte.