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1 ATMOSPHÄRE

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Der Große Luftozean (wie Darwins Zeitgenosse Alfred Russel Wallace die Erdatmosphäre bezeichnete), der wogende Himmel aus Gasen, die von der Schwerkraft am Planeten festgehalten werden, ist der Atem, der diesen einzigartigen Flecken des Universums zum Leben erweckt. Einatmen, ausatmen: Die Atmosphäre ist für das Leben auf der Erde unerlässlich. Sie ist ein Organ der lebenden Biosphäre – ein großer pulsierender Körper, der die atembare Luft recycelt, Temperatur und Klima reguliert und uns vor gefährlichen Meteoriten sowie tödlicher kosmischer und ultravioletter Strahlung aus dem All schützt.

Die Atmosphäre erstreckt sich über eine Höhe von einhundert Kilometer und ist unsichtbar, abgesehen von ihren meteorologischen Launen, die sich in Wolken aus Wasserdampf oder fallendem Schnee, elektrischen Blitze oder roten Sonnenuntergänge offenbaren.

Die wirbelnden Strömungen der irdischen Ozeane, ob gasförmig oder flüssig, stehen in Wechselwirkung miteinander und schaffen so die vielen Wetter- und Klimazonen unseres Planeten, die die Bedingungen für das irdische Leben bestimmen. Das vielleicht wichtigste globale Wetterphänomen ist die Hadley-Zelle, ein Zirkulationsmuster heißer feuchter Luft, das im üppig grünen Äquatorialgürtel zuverlässig für Regen sorgt und so die artenreichen tropischen Regenwälder und Feuchtgebiete hervorbringt, während direkt im Norden und im Süden ausgedörrte Wüstengebiete liegen. Der Einfluss dieses Systems lässt sich aus dem All als scharfe Grenze zwischen Grün und Braun erkennen.

Aber auch das Leben auf der Erde diktiert die atmosphärischen Bedingungen und die daraus entstehende Witterung. Anfangs bestand die Atmosphäre der Erde aus Wasserstoff und Wasserdampf – es sollte rund zwei Milliarden Jahre dauern, bis sich dank der ersten Photosynthese treibenden Organismen das Gas des Lebens, Sauerstoff, in der Luft ansammelte. Diese stammesgeschichtlich alten blaugrünen Cyanobakterien, die als unauffällige Stromatolithen bis heute überlebt haben, nutzten Sonnenenergie, um aus Kohlendioxid und Wasser Zucker herzustellen; dabei wird Sauerstoff als Abfallprodukt frei.

Die kontinuierliche Atmung der irdischen Lebewesen, von winzigen Ameisen bis zu riesigen Walen, entzieht der Atmosphäre Sauerstoff und ersetzt ihn durch Kohlendioxid und Wasserdampf, Während der Tagesstunden, vor allem im Sommer, wird dieser respiratorische Austausch durch die Photosynthese der land- und wasserbewohnenden Vegetation (höhere Pflanzen und Algen) des Planeten ausgeglichen. Die verschiedenen Rückkopplungsschleifen zwischen Biota und Luft haben eine Atmosphäre erzeugt, die rund 78 Prozent Stickstoff und 21 Prozent Sauerstoff enthält; der Rest ist ein Gemisch aus Edelgasen, Kohlendioxid und Spuren anderer Gase.

In diese komplexe Beziehung hat die Menschheit massiv eingegriffen und genügend klimaerwärmende Gase in die Atmosphäre gepustet, um das empfindliche Gleichgewicht der vergangenen Jahrtausende aus der Balance zu bringen und das Weltklima für Jahrhunderte zu verändern.

Die Atmosphäre schützt wie eine Decke vor den unvorstellbar niedrigen Temperaturen des Weltraumes, und das für diese kuscheligen Bedingungen hauptverantwortliche Gas ist Kohlendioxid. Kohlendioxid ist unsichtbar, weil das Sonnenlicht das Molekül ungehindert passiert. Für die Wärme transportierende Infrarotstrahlung ist es jedoch undurchsichtig; daher wärmt es die Luft wie Glasscheiben das Innere eines Treibhauses. Sonnenlicht reist ungehindert durch die Atmosphäre, bis es auf die Erdoberfläche trifft. Wenn es sich dabei um eine stark reflektierende Oberfläche – beispielsweise einen glänzend weißen Gletscher – handelt, dann wird der größte Teil der Strahlung als Licht zurückgeworfen. Ist die Oberfläche jedoch dunkel – wie schwarzes Gestein, Erde oder Meer –, dann wird diese Energie als Wärme absorbiert, die als Infrarotstrahlung in die Atmosphäre abstrahlt, welche Kohlendioxid nicht durchdringen kann. Auf diese Weise pendelt die Wärme, gefangen zwischen Atmosphäre und Erde, hin und her, wärmt beide und erhält das Leben.

Aus Fossilberichten wissen wir, dass sich im Lauf der Erdgeschichte immer wieder Warmzeiten voll tropischer Üppigkeit und 1-Meter-langen Insekten mit Eiszeiten abgewechselt haben, in der die Mehrzahl aller Lebensformen ausstarb. Diese katastrophalen großen Kälteperioden waren das Ergebnis von massiven äußeren Einwirkungen wie Meteoriteneinschlägen oder Ausbrüchen von Supervulkanen, die so viel Staub in die Atmosphäre schleuderten, dass nicht genügend Sonnenlicht zu den Pflanzen vordringen konnte und die Tiere tötete, die das so wichtige Kohlendioxid produzierten. Zu solchen Zeiten sank die Kohlendioxidkonzentration in der Erdatmosphäre bis auf 160 Teile pro Million (parts per million, ppm) Moleküle.

In den vergangenen 500.000 Jahren – der Welt, in der sich Menschen entwickelt haben – lag die Kohlendioxidkonzentration zwischen 200 ppm (während der Eiszeiten) und den komfortablen 280 ppm im Holozän. Historisch war Holz die Hauptenergiequelle, die von Menschen genutzt wurde, und es setzte genauso viel Kohlendioxid frei, wie der Baum während seines Wachstums aufgenommen hatte. Doch im Anthropozän stammt der größte Teil unserer Energie aus der Verbrennung fossiler Brennstoffe – wir setzen die riesigen Kohlendioxidspeicher all der Pflanzen frei, die vor Millionen Jahren abgestorben sind. Während ich dies schreibe, liegt die Kohlendioxidkonzentration in der Atmosphäre rund 40 Prozent über derjenigen in vorindustrieller Zeit – 400 ppm –, und die Atmosphäre ist wärmer, energie- und wasserreicher, was vermehrt zu extremen Wetterphänomenen führt. Wissenschafter sind der Ansicht, dass es so etwas wie ein „normales Klima“ nicht mehr gibt, wobei sie „normal für das Holozän“ meinen.

Wir benutzen die Atmosphäre auch als Deponie für andere Gase, die bei der Verbrennung frei werden, sowie für eine Reihe weiterer Schadstoffe, darunter auch Kühlmittel, die die Ozonschicht in der oberen Stratosphäre angreifen, welche uns vor UV-Strahlung schützt.

Zudem ist die Atmosphäre im Anthropozän auch zur globalen Stimme der Menschheit geworden. Genauso, wie sichtbares Licht die Luft passieren kann, sind Schallwellen, Radiowellen und Mikrowellen dazu in der Lage und ermöglichen uns eine rasche Kommunikation via Radio, Telefon und Internet. Die Atmosphäre ist ebenso durchlässig für die menschengemachten Signale der Satelliten, die sie beherbergt, wie für die lebenswichtige Energie der Sonne und erlaubt unserer Spezies, den Globus buchstäblich in Sekunden zu durchqueren.

Im Jahr 1932 hielt König Georg V. als erster Monarch eine Weihnachtsansprache im Radio; dabei hörten ihm von Großbritannien bis zu den Außenposten des Empires 20 Millionen Menschen zu. In seiner Rede, die von Rudyard Kipling verfasst wurde, wandte er sich an all seine Untertanen: „Männer und Frauen mögen durch Schneegipfel, Wüsten oder Meere so abgeschieden sein, dass nur Stimmen aus der Luft sie zu erreichen vermögen.“ Die Atmosphäre des Anthropozäns ist nun voll solcher „Stimmen aus der Luft“. Stellen Sie sich vor, wir könnten die Strahlen sehen, die von unseren Radios, Laptops, Fernsehgeräten, Handys und andere Geräten ausgesandt werden. Fast die gesamte 4,5 Milliarden lange Geschichte des Planeten hindurch wurde die Atmosphäre nur durch extraterrestrische Lichtquellen, wie Sonnen oder Meteore, oder durch elektrische Stürme erhellt. Nun wird der Himmel durchzogen von künstlichem Licht unterschiedlicher Wellenlängen, wenn unsere Geräte miteinander und mit uns kommunizieren. Und das ist nur das unsichtbare Spektrum. Im sichtbaren Spektrum haben wir unsere Welt so hell erleuchtet, dass man Groß- und Kleinstädte bei Nacht aus dem Weltall sehen kann, und bei Stadtbewohnern geraten die Sterne in Vergessenheit.

Dank Satelliten können wir aus dem All auf unseren Heimatplaneten schauen, wie es noch kein Auge vor uns konnte. Dieselben Kameras zeigen uns in noch nie da gewesener Detailgenauigkeit, wie stark wir dabei sind, unsere Welt zu verändern. Mithilfe des Internets können wir unser gemeinsames Wissen und unsere intellektuellen Ressourcen zusammenschließen, um neue Probleme zu lösen, in unterschiedlicher Weise zu kooperieren, die Geographie unseres Planeten zu überschreiten und einen virtuellen Raum in Besitz zu nehmen, ganz gleich, wo wir uns gerade tatsächlich befinden.

Die Atmosphäre ist auch zum Spielplatz für unsere Abenteuer im Luftozean geworden, zu einem Medium für rasche und direkte Fernreisen rund um unseren Globus und hinaus in den Raum. Wir können heute in weniger als einem einzigen Tag von London nach Sydney reisen. Wir können Handel zwischen verschiedenen Ländern in einem Zeitrahmen betreiben, der es ermöglicht, dass frische Blaubeeren von jemandem in Südafrika geerntet und Stunden später von jemand anderem in London gegessen werden.

Unsere technische Invasion des Himmels erlaubt uns, mit unserer gesamten Spezies in einer Weise zu kommunizieren wie keine andere Lebensform. Die Atmosphäre ist un-besitzbar, gehört allen Erdbewohnern gemeinsam – sie schenkt Leben mit dem ersten Atemzug, und mit dem letzten erlischt dieses Leben wieder. In diesem Kapitel betrachte ich, auf welche Weise die von uns bewirkten Veränderungen unserer Atmosphäre darüber mitentscheiden wird, wie sich Gesellschaften in den kommenden Jahrzehnten entwickeln.

Ich treffe Mahabir Pun vor dem kleinen Behelfsflugplatz in Pokhara, rund 200 Kilometer westlich der nepalesischen Hauptstadt Kathmandu. Er ist ein ziemlich kleiner Typ, Mitte fünfzig, mit einem Kugelbäuchlein, quadratischem Gesicht und einem dichten schwarzen, eigenwillig abstehenden Haarschopf.

„Kommen Sie, Gaia, kommen Sie!“, drängt er, schreitet mir rasch voran und zerwühlt sein Haar noch weiter, sodass es wild an einer Seite hochsteht.

Während ich hinter ihm hertrotte, bleiben die Leute stehen, um das ungewöhnliche Schauspiel zu beobachten: eine blasse, schwitzende Fremde mit einem großen Rucksack, die wie für eine Arktisexpedition gekleidet ist und einem Einheimischen in leichten Baumwollhosen und offenen Sandalen folgt.

Aufgrund einer politischen Demonstration vor einigen Tagen hat die maoistische Regierung eine vom Militär überwachte Ausgangssperre verhäng und alle Fahrzeuge, einschließlich Motorrädern, Bussen und Taxis, von der Straße verbannt. Daher musste Mahabir mehrere Kilometer laufen, um mich zu treffen. Aber wie an jedem anderen Ort ohne funktionierende Regierung lassen sich die Leute etwas einfallen. Mahabir wirft einen vorsichtigen Blick rundum und bedeutet mir dann, ein Motorrad-Taxi zu besteigen, während er das daneben nimmt, und wir fahren rasch davon.

Die Stadt Pokhara liegt an einem See und ist umgeben von Bergen. Hier scheint das Versprechen des neuen Premierministers, ganz Nepal in die „Schweiz Asiens“ zu verwandeln, am ehesten Wirklichkeit zu werden. In den Straßen am Seeufer drängen sich attraktive Cafés und Geschäfte. Auf einem kleinen Anlegesteg, von dem aus Gläubige zu dem hübschen buddhistischen Tempel auf einer Insel in einigen hundert Metern Entfernung aufbrechen können, versammeln sich bunt gekleidete Gruppen von Männern, Frauen und Jugendlichen. Frauen in Saris stehen knietief im See, reinigen Wäsche, so bunt wie ein Regenbogen, und waschen ihr langes schwarzes Haar. Fische schnellen über die Wasseroberfläche, und Vögel kreisen auf der Suche nach einem kleinen Imbiss über unseren Köpfen.

Über der Stadt erhebt sich ein seltsam geformter Gipfel, „Fischschwanz“ genannt, dessen blanke Granitflanken wie ein geologischer Finger in den blauen Himmel zeigen. Es ist Mitte Dezember im Himalaja – der See sollte mit Eis bedeckt sein und der Schnee bis weit hinab auf den Berghängen liegen. Aber nur die höchsten Gipfel tragen eine weiße Mütze; in Kopfhöhe wippen rosafarbene Blüten auf grünen Stängeln, die sich in der Sonne wiegen. Wir halten an, und ich entferne eine weitere Kleiderschicht.

Bei genauerem Hinsehen erkenne ich jedoch, dass diese Postkartenidylle Flecken aufweist. Ein übelriechender, leuchtend grüner Schlick aus ungeklärten Abwässern und öligen Verunreinigungen fließt aus den Cafés und Geschäften der Stadt direkt in den See. Schmutzige, dürftig gekleidete Kinder spielen zwischen Plastikmüll und anderen festen Abfällen, die das Ufer übersäen – während ich zusehe, schlendert ein Junge ein paar Meter zur Seite, lässt seine Shorts herunter und verrichtet am Rand des Sees sein Geschäft. Als ich nach oben schaue, erkenne ich, dass die malerischen Landhäuser, die die Straßen säumen, in Wahrheit dreckige, heruntergekommene Hütten mit Lehmboden sind, die den großen Familien, die dort wohnen, wenig Schutz oder Komfort bieten. Wir sind hier sehr weit weg von der Schweiz. Und dies ist eine der fortschrittlichsten Regionen des Landes.

Wenn man versucht, sich die Größe der entwicklungspolitischen Aufgabe vor Augen zu führen, der sich die arme Welt zu Beginn des Anthropozäns gegenübersieht, ist Nepal ein guter Ausgangspunkt. Nepal liegt zwischen zwei der weltweit am schnellsten wachsenden Ökonomien, ist jedoch weder dem chinesischen noch dem indischen Modell für nationales Wachstum gefolgt und wirtschaftlich immer weiter zurückgefallen. Das Land gehört zu den zehn ärmsten Ländern der Welt; mehr als ein Drittel der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze von weniger als 0,40 US-Dollar pro Tag, und die Hälfte der Kinder unter fünf Jahren ist unterernährt. Rund 90 Prozent der Nepalesen leben auf dem Land. Viele von ihnen sind auf Subsistenzlandwirtschaft angewiesen, doch die Flächen sind zu klein, um damit den Lebensunterhalt zu bestreiten; die Menschen haben kaum oder keinen Zugang zu Elektrizität, sauberem Wasser, sanitären Einrichtungen oder Gesundheitsfürsorge, und immer wieder fehlt es im ganzen Land am Nötigsten, von Reis bis Kerosin. Mehr als ein Jahrzehnt maoistischer Aufstände und bürgerkriegsähnlicher Unruhen hat die Wirtschaft ruiniert und die Infrastruktur zerstört. In den letzten Jahrzehnten wurden in Nepal nicht einmal grundlegende Aufgabe der Staatsführung wahrgenommen, und das Land muss sich auf eine Armada von Hilfsorganisationen verlassen, um massive Hungersnöte zu verhindern – die Zahl der Nichtregierungsorganisationen (NGOs) im Land stieg von 220 im Jahr 1990 auf mehr als 15.000 heute, die inzwischen rund 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts beisteuern.

Schlimme Zeiten? Vor hundert Jahren lebten die meisten Schweizer unter ähnlichen Bedingungen und konnten noch seltener als die heutigen Nepalesen damit rechnen, ihr 50. Lebensjahr zu erreichen.

Weltweit haben 40 Prozent aller Menschen (2,8 Milliarden) nicht einmal Zugang zu einer öffentlichen Toilette – ein Hauptgrund für die jährlich 2,4 Millionen Todesfälle durch Diarrhoe. Rund 80 Prozent aller Infektionskrankheiten werden durch Kontakt mit Fäkalien hervorgerufen (Menschen, die keinen Zugang zu sanitären Einrichtungen haben, können pro Tag bis zu 10 Gramm Fäkalmaterial zu sich nehmen). Wenn Nepal einen Entwicklungssprung wie die Schweiz machen soll, braucht es ein genügend großes Wirtschaftswachstum, um vergleichbare soziale Investitionen in das Gesundheits- und Bildungswesen sowie die Infrastruktur zu tätigen. Dann werden die Nepalesinnen ihre Wäsche per Knopfdruck mit einer Waschmaschine waschen können, sodass ihnen Zeit für Bildung und Berufstätigkeit bleibt. Niemand wird den See mehr als öffentliche Toilette benutzen. Bis 2048, so die Prognose, wird der Durchschnittsverdienst in Asien demjenigen in den Vereinigten Staaten entsprechen. Die Frage ist, wie die Länder Asiens unter den sich wandelnden Bedingungen des Anthropozäns an diesen Punkt gelangen werden, ohne die Umweltprobleme zu verschärfen, denen sich die Menschheit gegenübersieht. Ich habe Mahabir aufgesucht, um herauszufinden, wie die jüngste Nutzung der Atmosphäre eingesetzt wird, um diesen Weg zu ebnen.

Eine mühsame, fünfstündige Fahrt bringt uns zu der kleinen Stadt Beni („der Ort, wo sich zwei Flüsse treffen“). Unser Gefährt sei ein Toyota aus dem Jahr 1973, erklärt mir der Fahrer stolz und gibt dem Fahrgestell einen liebevollen Klaps, der die Seitentür erzittern lässt, sodass sie sich fast vom Rahmen löst. Die abgewetzten runderneuerten Reifen rutschen und schlingern durch die Schlaglöcher einer schmalen, auf beiden Seiten steil abfallenden Straße. Wir jagen dem Sonnenuntergang hinterher, doch er gewinnt, sodass wir die letzte nervenaufreibende Stunde unserer Fahrt in völliger Dunkelheit zurücklegen müssen.

Wir übernachten in einem spartanischen Hotel – erbaut aus Holz, wie alle Gebäude in Beni – und machen uns bei Tagesanbruch wieder auf den Weg. Nach Nangi führt keine Straße. Um Mahabirs entlegenes Bergdorf zu erreichen, müssen wir einen ganzen Tag lang fast senkrechte Pfade emporklettern, und es dauert nicht lange, bis mein Rucksack auf meine Schultern drückt und meine Beine gegen die ungewohnte Anstrengung protestieren. In einem Zeitalter, in dem ich eher gewohnt bin, Entfernungen nach der Fahrzeit mit Auto, Flugzeug oder einem anderen erdölgetriebenen Transportmittel zu beurteilen, ist es eine gewisse Umstellung, in Fußmarschzeiten von Stunden oder Tagen zu denken.

Meine geschnürten Wanderschuhe fühlen sich zu eng an in der Sonne. Mahabir hat mich gewarnt, wir würden in einer Höhe trekken, in der um diese Jahreszeit wahrscheinlich hoher Schnee liegt. „Heute Nacht friert’s, morgen Nacht friert’s noch mehr“, erklärt er mir fröhlich, als ich seine offenen Flipflops betrachte. Bis vor Kurzem seien alle Leute seines Dorfes barfuß gegangen, erzählt er. Selbst im Schnee? „Ja, natürlich. Aber jetzt haben selbst die Ärmsten Sandalen.“

Der Aufstieg beginnt steil und bleibt es die nächsten neun Stunden lang. Jedes Mal, wenn sich der Pfad teilt und ich hoffnungsvoll nachfrage, kommt von unten die nachdrückliche Antwort: „Nach oben, nach oben.“ Mit einer gewissen Genugtuung stelle ich fest, dass auch Mahabir beginnt, ein wenig verschwitzt auszusehen, und länger als zuvor braucht, um diese endlose Treppe hinaufzustapfen.

Dennoch ist der Aufstieg wundervoll. Geier kreisen unter uns und lassen sich von der Thermik hoch in den azurblauen Himmel tragen. Die Berge scheinen zu wachsen, während wir klettern, und ich beginne, so etwas wie eine „Gipfel-Fata-Morgana“ zu erleben – jedes Mal, wenn wir uns einem Gipfel nähern, windet sich der Pfad noch höher, und der Gipfel zieht sich weiter nach oben zurück. Kinder zeichnen den Himmel oft als einen Streifen Blau hoch über dem Grün des häuslichen Lebens am Boden. Nun habe ich das Gefühl, als bringe jeder Schritt uns näher an die Stelle, an der man durch das Blau stößt und in den geheimnisvollen Raum eindringt, den die Menschen Engel und Götter zugedacht haben.

Die Atmosphäre ist riesig und unbegreiflich, uns aber ebenso vertraut wie unseren fernen Vorfahren. Wer hat nicht schon einmal unter einem Baum gelegen und sich daran erfreut, wie der geisterhafte Wind die Blätter zum Zittern bringt oder Wolkengebilde vorbeiziehen, oder hat nachts aus dem Fenster die Sterne jenseits unserer Atmosphäre angeschaut? Bis vor Kurzem konnten nur geflügelte Geschöpfe vom heimatlichen Boden abheben und den dreidimensionalen Großen Luftozean der Atmosphäre erkunden. Uns erdgebundenen Menschen blieben nur anstrengende Klettertouren wie diese, bei denen wir langsam und mühevoll emporsteigen, um die kalte, dünne Luft jenseits der Wolkenschicht zu schmecken. Erst Ende des 18. Jahrhunderts trugen Heißluftballons Menschen so hoch in den Himmel, dass wir unsere Heimat aus der Vogelperspektive sehen konnten, und ermöglichten direkte Reisen „via Luftlinie“ zwischen zwei Bestimmungsorten. Nun, da wir mit unseren technischen Spielzeugen durch die Atmosphäre tanzen können, sind wir in der Lage, hinsichtlich unserer natürlichen und künstlichen Welt aus einer wahrhaft globalen Perspektive zu betrachten und beide vielleicht sogar miteinander zu versöhnen. Satelliten, die den Planeten umkreisen, erlauben uns, mit Peilsender ausgestattete Meeres- und Landsäuger zu verfolgen, den Rückgang der Bewaldung zu messen und die Ausdehnung der arktischen Eisdecke über Jahrzehnte zu vergleichen. Wir können, während der Planet sein Gesicht verändert, den Übergang vom Holozän zum Anthropozän in Echtzeit messen.

Alle 20 Minuten finden sich auf unserem steilen Pfad günstig platzierte steinerne Rastplätze, und wir nutzen sie gern – wir halten an, um uns eine Weile auszuruhen, unsere Rucksäcke abzulegen und die Aussicht zu bewundern. Es hat etwas Nobles an sich, einen Gipfel zu bezwingen: Dieser 3500-m-Hügel ist mein Mount Everest, und ich bin ebenso stolz auf meine mickrige Leistung wie Hillary auf seinen phantastischen Erfolg.

Wir sehen keine anderen Ausländer, nur Einheimische pendeln bergauf, bergab zwischen Dörfern, die keine Straße verbindet, und Händler tragen unfassbar große Körbe mit Feuerholz und Orangen von den hoch gelegenen Berghängen auf die Märkte weiter unten. „Seit es in den letzten paar Jahren wärmer geworden ist, gedeihen Orangen sehr gut“, erklärt mir Mahabir. „Viele Dörfler weiter oben züchten nun Orangen.“ Wir machen einen Orangenkern-Spuckwettbewerb, und Mahabir kichert vor Vergnügen, als er mich um das Doppelte schlägt.

„Normalerweise ist diese ganze Gegend ab Oktober von Schnee bedeckt“, meint er und blickt auf den schlammigen Boden. „Mittlerweilen fällt immer weniger Schnee. Im Winter lag der Schnee früher zwei Meter hoch und blieb wochenlang liegen. Letzten Winter hatten wir nur zwei Zentimeter, und er kommt später. Das heißt, dass das Wintergetreide kein Wasser hat und abstirbt. Der Preis für Weizen und Gerste wird hoch sein im Frühjahr“, prophezeit er.

Während wir Menschen die Atmosphäre erwärmen, verändert sich die riesige, wogende Decke aus Treibhausgasen, die das Leben auf der Erde vor den eisigen Temperaturen des Weltraums schützt, beeinflusst den Schneefall hier in Nepal und die Preise für Nahrungsmittel rund um die Welt. Während wir durch das Verbrennen fossiler Energieträger mehr und mehr gespeicherten Kohlenstoff in die Luft entlassen, bewegen wir uns allein in diesem Jahrhundert auf eine postholozäne Erwärmung von 4 Grad Celsius zu. Das sind 2 Grad Celsius mehr als das von Wissenschaftlern errechnete „sichere“ Niveau. Dieses atmosphärische Kohlendioxid hat Auswirkungen auf den gesamten Planeten.

Auf die Idee, das Treibhausgas Kohlendioxid in die Atmosphäre zu pusten, kam keine einzelne Person oder Gemeinde. Die auf Erdöl basierende marktorientierte Wirtschaft ist ein Zivilisationsmerkmal, das aus dem menschlichen Energiehunger und dem Versprechen von Macht und Reichtum erwuchs. Eine Gallone (knapp 4 Liter) Erdöl enthält eine Menge an Energie, für deren Erzeugung ein Mann acht Tage lang arbeiten müsste. Was ist Reichtum, wenn nicht der Schlüssel zur Freiheit, der einem erlaubt, die Ketten der Arbeit und des eingeschränkten Lebens abzuschütteln – die Ungebundenheit, zu haben, zu sein und zu tun, was man will, der Traum, dass niemand Macht über einen hat? Das ist wirklich eine berauschende Vorstellung.

Überall auf der Welt verstehen Wissenschaftler und Regierungen mittlerweile die Beziehung zwischen Öl und globaler Erwärmung und diskutieren über nachhaltigere Wege, allgemeinen Wohlstand zu erreichen. Die effiziente Packung an Energie, die fossile Brennstoffe bieten, durch Alternativen zu ersetzen, ist jedoch alles andere als einfach. Arme Länder wie Nepal, in denen viele Menschen einen Großteil ihrer Energie noch immer aus vorindustriellen erneuerbaren Quellen beziehen, spüren die Auswirkungen des globalen Klimawandels, auch wenn sie sich nach den Vorteilen zuverlässiger Energie sehnen, wie sie fossile Brennstoffe liefern. Das ist ein Problem, auf das ich überall auf meiner Reise stoßen werde.

Wie mir Mahabir erzählt, ist eine Straße nach Nangi geplant. Wer bis dahin über Rufdistanz hinaus miteinander zu kommunizieren oder Handel treiben will, muss sich persönlich treffen oder einen Boten schicken. Jahrtausende lang haben Menschen Wege wie diese auf sich genommen, weil es nicht anders ging. Bei mir zuhause sind persönliche Treffen nun jedoch oft so unnötig, dass ein solcher Weg selbst eine Botschaft ist, etwa eine Botschaft von Achtung und Liebe.

Während wir keuchend weiterklettern, unterhalten wir uns in abgerissenen Sätzen. Mahabir, der trotz seiner etwas schäbigen Kleidung und seines bescheidenen Auftretens in dieser Gegend so etwas wie eine Berühmtheit ist, erzählt mir von seinem Bemühen, das Leben in den Dörfern seiner Volksgruppe auf eine ungewöhnliche Art – kabellose Netzverbindungen – zu reformieren. Er plant, das traditionelle Modell der Vernetzung – verbesserte Straßen, gefolgt von Überlandleitungen – zu überspringen und stattdessen mittels WLAN die Atmosphäre zu nutzen.

In dem Dorf Nangi, Heimat von rund 800 Angehörigen der Volksgruppe der Pun, gibt es weder Telefonleitungen noch Handyempfang; dort leben hauptsächlich Subsistenzbauern, die Gemüse anbauen, Yakhirten und diejenigen, die ausziehen, um ihr Glück als Gurkha-Soldaten zu suchen. Mahabir wurde im Tal von ehemaligen Soldaten unterrichtet, die niemals selbst zur Schule gegangen waren. Geschrieben wurde mit weichem Kalk aus lokalen Vorkommen auf kohlegeschwärzte Holztafeln. Mahabir war in der siebten Klasse (13 Jahre), als er zum ersten Mal Stift und Papier benutzte, und in der achten, als er ein Schulbuch in die Hand bekam. Aber selbst dieser rudimentäre Unterricht war teuer, und sein Vater, ein ehemaliger Gurkha der britischen Armee, musste all seine Ersparnisse und einen Großteil seines Landes opfern, um ihn zu bezahlen. Nach Abschluss der Schule arbeitete Mahabir zwölf Jahre als Lehrer, unterstützte seine Familie und half seinen Geschwistern durch die Schule.

Zwei Jahre lang schrieb Mahabir täglich Bewerbungsbriefe an Universitäten und Institute in den Vereinigten Staaten, bevor er schließlich ein Stipendium für einen Studiengang an der University of Nebraska in Kearney erhielt. „Ich wusste, ich wollte die Dinge in meinem Dorf ändern. Ich wollte, dass die Leute mehr verdienen und eine bessere Erziehung und Zugang zu medizinischer Versorgung erhalten“, sagt er. Mehr als 20 Jahre, nachdem Mahabir mit seienr Familie sein Heimatdorf verlassen hatte, kehrte er mit seinem Traum und einem ebenso wichtigen Ordner voller Kontaktadressen nach Nangi zurück.

Es dämmert bereits, und wir sind 2500 Meter aufgestiegen, als wir von einer aufgeregten Gruppe Dorfkinder begrüßt werden, die uns Girlanden aus süß duftenden Ringelblumen umlegen und uns die letzten Schritte zum Dorf begleiten. Mahabir zeigt mir meine Unterkunft für die Nacht: eine Fachwerkhütte aus Lehm mit einem Steindach. Ich stelle mich bei Kerzenlicht vor und werde zu einem wohlschmeckenden Currygericht mit selbst angebautem Gemüse eingeladen, das der Naturwissenschaftslehrer der Schule auf einem qualmenden, mit Dung befeuerten Ofen zubereitet hat, bevor ich erschöpft in Schlaf falle.

Am nächsten Morgen führt mich Mahabir durch das kleine Dorf zur Schule, vorbei an Frauen, die Masala-Gewürze zerreiben und Teig für dünne Weizenmehlfladen (Chapatis) auf Holz und Stein kneten, vorbei an einem Kreis von Gemeindeführern und Ältesten, die im Schneidersitz auf dem kalten Boden hocken, völlig in ihre Diskussion vertieft. Auf unserem kurzen Gang werden wir überall begrüßt und angelächelt – alle freuen sich, Mahabir zu sehen. Er deutet auf eine recht große, gerade fertiggestellte Hütte. „Die Komposttoilette der Mädchen“, erklärt er und führt mich hinein. Er lächelt und tätschelt stolz die Innenwand, während ich ein wenig verlegen neben dem Loch stehe und versuche, den Geruch, nun, nach Toilette nicht wahrzunehmen. „Der Kompost ist prima, um damit Gemüse zu düngen“, meint er.

Im Laufe der Entwicklung von Nationen werden die Funktionsweisen einer Gesellschaft zunehmend technischer, mechanisierter und komplexer Weise. Um diese Industrien in Gang zu bringen, entstehen völlig neue Berufsfelder, aber in den meisten Fällen muss man dafür lesen, schreiben und rechnen können. Die Globalisierung bevorzugt diejenigen, die Fremdsprachen beherrschen. Die Leute, die unser Leben im Anthropozän formen werden, sind jene, die mehr von der Welt kennen als das Leben in einem kleinen Dorf und in der Lage sind, das gesammelte Wissen und Können zu nutzen, das Millionen Weltbürger via Schwarmdenken im World Wide Web geschaffen haben.

Es beginnt mit der Schule – mit Lesen und Schreiben und Selbstvertrauen und einem wachen Bewusstsein, das aus diesen einzigartigen menschlichen Fähigkeiten erwächst. Bildung ist der Königsweg aus der Armut, und die Schulbildung von Mädchen gilt mittlerweile als Entwicklungsziel, das einen Wandel bewirken kann. So heiraten gebildete Frauen im Schnitt vier Jahre später, haben mindestens zwei Kinder weniger und sorgen für einen besseren Gesundheitszustand ihre Familie. Und nicht nur das Einkommen, das eine einzelne gebildete Person erwirtschaftet, ist höher, sondern auch das Durchschnittseinkommen der Gemeinde steigt. „Wenn man ein Mädchen ausbildet, bildet man eine Nation aus“, erklärte mir eine Sechsjährige in Uganda einst voller Ernst.

Was steht also der Schulbildung von Mädchen entgegen? Ich habe schon alles gehört, von der Sorge, ein Mädchen werde zu schlau, um zu heiraten, bis zu der Sorge, es sei dann nicht länger „rein“ oder werde schwanger werden. Der Hauptfaktor ist jedoch Armut – Mädchen sind die ersten, die die Schule verlassen müssen, um zu arbeiten, wenn das Geld knapp ist. Und wenn sie älter werden, ist es eine Frage der Toiletten. Schulen, denen es an sauberen privaten Toiletten mangelt – und viele verfügen über gar keine sanitären Einrichtungen –, verlieren ihre Schülerinnen, sobald diese in die Pubertät kommen und zu menstruieren beginnen. Zudem müssen diese Schulen auch darum kämpfen, ihre Lehrerinnen zu halten. Manchmal kann für die Entwicklung einer Gesellschaft eine Toilette entscheidend sein – so wie jene, die Mahabir mir gezeigt hat.

In der Nähe liegt ein eingezäuntes Gemüsebeet, die Hälfte davon mit Plastikfolie abgedeckt. „Wir experimentieren seit einiger Zeit damit, Gemüse später im Jahr anzubauen, sodass wir das ganze Jahr hindurch frisches Grünzeug essen können“, erklärt Mahabir. „Zunächst brauchten wir die Plastikabdeckung als eine Art Treibhaus, doch in den letzten drei Jahren sind die Pflanzen wegen des wärmeren Wetters auch ohne sie gut gewachsen.“

An der gegenüberliegenden Seite eines rechteckigen Schlammplatzes, der als Fußballfeld und allgemeiner Versammlungsort für die Dorfbewohner dient, steht eine Reihe niedrigere hölzerner Schulhütten. Wir gehen hinüber, und Mahabir öffnet die Tür.

Ich weiß nicht genau, was ich erwartet habe, aber dieses glänzende Aufgebot von Computern und Monitoren, die die beiden langen Wände flankieren, ist wirklich ein erstaunlicher Anblick. Mädchen und Jungen, viele barfuß, arbeiten eifrig an den Geräten; das einzige Geräusch ist das Klappern der Tastaturen. „Möchten Sie Ihre E-Mails checken?“, fragt Mahabir, der meine Überraschung genießt. Die Computer- und Internetanlagen hier wären schon für eine Schule in London ungewöhnlich – an diesem Ort sind sie wirklich verblüffend.

Im Anthropozän muss die Welt nicht mehr an der Dorfgrenze enden. Genauso, wie soziale Entwicklungsziele heute ein Recht auf Elektrizität einschließen, ist es nicht länger akzeptabel, den Menschen den Zugang zu Tim Berners-Lees brillantem Spielzeug zu verweigern. Durch dieses Spielzeug sind wir nicht länger ein paar Individuen, die mit ein paar anderen Individuen zusammenarbeiten. Wir sind zu einem größeren, fantastischeren Geschöpf zusammengewachsen: zum Organismus der Menschheit, Homo omnis. Wir können nicht nur mit weit entfernt lebenden Menschen kommunizieren, sondern mit allen gleichzeitig – ja, wir versuchen sogar, Kontakt zu Außerirdischen irgendwo im Universum aufzunehmen.

Die Atmosphäre der Erde ist im Anthropozän durch Milliarden unsichtbarer Strahlen von unseren Kommunikationsgeräten erhellt worden – und das in bemerkenswert kurzer Zeit. Das erste transatlantische Telegramm sandte Königin Viktoria 1858 an den amerikanischen Präsidenten James Buchanan, und seit 1902 durchkreuzen Kabel den Pazifik und den Atlantik und schaffen sogar Verbindungen zum fernen Australien. Ein Jahrhundert später erlaubt mir das Mobiltelefon in meiner Tasche, das Signale durch die Atmosphäre schickt, Wetterberichte und Verkehrsmeldungen abzurufen, mit meiner Großmutter in Sydney zu plaudern, Nachrichten live an ein Fernsehstudio zu schicken und meine Rechnungen zu bezahlen. Smartphones sind inzwischen so schlau und benutzerfreundlich, dass wir sie schon bald zu unserem persönlichen Dashboard machen werden, das uns sagt, wie viel wir uns bewegen, und unsere Kalorien- und Vitaminaufnahme, unser Schlafmuster, Herzfrequenz, Stressniveau oder Cholesterinspiegel überwacht. Je weiter das Anthropozän fortschreitet, so glauben einige Forscher, desto mehr werden wir unser Smartphone als Partner ansehen – selbst in emotionaler Hinsicht.1

In Ostafrika habe ich gesehen, wie mobile finanzielle Dienstleister wie M-Pesa ihren Kunden ermöglichen, mit der Geschwindigkeit und Bequemlichkeit einer SMS-Textbotschaft Bargeld zu überweisen und Güter zu bezahlen.2 Ein Kunde zahlt Bargeld bei seinem lokalen M-Pesa-Agenten ein, der dann sein mobiles Konto mit einer speziellen Sicherheits-SMS benutzt. Der Kunde kann anschließend Geld auf das Konto einer anderen Person überweisen oder eine Rechnung bezahlen, indem er einen Textcode an den Mobiltelefon-Account des Empfängers einen Textcode sendet, der die sofortige Überweisung des Geldes auslöst. Selbst Leute ohne mobiles Guthaben können Zahlungen in Form eines Textcodes erhalten, den sie bei ihrem lokalen Agenten in Bargeld umtauschen können.

Für Millionen von Afrikanern, die nicht die Voraussetzungen für die Eröffnung eines Bankkontos haben oder zu weit von einer Zweigstelle entfernt leben, bietet dieser mobile Geldtransfer zum ersten Mal die Gelegenheit zum sicheren Sparen. In Kenia nutzen inzwischen mehr als zwei Drittel der erwachsenen Bevölkerung (über 17 Millionen Menschen) M-Pesa, um für alles Mögliche zu bezahlen, von Schulgebühren über den Lebensmitteleinkauf bis zu den Wasser- und Stromgebühren, von Taxikosten bis zu Flugtickets. Dieses System ermöglicht Menschen in entlegenen ländlichen Gebieten, ihre Ware auf weit entfernten Märkten anzubieten, urbanen Migranten, ihren Familien im heimischen Dorf rasch Geld zu schicken, und Regierungs- und Hilfsorganisationen, hungernden Slumbewohnern rechtzeitig einen „Notgroschen“ zu überweisen. Mobiltelefone ermöglichen aber nicht nur Zugriff auf Geld. Ein nepalesischer Bauer mit einem Smartphone-Zugang zu Google kann inzwischen mehr Informationen abrufen als der Präsident der Vereinigten Staaten noch vor 15 Jahren.3 Auf den Philippinen erfolgt ein Großteil der Kommunikation zwischen Regierung und Bevölkerung per SMS. In Malaysia werden Flutwarnungen per Textbotschaft versandt, und in der ganzen Welt, vom erdbebenerschütterten Haiti bis zu den Hungerkatastrophen in Ostafrika, werden Evakuierungen und Hilfsprogramme bei Naturkatastrophen via SMS koordiniert. In Indien nutzen Volksgruppen Handys für einen „Bürgerjournalismus“, verbreiten Informationen und geben entrechteten Gruppen eine Stimme.

Im Arabischen Frühling 2011 organisierten sich Bürger per Handy, um gegen diktatorische Regime zu kämpfen, und umgingen dabei sogar das regierungskontrollierte Internet und Netzwerkabschaltungen, indem sie die Seiten sozialer Medien wie Twitter und Facebook mittels Apps und Proxy-Server nutzten. In ganz Afrika kann die Stimmabgabe per Smartphone den Wahlbetrug um 60 Prozent senken.4 In Afghanistan erhält die Polizei ihr Gehalt von der Regierung per Mobiltelefon-Banking, denn das erschwert Betrug. Im Anthropozän könnten Handys sogar zur Demokratisierung von Märkten beitragen. Unternehmenslustige Menschen nutzen Crowd-Funding-Möglichkeiten, wie sie Kickstarter bietet, um sich Zugang zu Märkten zu verschaffen, die seit den Tagen der Ostindischen Kompanie die exklusive Domäne großer Unternehmen waren.

Es ist kein Wunder, dass sich die Art und Weise, wie unsere Spezies global kommuniziert, im Anthropozän grundlegend gewandelt hat. Im Jahr 2012 sagte die UN telecoms agency voraus, dass es bis 2014 mehr Mobiltelefone als Menschen auf der Erde geben wird, wobei 70 Prozent der Neuzugänge aus Entwicklungsländern kommen; bis 2017 wird es rund um die Welt über 10 Milliarden vernetzte Mobilgeräte geben, die pro Jahr mehr als 130 Exabytes (1 Exabyte = 1018 Bytes) übermitteln. Bis 2003 hatten die Menschen 5 Milliarden Gigabytes an digitaler Information produziert. Im Jahr 2010 wurde dieselbe Menge an Information alle zwei Tage erzeugt, 2013 schon alle zehn Minuten. Erwartet wird, dass 2020 rund 5 Milliarden Menschen mittels Mobilgeräten Zugang zum Internet haben – ein Maß an Vernetzung, das sich Regierungen und Entwicklungsorganisationen noch vor 20 Jahren nicht hätten träumen lassen.5

Dies kommt Nutzern in der armen Welt zugute, die Teil des kollektiven menschlichen Gesprächsaustauschs werden und jenseits der Einschränkungen von Reichtum, Geografie, Kaste, Geschlecht oder anderen Hindernissen, die sie früher behindert haben, Einfluss ausüben können. Der Mensch des Anthropozäns ist nun ein anderes, vernetztes Tier. Mit dieser Technik haben wir nicht nur die Grenzen des menschlichen Körpers überwunden, sondern auch die unseres Schwarms – wir sind zu einer globalen Gemeinschaft geworden. Das Geheimnis unseres enormen planetaren Einflusses ist unsere Zusammenarbeit als Spezies, und die technologische Nutzung unseres von der Atmosphäre abhängigen Kommunikationssystems hebt diese Kooperation auf eine neue Stufe. Sie wirkt als Beschleuniger des menschlichen Einflusses und kann als solche dazu genutzt werden, unsere destruktiven Merkmale zu verstärken – könnte sich aber auch als unsere Rettung erweisen: als ein Werkzeug, das Entwicklung und Fortschritt ermöglicht und uns in Echtzeit zeigt, wie wir andere Menschen und den Rest der Biosphäre beeinflussen.

Als sich Mahabir daran machte, Nangi umzukrempeln, erkannte er, welche Chancen die neuen Kommunikationstechniken einem abgelegenen Dorf eröffnen können.

Am Ende einer Reihe ganz normal aussehender Computer-Hardware entdecke ich etwas, das ein wenig anders aussieht – ein paar Holzkisten mit Platinen. „Ah, das sind die ersten Computer, die ich aus recycelten Teilen alter Computer gebaut habe, die uns überlassen wurden, denn neue konnten wir uns nicht leisten“, erinnert sich Mahabir. 1997 spendeten australische Studenten die vier danebenstehenden Computer, und die übrigen wurden im Lauf der folgenden Jahre von Menschen in den USA und Europa geschickt. Ohne Telefonleitungen und die Möglichkeit, eine Satellitentelefonleitung zu finanzieren, während sich das Land im Aufruhr befand, erkannte Mahabir, dass er sich etwas einfallen lassen musste, um seinem Dorf mit den Kommunikationsgeräten des 21. Jahrhunderts auszustatten. 2001 schrieb er an eine Radioshow des BBC World Service und bat um Hilfe, weil er die kürzlich entwickelten WLAN-Technologie nutzen wollte, um seinem Dorf Zugang zum Internet zu verschaffen. Von seiner Idee begeistert, schickten Hörer ihm E-Mails mit Ratschlägen und boten ihre Unterstützung an.

Da die nepalesische Regierung während des Aufstands die Einfuhr und Nutzung von drahtlosen Geräten verboten hatte und misstrauische maoistische Rebellen versuchten, sie zu zerstören, waren es Freiwillige – Rucksacktouristen aus der ganzen Welt –, die solche Geräte aus den USA und Großbritannien ins Land schmuggelten. 2003 hatte Mahabir alle Teile beisammen, Nangi mit dem nächsten Nachbardorf, Ramche, verbunden und eine mit Sonnenenergie betriebene Relaisstation installiert, wofür er eine Fernsehantenne an einem hohen Baum auf einem Berggipfel angebracht hatte. Und von dort sandte er das Signal in das über 20 Kilometer entfernte Städtchen Pokhara, das eine Glasfaserverbindung in die Hauptstadt Kathmandu hatte. Nangi war im Internet.

„Ich verwendete damals einen Heim-WLAN-Bausatz aus Amerika, der für die Nutzung innerhalb eines Radius von vier Metern empfohlen war“, erinnert er sich. „Ich schrieb dem Unternehmen eine E-Mail und erklärte den Leuten, dass ich damit 22 Kilometer weit gekommen war, denn ich hoffte, sie würden mir vielleicht etwas Zubehör spenden, aber sie glaubten mir nicht.“

Einer der Vorteile von WLAN ist, dass es keine kostspielige und ressourcenintensive Infrastruktur erfordert – es müssen nicht Kilometer um Kilometer Kabel und Kupferdrähte in schwierigem Gelände verlegt werden. Die wirtschaftliche Entwicklung im Anthropozän muss für die Natur nicht so schmutzig und zerstörerisch sein, wie es heute noch der Fall ist. Mittlerweile haben Mahabir und seine enthusiastischen Freiwilligen mehr als 40 weitere entlegene Bergdörfer (mit 60.000 Bewohnern) vernetzt und mit dem Internet verbunden, und viele Anschlüsse sind in Vorbereitung. „Die Dorfbewohner können nun mit den Bewohnern anderer Dörfer und selbst mit Familienmitgliedern im Ausland kommunizieren, und zwar per E-Mail und per VoIP [Voice over Internet Protocol]“, meint er. „Und sie können mit dem lokalen VoIP-System kostenlos im Dorfnetzwerk telefonieren.“ Mir wird klar, dass Mahabir und die Jugendlichen VoIP schon länger als ich benutzen. Da ich stets Zugang zu einem Festnetzanschluss hatte, habe ich VoIP – Skype – erst in den letzten Jahren für billigere Überseegespräche entdeckt, während das Dorf die Technik schon ein Jahrzehnt zuvor übernommen hatte.

In diesem Teil der Welt sind Lehrer ein seltenes Gut, doch immerhin werden die Kinder nicht länger von Soldaten unterrichtet, die selbst kaum lesen und schreiben können. Dank WLAN-Netzwerk kann ein Lehrer, ob vor Ort oder in Kathmandu, Klassen in vielen Dörfern unterrichten, via Bildschirm von Angesicht zu Angesicht mit Schülern diskutieren, Fragen beantworten sowie Hausarbeiten entgegennehmen und benoten. Zudem ermöglicht Mahabirs „Teleunterricht-Netzwerk“ den wenigen guten Lehrern in der Region, andere auszubilden. Daneben entwickelte er auch eine kostenlose digitale Bibliothek für Lehrmaterialien in Nepali auf und arbeitet dabei mit der Organisation One-Laptop-One-Child zusammen, die, so hofft er, Kinder in der Region mit Laptops versorgen wird. Dank Mahabirs Bemühungen hat eine Generation von Kindern, die sonst auf Bildung verzichten müssten, bis das Land ein paar Lehrer ausbildet, noch nie da gewesene Möglichkeiten, zu lernen und eine Welt jenseits der Träume ihrer Eltern zu entdecken – das ist eine gute Definition für Entwicklung.

Aber wie versorgt er ein System so weit vom Stromnetz mit Energie? „Wir haben in dem Bach unten im Dorf einen Wasserkraftgenerator gebaut“, lächelt er. Sobald sie es sich leisten können, möchte er eine andere, größere Turbine installieren, sodass das ganze Dorf über Strom verfügt – momentan ist die kostbare Elektrizität für die Computer und den Server reserviert.

Als wir mit Ersatz zur Reparatur eines zerbrochenen Teils von Relaisstation Nr. 1 zu einer weiteren ganztägigen Klettertour aufbrechen, passieren wir noch eines von Mahabirs vernetzten Dörfern. Hier stoßen wir auf eine riesige weiße Satellitenschüssel, die zwischen den einfachen Steinhäusern thront und ziemlich unpassend wirkt. „Wir haben jahrelang versucht, hier so etwas wie ein Telefonsystem einzurichten“, erklärt Mahabir. „Dann erhielten wir vor ein paar Monaten von einer NGO diese Schüssel für ein Satellitentelefon und Fernsehen. Da hatten wir aber schon das kabellose Internettelefon und brauchten sie daher nicht. Es wäre sowieso viel zu teuer, damit zu telefonieren.“ Dennoch haben die Dorfbewohner die Schüssel auf dem Schuldach installiert, wo sie wie ein Totem der Nutzlosigkeit wirkt. Niemand im Dorf hat einen Fernseher, geschweige denn die Elektrizität, um ihn zu betreiben.

Mahabir erkannte rasch, dass Vernetzung zahlreiche weitere wichtige Anwendungen mit sich bringt. Im vergangenen Jahr hat das Dorf eine telemedizinische und zahnärztliche Klinik aufgebaut, in der die Hebammen und Krankenschwestern des Dorfes per Webcam direkt mit Ärzten im Lehrkrankenhaus von Kathmandu sprechen können. Außerdem wurden die Krankenschwestern in Reproduktionsmedizin, Kinderpflege, Wund- und Unfallversorgung sowie den Grundlagen der Zahnheilkunde ausgebildet.

Das WLAN hat auch die Lebensgrundlagen hier verbessert; es ermöglicht Yakzüchtern, mit ihren mehrere Tagesmärsche entfernten Familien und Händlern zu kommunizieren, und erlaubt den Leuten, alles von Büffeln über handgeschöpftes Papier bis zur Marmelade und Honig zu verkaufen. Ein Einkommen, von dem sich leben lässt, ist der Schlüssel für all die anderen geplanten sozialen Entwicklungsprojekte, und Mahabir setzt auf Tourismus. Viele der Dörfer liegen an wunderbaren, aber wenig benutzten Trekking-Routen im Annapurnamassiv, und neuerdings bieten die Dorfbewohner Touristen Unterkunftsmöglichkeiten oder Dienste als Trekking-Führer an. Die einheimischen Jugendlichen und Erwachsenen kennen die Routen gut, und Mahabir sorgt dafür, dass sie ein gewisses Training erhalten; so lernen sie auch etwas rudimentäres Englisch. Und mithilfe westlicher Freiwilliger haben sich die Dörfer zusammengeschlossen, um direkt unter Relaisstation Nr. 1 auf einem entlegenen Fleckchen Erde in den Bergen ihre erste Touristenherberge zu bauen. „Wir richten sichere Transaktionsmöglichkeiten für Kreditkartenzahlung via Internet ein, sodass mehr Touristen kommen, und das wird uns helfen, die Bildungs- und Gesundheitsprojekte zu finanzieren“, meint er.

Mahabir, der Ein-Mann-Revolutionär, hat noch weitere Pläne, um das Dorf umzubauen, darunter auch eine Zuchtfarm zur Kreuzung von Yaks. Die Erwärmungsrate hier im Himalaja ist fünfmal höher als im globalen Durchschnitt und zwingt Yakbauern, immer entlegenere und gefährliche Weideplätze aufzusuchen, da die Tiere mit ihrem dichten Fell besonders an Höhen über 3000 Metern angepasst sind. Mahabir möchte die Yaks mit Kühen kreuzen, um ein Lasttier zu produzieren, das genügsam ist, in geringeren Höhenlagen leben kann und zudem gute Milch gibt. „Die ersten 16 Kühe, die wir hier heraufbrachten, sind von Schneeleoparden gerissen worden, daher müssen wir sie in Zukunft besser schützen“, sagt er.

Rinder sind für die Dorfbewohner lebenswichtig, weil sie den Dung produzieren, ohne den sich auf den nährstoffarmen Bergböden keine Nutzpflanzen anbauen lassen. Aber die Rinder brauchen Futter und im Idealfall etwas anderes als die Feldfrüchte der Dörfler. Während alle Dörfer rundum ihre spärlichen Wälder zerstört haben, um Bau- und Feuerholz sowie Anbauflächen zu gewinnen, hat Mahabir ein weiteres zukunftsweisendes Projekt in Angriff genommen: Er hat eine Baumschule aufgebaut und pflanzt pro Jahr rund 15.000 Bäume in Nangi sowie rund 40.000 weitere in der Umgebung. So werden die Dorfbewohner mit Feuerholz und die Rinde rmit Futter versorgt. Während viele Menschen in den nepalesischen Bergdörfern Hunger leiden, sehen die Bewohner von Nangi gut genährt aus – einige der Lehrer sind sogar ein wenig untersetzt, was kaum zu glauben ist, wenn man die Steigung bedenkt, die sie jeden Tag zurücklegen müssen, um von ihrem Haus zur Schule zu gelangen.

Während Mahabir einem Mann, der hoch oben in der Krone eines schwankenden Baumes versucht, das Relais zu reparieren, Anweisungen zuruft, wird mir klar, dass die Entwicklung in diesen abgelegenen Dörfern nicht auf Gedeih und Verderb einer gescheiterten Regierung ausgeliefert bleiben muss. Einen Großteil des Holozäns hindurch hätte die geografische Lage ihres Dorfes Menschen wie die Einwohner von Nangi in ihren sozialen und ökonomischen Möglichkeiten drastisch eingeschränkt. Ein echter Visionär voller Entschlossenheit wie Mahabir kann jedoch Dorf für Dorf Veränderungen bewirken und schrittweise ein Web installieren, das die ganze Atmosphäre durchdringt. Aber um wie viel rascher und effektiver würde sich Nepal entwickeln, wenn diese Entwicklung wie anderswo durch national koordinierte Programmen, eine gute Regierungsführung und eine geregelte Privatindustrie mit Zugang zu Märkten unterstützt würde!

Die Demokratisierung von Online-Information, Bildung, Kommunikation und Märkten demonstriert das Potenzial des Anthropozäns, zu einer globalen Gesellschaft zu führen, in der mehr Gleichheit herrscht – zu einer „flacheren Erde“, in der die Dominanz der USA, Europas und einiger anderer reicher Nationen von östlichen und südlichen Rivalen wie China, Indien und Brasilien infrage gestellt wird. Zu Beginn des Anthropozäns gibt es bereits Anzeichen, dass sich die Lebensqualität der Menschheit verbessert – es gibt heute weniger „gescheiterte Staaten“, mehr Länder praktizieren ein gewisses Maß an Demokratie, und die globale Armut ist im Vergleich zu einigen Jahrzehnten zuvor zurückgegangen. Im Jahr 2008 sanken erstmals weltweit die Anzahl und der prozentualer Anteil der Menschen, die mit weniger als 1,25 US-Dollar pro Tag auskommen müssen, und der Trend hat sich seitdem fortgesetzt.6 Unsere Nutzung der Atmosphäre durch Mobiltelefon- und Internetkommunikation – und das Unternehmertum, das darauf folgt – hat bei diesem Trend eine bedeutende Rolle gespielt.

Wir Menschen als vernetzte Superspezies mögen die Atmosphäre in brillanter Weise zur Kommunikation genutzt haben, aber zugleich haben wir uns überhaupt keine Gedanken darüber gemacht, was wir sonst noch nach dort oben geschickt haben.

Das hässliche Gesicht der menschlichen Eingriffe in die Atmosphäre – die vielen emittierten Gase – bedroht nun Zivilisation und Natur. Insofern Kohlendioxidgase die nächste Eiszeit – vielleicht unendlich weit – hinausgeschoben haben, sind sie für uns von Vorteil gewesen, doch der Treibhauseffekt dieser Emissionen beeinflusst jeden Teil unseres Planeten, vom Ackerland bis zu Wüsten und Meeren. Wir jagen so viele verschiedene Schadstoffe in unseren Luftozean, dass wir nicht nur unser Klima und unsere Wettersysteme verändern, sondern uns auch selbst vergiften.

Luftverschmutzung ist nicht neu – das alte Rom war berüchtigt für seine von Holz- und Kohlefeuern verqualmten Straßen, und 1306 verbot König Eduard I. von England das Verbrennen von Kohle bei Todesstrafe – natürlich ohne Erfolg. Erst als der Londoner Smog 1952 in nur vier Tagen geschätzte 4000 Menschen tötete (und in den darauf folgenden Wochen und Monaten 8000 weitere Menschen), zwang der Clean Air Act die Londoner, raucharmen Koks statt Kohle zu verwenden. Ähnliche Gesetze der 1950er- und 1960er-Jahre verbesserten die Luftqualität von New York und anderen Großstädten der damaligen Entwicklungsländer – Bewohner der westlichen Welt atmen noch immer einen Cocktail aus Schadstoffen, doch dabei handelt es sich hauptsächlich um unsichtbare Karzinogene, wie Ozon und Stickoxide, statt um Ruß- und Schwefelemissionen. Die Bürger der heutigen Entwicklungsländer erleben hingegen gegenwärtig ähnliche Zustände wie wir in unseren Waschküchen Mitte des vorigen Jahrhunderts, allerdings in viel größerem Maßstab.

Die „finsteren satanischen Mühlen“ (William Blake) der Industriellen Revolution in Großbritannien und die Kohlekraftwerke, die sie mit Energie versorgten, verdüsterten den Himmel und führten zu zahllosen Todesfällen – die Luftverschmutzung aus europäischen Kohlekraftwerken tötet nach Einschätzung von Wissenschaftlern auch weiterhin jedes Jahr mehr als 22.000 Menschen.7 Die Treibhausgas-Emissionen aus Schornsteinen und Auspuffrohren gibt es nach wie vor. Der sichtbar verschmutzte Himmel vergangener Jahrhunderte ist jedoch aufgrund strengerer Schadstoffkontrollen aufgeklart, denn diese zwingen Fabriken und Kraftwerke, Abgasbehandlungstechniken wie Filter zu installieren. Zudem sind besonders schmutzige Herstellungsverfahren aus Westeuropa verschwunden.

Dafür ist die Atmosphäre in China, wo heute die meisten Dreckschleudern stehen, mittlerweile so belastet, dass nur 1 Prozent der Stadtbevölkerung des Landes Luft atmet, die nach den Standards der Europäischen Union als sauber gilt. Zu diesem Schluss kam eine Studie der Weltbank 2007, auch wenn damals ein Großteil des Berichts von den chinesischen Behörden, die soziale Unruhen fürchteten, redaktionell bearbeitet wurde.8 Als ich Peking im Frühling besuchte, fiel mir die gespenstische Abwesenheit der Sonne auf. Die Luftverschmutzung, die mir in Augen und Hals biss, verbarg die Sonne so gründlich, dass der wolkenlose Tag zwar hell erschien, die Quelle dieser Helligkeit aber nicht zu erkennen war. Und das, obwohl die Stadt schon ihre „Sanierung“ erfahren hatte! China ist Europas Beispiel gefolgt und hat seine schmutzige Industrie aus reichen Städten wie Peking und Shanghai ins Inland verbannt, in ländliche und weniger entwickelte zentrale und westliche Regionen wie auch in ärmere Länder, beispielsweise nach Indonesien. Dadurch wird sich Chinas Luftqualität verbessern, genauso, wie es in Europa der Fall war, während sich die Situation in den Entwicklungsländern verschlimmern wird.

Letztendlich lässt sich dieser schmutzige Prozess nur dadurch stoppen, dass man Industrien wie die Bau- und die Fertigungsbranche saniert, indem man in den ärmsten Ländern die modernsten Industrieanlagen einsetzt – und zudem Effizienz und Recycling stark verbessert. Auf lange Sicht werden viele schmutzige Technologien überflüssig und durch neuere ersetzt werden; so bietet sich die Gelegenheit, von Anfang an auf Schadstoffvermeidung zu setzen. Die Atmosphäre des Anthropozäns ist nicht etwa deshalb bemerkenswert, weil sie von einer Reihe chemischer Substanzen und Teilchen durchsetzt ist – das kann auch durch natürliche Ereignisse wie Vulkanausbrüche geschehen. Und auch nicht deshalb, weil es das erste Mal ist, dass Menschen ihre eigenen Emissionen produziert haben, sondern weil es das erste Mal ist, dass Menschen dies in einem globalen Maßstab getan haben, der mit den größten natürlichen Ereignissen auf unserem Planeten vergleichbar ist.

Teil des Problems ist unsere große Anzahl – bereits mehr als 7 Milliarden. Ein wachsender Teil der Menschheit ist von Gütern, Dienstleistungen und Energien abhängig, die das Produkt von schmutzigen Industrieprozessen sind. Zusätzlich produzieren die Leute ihre eigenen, hausgemachten Schadstoffe, und diese Kombination färbt die eigentlich durchsichtige Luft braun.

Kathmandu, Nepals einzige wirkliche Großstadt, ist durch ihren dicken, beißenden Smog so gut wie unsichtbar. Die Luftverschmutzung und der Staub, der sich in dem schüsselförmigen Tal sammelt, lösen sich kaum einmal auf – es gibt nur wenig Regen, der den Smog wegwaschen könnte, und zudem kaum Wind. Die Luft ist so schmutzig, dass alle Schaufenster verdreckt sind. Da es an Kunden fehlt, verbringen die unterbeschäftigten Angestellten ihre Zeit mit sinnlosem Staubwischen und Fegen – sie wirbeln den Staub lediglich auf, der sich Sekunden später wieder setzt. Die Sicht ist so schlecht, dass Flüge häufig ausfallen oder Starts sich verzögern, wenn auch vielleicht nicht so häufig, wie es sein sollte: Allein in den Jahren 2012 und 2013 gab es fünf Flugzeugkatastrophen, bei denen mehr als 60 Menschen starben. Der größte Teil des Smogs, rund zwei Drittel, stammt aus dem Verbrennen von Biomasse zum Kochen, wie den Dungfeuern, die ich in Nangi gesehen habe; das letzte Drittel geht auf fossile Brennstoffe zurück. Rauchfahnen steigen von den Holz- und Dungfeuern, die in jedem Haushalt brennen, in den Himmel und mischen sich mit den Emissionen der Fabrikschornsteine und den Feuern, die zur Brandrodung in der Landwirtschaft eingesetzt werden. In den Straßen kriechen Motorräder und Autos mit schlecht eingestellten Motoren Stoßstange an Stoßstange vorwärts; ihre Auspuffrohre furzen schwarze Rußwolken. Der Mief, der dabei entsteht, hängt den ganzen Winter über der Region, bis weit ins Frühjahr. In kilometerlangen braunen Dunstschleiern zieht er sich viele Tausend Kilometer weit vom Gelben Meer bis zur arabischen Küste. Seine Rußpartikel hat man sogar bei Spitzbergen im arktischen Eis gefunden.8 Auf Satellitenbildern kann man die braune Wolke als Fleck über Asien erkennen, doch das hat sich zu einem höchst emotionsgeladenen Thema entwickelt. Als die Schadstoffschicht zunächst als Asiatische Braune Wolke bezeichnet wurde, protestierte Indien; daher benannte das Umweltprogramm der Vereinten Nationen den Dunst in der Folgestudie in „Atmosphärische Braune Wolke“ (Atmospheric Brown Cloud, ABC) um.

Der wärmende Effekt des braunen Dunstes addiert sich zum Treibhauseffekt und beschleunigt das Abschmelzen der Hindukusch-Gletscher und Schneedecken, einschließlich des schmelzenden Schnees, der Mahabirs Turbinen antreibt – zum Teil deshalb, weil steigende Lufttemperaturen in Höhenlagen ausgeprägter sind. Und schwarze, nicht verbrannte Kohlepartikel aus den Dreckwolken lagern sich auf diesen weißen Gipfeln ab, verringern deren Reflexionsvermögen und beschleunigen die Eisschmelze. Das ist ein Grund für die fünfmal höhere Erwärmungsrate, die hier zu beobachten ist, dafür, dass Orangen weiter oben auf den Hängen Richtung Nangi wachsen und dass Mahabir Yaks die Überhitzung droht.

Die dichte Schadstoffdecke, die wie ein Leichentuch über Asien liegt, beeinflusst auch den Monsun und die landwirtschaftliche Produktion. Es ist eine komplexe Beziehung: Rußteilchen, Ozon und Wasserdampf in der Dunstschicht absorbieren Sonnenlicht und heizen die Atmosphäre um bis zu 50 Prozent auf, während die Sulfat-Aerosole die Erdoberfläche gleichzeitig durch Beschattung kühlen.9 Diese kühlenden Aerosole verändern den globalen Wasserkreislauf, denn auf die Meeresoberfläche trifft weniger Sonnenlicht, sodass weniger Wasser verdampft und die Regenmenge abnimmt. Ein Rückgang der Monsun-Regenfälle um 40 Prozent über der Nordhälfte von Indien bis Afghanistan und eine Nord-Süd-Verlagerung der Regenfallmuster im Osten von China hat bereits zu Ernteausfällen geführt.10 Die braune Wolke verringert auch die Effizienz der Niederschläge, weil sie die Bildung großer Regentropfen erschwert und zu dürreartigen Bedingungen führt. Ihre Auswirkungen sind bis Australien zu spüren.

Jede Veränderung der Niederschlagsmenge wirkt sich direkt auf das Pflanzenwachstum, auch in der Landwirtschaft, aus, das darüber hinaus durch die Ablagerungen von Schwebeteilchen auf den Blättern beeinträchtigt wird. Diese Ablagerungen verringern die Menge des absorbierten Lichtes, limitieren die Photosyntheseaktivität und können zu Säureschäden bei den Pflanzenzellen führen. Zudem verringern erhöhte Konzentrationen an bodennahem Ozon bei bestimmten Nutzpflanzen, darunter Weizen und Gemüse, den Ertrag; eine Studie schätzt, dass die Reisernte in Indien durch braune Wolken bereits um ein Viertel zurückgegangen ist.11

Der Dunst stellt überdies ein Gesundheitsrisiko dar; er wird mit akuten Atemwegsinfektionen, vor allem bei Kindern, mit Lungenkrebs, Schwangerschaftsproblemen, Herzinfarkten und anderen Erkrankungen in Verbindung gebracht. Allein in Indien sterben Schätzungen zufolge fast zwei Millionen Menschen jedes Jahr an Problemen, die mit der braunen Wolke zusammenhängen. Festbrennstoffe, wie sie in Haushalten zum Kochen verwendet werden, sind ein Hauptgrund für den braunen Dunst und töten jedes Jahr wahrscheinlich mehr Menschen als die Malaria – allein der Rauch von Holzfeuern bringt jährlich mehr als 1,5 Millionen Menschen um, vor allem Frauen und Kinder. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit (OECD) nimmt an, dass die urbane Luftverschmutzung ab 2050 mehr Menschen umbringt als verunreinigtes Wasser und schlechte sanitäre Ausstattung; man geht von 3,6 Millionen vorzeitiger Todesfälle aus, vor allem in China und Indien. An vielen Orten, an denen wir leben, haben wir die lebenswichtige frische Luft des Planeten in einen gefährlichen Dunstcocktail verwandelt.

Die Atmosphäre des Anthropozäns muss jedoch nicht auf Dauer verschmutzt bleiben. Die gute Nachricht ist, dass die Bekämpfung des braunen Dunstes eine weitaus einfachere und schnellere Lösung für die regionale – und globale – Erwärmung darstellt als ein Einwirken auf die Kohlendioxidemission. Eine Reduzierung der Rußemissionen aus der Verbrennung von Biomasse könnte zu einem merklichen und raschen Erfolg führen – denn im Gegensatz zu Kohlendioxid, das 100 Jahre lang in der Atmosphäre verbleibt, sind es bei den Schadstoffen der braunen Wolke nur wenige Tage. Die Drosselung von schwarzem Kohlenstoff (Ruß) allein könnte zu einer erstaunlichen 40- bis 50-prozentigen Verringerung der Erderwärmung führen – zusätzlich zu allen gesundheitlichen Vorteilen.12

Das würde striktere Standards bei Autoabgasen bedeuten, die viele Entwicklungsländer von China bis Indien bereits durchzusetzen beginnen. Und es verlangt grundlegende Veränderungen in der Art und Weise, wie Menschen in Orten wie Kathmandu ihr Essen kochen und ihre Häuser heizen. Es würde nur 15 Milliarden US-Dollar kosten, die 500 Millionen Haushalte, die über offenem Feuer kochen, mit einem Clean Cook Stove, einem „sauberen“ Kochherd, für 30 US-Dollar auszustatten. Die Verteilung solcher Kochherde würde nicht nur die Schadstoffbelastung senken, sondern auch Mädchen und Frauen von der Last befreien, Feuerholz zu sammeln und heimzutragen – eine Arbeit, die ihre Gesundheit gefährdet, sie dem Risiko einer Vergewaltigung aussetzt und sie davon abhält, zur Schule zu gehen. Ein großer Gewinn in jeder Beziehung.

Das hübsche Dorf Phakding auf der belebten Trekking-Route zum Basislager des Everest erscheint mir sofort anders als andere Dörfer, die ich besucht habe, aber ich brauche ein paar Stunden, bis mir klar wird, was fehlt. Der Groschen fällt erst, als ich sehe, dass Ani, die Besitzerin des Gästehauses, auf einem elektrischen Ofen kocht: Der Rauch, der seit meiner Ankunft in Nepal in jeder Straße, jedem Haus mein ständiger Begleiter war, fehlt seltsamerweise. Ich atme tief durch die Nase ein, um meinen Eindruck zu überprüfen. Der Hauch eines Feuers, das auf einem weit entfernten Kamm brennt, liegt in der Luft, aber sonst kein Rauchgeruch. Ich rieche Knoblauch und mit Chili gewürzte Zwiebeln, die in Anis Küche schmoren, den süßen dunklen Geruch von trocknender Vegetation, gemischt mit duftendem Marihuana und Blumen sowie die erdige Säuerlichkeit von Büffelmist.

Ich mache mich über einen Gemüseeintopf mit Chapati her und frage Ani, wie es zu diesem rauchfreien Nirwana gekommen ist. Es ist eine NGO-Initiative, die dafür gesorgt hat, dass sich das ganze Dorf auf Mikro-Wasserkraft umstellt; die Dorfbewohner nutzen einen Bach zum Antrieb einer Turbine, die Strom für das ganze Dorf produziert. „Wir brauchten wegen all der Touristen, die kamen, immer mehr Petroleum und Diesel, und das wurde so teuer“, erklärt sie mir. Als die Sprache auf Mikro-Wasserkraftgeneratoren kam, waren einige Dorfbewohner zunächst ziemlich skeptisch, denn sie fürchteten, der Wechsel zu der neuen Energiequelle würde zu viel kosten. Schließlich gingen diejenigen, die sich den zunehmend teueren Diesel nicht leisten konnten, einfach in den Wald, schlugen dort Holz und unterhielten ihre Herdfeuer mit Dung und anderen Abfällen. Als jedoch immer mehr Touristen kamen und der Energiebedarf der Dorfbewohner wuchs, schwand der kärgliche Hochgebirgswald in beängstigendem Tempo. Streit entstand zwischen denjenigen, die den Wald als Büffelweide erhalten wollten, und denjenigen, die ihn als Brennstofflieferanten brauchten.

Mikro-Wasserkraft habe all dies verändert, meint Ani. „Sie liefert uns Energie frei Haus – für das Licht, die Musik, das Kochen. Und die Küche ist ohne den schwarzen Ruß so viel sauberer“, lächelt sie. Die anderen Dorfbewohner, mit denen ich spreche, stimmen ihr zu, dass die neue Energiequelle ein Fortschritt sei, auch wenn eine wichtige Streitfrage bleibt: Ob Chapati wirklich richtig schmeckt, wenn es anders als über einem offenen Feuer zubereitet wird.

Der Gletscher, der die Mikro-Wasserkraftturbine des Dorfes speist, liegt hoch in den Bergen, ein schmutziges Apostroph, umgeben von den schneebedeckten Gipfeln der nepalesischen Nordgrenze zu Tibet. „Als Kinder haben wir an dem Gletscher gespielt, und er reichte hinab bis zum Kloster“, erinnert sich Ringin Laama, ein örtlicher Yakhirte. „Aber mittlerweile ist er etwa zwei Kilometer zurückgewichen.“ Der Berghang unterhalb des Gletschers ist tief vernarbt, und das Gestein zeigt seine ursprüngliche Größe deutlich an. Jedes Jahr ziehe sich der Gletscher weiter zurück, so Laama. „Ich denke, in zehn Jahren wird er völlig verschwunden sein“, meint er. „Ein seltsamer Gedanke.“

Über jeder kleinen Häusergruppe sind längs der Bergwand geschwungene Wälle aus großen Felsblöcken errichtet worden. Der Boden hier war früher das ganze Jahr hindurch gefroren, und die Schmelze hat Spalten im Gestein freigelegt. Die Bergkette des Himalaja – der „Wohnsitz des Schnees“ im Sanskrit – ist eines der jüngsten Gebirge der Erde und seismisch wie tektonisch noch immer höchst aktiv. Im Zug der Erwärmung werden Erdrutsche, die hier schon immer häufig waren, noch häufiger – mit tödlichen Folgen. Laama folgt mit dem Finger einer tiefen Schramme auf dem Berg gegenüber. Sie zieht sich durch die Trümmer früherer Häuser nach unten und endet in einem riesigen Felsbrocken.

Andernorts blockieren Erdrutsche den Lauf von Flüssen, sodass sich Wasser anstaut. Wenn dieser Damm irgendwann bricht, kann es zu einer Katastrophe kommen: einer Sturzflut, die ohne Vorwarnung blitzschnell riesige Mengen an Wasser und Geröll transportiert. Jedes Jahr sterben viele Hundert Menschen – 2002 töteten Sturzfluten und Erdrutsche in Nepal 427 Personen und verursachten einen Schaden von 2,7 Millionen US-Dollar.

Da sich die Gletscherschmelze beschleunigt, werden von Gletschern gespeiste Flüsse im Lauf des nächsten Jahrzehnts anschwellen. Doch diese Fülle wird kurzlebig sein – sobald die Gletscher verschwunden sind, wird es auch kein Schmelzwasser mehr geben. Das bedeutet auch, dass die Turbinen, die Anis Küche mit Strom versorgen, stillstehen werden. Vielleicht in Erwartung dessen haben einige Dorfbewohner, unterstützt von einer anderen NGO, in eine alternative Kochquelle investiert. Ich besuche das Haus von Alok Shrestha. Er füllt eine Biogasanlage unter seinem Haus mit Haushaltsabfällen, Tierdung und anderen organischen Resten und gewinnt so Methangas zum Kochen; das macht ihn autark. Die Biogasanlage ist eine große Futterbox für Bakterien, die die nährstoffreichen Abfälle verstoffwechseln und dabei Methan produzieren. Shrestha nutzt dies für seinen Kochherd, und es bleibt genug übrig für Licht und einen kleinen Generator, der die Batterien auflädt.

Ich habe rund um die Welt verschiedenen Häuser besucht, wo Menschen aus einer breiten Palette von Abfällen ihr eigenes Biogas herstellen, darunter auch eine Anlage in Peru, die mit Meerschweinchenkötteln betrieben wurde, und sie alle speisen Kochherde effizient und mit rauchfreier Flamme. Einen Ofen für kurze Zeit in Gang zu halten, auch wenn dies regelmäßig geschieht, ist die eine Sache – eine Anlage mit Energie zu versorgen, die eine ständige Stromquelle benötigt, eine ganz andere. So wird die Wasserturbine, auf der die Hoffnungen und Träume von Mahabirs Volksgruppe, den Pun, ruhen, von einem Bach angetrieben, der von Schmelzwasser aus höheren Regionen gespeist wird. Kein Schnee heißt kein Schmelzwasser und keine Energie, und der Spiegel des einstmals tiefen Baches ist gesunken. Wenn das Wasser nicht mehr fließt, wird die ganze Region, die ihre Nachbarn in jeder Hinsicht, von Alphabetisierung bis Gesundheit, überflügelt hat, für die Versorgung mit Elektrizität auf die Regierung angewiesen sein.

Der Regierung bleiben nur wenige Jahre, um genügend Talsperren für das Auffangen von Schmelzwasser zu bauen und das Land energetisch auf die Entwicklung im 21. Jahrhundert vorzubereiten, bevor die Lichter ausgehen. Man kann sich nur schwer vorstellen, wie das gelingen soll. Dürreperioden haben bereits zu Blackouts geführt, denn die Wasserkraftwerke des Landes haben mit Wassermangel und einer schlechten Energieinfrastruktur zu kämpfen. Wie überall in Entwicklungsländern sind die meisten Blackouts geplante Lastabwurf-Intervalle, in denen die Regierung versucht, die schlechte Versorgung zu managen, indem sie Elektrizität in verschiedenen Regionen turnusmäßig rationiert.

Der Lastabwurf beeinträchtigt ernsthaft Nepals gerade flügge werdende Elektroautoindustrie, ihre 700 Safa Tempos (dreirädrige elektrische Passagiertransporter), die abgasfrei durch Kathmandus Straßen fahren, an 32 Stationen aufgeladen werden können und pro Tag rund 100.000 Menschen befördern. In diese Industrie wurden mehr als 8 Millionen US-Dollar investiert, und die fünf Hersteller beschäftigen Tausende von Angestellten. Stromausfälle haben diese Industrie jedoch an den Rand des Kollapses gebracht – die Leute, die mit NGO-Unterstützung einen Safa auf Kredit gekauft haben (90 Prozent sind selbstständige, alleinstehende Frauen), können die Raten nicht abbezahlen, weil sie ihre Elektrofahrzeuge nicht nutzen können und stattdessen auf Taxis zurückgreifen müssen. Wenn die Industrie tatsächlich untergeht, bedeutet das mehr schmutzige Autos auf der Straße – und damit mehr Kohlenstoff in der Atmosphäre und mehr braunen Dunst. Und eine stärkere Erwärmung.

Die Atmosphäre im Anthropozän ist anders als jede andere Atmosphäre, die es jemals auf dem Planeten gab, und die Auswirkungen menschlicher Tätigkeiten auf den Luftozean werden das Weltklima noch Jahrtausende lang prägen. Die Substanzen, die wir in die Luft pusten, werden ihren Weg in irdische Meere, Gesteine und Lebewesen finden. Korallen und Bäume nehmen ein anderes Verhältnis von Kohlenstoffisotopen auf als im Holozän, denn sie absorbieren nun Kohlendioxid, das aus fossilen Brennstoffen stammt.

Dennoch haben wir es selbst in der Hand, ob diese Veränderungen der Atmosphäre vorübergehend oder dauerhaft sein werden. Würden wir morgen aufhören, schädliche Gase in die Atmosphäre freizusetzen, unsere Millionen Kommunikationsgeräte abschalten und den gesamten Flugverkehr einstellen, so würde unsere Atmosphäre innerhalb von ein paar Jahren weitgehend in einem Zustand ähnlich den Verhältnissen im Holozän zurückkehren. In nur wenigen Jahrhunderten würden selbst die Kohlendioxidkonzentrationen auf vorindustrielle Normen sinken.

Natürlich werden wir jedoch nicht von heute auf morgen damit aufhören, Chemikalien in die Luft zu blasen. Die Menge fast aller Schadstoffe, die die Menschheit emittiert, steigt an und fördert weiterhin den Klimawandel. Obwohl Wissenschaftler, Organisationen und Medien uns immer wieder erklären, dass sich unser Klima verändert, kann man sich nur schwer wirklich vorstellen, was das bedeutet – wir mögen rein verstandesmäßig vom Klimawandel überzeugt sein, aber ihn emotional zu verstehen und zu erfassen, was er bedeutet, ist eine ganz andere Sache.

Das Klima ist einer der wichtigsten Orientierungspunkte der Menschheit. Es beschreibt in grundsätzlicher Weise, wo und wie wir leben, unsere Kultur, unsere Umwelt und sogar unseren Platz in der Zeit. Das Klima definiert das Holozän als geologische Epoche. Es bestimmt die Artenvielfalt regional und global, entscheidet über die Ökologie, die Hydrologie (wie viel Wasser es gibt) und das Wetter. Es bestimmt beispielsweise auch, ob das Malariarisiko steigt und wo Weizen angebaut werden kann.

In einer Welt mit einem gewandelten Klima zu leben, heißt, in einer ganz anderen Welt – oder vielmehr, in unserer Welt zu einer anderen geologischen Zeit – zu leben. Anstelle des klimatisch stabilen Holozäns betreten wir das unkartierte Gelände einer vom menschengemachten Klimawandel geprägten Welt. Wir werden die Auswirkungen des Klimawandels zu spüren bekommen, selbst wenn wir versuchen, uns gegen sie zu wappnen oder uns ihnen anzupassen. Der Klimawandel wird zunehmend unsere Nahrungsmittelproduktion beeinflussen, das Leben in unseren Städten, die Energieproduktion, die Weltpolitik und die Weise, wie wir mit anderen Menschen und anderen Spezies interagieren.

Während das Anthropozän seinen Lauf nimmt, entscheiden unser Verhalten und die Weise, wie sich Nationen entwickeln, über die Bedingungen in der Atmosphäre. Zugleich wird die Atmosphäre des Anthropozäns entscheidend beeinflussen, in welcher Richtung sich die Menschheit entwickelt. Das von Armut geplagte, rückständige Nepal steht vor einem ungewissen Sprung in eine möglicherweise vielversprechende Zukunft: Auch wenn das Land gegen die Folgen einer atmosphärischen Erwärmung ankämpft, die die Industrialisierung in anderen Teilen der Welt hervorgerufen hat, darf Nepal auf eine funktionierende Demokratie hoffen und kann zudem auf eine Dekade erfolgreicher experimenteller NGO-Projekte, von Mikro-Wasserkraft bis zu sauberen Kochherden, zurückblicken. Wohin der Weg auch führen mag – die Kinder von Nangi sind in vielerlei Hinsicht dem Schicksal der meisten ihrer Altersgenossen entkommen. Da sie bereits Teil der großen zwischenmenschlichen Kommunikation sind, ist ihr Anthropozän besser gesichert und bietet ihnen Gelegenheit, die Grenzen zu überwinden, die ihnen die Geografie auferlegt hat. Die Auswirkungen, die die von uns bewirkten Veränderungen der Atmosphäre haben, werden in diesem Buch immer wieder auftauchen. Ich werde zeigen, wie sie mit anderen anthropogenen Wandlungen auf unserem Planeten verflochten sind. Viele von Menschen gefundene Problemlösungen, wie etwa die Neuerungen, die Mahabir Pun in Nangi eingeführt hat, beruhen darauf, dass wir mit innovativen Technologien in den Himmel vordringen. Wie Larry Brilliant, vormals Chef des philanthropischen Arms von Google, über den Wandel der Welt meinte: „Es beginnt mit ganz gewöhnlichen Menschen. Gewöhnliche Menschen tun außergewöhnliche Dinge, und wir stellen sie auf ein Podest. Wir machen sie zu Helden. Und das ist ein Problem, denn es lässt andere gewöhnliche Menschen zu diesen Helden aufblicken und glauben, sie könnten nicht dasselbe erreichen. Aber dieser Weg steht jedem offen. Jedem und zu jeder Zeit.“

Am achten Tag

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