Читать книгу Wie werde ich Philosoph? - Gary Cox - Страница 6
Einführung
ОглавлениеWarum haben Sie angefangen, dieses Buch zu lesen? Philosophen sollten zwar Vermutungen vermeiden, aber ich vermute, dass Sie bereits ein wenig über Philosophie wissen und jetzt mehr darüber wissen möchten. Zumindest aber ist Ihnen der Begriff »Philosophie« schon einmal über den Weg gelaufen, und Sie wollen nun wissen, was er bedeutet. Vielleicht wissen Sie ja schon eine ganze Menge über Philosophie – weil Sie sie auf der Universität oder im Gefängnis studiert haben –, doch Sie sind vielleicht der Meinung, dass über Philosophie Bescheid zu wissen und ein Philosoph zu sein zwei verschiedene Dinge sind.
Philosophen – sofern man einer ist – sollten wirklich vermeiden, irgendetwas anzunehmen, doch bei dieser Gelegenheit werde ich, anstatt anzunehmen, dass Sie, der Leser, etwas über Philosophie wissen, was vermutlich zutrifft, mich zu der Annahme zwingen, dass Sie absolut nichts darüber wissen. Sie leben schon, wie lange auch immer, auf dieser Erde, Sie sind intelligent und gebildet genug, um dieses Buch lesen zu können. Genauer gesagt: Sie wollen dieses Buch lesen; was schon für sich in einem Zeitalter bemerkenswert ist, da doch Ignoranz als neue Intelligenz gilt. Dennoch sind Sinn und Bedeutung von Philosophie an Ihnen bislang vorübergegangen wie ein Schiff in dunkler Nacht. Sie haben von Psychologie und Soziologie gehört, sogar von Physiologie, Psychiatrie und Philatelie, doch die Philosophie wurde dabei irgendwie übersehen, wie eine Stadt, die man nie besucht hat, obwohl man weit gereist ist; wie der Besucher, der ausgerechnet während der fünf Minuten an Ihrer Tür klingelte, als Sie unter der Dusche standen.
Philosophie steht im Ruf, kompliziert zu sein. Meist ist dieser Ruf unbegründet, wenn es auch stimmt, dass sie auf dem höchsten Niveau sehr, sehr kompliziert werden kann. Philosophie kann tatsächlich komplizierter werden als alles andere im Leben. Noch komplizierter als Beziehungen, komplizierter als die Steuererklärung, komplizierter selbst als Kricket (wie beim Kricket enden auch viele lange, titanische Kämpfe in der Philosophie mit einem Unentschieden). Philosophie kann so kompliziert werden, dass sie Raketentechnik aussehen lässt wie – nun ja – keine Raketentechnik. Auf fortgeschrittenem Niveau ist Philosophie definitiv Raketentechnik, obwohl sie nicht das Geringste damit zu tun hat, Vehikel zu entwerfen, die die Schwerkraft der Erde überwinden oder winzige Messsonden per Fernsteuerung über eine Distanz von rund 90–650 Millionen Kilometer auf dem Mars landen lassen können. Aber lassen Sie sich nicht von diesem Gerede über Kompliziertheit abschrecken. Sie werden mit Erleichterung feststellen, dass Philosophieren auf einer grundlegenden Ebene tatsächlich unglaublich leicht ist. Und dieses Buch wird Ihnen zeigen, wie das geht.
Philosophie besteht aus einem riesigen Gerüst von Argumenten, aus einem riesigen Netzwerk unterschiedlicher Standpunkte, aus einem unüberschaubaren Gewirr heikler Themen, das immer noch, nach Tausenden von Jahren, wächst und sich ausdehnt, wie ein verwildertes Dornengestrüpp in einem schlecht gepflegten Garten. Man bräuchte viele Lebensspannen, um all das zu lesen, was in der Philosophie geschrieben wurde, weshalb nicht einmal die größten Philosophen alle Streitfragen kennen. Was ich damit sagen möchte ist, dass man diese Streitfragen nicht unbedingt kennen muss, um philosophieren zu können! Philosophie ist, wie manche große Philosophen gesagt haben, nicht so sehr ein Korpus von Wissen als vielmehr eine Aktivität. Alles was Sie also machen müssen, um zumindest auf einer grundlegenden Ebene Philosoph zu sein, ist einfach nur, Philosophie zu betreiben, anfangen zu philosophieren. Es ist ein wenig wie Tennis spielen. Sie müssen nicht wie Roger Federer oder Rafael Nadal spielen können, um Tennis zu spielen. Sie spielen einfach auf Ihre Weise Tennis, indem Sie den Schläger in die Hand nehmen und ein paar Bälle über das Netz schlagen oder auch in das Netz hinein.
Sie haben in Ihrem Leben gewiss schon sehr viel philosophiert, ohne es zu merken. In diesem Falle sind Sie bereits ein Philosoph, ohne es zu wissen. Wenn Sie sich jemals gefragt haben, woher das Universum kommt und ob es etwas nach dem Tode gibt; wenn Sie Gewissheiten haben oder das Leben vollkommen bedeutungslos für Sie ist; wenn es gute Gründe dafür gibt, warum Sie moralisch gut oder auch schlecht sein sollten, oder ob Schönheit nur im Auge des Betrachters stattfindet, dann haben Sie bereits philosophiert. Für mich besteht die große Ironie darin, dass ich dieses Buch schreibe, um den Leuten zu erklären, wie sie etwas werden können, das sie mit großer Sicherheit schon längst sind! Ich predige den Bekehrten, ich trage Kohle nach Newcastle, Öl nach Texas, oder kurz und gut: Eulen nach Athen. Vielleicht also sollte der Titel dieses Buches eher lauten Wie man den Leuten sagt, wann sie philosophieren oder – was ein wenig anmaßend klingen könnte – Wie man effektiver philosophiert.
Ohne jemandem zu nahe treten zu wollen: Die schlichte Wahrheit hinter der Angelegenheit ist die, dass der größte Teil grundlegenden Philosophierens, wie es die Menschen an der Bushaltestelle, in der Kneipe oder in ihrem Kopf betreiben, während sie schlaflos im Bett liegen, bereits von jemandem weit gründlicher erledigt worden ist, der nichts anderes tat als sich die gesamte Zeit seines unglücklichen Lebens mit diesem besonderen Stück Philosophie obsessiv zu beschäftigen. In manchen Fällen beschäftigte derjenige sich in einem solchen Ausmaß mit seinem philosophischen Problem, dass er kaum die Zeit fand, mit dem Bus irgendwohin zu fahren, in die Kneipe zu gehen oder zu schlafen. Ich wage diese Behauptung, weil ich Hunderte von begabten und auch nicht so begabten Anfängern aller Altersstufen in Philosophie unterrichtet habe. Und nur selten kam einer mit einem Argument, über das nicht jemand schon irgendwo und irgendwann ein ganzes Buch oder gleich eine ganze Reihe von Büchern geschrieben hatte.
Als Philosophielehrer habe ich gelernt, geduldig und zustimmend dazusitzen, während ein Philosophiestudent mir ein abgedroschenes Argument präsentiert, das in den großen, staubigen Annalen der Philosophiegeschichte wirklich ad nauseam, bis zum Erbrechen, vorgeführt wurde – als wäre sein oder ihr abgedroschenes Argument eine zutiefst originelle Einsicht. Natürlich ist es für diesen Studenten, diese Studentin ein zutiefst originelles Denken, das sehr ermutigt werden sollte, daher meine zustimmende Geduld. Weil es aber nicht sinnvoll ist, das Rad noch einmal zu erfinden und Philosophiekurse nicht weiterkämen, wenn sie nichts anderes täten, als das Rad neu zu erfinden, bringe ich am Ende seines Vortrages meinen Studenten zur Strecke, indem ich ihn darauf hinweise, dass der große Philosoph Descartes, oder wer auch immer das war, genau das, was immer es war, schon vor Hunderten von Jahren gesagt hat und zudem viel ausführlicher. Tatsächlich ist der Student in aller Regel nicht allzu niedergeschlagen, da es seinem Ego schmeichelt, wenn er merkt, dass er genau so argumentiert hat wie der große Descartes. Es ist ein wenig so, als würde man jemanden damit schmeicheln, dass er soeben einen gerade so meisterhaften Rückhand-Volley gespielt hätte wie Roger Federer im Wimbledon-Finale 2009.
Niemand spielt mit der Absicht Tennis, immer schlechter zu werden, sondern um immer besser zu werden, auch wenn man weiß, dass man nie so gut sein wird wie Federer oder Nadal oder auch Henman (der Gerechtigkeit halber sei gesagt: Henman war jahrelang der beste englische Tennisspieler und zeitgleich die Nummer vier in der Weltrangliste. Er war wirklich unverschämt gut). Ein Philosoph sein zu wollen heißt meist also, sich darin verbessern zu wollen, auch wenn man weiß, dass man nie so gut darin werden wird wie David Hume oder Immanuel Kant – zwei der größten Meister aller Zeiten in dem uralten Spiel, das Philosophie heißt. Wenn man ein paar altbewährte Methoden des uralten Philosophie-Spiels kennt, dazu einige Hauptpositionen aus den Unmengen abgedroschener Streitgespräche sowie die wichtigsten Argumentationslinien aus dem großen Gewebe unterschiedlichster Standpunkte, dann hilft das einem dabei, ein effektiverer Philosoph zu werden: ein Philosoph, der seine Bälle eher über das Netz als direkt ins Netz schlagen kann; der aufschlagen und den Aufschlag des Gegners erwidern kann; vielleicht sogar ein Philosoph, der zuweilen Spiel, Satz und Sieg gegen einen würdigen Gegner gewinnen kann, der selbst nicht ungeübt ist.
Die Grundlagen der Philosophie sind relativ leicht zu erlernen, weshalb man das Philosophie-Spiel leicht auf recht bescheidenem Niveau spielen kann, was reicht, um daran Spaß zu haben und genug ist, um sich mit fast jedem zu messen, der nicht gerade Oxbridge-Professor für Philosophie ist. Falls Sie es nicht wissen: Oxbridge ist eine frei erfundene Universität, die entweder Oxford oder Cambridge oder beides ist. Es ist kein Ort irgendwo zwischen Oxford und Cambridge – dieser Titel gebührt eher Milton Keynes oder Luton.
Ein wirklich großer Philosoph zu werden ist jedoch reichlich schwierig. Vermutlich ist es noch schwerer als in Wimbledon zu gewinnen. Platon, Aristoteles, Hume, Kant, Hegel, Mill, Kierkegaard, Wittgenstein, Sartre, de Beauvoir – diese großen Philosophen widmeten ihr gesamtes Leben der Philosophie, plagten ihre ziemlich gescheiten Köpfe Tag für Tag, jahrein, jahraus, Jahrzehnt um Jahrzehnt mit einem schweren Wälzer nach dem anderen. Die großen Philosophen sind wie große Berge im riesigen Gebiet der Philosophie, während so einer wie ich, der beispielsweise Philosophie lehrt und ein paar Kommentare geschrieben hat (Bücher über große Philosophen), nur ein Maulwurfshügel ist. Aber keine Sorge: Philosophen, große und kleine, von Platons Everest bis hin zu Rab C. Nesbitts kleinem Hügel, wissen, dass Größe relativ und es besser ist, ein kleiner Erdwall innerhalb der Philosophie als ein ganzes Bergwerk an Ignoranz zu sein. Wir werden auf unserem Weg einen Blick auf einige der hervorstechenden Eigenschaften dieser gewaltigen Philosophie-Berge werfen, auf einige wesentliche Ideen der großen Philosophen, die solch einen großen, einflussreichen Schatten auf das Denken und den Fortschritt der Menschheit geworfen haben.
Wo also befinden wir uns gerade? Selbst wenn Sie bis jetzt noch nie etwas von Philosophie gehört haben und noch nicht wissen, was der Begriff Philosophie bedeutet, ist es dennoch sehr wahrscheinlich, dass Sie schon sehr oft in Ihrem Leben philosophiert haben, ohne dass Sie wussten, dass das, was sie da taten, philosophieren genannt wird und dass die Gesamtsumme des bisher angewachsenen und noch weiter anwachsenden Philosophierens der Menschheit eben Philosophie heißt. Falls Sie überhaupt nur ein kleines bisschen philosophiert oder keine überlegte Entscheidung getroffen haben, etwas so scheinbar Sinnloses und potentiell Verstörendes zu vermeiden, dann sind Sie bereits Philosoph. Und wenn Sie bereits Philosoph sind, dann folgt daraus, dass man Ihnen nicht sagen muss, wie man Philosoph wird. Oder können Sie jemandem, der längst Fahrrad fährt, erklären, wie man Fahrrad fährt?
Nun, das hängt davon ab, was man unter Fahrradfahren versteht. Übrigens: Die Aussage »es hängt davon ab, was man darunter versteht« ist zentral für die Tätigkeit des Philosophierens. Jeder, der wirklich weiß, was es heißt, Fahrrad zu fahren – der siebenfache Tour-de-France-Gewinner Lance Armstrong zum Beispiel – wird Ihnen erzählen, dass es Fahrradfahren und Fahrradfahren gibt. Einerseits gibt es das Aufrechtbleiben und Vorankommen und Anhalten, ohne herunter zu fallen; andererseits aber gibt es die Haltung des Fahrers, den effizienten Gebrauch der Gänge, die Trittfrequenz, die Kurventechnik, das kontrollierte Bremsen, den »Ausreißer«, das Schließen des Shirts mit beiden Händen unmittelbar vor der Abfahrt und tausend weitere Kniffe, die man benutzen kann – all das bedeutet, wirklich zu wissen, was es heißt, Fahrrad zu fahren.
Deshalb sollte dieses Buch vielleicht nicht einfach heißen Wie werde ich Philosoph? – auch wenn dies offenkundig der einprägsamste Titel ist, an dem festzuhalten die Marketing-Leute und ich beschlossen haben –, sondern Wie werde ich wirklich ein Philosoph? oder Wie werde ich ein besserer Philosoph?. In einem bestimmten Sinn sind all die genannten Alternativ-Titel, die ich ziemlich ausdauernd immer wieder vorbringe, die Untertitel dieses kleinen Buchs. Sie waren aber zu langweilig oder zu lang für den Titel und sogar für den Rückendeckel.
Ich bin kein Lance Armstrong, bin aber gleichwohl in meinem Leben viel Fahrrad gefahren. Ich bin kein Aristoteles, habe gleichwohl während meines Lebens eine Menge Philosophie betrieben; großenteils deshalb, weil ich irgendwie zu dem Entschluss gekommen bin, mein täglich Brot damit verdienen zu wollen. Das hat mir immerhin ein leicht undichtes Dach über dem Kopf beschert, aber ich versichere Ihnen, dass man mit weitaus weniger substantiellen Dingen viel mehr Geld verdienen kann. Daher glaube ich, Ihnen ein paar Hinweise geben zu können, wie Sie Ihr Philosophie-Fahrrad ein bisschen schneller fahren können, ohne sich darauf wund zu sitzen oder von der Straße abzukommen und in und die häufigsten Gräben zu stürzen.
Am Ende dieser Einführung ist es mir wichtig zu betonen, dass es Vor- und Nachteile hat, ein Philosoph zu sein. Geübte Philosophen denken, schreiben und argumentieren meist schlüssiger als normale Menschen. Sie haben die Kunst des systematischen Denkens und Sprechens erlernt. Das ist sehr vorteilhaft, wenn es darum geht, genau die Jobs zu kriegen, die am sichersten, interessantesten und am besten bezahlt sind. Die Forschung hat erwiesen, dass Menschen mit philosophischer Ausbildung – weit entfernt davon, zu den Aussteigern zu gehören – sich meist gescheit anstellen, wenn es um die Ausbildung als Lehrer, Anwalt, Arzt, Computerspezialist, Marketing-Fachmann, Journalist und sogar Klempner geht. Und zwar deshalb, weil Menschen, die Philosophie studieren, damit die Grundprinzipien allen Wissens studieren. Philosophie zu studieren verleiht einem Menschen Fähigkeiten, die sich hervorragend in anderen Bereichen anwenden lassen. Wenn Sie es beispielsweise schaffen, den berüchtigt komplizierten deutschen Philosophen Martin Heidegger zu lesen, werden Sie die Erläuterungen zu Ihrer nächsten Steuererklärung lesen wie einen Text von Enid Blyton. Im letzten Kapitel werde ich auf das Thema der beruflichen Vorteile des Philosophiestudiums zurückkommen.
Natürlich kann die Fähigkeit, schlüssig zu denken und zu argumentieren, beleidigend auf kopf- oder gedankenlose Menschen wirken, deren Köpfe verstaubt sind. Wenn der Philosoph sie damit einfängt, dass er die Ungereimtheiten und Verwirrungen ihrer absurden Standpunkte vorführt, werden sie ihn als Besserwisser bezeichnen und vermutlich seinen Niedergang herbeiführen wollen. Genau das passierte dem antiken griechischen Philosophen Sokrates. Er demütigte öffentlich so viele mächtige Athener, als er ihnen demonstrierte, wie strohdumm sie waren, dass sie ihn am Ende zwangen, sich selbst zu vergiften und den Schierlingsbecher zu trinken.
Heute aber und in unserer Zeit ist es eher unwahrscheinlich, wie schlaumeierisch Sie auch sein mögen, dass Sie den Schierlingsbecher auszutrinken gezwungen werden. Dank unserer Massenmedienkultur gibt es nämlich Besserwisser wie Sand am Meer. Wenn der durchschnittliche großmäulige, starrsinnige Fernsehmoderator noch nicht gezwungen wurde, den Schierlingsbecher zu trinken, brauchen Sie sich vermutlich keine Sorgen machen. Weiß überhaupt noch jemand, wie man einen Schierlingsbecher anrührt?
Oft ecken Philosophen bei den Menschen mit ihrer hoch entwickelten Fähigkeit an, einen Nerv zu treffen oder eine unbequeme Wahrheit bloßzulegen. Doch meist schaffen sie es, der Exekution zu entgehen, weil sie in ihrer unendlichen Weisheit spüren, dass der Klügere besser nachgibt. Mit anderen Worten, sie setzen sich in eine andere Stadt, in ein anderes Land ab, womit sie der Liste ihrer Errungenschaften auch noch das Exil hinzufügen. Oft fliehen sie nach Holland, wo Geist verändernde Ideen sowie Geist verändernde Substanzen immer schon durch die liberalen Behörden toleriert wurden. Auch Sokrates hätte offenkundig aus dem alten Athen fliehen können, doch er war entschlossen, zum Märtyrer zu werden und bestand darauf, dass der Tod keinen Schrecken für ihn darstellte. Als man ihn zum Tode verurteilte, sagte er nur:
Er [der Tod] ist nämlich eines von beiden; entweder wie ein Nichtsein, so daß der Tote auch keine Wahrnehmung mehr von irgendeiner Sache hat; oder dann ist er, wie die Überlieferung sagt, ein Übergang oder eine Übersiedlung der Seele von dieser Stätte an eine andere. Wenn nun gar keine Empfindung mehr vorhanden und wenn der Tod wie ein Schlaf ist, wo der Schlafende nicht einmal träumt, dann wäre er wohl ein wunderbarer Gewinn. (Platon, Apologie, 40 d)
Eine viel unmittelbarere Bedrohung für den Philosophen als der Tod ist das Abgleiten in den Nihilismus. Nihilismus ist der Glaube an nichts, bis zum Punkt der Verzweiflung. Das Studium der Philosophie kann einen, wie schon Sokrates, zur Schlussfolgerung verleiten, dass es höhere Mächte und andere Dimensionen gibt, die dem Leben ihren letzten Sinn geben. Andererseits kann es auch dazu führen, dass man dem Begriff »letzter Sinn« keine Bedeutung mehr abgewinnen kann. Es besteht immer die Gefahr, dass man zu dem vernichtenden Schluss gelangt, das Leben wäre letztlich so bedeutungslos und sinnlos, dass es durch und durch absurd ist; nicht nur in Teilen absurd – Briefmarkensammeln, amüsante Klingeltöne, Seifenopern, eine Krawatte tragen, Schnurrbärte –, sondern absurd in seiner Ganzheit.
Tatsächlich aber muss der Entschluss, das Leben wäre durch und durch sinnlos, nicht zur Verzweiflung führen. Viele Philosophen, die die Position der nihilistischen Philosophie eingenommen haben, dass nämlich das Leben vollständig absurd wäre, haben sich eilends aus den Klauen der Niederlage befreit und sieghaft verkündet, dass da das Leben als Ganzes vollständig absurd wäre und in sich keine Bedeutung hätte, dann jedes individuelle Leben genau die Bedeutung hätte, das die betreffende Person ihm verleihe. Diese antinihilistische Position, eingenommen etwa von existentialistischen Philosophen wie Friedrich Nietzsche oder Jean-Paul Sartre, gilt nicht nur als positiv, sondern auf persönlicher Ebene sogar als in hohem Maße Kraft verleihend. Nicht zuletzt schafft es sämtlichen unterdrückerischen religiösen Ballast aus dem Weg und macht einen Menschen zum Herrn oder zur Herrin des eigenen Schicksals.
Der Philosoph Arthur Schopenhauer entschied, dass Gott nicht existiere. »Gott ist tot«, wie Nietzsche es später ausdrückte, heißt, dass für intelligente Menschen die Idee Gottes als Erklärung dafür, wie die Dinge sind, überholt ist. Das führte Schopenhauer zu dem verzweifelten Schluss, dass das Leben, das Universum und alles darin bedeutungslos sein müssen, wenn da kein Gott sei, der ihm Bedeutung gäbe. Soweit gelangte er philosophisch, als er tief in das eintauchte, was man heute als Schopenhauerianischen Nihilismus kennt. Ganz anders als seine Bücher blieb er selbst allerdings ein recht heiterer Geselle, war ein liebevoller Vater für seine Kinder und spielte jeden Morgen auf seiner Flöte. Wie auch immer, sein Nachfolger Nietzsche kam daher und meinte wortreich: Keine Sorge, diese Sache mit »Gott ist tot« ist schließlich kein Grund zur Verzweiflung. Tatsächlich sollte sie eher ein Grund zum Feiern sein, weil sie nämlich bedeutet, dass es keinen Chef gibt; dass der Weg vorwärts frei und unbegrenzt ist; dass wir frei sind, sämtliche Bedeutungen und Werte im Universum selbst zu schaffen und somit selbst zu Göttern werden. In seinem Buch Die fröhliche Wissenschaft […] schreibt Nietzsche:
In der That, wir Philosophen und »freien Geister« fühlen uns bei der Nachricht, dass der »alte Gott todt« ist, wie von einer neuen Morgenröthe angestrahlt; unser Herz strömt dabei über von Dankbarkeit, erstaunen, Ahnung, Erwartung, – endlich erscheint uns der Horizont wieder frei, gesetzt selbst, dass er nicht hell ist, endlich dürfen unsere Schiffe wieder auslaufen, auf jede Gefahr hin auslaufen, jedes Wagnis des Erkennenden ist wieder erlaubt, das Meer, unser Meer liegt wieder offen da, vielleicht gab es noch niemals ein so »offnes Meer«. (Die fröhliche Wissenschaft, S. 343)
Dies ist zwar eine gewagte, aufwühlende und rebellische Aussage Nietzsches, doch man kann kaum anders, als mit der guten alten Weisheit zu sympathisieren, es gäbe keine Atheisten mehr in einem Schützengraben, wenn erst die Kugeln losgingen. Natürlich beweist das nicht, dass Gott existiert, sondern dass es trotz allem, was Nietzsche sagt, trotz seines verwegenen Atheismus extreme Situationen gibt, wo das Bedürfnis, an irgend einen Gott zu glauben, sehr überwältigend ist; es sei denn natürlich, man wäre selbst zum Gott geworden. So viele lebenslang Ungläubige, ergriffen von Schmerz und Furcht vor dem Unbekannten, beten mit ihrem letzten Atemhauch. Fangen sie plötzlich an, wirklich zu glauben, oder gehen sie nur auf Nummer sicher, indem sie ein paar demütige, flehende Worte in Gottes Ohr wispern, falls er schließlich doch existierte? Auf diese Frage weiß ich keine Antwort, und sollte ich sie je finden, werde ich vermutlich eher damit beschäftigt sein, mit meinem letzten Atemzug zu beten, als sie jedermann mitzuteilen. Was ich aber sagen kann: Diese Menschen möchten definitiv glauben. Lässt man das beiseite, sollte ein wahrer Philosoph, Theist oder Atheist, stets zu vermeiden versuchen, Dinge nur deshalb zu glauben, weil sie seine Ängste lindern oder sein Begehren befriedigen. Stets sollte er kompromisslos die Wahrheit suchen, um ihrer selbst willen, als höchsten Preis – als was auch immer sich diese Wahrheit entpuppt.
Ist Philosophie eine nüchterne, sachliche, kompromisslose Suche nach der Wahrheit, dann muss man, um Philosoph zu sein, dorthin gehen, wohin einen die Suche führt, nicht dahin, wohin die sanftere, sentimentale Seite gerne gehen würde. Einst schrieb der Dichter John Keats:
»Muss jeder Reiz nicht enden, /Rührt dran Philosophie mit kalten Händen?/Einst stand am Himmel hoch der Regenbogen, /Nun kennen wir dies Webstück, Katalogen/Fiel er anheim mit ganz gemeinen Dingen, /Philosophie stutzt selbst der Engel Schwingen, /Mysterien rechnet sie in Regeln aus, /Macht geisterleer die Luft, der Gnomen Haus, /Zerstöret jeden Reiz, bis ihr gelingt, /Dass Lamia zu leeren Schatten sinkt.« (Lamia, Teil II, deutsch von Marie Gothein)
Vielleicht wird der große Dichter, der auch ein wenig Philosoph war, hier von seinen Gedanken entführt – wie es Dichtern zuweilen ergeht – als er sagt, wie sehr die Philosophie dazu neigt, dem Leben einen Dämpfer aufzudrücken, indem sie allen Zauber daraus entfernt. Schließlich ist doch manche Philosophie ebenso gut darin wie die Dichtung, wenn es darum geht, angesichts der erhabenen Schönheit und furchtgebietenden Fülle des Universums ein Gefühl von Ehrfurcht und Staunen wachzurufen. Dennoch muss ich zugeben, dass Keats recht hat, und nicht zuletzt deshalb, weil Philosophie den Geheimnissen ja auf den Grund gehen, die Luft von Trugbildern und Verwirrungen reinigen und alle törichten Kobolde aus der Höhle des Unwissens hinein ins klare Licht der Vernunft führen will.
Philosophie zu studieren und ein Philosoph zu werden ist kein neutraler Vorgang. Es wird das eigene Denken und Lebensgefühl verändern, womöglich zum Besseren, womöglich auch nicht. Es kann einem den Glauben an etwas Höheres geben oder auch jeglichen Glauben zerstören. Ich weiß nicht, wie es Ihnen ergehen wird. Jedenfalls habe ich Sie gewarnt. Und jetzt lesen Sie weiter, wenn Sie sich trauen.