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Jean-Paul Sartre wurde am 21. Juni 1905 in Paris geboren. Wenn man an Sartre denkt, muss man ihn immer im Zusammenhang mit Paris denken. Für seine vielen Anhänger muss man Paris immer im Zusammenhang mit Sartre denken. Sartre war Pariser durch und durch. In der Pariser Innenstadt fühlte er sich zu Hause. Zwar verbrachte er nicht sein gesamtes Leben in Paris, aber es zog ihn immer dorthin zurück. „Jeder Mensch hat seinen natürlichen Standort; über die Höhenregionen entscheiden weder Stolz noch Wert: darüber bestimmt die Kindheit. Mein Standort ist ein sechster Stock in Paris mit Aussicht auf die Dächer“ (Die Wörter, S. 46).

Er war der Sohn eines kleinwüchsigen, kränklichen Marineoffiziers namens Jean-Baptiste und eines hochgewachsenen, gebildeten, gelangweilten bürgerlichen Mädchens, Anne-Marie Schweitzer. Sie heirateten am 5. Mai 1904 in Paris und etwas über ein Jahr später kam das mit dem Spitznamen Poulou gerufene Baby zur Welt, von allen geliebt einschließlich seines Vaters, der schwer enttäuscht war, der Geburt nicht beiwohnen zu können. Er war in der Nähe von Kreta stationiert und an eine Laufbahn gebunden, die ihn nicht länger interessierte oder die zu gehen er nicht mehr die Kraft hatte, und litt an Enterokolitis, einer Entzündung der Darmschleimhaut, wie auch an Tuberkulose.

Im November 1905 wurde Jean-Baptiste zur Genesung und Erholung zu Frau und Kind nach Hause geschickt. Er hatte immer wieder große Freude an dem gesunden, lachenden Baby, aber seine Freude konnte seine Gesundheit nicht wiederherstellen. Er verlängerte seinen Krankenstand mehrmals, währenddessen er nur seinen halben Sold bezog, und beschloss im Mai 1906, mit Kind und Kegel in seine Heimatstadt Thiviers im südwestfranzösischen Aquitanien zu ziehen.

Jeder sagte ihm, dass die frische Landluft ihm guttun würde. Sie tat es nicht. Seine Familie kam und half ihm dabei, sich um das Kind zu kümmern und es zu pflegen. Doch in diesem heißen und schwierigen Sommer musste Jean-Baptiste der finsteren Wahrheit ins Auge sehen. Am Abend des 17. September 1906 verstarb er.

Als Sartre senior verstarb, war Sartre junior kaum fünfzehn Monate alt. Demnach kann es kaum überraschen, dass Sartre keine unmittelbare Erinnerung an seinen Vater hatte. „Jean-Baptiste [hatte mir] die Freude verwehrt, ihn kennen zu lernen. Noch heute wundere ich mich darüber, daß ich so wenig über ihn weiß“ (Die Wörter, S. 15). Da er seinen Vater nicht kannte, hielt er daran fest, dass sein Vater keinen positiven Einfluss auf ihn ausgeübt hatte, obwohl er äußerlich fast sein Doppelgänger war. Vielmehr fand Sartre, dass sein eigener Vater er selbst sei. Sartre setzte sich tief damit auseinander, was einen Menschen ausmacht, und seine Autobiographie Die Wörter ist eine Übung in existentialistischer Psychoanalyse, die zeigt, wie das Kind der Vater des erwachsenen Menschen ist.

Sartre interessierte sich nicht sehr für seinen Vater, dessen Familie oder Heimatstadt Thiviers. Er erhielt einst einen Familienstammbaum, den er kaum ansah, bevor er ihn in die Mülltonne warf, wie um zu sagen: „Es geht nicht darum, wo du herkommst, es geht darum, wo du stehst.“ Er hatte interessantere und wichtigere Dinge zu lesen und zu schreiben.

Er konnte seinen Charakter ohne einen Druck ausübenden Vater ausbilden und betrachtete seinen Vater aus einer freudianischen Perspektive. Anders als die meisten Jungen, wie etwa Gustave Flaubert, blieb Sartre die Last der väterlichen Erwartungen erspart. So hatte er die Freiheit, eine intimere Beziehung auf Augenhöhe zu seiner Mutter zu entwickeln. Er war froh, keinen Vater gehabt zu haben, und schwer betrübt, als seine Mutter 1917 wieder heiratete.

Mutter und Sohn standen sich nahe, fast wie Bruder und Schwester. Sartre machte nie ein Geheimnis aus der tiefen und treuen Verehrung seiner Mutter, auch wenn er sie, wie es den meisten Jungen mit ihren Müttern geht, als etwas Selbstverständliches betrachtete. Dafür zeigte er sich in ihren späteren Jahren erkenntlich.

Die junge Witwe lebte mit der Familie ihres verstorbenen Ehemannes in der französischen Provinz, ohne etwas zu haben, das sie festhielt. Thiviers erinnerte sie bloß an Jean-Baptistes Leiden. Unmittelbar nach der Beerdigung am 21. September 1906 nahm Anne-Marie eine Kutsche nach Limoges und von dort aus einen Zug nach Paris. Ihr Ziel war ihr elterliches Haus in Meudon in den Pariser Vororten.

Die Schweitzers stammten aus Elsass-Lothringen. Sie waren über viele Generationen eine wohlhabende und respektable Dynastie von Lehrern, ausgenommen Sartres Urgroßvater Philippe-Chrétien. Er wurde Kaufmann und, nachdem er sich in Deutschland niedergelassen hatte, von 1875–1886 Bürgermeister von Pfaffenhofen. Unter Philippe-Chrétiens fünf Kindern waren Sartres Großvater Charles sowie der fromme Louis. Er wurde Pfarrer und war Vater des berühmten Theologen und Missionars Albert Schweitzer, der 1952 den Friedensnobelpreis gewann. Sartre nannte den 1875 geborenen Albert aufgrund des großen Altersunterschiedes „Onkel“, obwohl sie Cousins waren.

Charles nahm die alte Familientradition wieder auf und wurde Lehrer. Nach dem preußisch-französischen Krieg nahm er 1972 die französische Staatsbürgerschaft an. Während seiner Zeit als Lehrer in Macon heiratete er Louise Guillemin und siedelte später nach Paris über.

Das Zimmer, das Sartre und seine Mutter im väterlichen Hause bewohnten, wurde etwas herablassend „das Kinderzimmer“ genannt. Obwohl ihre Eltern sie pflichtgemäß wieder aufnahmen, nachdem sie ihren Mann verloren hatte, konnten sie ihr niemals völlig verzeihen, einen Mann geheiratet zu haben, der so unanständig war, früh zu sterben. „[N]atürlich ist in einer Familie eine Witwe immer noch lieber gesehen als eine uneheliche Mutter, aber das ist auch alles“ (Die Wörter, S. 13).

Anne-Marie wurde als Kind und Bedienstete behandelt und nahm ihre Rolle, ohne zu klagen, an. Doch obwohl sie wenig respektvoll behandelt wurde, wurde ihr Sohn, zumindest von seinem Großvater, geliebt und verwöhnt. Sartres Großmutter Louise zeigte sich gegenüber den Ambitionen ihres Enkels ungewöhnlich unbeeindruckt und reserviert.

Doch auch sie war schwer besorgt, als im Jahre 1909 der vierjährige Junge neunzig Prozent seines rechten Augenlichts verlor. Eine am Strand zugezogene Erkältung führte zu einer Augeninfektion, die ihrerseits eine Linsentrübung nach sich zog. So kam Sartre zu seinem oft karikierten schielenden Auge. Doch dieses Leid trübte seine Kindheit keineswegs, stattdessen wurde er deshalb noch mehr verhätschelt als bis dahin. Doch er war nicht all den Erwachsenen wohlgesonnen, die ihn so verwöhnten.

Sartre erforscht mit viel Einsicht und Humor das komplizierte Verhältnis zu seinem Großvater. Er nahm großen Anstoß an Charles’ Verhalten gegenüber seiner Mutter und es gibt keinerlei Anzeichen für eine echte Zuneigung zu diesem steifen, respektablen, dünkelhaften, herrischen Angehörigen der protestantischen Bourgeoisie, der zwar gebildet, aber engstirnig war, der Bücher liebte, aber Schriftsteller verachtete, der behauptete, die Armen zu lieben, aber sie nicht unter seinem Dach duldete.

Scharfsinnig berichtet Sartre, wie Charles in zunehmendem Alter versuchte, das Kind als Himmelsgeschenk, als Beweis für das Erhabene und als Trost in seiner Todesangst zu betrachten. Die gesamte Familie bemerkte, dass der junge Poulou mit seinen vollen blonden Locken dem alten Mann den Kopf verdreht hatte.

Sartre gibt offen zu, dass Charles die Person war, die den größten Einfluss auf seine intellektuelle Entwicklung ausgeübt hatte. Er kümmerte sich um die akademische und moralische Ausbildung seines Enkels und erlaubte ihm uneingeschränkten Zutritt zu seiner ausgedehnten, wenn auch konservativen Bibliothek. Diese Bibliothek wurde zu Sartres Spielplatz. „Ich habe mein Leben begonnen, wie ich es zweifelsohne beenden werde: inmitten von Büchern“ (Die Wörter, S. 31).

Erfüllt von dem Wunsch, die Mysterien der staubigen Bände in der Bibliothek seines Großvaters zu erschließen, brachte er sich selbst bald das Lesen bei und begann sofort damit, Wörter zu erforschen wie andere Kinder Wälder; die Gedanken darin waren für ihn wirklicher als die Dinge um ihn herum. Da er aufgrund seiner unerträglichen Frühreife und angeblich anfälligen Gesundheit wenige echte Freunde hatte, wurden große tote Schriftsteller seine Spielgefährten. Er verschmolz sie mit ihren Werken: Corneille hatte einen Lederrücken und roch nach Kleber, während Flaubert klein und in Leinen gebunden war.

Die beiden Teile von Die Wörter heißen „Lesen“ und „Schreiben“. Sartre erzählt darin, wie sein jüngeres Selbst den Sprung von Ersterem zu Letzterem machte. Wie andere „gewöhnliche“ Kinder las er neben den Klassikern auch Comics und Abenteuergeschichten, die seine ersten Schreibversuche inspirierten. Seine frühen Romane waren kitschige Erzählungen von Weltreisen mit Helden und Bösewichten und erfundenen Handlungen, die er einfach niederschrieb, ohne sie eines zweiten Blickes zu würdigen. Seine Mutter liebte sie und schrieb sie ab, dennoch sind die meisten von ihnen inzwischen verloren gegangen. Charles verurteilte diese Schreibversuche und las sie nur, um die Rechtschreibung zu korrigieren.

Sartre sagt, dass ihn nicht das faszinierte, was er geschrieben hatte, sondern der Schreibprozess selbst, der ihm erlaubte, Helden zu erschaffen und sich selbst, den Autor, als Helden. Er war tief beeindruckt von der Wertschätzung, die Schriftstellern zuteilwurde (von allen außer seinem Großvater), der Dankbarkeit, die sie erweckten, und der Unsterblichkeit und Allgegenwärtigkeit, die sie erreichten. „Im Alter von 8 Jahren […] stürzte ich mich in ein einfaches und wahnsinniges Unternehmen, das den Lauf meines Lebens veränderte: Ich übertrug auf den Schriftsteller die geheiligten Kräfte des Helden“ (Die Wörter, S. 127).

Er erzählt davon, wie begeistert er von den Berichten von Charles Dickens’ Ankunft in New York war. Beim Einlaufen seines Schiffes hatte sich am Hafen eine erwartungsvolle, mit Hüten winkende Menschenmenge versammelt. „[D]amit sie so wahnsinnig gefeiert werden, müssen Schriftsteller die schlimmsten Gefahren bestehen und der Menschheit die gewaltigsten Dienste leisten“ (Die Wörter, S. 128).

Sartres liebevolle Familie behandelte ihn wie etwas Höheres, wie ein Wesen, das zu Größerem bestimmt sei; doch das frühreife Kind konnte diese Überzeugung nicht teilen. Stattdessen kam er sich unbestimmt und unbedeutend, ziellos, ja sogar überflüssig vor. Sartre übertrug diese Empfindungen später auf die Hauptfigur seiner Kurzgeschichte Die Kindheit eines Chefs, Lucien Fleurier. „,Was bin ich, ich …?‘ Da war dieses dichte, unentwirrbare. ,Ich‘“ (Die Kindheit eines Chefs, S. 36).

Sartre betrachtete sich selbst wie einen Zugreisenden ohne Fahrschein. Er reiste durch das Leben ohne Rechtfertigung für seine absurde Existenz und fürchtete sich vor einem Fahrkartenkontrolleur, der er selbst war. „Ich war ein Schwarzfahrer, war auf dem Sitz eingeschlafen und der Kontrolleur schüttelte mich. ,Ihre Fahrkarte!‘ Ich war gezwungen, zuzugeben, dass ich keine hatte“ (Die Wörter, S. 84f.). Als er erkannte, dass er keinen Fahrschein hatte, fragte er sich in ungewöhnlich frühem Alter, wie er seine Anwesenheit auf dem Zug des Lebens rechtfertigen solle.

Eines der immer wiederkehrenden Themen in Sartres Philosophie ist, dass ein Mensch als für sich Seiendes nichts ist. Was immer ein Mensch sei, er muss entscheiden, es zu sein, er muss durch das eigene Handeln beständig danach streben zu sein, was er sein will, ohne es jemals und endgültig zu werden. Ein Stuhl zum Beispiel ist, was er ist, ein Seiendes an sich. Aber ein Mensch, ein Wesen für sich, kann nur danach trachten oder vorgeben, ein Bankier, Kellner, Schriftsteller und dergleichen zu sein. Die allgegenwärtige Möglichkeit einer alternativen Wahl seiner selbst hindert ihn daran, einfach ein Bankier, Kellner oder Schriftsteller zu sein – ein Schriftsteller-Ding.

Im Alter von nur sieben Jahren wählte Sartre das Schreiben als seinen Fahrschein für das Leben und als seinen Grund zu sein. Seine Entscheidung, Schriftsteller zu sein, war seine fundamentale Entscheidung für sich selbst, eine Entscheidung, die all seine nachfolgenden Entscheidungen beeinflusste und sein gesamtes Leben und seine Persönlichkeit prägte.

Durch Schreiben wurde ich geboren. Vorher gab es nur ein Spiel mit den Spiegelungen […] Indem ich schrieb, existierte ich und entschlüpfte den Erwachsenen, aber ich existierte bloß, um zu schreiben, und wenn ich das Wort Ich aussprach, so hieß das: Ich, der Schreibende. (Die Wörter, S. 116)

In Die Wörter erklärt Sartre, dass es vor allem sein Verlangen nach heroischer Unsterblichkeit als Schriftsteller gepaart mit seiner kindlichen Ablehnung christlicher Vorstellungen von Erlösung und dem Leben nach dem Tod war, das sein Handeln hauptsächlich motivierte. Sartre begann von Kindheit an, sich selbst durch harte Arbeit und einen unbeirrbaren Glauben an sich selbst als Genie und großen Schriftsteller zu erschaffen. Dass er sich durch aktives Schreiben kontinuierlich zum Schriftsteller machte, erlaubte ihm, eine Illusion von Substanz und Bestimmung aufrechtzuerhalten, die die störenden Kindheitsgefühle der Ziellosigkeit und des Überflüssigseins fernhielten.

Er erhielt durch seinen Eifer diese große Illusion so gut aufrecht, glaubte so stark an seine Berufung und an seine Fähigkeit, seine Bestimmung erfüllen zu können, dass er als junger Mann, anders als seine Freunde, keinerlei Ängste vor einem verfrühten Tod hatte: „[I]ch hatte mich nur gegen einen plötzlichen Todesfall abgesichert, das war alles; der Heilige Geist hatte bei mir ein umfangreiches Werk bestellt, folglich mußte er mir die Zeit lassen, es zu vollenden“ (Die Wörter, S. 50).

1911 zog die Familie von Meudon in die Rue Le Goff in der Pariser Innenstadt um, in die Nähe des Jardin du Luxembourg und der Sorbonne. Charles hatte ein Institut für moderne Sprachen gegründet, um seinen Ruhestand finanzieren zu können.

Er widmete einen Großteil seiner Zeit der Ausbildung seines verzogenen, aber äußerst begabten Enkels. Es bereitete ihm Freude, seinen Protegé zu unterrichten, und er schob ihm so viele Gedanken aus dem 19. Jahrhundert unter, dass Sartre später scherzte: „Ich begann meine Laufbahn mit einem Handikap von achtzig Jahren“ (Die Wörter, S. 48).

Jean-Paul Sartre

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