Читать книгу H'mong - Gebhard Friebel - Страница 5
Teil 1
ОглавлениеDie Flucht
Das Bier war lauwarm. Christian bat den Theker um zwei Eiswürfel, und hielt ihm verärgert das Glas entgegen.
„Ah, Landsleute. Hallo! Kaltes Bier ist hier Mangelware.“
Die sonore Stimme übertönte die Musik. Gerhard saß neben seinem Neffen auf einem wackeligen Barhocker. Er musterte verblüfft den hochgewachsenen Mann neben sich.
„Die Welt ist klein.“
Er ergriff die entgegengestreckte Hand. „Guten Tag. Gerhard Frings aus Saarbrücken.“
Er sah belustigt zu seinem aufgebrachten Neffen. „Mein Neffe Chris. Sie sind Thüringer?“
„So ähnlich. Ich bin Sebastian Haller aus Dresden.“
„Dresden. Was treibt einen Sachsen in dieses müde Kaff?“
„Joo, Sachse! Ein Kamikazesachse sogar. Jetzt werden Sie sich fragen: Wieso Kamikazesachse? Es ist der Job.“
Chris sah ihn fragend an.
Leutselig fuhr der Sachse fort: „Ich bin Minenräumer. Wir arbeiten für eine Hilfsorganisation.“
Gerhard nahm einen Schluck vom warmen Bier. „Wenn der Job so gefährlich ist: warum machst Du ihn dann?“
„Einer muss es machen. “Er stockte, dachte nach.“
„Aber die Kohle stimmt. Und kaputt gearbeitet hat sich bei uns noch keiner. Höchstens kaputt gesprengt. Das passiert täglich. Aber es sind immer die Ungeduldigen, die Unerfahrenen. Verfluchte Minen.“
Gerhard leerte sein Glas.
„Ihr seid Touristen? Heute frisch angekommen?“
„Aus Luang Prabang. Wir wollen morgen zur Ebene der Tonkrüge.“
„Morgen? Morgen ist schlecht. Morgen gibt es keine geführten Touren. Morgen ist Feiertag. Übermorgen auch. Niemand arbeitet. Alle fahren zu ihren Familien.“
Chris wandte sich an Gerhard : „Dann fahren wir ohne Führer. Warum haben wir einen Mietwagen? Laut ‚Lonely Planet’ stehen einige dieser Krüge auch an der Straße.“
„Was ist ‚Lovely Planet?’”
„Lovely Planet? Lonely Planet, unser Reiseführer. Es soll drei sichere, minenfreie Wege geben. Die wären beschildert.“
„Quatsch!“ Der Sachse hob sein Glas und trank. „Schilder stehen nur selten da. Und deine sicheren Wege sind bei starkem Regen überflutet. Mit dem Schlamm und Geröll werden Minen angeschwemmt. Die kleinen, heimtückischen. Die sehen aus wie bunte Keksdosen. Für Kinder, die damit spielen wollen, sind sie tödlich. Auch bei Erwachsenen wirken sie. Todsicher, sozusagen.“
Er sah zur Tür. „Vorgestern hat es in Strömen gegossen. An Eurer Stelle würde ich nicht fahren. Es sind sowieso kaum andere Touristen da, denen man dort den Vortritt lassen könnte, damit die ausprobieren, ob Minen rumliegen.“ Ein bösartiges Grinsen umspielte seine Mundwinkel.
Er leerte sein Glas. „Die Touris kommen erst ab Oktober wieder.“
Er sah auf seine Armbanduhr. „Es wird Zeit für mich. Wenn ihr unbedingt dahin wollt, verlasst zumindest die Strasse nicht. Alles andere wäre Wahnsinn! Bis morgen vielleicht, Tschüss!“
Er verschwand durch die Ausgangstür.
*****
Der Wagen fuhr langsam auf dem schlechten Schotterweg. Am Rand der schmalen Piste stand wieder eines der Warnschilder, das auf Minen hinwies. Rechts war ein großer Behälter zu erkennen. Chris schüttelte den Kopf. „Das soll ein Tonkrug sein?“
Gerhard zuckte mit den Schultern. „Im Reiseführer steht, dass es sich um große Behälter handelt. Sie sind nicht aus Ton, sondern aus Stein. Woher der Begriff‚ ‚Ebene der Tonkrüge’ stammt, weiß keiner. Der Behälter da fasst mindestens 10‘000 Liter. Es muss lange gedauert haben, so was aus einem Felsen zu meißeln. Wenn der voll Bier wäre!“
Sein Neffe griff sich an den Kopf und stöhnte: „Hör bloß auf mit Alkohol!“
„Vielleicht solltest Du doch zwei Aspirin einwerfen. Es war mindestens vier Uhr gestern Abend.“
Christian korrigierte: „Heute morgen. Verdammter Whisky!“
Es war eine staubige, öde Gegend, durch die der Wagen rumpelte. Vereinzelt durchbrachen verkrüppelte Bäume den grauen Boden. Sie quälten sich aus Bodenvertiefungen dem farblosen Himmel entgegen. Zerfurchte Äste mit ein paar graubraunen, zerzausten Blättern ließen die Zeiten vergessen, da üppiger, grüner Wald und dichtes Unterholz diese Ebene bedeckt hatte. Resignation hatte sich in dieser feindlichen Marslandschaft breit gemacht. Die Natur hatte ihren Kampf verloren; hatte aufgegeben.
„Was ist denn da vorne los?“
Christian kuppelte aus.
Ein Soldat mit einer roten Kelle in der erhobenen Hand stand hinter einem Militärjeep auf der Straße. Fünf Meter vor ihm kam der Wagen zum Stehen.
Gerhard zog seinen fleckigen Strohhut in den Nacken und reckte den Kopf. „Hoffentlich dauert das nicht bis morgen. Wir hätten dem Sachsen glauben sollen. Dann hätten wir nicht eine Stunde vor dem Tourismusbüro mit Warten verplempert.“
Christian schlug mit seinen Fingerknöcheln im Takt der Musik. Aus dem vorsintflutlichen Radio klang es wie orientalische Jammermusik.
Gerhard stützte sich auf das feuchte Lenkrad. Er machte es sich im Sitz so bequem wie möglich und schloss die Augen. „Das wird noch länger dauern. Wenn es nicht bald weitergeht, drehen wir um. Verdammte Hitze!“
Entfernt waren Schüsse zu hören. Christian öffnete die Augen und sah seinen Onkel fragend an. Der zuckte mit den Schultern und stieg aus.
„Muss mir etwas die Beine vertreten.“
Bei jedem Schritt wurden kleine Staubwolken hochgewirbelt. Er kam ins Grübeln. Eine feindliche Umgebung! Minen und Staub. Staub und Minen. Über Staub redete man nicht viel. Er kam. Und verschwand wieder. Man sah ihn. Unangenehm, aber nicht lebensbedrohlich. Minen dagegen schon. Sie waren versteckt. Unsichtbar, aber allgegenwärtig.
*****
Nach etwa einer halben Stunde ging der Soldat zu seinem Jeep, stieg ein und ruckelte davon.
Gerhard sagte: „Na endlich.“
Er umfuhr im Schritttempo ein tiefes Schlagloch. Dann mussten sie anhalten: Vom Boden, zwanzig Meter vom Weg entfernt, erhob sich eine ausgemergelte Frau. Sie schaute angestrengt in ihre Richtung, hob beide Arme, und winkte aufgeregt.
Chris stoppte.
Sie rief schrill: „Doktor! Doktor!“
Hinter einem weiteren Steinbehälter erschien eine männliche Gestalt. Der ausgemergelte Körper in der verschmutzten, zerrissenen Kleidung passte zu einem Landstreicher. Der Mann hinkte keuchend heran. Eine hellrote Blutspur markierte seinen Weg. Er fragte in passablem Englisch: „Sind Sie Ärzte?“
Beide schüttelten die Köpfe. Sie sahen seine blutverschmierte, zerfetzte Hose an.
„Was ist mit Ihnen passiert?“,fragte Chris. „Wo haben Sie sich verletzt? Steigen sie ein, wir bringen Sie ins Krankenhaus nach Phonsavan.“
Der Mann antwortete zögernd: „Ich kann dort nicht hin, dort wird man mich sofort erschießen.“
Chris stieg aus dem Wagen.
Gerhard folgte. „Ihr Bein sieht übel aus.“
Gerhard zog seinen Gürtel aus dem Hosenbund und legte ihn oberhalb des Knies mehrmals um das Bein.
Das schweißnasse Gesicht des Mannes verzerrte sich vor Schmerz. Er stöhnte. Gerhard zog die Gürtelenden fest zusammen und verknotete sie, so stramm er konnte. „Jetzt wird die Blutung aufhören. Warum, denken Sie, dass man Sie erschießen würde? Was haben sie verbrochen?“
Zunächst antwortete der Mann nicht. Doch dann sprudelten die Sätze bitter und immer schneller. „Weil wir H’mong sind. H’mong, die aus Angst vor den Soldaten in den Wäldern oder in den verminten Gegenden leben. Vorhin waren Soldaten hier; sie haben uns entdeckt und auf uns geschossen. Sie schießen sofort, wenn sie uns irgendwo sehen.“
„Warum schießen sie auf Euch?“
„Weil wir vom Stamm der H’mong deren Feinde sind. Manche unserer Väter und Großväter haben auf Seiten der Franzosen und der Amerikaner in Vietnam gegen die Kommunisten gekämpft. Manche haben auch gegen die kommunistischen Pathed Lao gekämpft. Fast alle sind umgekommen. Die kommunistische Regierung von Laos hat uns H’mong das Kämpfen nie verziehen.“
Die Frau trat neben ihn. Er stützte sich auf ihre Schulter.
„Jeder, der irgendwie mit den Kämpfern verwandt war, wird verfolgt. Es reicht schon der Verdacht, aus dem selben Dorf zu stammen.
Auch wer nie gegen die Kommunisten gekämpft hat, wird brutal verfolgt. Es reicht heute, H’mong zu sein. Es gibt keine Wahrheit, die gegen Vorurteile ankommt. Sie töten uns, sobald sie uns finden.“
Seine Worte klangen verzweifelt: „Sie töten alle, wenn immer sie können. Auch Frauen und Kinder!“
Gerhard erwiderte zweifelnd: „Im Norden gibt es doch einige H’mong Dörfer; da herrscht Ruhe. Man kann in jedem Reisebüro Touren in diese Dörfer buchen.“
„Die Leute wurden zwangsweise angesiedelt. Es sind Vorzeigedörfer der Regierung für Touristen. Die Dörfer dürfen von den Bewohnern nicht verlassen werden.“
Die Frau ergriff den Arm des Verletzten. Seine Stimme zitterte.
„Die Dörfer stehen unter strenger Kontrolle der Polizisten, die in der Nähe wohnen. Diese Polizisten stehlen das Geld von den Dorfbewohnern, das die von Touristen bekommen. Sie vergewaltigen Kinder und Frauen, wenn sie betrunken sind.“
Es machte ihm Mühe zu sprechen. Er holte tief Luft. „Oft schießen die Polizisten wild um sich. Sie verletzen und töten immer wieder Menschen aus den Dörfern. Sie behandeln die Leute wie Tiere. Die Bestien werden für ihre Untaten nie bestraft.“
Gerhard sah den Mann betroffen an.
Chris murmelte: „Unglaublich!“
„Unsere Landsleute in den Dörfern dort hassen die Polizisten. Sie leben in ständiger Furcht. Sie leben nicht gerne in diesen Siedlungen. Wir H’mong waren immer ein freies, stolzes Volk; wir wohnten abgeschieden in großer Höhe, wo es kühler ist. Solange wir zurückdenken können, liebten wir waldreiche, gebirgige Gegenden. Aber die Wälder sind verschwunden.“
Er holte tief Luft. Sein Gesicht war müde. Dem Verletzten fiel es schwer, weiter zu sprechen. „Nur dort konnten wir uns gut ernähren. Wir jagten Enten, große Vögel, Fische und Frösche, Affen und andere Tiere des Waldes und der Flüsse. Aber heute, was sollen wir machen? Wovon sollen wir leben? Es leben nur noch wenige Tiere dort.“ Erschöpft schwieg er wieder.
„Waren es Minen, denen die großen Tiere zum Opfer fielen?“,Gerhards Stimme war gedämpft. „Ich habe gelesen, dass es vor nicht allzu langer Zeit viele wilde Elefanten gab.“
Der Mann schüttelte den Kopf. „Nein. Es waren Männer aus den Städten. Sie töteten die Elefanten, weil sie viel Geld für das Elfenbein bekamen.“
Wieder eine Pause – er dachte nach.
Langsam fuhr er fort: „In ihrer Not webten die Frauen Stoffe nach uralten Mustern. Sie versuchen Kleider, Hosen und Umhängetaschen zu verkaufen. Aber sie wurden von den Märkten vertrieben. Manche stellten auch Silberschmuck her. Wir konnten kaum vom Verkauf dieser Sachen leben.“
„Warum leben Sie hier, inmitten der gefährlichen Minen?“ fragte Chris.
„Die Soldaten trauen sich nicht hier herein. Aber wir kennen einige Pfade,die sicher sind. Manchmal geht eine Gruppe von uns hierher zur Straße, um selbstgefertigte Sachen an Touristen zu verkaufen. Wenn wir Soldaten sehen, verschwinden wir sofort. Auch heute kamen wir zum Verkaufen her. Doch diesmal kamen die Soldaten mit einem Minibus. Mit solchen Bussen kommen normalerweise die Touristen.“
Die Frau nickte.
Der Mund des H’mong verzog sich zu einem schmalen Strich. Sein Blick wurde kalt. „Die Soldaten sprangen aus dem Bus. Sie haben sofort geschossen und mit Macheten zugeschlagen. Dahinten liegen drei tote Mitglieder unserer Gruppe. Wir müssen sie nun bestatten. Dann ist da noch eine verletzte Frau. Deswegen haben wir Sie gerufen. Wir dachten, Sie sind vielleicht Ärzte. Neulich waren zwei Ärzte aus Frankreich hier. “Sichtlich erschöpft und noch heftiger zitternd verstummte er.
Gerhard sah auf seine Uhr, dann zum Himmel. Das gleißende Licht der weißgelben Mittagssonne hatte sich rötlich verfärbt. Es würde bald der Dämmerung weichen. Er sagte zu Chris: „Es ist kurz vor sechs Uhr. Die Zeit wird nicht reichen, um noch bei Helligkeit die Stadt zu erreichen. Im Reiseführer stand in dem Absatz über Minen in Laos: Bei Dunkelheit ist für Ausländer die Gefahr groß, vom Weg abzukommen und auf eine Mine zu fahren.“
Der H’mong sprach wieder mit festerer Stimme. „Es ist jetzt tatsächlich zu spät für Euch, um noch sicher zur Stadt zu kommen. Wenn Ihr wollt, könnt Ihr bei uns die Nacht verbringen.“
Chris fragte zögernd. „Wo wohnt Ihr denn?“
„Nicht weit von hier. Es sind nur zehn Minuten Fußweg.“
„Aber die Minen?“
„Wir kennen mehrere Pfade, die minenfrei zu unserem Lager führen.“
Chris war unschlüssig. „Besser, wir bleiben hier, bevor wir vielleicht auf eine Mine fahren. Was denkst Du?“
„Gut, dann bleiben wir hier.“
Er fuhr den Wagen möglichst weit an den Rand des Weges.
Der H’mong beobachtete ihn, als er den Wagen abschloss.
„Das war nicht nötig. In zehn Minuten wird es dunkel sein. Nachts kommt hier nie jemand durch, auch keine Soldaten.“
Verächtlich fügte er hinzu: „Die haben zu viel Angst. Angst vor Minen und vor den Geistern unserer Vorfahren.“
Er sah Gerhard und Chris in die Augen. „Bleibt genau und dicht hinter mir. Dann kann Euch nichts passieren.“
*****
Chris, Gerhard und die Frau gingen hinter dem hinkenden Laoten her. Nach ungefähr dreißig Metern erstarrte Gerhard vor einem verkrümmten Körper. „Stopp! Da liegt jemand!“
Ihn packte das Grauen. Nicht weit vor seinen Füßen lag eine Frau. Ihr Alter war schwer zu schätzen. Offenbar war sie hochschwanger. Quer über ihrem Bauch klaffte eine dreißig Zentimeter lange, tiefe Wunde. Eingeweide und Teile eines Kindes waren mitten im Blut zu erkennen. Die Augen der Frau lagen in dunklen Höhlen. Ab und zu durchlief ein Zucken den Körper.
Chris wandte sich ab. Gerhard drehte seinen Kopf zur Seite.„Verdammt. “Er schluckte und übergab sich. Gleichzeitig schossen ihm Tränen in die Augen. So etwas war unbegreiflich.
Der Führer drehte sich um, und betrachtete beide mit verzweifeltem Blick. „Weil sie schwanger war, konnte sie nicht schnell genug weglaufen. Einer der Soldaten hat sie eingeholt, und sofort mit der Machete auf die Frau eingeschlagen. Sie wird bald tot sein.“
Chris stammelte: „So eine Sauerei. In einer Notfallklinik wäre sie vielleicht noch zu retten. Aber hier...“
„Vielleicht helfen ihr die Geister des Waldes oder der Berge. “flüsterte der H’mong.
Zwei weitere Gestalten erschienen: gebückte, ältere Frauen. Sie schlurften heran und betrachteten mit gramvollen Gesichtern die Weißen. Die Deutschen legten eine Bambusstrohmatte neben die verletzte Frau und rollten die Stöhnende unter beruhigendem Murmeln darauf. Sie griffen die Matte an den vorderen Enden und zogen sie langsam über den Boden davon.
Die Männer schlossen auf. Hinter dem nächsten großen Steingefäß lag leblos mit offenen Augen ein kleiner Junge. Man hatte ihn in den Rücken geschossen. Der Führer hob die Leiche auf seine Arme. „Kommt weiter!“
Nach weiteren zehn Metern wies er auf zwei auf dem Boden liegende tote Frauen, sie waren ebenfalls erschossen.
„Können Sie die mitnehmen?“ fragte er.
Chris und Gerhard nickten. Sie bückten sich, und jeder hob vorsichtig eine tote Frau über seine Schulter.
„Das ist unfassbar“ murmelte Chris.
Die Toten waren erstaunlich leicht, sie wogen höchstens vierzig Kilo.
„Unterernährt“ flüsterte Gerhard.
Die traurige Karawane zog etwa zehn Minuten weiter zu einer anderen Senke, die durch Büsche von der Straße abgeschirmt war.
Sie wurden von drei Frauen erwartet, die in leises Schluchzen ausbrachen, als sie die traurige Last erkannten.
Der H’mong zeigte mit einer Hand nach rechts; die beiden folgten ihm ungefähr fünfzig Meter weit. Hier gab es weder Sträucher noch Bäume. Der Boden war mit Steinen bedeckt. Der Mann blieb stehen, und legte vorsichtig den kleinen, toten Jungen auf den Boden. Mit einer Handbewegung bat er die Weißen, ihre Last daneben zu legen.
Er bückte sich – und fing an, Steine auf die Leichen zu häufen. Chris und Gerhard taten automatisch das Gleiche.
Nach fünf Minuten waren die Körper von den Steinen bedeckt. Immer noch mit Tränen in den Augen, schlug Chris ein Kreuz in Richtung des Steinhügels. Mit zusammengebissenen Zähnen kniete Gerhard davor. Seine Stimme klang belegt.
„Dass die sogar Kinder und Frauen erschießen.“
Beide schwiegen. Sie gingen langsam zu der hinter Büschen versteckten Senke zurück. Die Frauen hatten unter einer alten Plane ein kleines Feuer entzündet.
„Wir können nur nachts richtige Feuer machen, und nur unter einer großen Plane. Ihre Flugzeuge kommen manchmal auch bei Dunkelheit,.“ sagte der H’mong müde. „Wenn sie ein Feuer sehen, werfen sie eine Bombe. Manchmal fallen auch Gasgranaten. Wenn wir tagsüber Feuer machen würden, könnten sie den Rauch sehen.“
Als habe er ein Kommando gegeben, ertönte leises Brummen, das schnell anschwoll.
Die Frauen zogen die Plane an den Rändern tiefer, so dass das Feuer auch von den Seiten nicht zu sehen war.
„Hinlegen“ flüsterte der H’mong in dringlichem Ton und legte sich auf den Rücken. „Im Mondlicht könnten sie sehen, dass jemand hier steht.“
Plötzlich hielt er ein Gewehr in den zitternden Händen. Der Lauf war verrostet; der Schaft von Würmern zerfressen. Er richtete es zum Himmel.
Chris und Gerhard legten sich neben ihn auf den Rücken, und schauten zum Himmel. In ungefähr 100 Metern Entfernung flog langsam ein kleines, einmotoriges Flugzeug über das Gelände.
Gegen das fahle Mondlicht konnte man auf der Seite eine aufgemalte, laotische Fahne erkennen. Vorne waren die dunklen Umrisse des Piloten zu sehen. Aus der geöffneten Seitentür drohte silbrig der Lauf eines Maschinengewehres. Das Flugzeug entfernte sich langsam.
„Zu weit für einen gezielten Schuss, schade. Ich habe schon zwei von diesen Flugzeugen abgeschossen“ bedauerte der H’mong, der sich erhoben hatte.
„Übrigens, ich habe mich noch nicht vorgestellt. Mein Name ist Lia Ler Pao. Der Name Lia bezeichnet unseren Stamm, also den Familiennamen. Ler Pao sind meine Vornamen. Nennt mich einfach Ler, so haben meine Eltern mich auch genannt, bevor sie...“
Er schwieg wieder.
Es war ein beredtes Schweigen.
Beide ahnten, was er noch hatte sagen wollen. Sie nannten ebenfalls ihre Vornamen und schüttelten seine Hand.
„Das ist das andere Laos. Das, von dem die Touristen nichts wissen.“
„Wieso sprechen Sie so gut Englisch?“ wollte Chris wissen.
„Nachdem die Amerikaner ihren Krieg verloren hatten, haben mich meine Eltern nach Bangkok geschickt. Ich sollte Geographie studieren. Aber in Thailand habe ich es nicht ausgehalten. Da waren zu viele Leute.“
Er setzte sich auf den Boden und betrachtete sein verletztes Bein. Ein heiseres Lachen kam aus seinem Mund. „Ich bin wieder in die Heimat zurückgekehrt, und wollte beim Aufbau meines Landes helfen. Aber die Kommunisten haben mich in ein Umerziehungslager verfrachtet. Von dort bin ich geflohen, hierher. Ich wurde in der Nähe geboren; nicht weit von hier stand mein Elternhaus. Ich fand alles zerstört vor.“
Deprimiert sah er zu Boden. „Ob von den Amerikanern, oder von den Kommunisten, weiß niemand. Die meisten meiner Verwandten und Freunde waren tot oder verschwunden. Keiner wusste Genaues. So bin ich hier bei dieser Gruppe gelandet. Später fand ich meinen Bruder wieder. Er zog mit uns. Wir gehören fast alle dem Stamm der Lia an. Einige kannten mich noch von früher.“
Er machte eine kurze Pause. Seine Stimme zitterte.
„So erging es vielen H’mong. Die meisten sind tot. Oder sie sind ins Ausland gegangen: nach Thailand, Vietnam oder China.“
Eine der Frauen kam. Sie flüsterte Ler etwas ins Ohr. Er nickte, und schlug die Hände vor die Augen.
„Die verletzte Frau ist eben gestorben. Ich werde sie auch beerdigen; neben dem kleinen Jungen. Es war ihr Sohn.“
Gerhard würgte. Das Atmen fiel ihm schwer. Sie war auch tot. Unerträgliche Beklemmung nahm ihm die Luft.
Er war so überflüssig, dieser Tod. Dieser vielfache Tod!
Er schluckte, sah Chris an.
Er hatte den Tod schon oft gesehen. Zu Hause und unterwegs.
Hundertfach nach einer Überschwemmung in Bangladesh. Tausendfach in Cambodia. In Pol Pot’s Todeslager Tuol Sleng bei Phnom Penh. Tausendfach waren Totenschädel übereinandergestapelt. Viele Meter hoch. Aber das waren nur bleiche Totenschädel. Unpersönlich. Fotografieren und weiterfahren! Tod war immer schlimm, immer schrecklich.
Der Tod hier war privat; Mutter und Kind; er berührte ihn persönlich. Er versuchte etwas zu sagen. Er konnte nicht und schloss die Augen. Er stand da, die Handballen auf die Ohren gepresst. Die Zeit stand still.
„Wir helfen Dir“ sagte Chris zu Ler.
Die drei Männer zogen die Plane mit der Toten zu den frischen Steinhügeln und entfernten die Steine, die über dem kleinen Jungen aufgeschichtet waren. Ler legte ihn neben den Körper seiner Mutter. Als beide mit Steinen bedeckt waren, verneigten sich Chris und Gerhard. Es war eine hilflose Geste den Toten gegenüber. Sie gingen zurück zu den drei Frauen, die sich leise unterhielten.
Eine von Ihnen trat zu Ler und redete eindringlich auf ihn ein. Ler nickte und sagte: „Die Frauen wollen heute Nacht nicht hier bleiben. Sie fürchten die Geister der Toten, und besonders den des Kindes. Geister von toten Kindern sind oft besonders zornig. Die Frauen wollen in das Hauptlager. Ihr könnt hier bleiben. Ich bin morgen früh noch vor Tagesanbruch zurück und führe Euch zur Straße. Die Frauen haben große Angst.“
„Aber jetzt ist es dunkel; ihr könnt den minenfreien Pfad nicht mehr erkennen.“
„Das ist kein Problem für uns. Wir haben gute Augen. Auch wenn kein Mond scheint, finden wir den Weg.“
„Wie weit ist Euer Hauptlager von hier entfernt? Ich möchte selbst nicht gern hier in der Nähe der Toten bleiben.“
„Eine halbe Stunde. Wollt ihr mit uns kommen?“
Chris sah Gerhard fragend an. Der nickte zögernd.
„Es wäre uns ganz recht.“
*****
Das kleine Feuer war inzwischen niedergebrannt. Ler trat die restlichen Flammen aus. Zwei Frauen hoben Bambusstangen mit an den Enden hängenden Töpfen über ihre Schultern. Die kleine Gruppe setzte sich lautlos in Bewegung.
Dunkle Leere, wohin man schaute. Keine Geräusche, nur von Zeit zu Zeit Ler’s Keuchen und Stöhnen. Er hinkte mit gesenktem Kopf voran.
Im Zickzack irrte das verlorene Häuflein trauriger Gestalten durch eine fast kahle Landschaft. Nach zwanzig Minuten war irgendwo im Nirgendwo ein schwacher Feuerschein zu erkennen.
Die Vegetation veränderte sich. Große Bäume, zwischen denen dichtes Gebüsch wucherte, bildeten eine schwarze Wand. Gedämpftes Stimmengemurmel: Das Lager befand sich am Rande eines Waldes.
Ler rief Worte in die Dunkelheit. Gleich darauf waren die Neuankömmlinge von Erwachsenen und Kindern umgeben. Er führte die Weißen direkt an eine Feuerstelle.
Man musterte sie neugierig, nicht feindselig. Ler stand neben einem alten Mann, redete auf ihn ein. Als außer leichtem Prasseln des Feuers Schweigen herrschte, blickte er Chris und Gerhard an.
„Das ist der Älteste unserer Gruppe. Ihr würdet Anführer sagen. Er heißt euch herzlich willkommen;er bedauert sehr die unglücklichen Umstände, die euch hergeführt haben. Bitte nehmt am Feuer Platz. Es wird gleich zu essen geben.“
Ler rief einer Frau etwas zu. Sie verschwand und kam mit einer Plastikflasche und vier verbeulten Blechtassen zurück. Ler goss sie mit zitternden Händen randvoll. Er schwang den Arm und verschüttete den Inhalt einer der Tassen in weitem Bogen.
„Das erste Glas ist für die Geister bestimmt. Wir wollen sie milde stimmen.“
Er reichte Chris und Gerhard je eine Tasse. Dann hob er seine in deren Richtung. Er leerte sie mit einem einzigen Zug. Die beiden taten es ihm nach.
Chris holte tief Luft.
„Das Zeug brennt höllisch – es ist der reinste Raketentreibstoff. Aber nach solch einem Tag!“
Er hielt Ler seine leere Tasse hin.
Nach und nach gesellten sich drei weitere Männer und der Älteste zu den Neuankömmlingen. Die Frauen saßen auf der anderen Seite des Feuers. Eine stellte ein eisernes Dreibein über das Feuer, an dem ein großer, eiserner Topf hing. Sie kochte das Essen.
*****
Gerhards Magen knurrte. Das Essen wurde verteilt. Jeder erhielt eine Handvoll Klebereis auf einem großen Blatt. Eine Schüssel mit zerschnittenen Wurzeln wurde herumgereicht. Sie waren gewaschen und teilweise gekocht; aber es waren Wurzeln. Keine Schwarzwurzeln, Mohrrüben oder Rettiche. Es waren Wurzeln von Büschen, Sträuchern oder Bäumen.
Man aß den Reis, und kaute auf den Wurzeln. Einige schmeckten bitter, andere süß. Dazwischen gab es Wasser, und den höllisch brennenden Schnaps. Am Ende der Mahlzeit wurde eine weitere Schüssel herumgereicht.
Ler bemerkte die skeptischen Blicke von Chris und Gerhard.
„Dies sind Nüsse, Betelnüsse. Das Kauen auf diesen Nüssen ist traditionelle asiatische Zahnhygiene. Wir haben hier keine Zahnbürsten oder Zahncreme. Außerdem – sie wirken gegen den Hunger und sind auch gut für den Kopf.“
Sie griffen zögernd zu: Ein etwas bitterer Geschmack. Aber doch erträglich. Beim anschließenden Ausspucken erschrak Chris.
Was er da ausgespuckt hatte, war Blut.
Ler beruhigte ihn. „Das sieht aus wie Blut. Aber es ist die rote Farbe der Hülle.“
Seltsam: in Verbindung mit dem Reisschnaps wirkten diese Nüsse beruhigend.
Als Chris an die Toten vom Nachmittag dachte, erschienen ihm die furchtbaren Erlebnisse nicht mehr so furchtbar. Sie waren schlimm, aber weit entfernt. Weit zurückliegend, in einer anderen Welt.
*****
Gerhard beobachtete Ler neben sich. Er lag, wie die anderen H’mong auch, auf dem Rücken. Seine Augen blickten starr zum Himmel.
„Ler, eine Frage noch: „Wenn ihr hier verfolgt werdet, warum seid Ihr nicht auch ins Ausland gegangen, zum Beispiel nach Thailand?“
Die Antwort kam fast unhörbar. „In Thailand wird man in ein Lager gesteckt. Manchmal wird man zwangsweise zurück geschickt. Dann wird es schlimm. Wenn man zurückkommt, erwarten einen Gefängnis, Folter und oft der Tod.“
Bitternis klang in seinen Worten nach. „Außerdem hat keiner einen Pass, und die meisten der Leute sind zu schwach, um so weit laufen zu können.“
Er schüttelte den Kopf. „Geld hat hier niemand. In den ersten Jahren konnten die Frauen noch eigenen Silberschmuck verkaufen, Das war sehr gefährlich, weil sie in die nächste Stadt mussten. Dort sind überall Soldaten und Polizisten. Viele der Frauen kamen nicht mehr zurück.“
Chris nickte geistesabwesend. Gerhard wurde schläfrig.
Wegen der Betelnüsse? Wegen des Schnapses? Wegen der Ereignisse, die über sie hereingebrochen waren? Er konnte es nicht sagen.
Sie sahen nach rechts und links. Fast alle Leute hatten sich zurückgelegt und schliefen. Obwohl der Boden hart war, fielen ihnen die Augen zu.
*****
Nach einem traumlosen Schlaf wachte Gerhard benommen auf. Das Feuerwasser vom gestrigen Abend wirkte nach.
„Gewöhnungsbedürftig.“
Ihn fror. Er sah auf die Armbanduhr: halb sechs. Das Feuer brannte hell. Bis auf einige Kinder, die um das Feuer herum schliefen, waren Chris und er alleine. Er sah zu Chris, der sich streckte. Sein Neffe sah sich um und murmelte mit rauer Stimme: „Ich muss hier weg.“Langsam. Sie werden bald zurückkommen. Alleine finden wir nicht zum Auto zurück. Denk’ an die Minen.“
Kurz darauf kamen die Gruppenmitglieder einzeln zurück zum Feuer.
Eine der Frauen hatte einen Eimer Wasser mitgebracht. Eine andere trug ein großes Bündel Wurzeln unter dem Arm. Die Wurzeln wurden gewaschen und in frischem Wasser gekocht.
Das Essensritual vom vorherigen Abend wiederholte sich .Allerdings wurde auf Schnaps verzichtet. Die Handvoll Reis war kalt.
Chris und Gerhard aßen den Reis, um das Hungergefühl zu überwinden. Zu dem Essen wurde das heiße Wasser getrunken, in dem die Wurzeln gekocht worden waren.
Als das ‚Frühstück‘ beendet war, meinte Ler: „Wenn ihr zurück wollt, können wir los. Bald wird es hell sein!“
Beide nickten zum Abschied in die Runde der um das Feuer Sitzenden. Sie standen auf, und folgten Ler.
Als sie sich umschauten, folgten ihnen traurige Augen.
*****
Aus Senken quoll Morgennebel. Es ging langsam zurück, zurück zur Straße. Nach zehn Minuten gab die Morgendämmerung den Blick frei. Es war ein bedrückender Anblick einer trostlosen Landschaft, die um sie herum Konturen annahm.
Vereinzelt tauchten verkrüppelte Bäume im gelblichen Nebel auf, in Bombenkratern in giftiger Erde gewachsen.
‚Gelber Regen’, yellow rain’, hatten sie es damals genannt. ‚Agent orange’, das Gift der Amerikaner.
Gerhard unterdrückte aufkommende Panik. Eine Landschaft durch milchiges Glas betrachtet. Unwirklich! Gestern hatte er dieses Empfinden des Verlorenseins nicht so stark gespürt. Doch jetzt...
Traurigkeit überfiel ihn. Trauer über diese geschundene Landschaft. Stärker noch: Trauer um diese Menschen. Und er spürte Zorn. Zorn auf die Franzosen, die Amerikaner, die Kommunisten!
Irgendwo links tauchte schemenhaft der Umriss des Wagens auf. Erleichtert dachte er an eine warme Dusche, an ein westliches Frühstück, ein sauberes Bett. Und dann: schlafen, schlafen. Schlafen und vergessen.
Als sie neben dem Wagen standen, schüttelten sie Ler die Hände. Die Stimme Gerhards klang rau, brüchig. „Wir kommen wieder. Übermorgen, gegen Mittag, hier? Wir bringen etwas zu Essen mit. Und ein paar Medikamente. OK?“
Ler sah ihn mit großen Augen an. Er antwortete, zögernd, bestätigend. „Gegen Mittag, OK!“
Als sie im Wagen saßen, fragte Chris: „Du willst wirklich hierher zurückkommen?“
Gerhard antwortete nicht; er war in Gedanken versunken. Chris ließ den Wagen an, wendete, und fuhr los.
Es ging zurück, zur Stadt. Zurück ins Hotel. Zurück. Weg. Weg aus dieser gespenstigen Gegend, wo vielfacher Tod lauerte. Weg, von dieser verfluchten Touristenattraktion. Weg von dieser ‚Ebene der Tonkrüge’. Weg!
*****
Während sie langsam zurückfuhren, fiel kein Wort. Jeder hing seinen Gedanken nach.
Auch beim gemeinsamen Frühstück fiel kein Wort über das Erlebte. Sprachlosigkeit.
Erst als Chris zum Erstaunen des Kellners zwei große Flaschen Bier bestellte, brach Gerd das Schweigen.
„Man müsste diesen Leuten irgendwie helfen. Nur, wie?“
Chris nickte mit dem Kopf. „Ausfliegen lassen in ein anderes Land, oder sonst was.“
„Wie willst Du ein Flugzeug beschaffen? Wo soll es landen? Auf der buckeligen, gewundenen Schotterstraße vielleicht? Und alles ohne Erlaubnis.“
„Dann halt ein Hubschrauber.“
„Einen Hubschrauber haben die in wenigen Minuten abgeschossen. Du hast ja gesehen, die Flugzeuge des Militärs fliegen sogar nachts. Außerdem wäre so etwas viel zu teuer.“
Chris schwieg.
„Lass uns noch einen trinken, und ein paar Stunden schlafen. Vielleicht fällt uns inzwischen etwas Machbares ein“ sagte Gerhard.
Chris nickte, und bestellte zwei weitere Bier.
„Seltsam ist das. Bei uns zu Hause weiß keiner was von den Sachen, die hier passieren. Niemand hat den Namen ‚H’mong’ je gehört. Die zu Hause lesen nur in den schönen Reiseprospekten vom Land der ‚eine Million Affen.’“
„Elefanten“ korrigierte Gerhard ihn.
„Von mir aus auch Elefanten, von mir aus könnten es auch rosa Elefanten sein. Das ändert nichts daran, dass ich noch nie so viele Tote gesehen habe.“
Chris sah Gerhard mit zornigem Gesichtsausdruck an.
„Ich habe eine Tote auf meinen eigenen Schultern zum Grab unter Steinen getragen. Es ist derartig skurril! Niemand würde es glauben!“
„Vor allem passt das so gut in unsere sogenannte ‚Moderne Zeit’. Man hält die hehren Werte der Menschlichkeit hoch. Zu Hause würde uns das tatsächlich keiner abnehmen, Du hast recht, niemand.“
„Schlimm, schlimm, verdammt!“
Chris stand auf. „Komm, lass uns ein paar Stunden schlafen gehen. Treffen wir uns gegen Mittag wieder. Hier, OK?“
„OK“
Chris ging.
Gerhard sah ihm lange nach. Wieder und wieder schüttelte er verzweifelt den Kopf.
*****
Gegen Mittag war Chris im Restaurant und bestellte sich sofort ein Bier. Gerhard erschien wenig später und setzte sich zu ihm an den Tisch.
„Na, gut geschlafen?“
Chris grinste gequält. „Nur ganz wenig. Das war gestern zu viel auf einmal.“Ich konnte überhaupt nicht schlafen.“ Gerhards Stimme klang gereizt. „Ich war den ganzen Vormittag im Internet-Raum. Im Web findet man ungeheuer viel über diese H’mong. Alles, was dieser Mann erzählt hat, stimmt.“
Er senkte seine Stimme. „Da geschehen ungeheuerliche Verbrechen, und die Öffentlichkeit schweigt dazu. Da werden die Reste eines ganzen Volkes endgültig ausgerottet! Alles nur wegen der verdammten Vergangenheit. Franzosen, Amerikaner und Kommunisten! Wenn ich das höre. Verdammtes Pack, verdammte Kriege!“
Chris schenkte Bier nach. „Prost!“
„Prost.“Gerhards Mine verfinsterte sich. „Alle diese Verbrechen sind bekannt. Anscheinend schon seit Jahren. Nur keiner nimmt es zur Kenntnis und tut etwas. Nicht so wie in Afrika, Chris. Erinnerst Du Dich noch, an die Gemetzel zwischen Hutu und Tutsis? Vor einigen Jahren, weißt Du noch?“ Es klang höhnisch.
„Diese H’mong haben keine Lobby. Laos ist weit entfernt von Deutschland. Welches Schulkind weiß überhaupt, wo Laos liegt? Viele haben offenbar nie den Namen ‚Laos’ gehört. Afrika liegt näher. Es ist außerdem spektakulärer, über zwei Millionen tote Neger zu berichten, als über zweitausend tote Asiaten. Die Menge macht’s.“
„Ja, davon waren die Zeitungen voll. Es wurden Sammlungen veranstaltet. Millionen Euro wurden nach Rwanda gepumpt. Von den Verbrechen hier redet keiner. Ich habe noch nie etwas im Fernsehen oder in den Zeitungen über H’mong gesehen oder gelesen. Anscheinend geht das den Journalisten bei uns am Arsch vorbei.“
„Reg’ Dich nicht zu sehr auf, Onkel. Es sind die Quoten im Fernsehen. Bei den Zeitungen ist es die Auflage. Wenn Du als Chefredakteur die Wahl hättest, einen Reporter nach Nigeria zu schicken, oder einen nach Laos? Er soll einen Bildbericht machen. Nigeria winkt mit drei Millionen, Laos aber nur mit einigen Tausend Opfern. Was ist ertragreicher? Welches Magazin verkauft sich besser?“
Gerhard ereiferte sich: „Du bist ein verdammter Zyniker.“ Hastig leerte er sein Bier. „ Aber irgendwie hast Du Recht. Und trotzdem, ich versteh’s nicht. Verrückterweise gibt es da in Deutschland die GfbV, die Gesellschaft für bedrohte Völker. Dann das UNHCR, das ist für Flüchtlinge zuständig. Und es gibt die ‚Médecins sans frontières’. Die wissen scheinbar von all diesen Verbrechen. Dein Chefredakteur brauchte keinen teuren Reporter nach Laos zu schicken. Er müsste nur seinen Reporter dazu bringen, im Internet nachzuschauen. Da steht alles schwarz auf weiss. Mit Bildern.“
„Aktuelle Berichte verkaufen sich besser.“
„Wenn es zu teuer ist? Das Fernsehen hätte es ebenfalls leicht. Ein Programmdirektor müsste lediglich etwas Sendeplatz bereitstellen. Ich habe einen Dokumentarfilm über die Leiden der H’mong bei YouTube gefunden. Eine Deutsche, Rebecca Sommer hat ihn in Laos unter Lebensgefahr gedreht. Der Film heißt: Hunted like animals. So etwas müsste mal im Fernsehen kommen.“
„Die Zuschauer sehen sich lieber Seifenopern an oder ‚Dalli, Dalli’.“
„Die Zuschauer sind doof. Man müsste irgendwie Öffentlichkeit herstellen, aufrütteln.“
„Wer ist ‚man’? Was ist ‚irgendwie’? Willst Du in Deutschland Zeitungen anrufen? Aufmerksam machen?“
„Warum nicht? Etwas in der Art spukt in meinem Kopf herum.“
„Mit Misserfolgsgarantie! Hundertprozentig sicher!.“Chris brach in schallendes Gelächter aus. „Komm, trink lieber noch Einen.“
„Warum nicht. Ich bin so zornig.“ Gerhard fixierte das Gesicht von Chris. Er wurde lauter. „Weder UNHCR noch GfbV bekommen Visa für Laos. Sie sollen nicht herausfinden können, was die Laoten mit den Flüchtlingen anstellen.“ Er stand auf. „Ich gehe jetzt auf jeden Fall zurück in den Internet Raum und schaue mir das Ganze noch etwas an.“
„Ich komme mit“ kündigte Chris an: „Wo stehen die Computer?“
„Wir müssen den Einäugigen wecken. Erschrecke ihn nicht wieder. Komm’ mit.“
„Der einäugige Hektiker mit ohne Auge! Hoffentlich bekommt der vierhundert Kilo Schwabbel keinen Herzanfall.“
„Wer schläft, sündigt nicht.“
„Er könnte überhaupt nicht sündigen. Es wäre viel zu viel Arbeit!“
*****
In der leeren Eingangshalle döste der einäugige Rezeptzionist. Er war wie immer an seiner langen Empfangstheke eingenickt: Der Kopf lag auf dem Arm.
Ungeduldig hieb Chris mit der flachen Hand auf die Theke. Gerhard grinste. Er flötete: „Nicht aufregen!“
Im Zeitlupentempo wuchtete sich der massige Schädel vom Arm. Feindselig musterte das verbliebene Auge die beiden Gäste.
Er knurrte: „Auschecken?“
Gerhard knurrte zurück: „Entschuldigen Sie die Störung. Internet. Aber keine Hektik.“
Unter Stöhnen öffnete der einäugige Kloß eine Schublade und wühlte sie durch. „Business Center. Ein Dollar, eine Stunde!“
Sein Auge blieb auf der Uhr an der gegenüberliegenden Wand hängen. „Noch vier Stunden! Oh Gott“ murmelte er gequält. Er legte einen Schüssel auf die Theke und sank wieder in sich zusammen.
Gerhard flüsterte: „Danke, gute Nacht!“
*****
Im ‚Business Center’ schaltete Gerhard das Licht an.
„70 Grad, mindestens“ konstatierte Chris, „ich mache das Fenster auf.“
„Window no have; Aircon no have“ spottete Gerhard. „Lass die Tür auf.“
Chris stöhnte ergeben und musterte die beiden Computer. Sein Blick blieb an den schweren Monitoren hängen. „Dampfbetrieben, Vorkriegsmodell. Ich meine den ersten Weltkrieg.“
Er zog einen Stuhl herbei und setzte sich. „Mindestens einhundert Jahre alt.“
Er schaltete einen Computer an und stand wieder auf. „Der braucht zum Hochfahren eh’ eine Stunde. Ich hole ein Bier; für Dich auch?“
Gerhard nickte grinsend. „Hier wird man zum Stoiker. Bring’ besser einen ganzen Kasten. Das hier, das dauert länger. Wo sind denn die Lochkarten, verdammt noch mal.“
Beide verbrachten den ganzen Nachmittag an den unsäglich langsamen Computern. Ab und zu informierten sie sich gegenseitig über ihre neuesten Erkenntnisse.
„Hier wird auf ein Buch über das Thema hingewiesen. Von einer Amerikanerin, Jane Hamilton Merrit. Sie ist Professorin, eine ehemalige Senatorin. Es heißt: ‚Tragic Mountains’. Wenn ich in der Zivilisation zurück bin, werde ich es kaufen und vielleicht hier im Internet ein Blog einrichten,.“meinte Gerhard. „Außer Appellen im Internet, die nicht beachtet werden, kommt scheinbar nichts.“
„Was sollen die auch viel tun, außer ‚Appellieren’. Hier ist ein Bericht über eine andere Sauerei. Es geht um das Paradies Thailand: Das UNHCR bezahlt viel Geld an das Land, damit die drei Lager für Flüchtlinge aus Laos nicht geräumt werden. Die Thailänder müssen keinen Baht für Unterkunft und Versorgung aufbringen. Trotzdem schieben sie immer wieder Leute nach Laos zurück. Die verschwinden dann. Tschüss aus!“
*****
Am frühen Abend suchten sie ein Restaurant in der Nähe auf. Als sie das Essen bestellt hatten, fragte Chris: „Und wie soll’s jetzt weitergehen?“
„Ich würde gerne morgen früh für die Leute ein paar Säcke Reis und andere Lebensmittel kaufen. Was hältst Du von ein paar gefrorenen Hähnchen und einem Styropor-Behälter, damit die Flattermänner nicht gleich stinken. Sie sollen mal was Richtiges zu knabbern haben.“
Er dachte nach. „Auch frischen Salat und Gemüse. Und wir holen Vitamintabletten für alle, besonders für die Kinder.“
Chris fügte hinzu „Und vielleicht aus einer Apotheke noch was gegen Durchfall.“
„Gut. Wir sollten auch ein paar Flaschen Fischsauce mitnehmen. Das Zeug ist hier wichtig, habe ich mal gelesen. Es wirkt gegen Schilddrüsenerkrankungen. Jetzt frag’ mich bitte nur nicht, was die Schilddrüsen sind.“
„Na ja, das hat wohl was mit dem Schwimmer zu tun, ha ha.“Er schlug sich auf die Oberschenkel.
Gerhard schwieg überrascht. Dann sagte er: „Das war übrigens das erste Mal heute, dass Du gelacht hast.“
Nach dem wieder schweigsam eingenommenen Essen, sagte er nachdenklich: „Vielleicht sollten wir wirklich mehr tun, als nur Reis und Flattermänner dahin zu bringen.“
Chris nickte zustimmend. „Und an was denkst Du da?“
„Ich weiß nicht genau. Aber ich fühle mich verdammt schlecht, wenn ich an diese armen Leute da draußen denke. Wir sitzen hier und essen uns eine Wampe an, und die essen Wurzeln und rote Nüsse gegen den Hunger.“ Gerhard betrachtete nachdenklich die halbleeren Essensschüsseln vor sich.
„Was würdest Du dazu sagen, wenn wir tatsächlich versuchen würden, diese Gruppe von hier hinaus zu bringen? Zum Beispiel nach Thailand? Sie sehen schließlich genauso aus wie die Leute von dort. Sie können dort untertauchen.“
Er sah seinen Neffen fragend an, der auf einem großen Teller sein Essen hin und her schob. „Pässe können wir ihnen keine beschaffen. Aber ich habe im Internet gelesen, dass viele Laoten illegal in Thailand leben. Wir müssten unseren Leuten nur ein paar Klamotten kaufen, damit sie nicht auffallen. Und im Nordosten, im Issan, sprechen sie eine Sprache, die identisch ist mit der Laotischen. Sie haben gemeinsame Vorfahren, die Leute aus Laos und aus Nordostthailand.“
Seine Augen blitzten auf, als er fortfuhr: „Irgendwann werden sich die politischen Verhältnisse in ihrer Heimat ja auch mal ändern. Dann können sie zurück. Oder sie können nach ein paar Jahren vielleicht auch in Thailand bleiben. Im Norden von Thailand leben Menschen des gleichen Stammes. Sie heißen dort ‚Meo’. Bei Chiang Mai gibt es Dörfer dieser Leute, aber Dörfer ohne Polizeiaufsicht. Dörfer mit Schulen, und ohne Zwang. Man lässt sie dort in Ruhe leben.“
„Alles schön und gut. Nur: wie willst Du sie ohne Pässe über die Grenze bringen?“
„Natürlich können sie nicht über einen Grenzübergang nach Thailand. Aber man könnte sie heimlich mit einem Minibus bis in die Nähe der Grenze bringen. Dann geht es zu Fuß weiter. Beide Länder haben über Hunderte von Kilometern eine gemeinsame grüne Grenze“
„Aber dieser Ler hat doch gesagt, dass sie zu schwach sind für weite Wege“ warf Chris ein.
„Man müsste mal auf einer Karte schauen, wo in der Nähe der Grenze eine Straße verläuft. Oder wo an der Grenze ein Ort liegt. Dort gibt es dann sicher eine Straße. Ein paar hundert Meter zu Fuß halten sie schon durch; es sind keine Schlaffsäcke wie wir Europäer.
Sie könnten auch durch den Grenzfluss, den Mekong, schwimmen. Der bildet viele Kilometer lang die Grenze zwischen beiden Ländern.“
„Aber sie haben Kinder dabei. Wenn die nicht schwimmen können?“
Gerhard wischte die Bedenken weg: „Dann versucht man es mit einem Boot; das könnte man alles organisieren; das könnte klappen. Und alles bei Nacht; man müsste es nur konsequent durchziehen.“
Gerhard kam in Fahrt. „Ich will noch etwas im Internet stöbern; mal sehen, ob ich eine Google-Landkarte mit der Grenze finde.“
„Ich komme mit. Hier sinnlos die Zeit totzuschlagen, bringt uns nichts.“
Chris hatte sich verändert. Seine, seit gestern melancholischen Augen versprühten wieder das alte Feuer; seine vorher dumpfe Stimme klang sehr lebhaft, um nicht zu sagen, begeistert.
*****
Als beide spät am Abend ins Hotel zurückkamen, ertönten laute Stimmen aus der Bar.
Chris sah Gerhard an, und sagte: „Komm, einer geht noch. Das hört sich nach der Clique um den Sachsen an.“
Sie hatten noch nicht das erste Bier in der Hand, als der ‚Kamikazesachse’ schon näher kam.
Er grüßte freundlich: „Hallo, und wie war euer Tag? Habt Ihr die Krüge besichtigt.“
Chris bestellte ein zusätzliches Bier für ihn. „Wir waren am Anfang der Ebene. Dort haben wir einen Verletzten gefunden, und später mehrere tote Frauen und ein Kind. Das waren H’mong. Sie sind von Soldaten überfallen worden.“
In Sebastian, dem Sachsen, ging eine Veränderung vor sich. Er kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf.
Chris sah ihm verständnislos ins Gesicht; er fuhr fort: „Wir wollten den Verletzten in ein Krankenhaus bringen. Aber dort wollte er partout nicht hin. Er hatte Angst vor der Polizei und den Soldaten. Die springen hier ganz übel mit diesen Leuten um.“
„Am besten vergesst Ihr das schnell wieder. Das kann Euch großen Ärger bringen. Über diese Leute redet man nicht. Hier jedenfalls nicht!“ Er wandte sich abrupt ab.
Christian legte dem Sachsen, der wieder neben seinen beiden Kollegen stand, die Hand auf die Schulter: „Du bist doch schon länger in diesem Land. Diese H’mong: erzähl’ mir was über sie.“
Der Sachse fuhr herum und zischte wütend: „Kannst Du nicht hören. Man redet nicht darüber. Schluss. Und quatsch’ mich nicht noch mal an. Basta! Sonst knallt’s.“ Seine Augen funkelten böse.
„Habt Ihr mich verstanden? Noch mal zum Mitschreiben: Über diese Leute redet man nicht!“
Die Begleiter des Sachsen hatten zugehört. Sie sahen sich an und standen von ihren Hockern auf. Kopfschüttelnd gingen sie zum Ende der Theke und tuschelten. Der Sachse nahm ihre Gläser von der Theke und folgte ihnen.
Gerhard war der Szene aufmerksam gefolgt und sah Chris verwundert an. „Was hat er denn, der gute Mann?“
„Ziemlich schlechte Nerven.“
„Komm, wir gehen auf’s Zimmer.“
Er legte das Geld für das Bier auf die Theke und verließ, gefolgt von Chris, die Bar.
„Ich verstehe nicht, warum der so ausgerastet ist. Wir gehen morgen früh auf jeden Fall einkaufen. Vielleicht sollten wir hier über diese Leute wirklich mit niemandem reden. Das, was wir vorhin besprochen haben, können wir überschlafen. Bis morgen früh dann.“
Als Christians Zimmertür zufiel, murmelte Gerhard: „Solch ein Elend, solch ein abgrundtiefes Elend.“
*****
Am nächsten Morgen standen beide schon früh auf. Nach dem Morgenkaffee fuhren sie zu einem der beiden großen Supermärkte. Gerhard öffnete die Tür zum klimatisierten Verkaufsraum. Chris folgte mit einem Einkaufswagen. Eine dichte Wolke undefinierbarer Gerüche, die von fauligem Fischgestank überlagert wurde, schlug ihnen entgegen.
Gerhard atmete durch den Mund ein. „Chris, mach sofort Deine Hose zu. Auf der Stelle!“
„Alt, aber immer noch nicht gut. Lass’ Dir doch gelegentlich einen besseren Witz einfallen!“ sagte Chris grinsend und sah zur Raumdecke, von der tausende getrocknete, aufgeschnittene Fische herabbaumelten. „Sag nur, so etwas willst Du für die armen H’mong kaufen. Die sind schon krank.“
Gerhard ließ sich von der Verkäuferin, die ihnen misstrauisch folgte, zehn dieser getrockneten Fischleichen zusammen mit einem Kilo vertrockneten Octopussen einpacken.
„Sie muss unbedingt eine luftdichte Tüte nehmen“ merkte Chris mit zugehaltener Nase an, „man ist schneller erstunken als ertrunken.“
Er ging eilig weiter. Nach fünf Metern blieb er stehen und fragte Gerhard amüsiert: „Und jetzt?“ Er wies auf über einer Länge von drei Metern nebeneinander ordentlich aufgereiht stehende offene Säcke mit Reis. „Nehmen wir grünen, roten, schwarzen oder gelben? Lang, mittel oder kurz? Da steht auch weißer, dick oder dünn? Oder gesprenkelten? Das sind mindestens dreißig verschiedene Sorten.“
Gerhard betrachtete ratlos die Säcke. „Wir müssen uns entscheiden, ich halte es nicht mehr lange aus,“ sagte er und sah mit gerümpfter Nase auf den Fisch, der auch hier von der Decke baumelte. Er hob wahllos vier zehn Kilogramm schwere Säckchen mit Reis in verschiedenen Farben in seinen Einkaufswagen. „Eine Sorte wird ihnen bestimmt schmecken. Besser als Wurzeln.“
Sie ließen sich noch zehn Tüten nie vorher gesehene Obst- und Gemüsesorten einpacken und gingen in Richtung Kasse.
„Stopp, jetzt hätten wir um ein Haar gefrorene Hähnchen vergessen, Augenblick,“ sagte Chris und verschwand nach hinten. Mit sechs gefrorenen Hühnern, einer Gefrierbox, Milch und Süßigkeiten kam er zurück und legte alles auf die Theke an der Kasse. Die Kassiererin, die in einem dicken Pullover dahinter saß, starrte ihn mit aufgerissenen Augen an.
„Für die Kinder,“ sagte er, „Picknick.“
Der Gesichtsausdruck der Dame veränderte sich. Sie lächelte und hämmerte auf eine riesige Tastatur ein. Die Kasse aus der Vorkriegszeit klingelte freudig. „Sechsundneunzig Dollar bitte.“
Gerhard zögerte. „Sechsundneunzig Dollar?“
„Ja, sechsundneunzig Dollar,“ flötete sie.
„Mach schon,.“drängelte Chris.
„Viel zu viel,“ murmelte Gerhard, zahlte aber.
Zu Zweit schoben sie ihren überfüllten Einkaufswagen aus dem Laden zum Auto. Vor dem Geschäft atmeten sie tief durch und verstauten alles im Kofferraum. Gerhard breitete sorgfältig eine dunkle Plane über die Lebensmittel.
„Na denn los,“ meinte Chris mit ungeduldiger Stimme.
„Vielleicht ist es noch zu früh,.“erwiderte Gerhard mit einem Blick auf seine Uhr. „Lass uns bis elf Uhr warten. Wir brauchen eine Stunde bis zur Ebene. Wenn wir jetzt losfahren, müssen wir vielleicht zwei Stunden auf die Leute warten. Wenn uns Soldaten kontrollieren sollten, könnten sie misstrauisch werden. Stell’ Dir mal vor, die schauen in unseren Kofferraum. Wenn einer den Deckel hebt, und unter die Plane sehen will, fällt er tot um. Der Duft von frischem trocknen Fisch, der riecht, als wäre er zweihundert Jahre alt.! Dass wir ein Picknick machen, würden sie nie glauben; nicht in dieser Gegend. Nein, lass uns besser bis elf warten. Wir gehen ein Bier trinken.“
Chris pflichtete nach kurzem Überlegen bei. Sie gingen in ein Gasthaus.
Als sie saßen, meinte Gerhard.: „Das war viel, Chris. Fünfundneunzig Dollar sind drei durchschnittliche Monatsgehälter.“
„Der Supermarkt war modern und westlich. Nicht so eine kleine Bude wie sonst überall: Doppelter Preis. Klimatisiert: Doppelter Preis. Ausländeraufschlag: nochmal doppelter Preis. Und übers Ohr gehauen: wieder doppelter Preis. Summa summarum: Fünfundneunzig Dollar. Was willst Du? Wir haben immerhin grünen und roten Reis in Laos gekauft. Wer kann das schon von sich behaupten? Hat doch was, oder?“
Für alle Fälle nahmen sie ein Paar Flaschen Bier mit auf den Weg, als sie die gastliche Stätte verließen.
*****
Unterwegs auf dem schmalen Pfad kamen ihnen drei Armeelastwagen entgegen. Zehn Meter vor ihnen hielt der erste LKW an. Der Fahrer bedeutete ihnen durch Handzeichen, nach rechts auszuweichen. Chris fuhr ungefähr zwanzig Zentimeter nach rechts auf den Randstreifen des Weges. Der Fahrer hupte ungeduldig, Er winkte heftig mit dem Arm, weiter auszuweichen. Chris blieb stur stehen.
„Wenn das mal keinen Ärger gibt,“ meinte Gerhard.
„Was ist, wenn da Minen liegen, nee, nee.“
Ein junger Soldat mit silbernen Schultertressen sprang aus der Beifahrertür.
„Fahren Sie weiter rechts ran,“ herrschte er Chris in gebrochenem Englisch an.
„Nein, da können Minen liegen.“
Der Offizier schrie etwas auf Laotisch. Chris stieg aus und bedeutete ihm mit einer einladenden Handbewegung, selbst zu fahren. „Komm raus Gerd; wenn der unbedingt Platz braucht, soll er selbst fahren.“
Der Militär nahm seine Schirmmütze ab und kratzte sich am Kopf.
Er fluchte, und schrie ein Kommando in Richtung des ersten LKW. Die hintere Ladebordwand öffnete sich. Vier Soldaten sprangen herab.
„Jetzt gibt’s doch Ärger,“ sagte Gerhard.
Chris blieb gelassen. „Nein, schau mal.“
Den abgesessenen Soldaten wurden aus dem LKW Minensuchgeräte herabgereicht. Sie suchten akribisch den Boden links vom Straßenrand über eine Länge von ungefähr zehn Metern und zwei Metern Breite ab. Als sie nicht fündig wurden, ging der Offizier langsam an der abgesuchten Fläche vorbei.
„Jetzt sucht er bestimmt nach Plastikminen“ meinte Chris, „auf die reagieren die Metalldetektoren nicht.“
Als der Offizier nichts gefunden hatte, gab er ein neues Kommando. Weitere zehn Mann sprangen vom LKW. Sie schritten langsam, einen Fuß vor den anderen setzend, im Gänseschritt noch einmal die durchsuchte Fläche ab.
Danach gab der Offizier dem Fahrer des ersten LKW ein Handzeichen. Der Lastwagen setzte sich in Bewegung und fuhr, nachdem die restlichen Soldaten abgestiegen waren, ungefähr zehn Zentimeter neben dem PKW der beiden vorbei.
Die Soldaten der beiden anderen LKW sprangen ebenfalls ab. Die schweren Fahrzeuge setzten sich langsam in Bewegung. Der hintere Truck passierte die Straße fünfzig Zentimeter neben dem PKW. Als er an dem Wagen fast vorbei war, gab es einen dumpfen Knall.
Chris und Gerhard zuckten zusammen.
„Ein Rad hat eine Mine hochgehen lassen,“ bellte Gerhard ärgerlich
„Von uns wollte diese Schweinebacke, dass wir einfach ins Feld fahren, um Platz zu machen.“
Der Fahrer des LKW gab in Panik Gas. Der Wagen beschleunigte und schlingerte hinter dem PKW auf den Weg zurück. Er stoppte abrupt. Es herrschte Stille. Der Offizier schrie den Fahrer des dritten LKW an und begutachtete den Schaden. Die beiden hinteren Zwillingsreifen waren zerfetzt. Er schrie Kommandos. Die Fahrer der ersten beiden LKW sprangen mit Wagenhebern und Radkreuzen aus den Führerhäusern.
„Komm, nur weg von hier“ rief Gerhard Chris zu.
Sie winkten freundlich grinsend in Richtung des Offiziers, stiegen in ihr Auto und fuhren los. Gerhard holte tief Luft.
„Das war wohl eine dieser kleinen Clusterminen. Die sind nicht sehr gefährlich für LKW, nur für Menschen. Wenn das ein chinesischer LKW war, erst recht nicht. Die haben Blech, das ist fünf Millimeter dick.“
„Aber das Blech unseres Hasenwagens hier...“ meinte Chris nachdenklich.
*****
Mit fünf Minuten Verspätung erreichten sie den vereinbarten Treffpunkt.
Die baum- und strauchlose Gegend war menschenleer, nur die Sonne brannte unbarmherzig vom wolkenlosen Himmel.
Chris schaltete die Zündung aus.
Aus seinem Fenster heraus schrie Gerhard: „Ler!“
Niemand war zu sehen. Wenig später blickte Chris in den Rückspiegel. „Da kommt der Bursche.“
Von links kam Ler auf sie zu. Er humpelte nur noch schwach. Er hatte sich hinter einem Steinbehälter verborgen gehalten.
„Wir haben etwas für Euch zum Essen dabei.“
Ler sagte „Danke“ und sah staunend in den Kofferraum
Er rief laut „Mi“und „Ma.“
Zwei der Frauen, die sie am Vortag am Feuer gesehen hatten, erschienen. Zu fünft schleppten sie die mitgebrachten Lebensmittel hinter den nächstgelegenen Steinbehälter.
„Alle werden sich freuen,“ sagte Ler. Er wollte gehen, aber Chris sagte „Stopp.“
Ler drehte sich um und sah ihn fragend an.
„Wir wollen mit Dir reden. Aber nicht hier auf der Straße, wo vielleicht noch mal Soldaten vorbeikommen. Das könnte Verdacht erregen. Lass uns irgendwohin fahren, wo wir uns ungestört unterhalten können. Kennst Du einen solchen Ort?“
„Ja, fahrt einfach zehn Minuten weiter. Da ist der Platz, wo die Minibusse der Touristen warten. Da sind keine Minen mehr, und Schatten ist dort auch.“
Er sagte etwas zu den Frauen, stieg ein und setzte sich nach hinten. Chris fuhr los. Nach fünf Minuten kam ihnen ein weiterer Militär- LKW entgegen. Chris murmelte: „Verdammt“ und hielt an.
Der LKW wich aus und fuhr langsam an ihnen vorbei. Ler hatte sich vor der hinteren Sitzbank auf den Fahrzeugboden gelegt. Als der LKW zehn Meter hinter ihnen war, rief Gerhard: „Du kannst wieder hochkommen, Ler. Sie sind vorbei.“
„Entweder war der Fahrer doof, oder er wusste, dass dort keine Minen lagen,“ stellte Chris lakonisch fest.
Kurz darauf erreichten sie einen großen, schattigen Platz. Auf einem blauen Schild war er auf Englisch, Französisch und Laotisch als ‚Parking Area’ ausgewiesen.
Grosse, wunderbar rot blühende Flamboyant Bäume bildeten in ihrer Farbenpracht einen krassen Gegensatz zur Einöde ringsherum. In ihrem Schatten hielt der Wagen.
*****
Sie schauten sich um. Der Platz war menschenleer. Chris zog seine Jeans Jacke aus. Er reichte sie Ler. „Zieh’ sie ruhig an. Wenn eine Kontrolle kommen sollte, sehen sie Dir sonst an, dass Du aus dem Busch kommst.“
Ler nickte und zog die Jacke über. Er ging vor zu einem Steintisch mit zwei Bänken.
Chris fuhr fort: „Euer Schicksal hat uns sehr berührt. Wir würden Euch gerne helfen, aus diesem verdammten Land herauszukommen.“
Ler blickte auf: „Ich verstehe Dich nicht.“
„Wir haben uns überlegt, wie wir Euch heraus helfen können.“
„Ich glaube, ihr wisst nicht, worauf Ihr Euch einlassen wollt. Wenn Ihr auffallt, sperrt man Euch für mindestens zehn Jahre ins Gefängnis. Ob ihr dort nur ein Jahr übersteht, ist fraglich.“
Ler’s Stimme klang schroff, abweisend. „Wenn Ihr in ein Umerziehungslager kommt, dann gute Nacht. Dort wird gefoltert. Sie machen auch vor Ausländern nicht halt. Lasst das bitte sein.“
„Mache Dir um uns keine Sorgen. Wir hatten vierzig Jahre lang in unserem Land ein kommunistisches Regime, die DDR. Auch dort zog man keine Samthandschuhe über die blutigen Hände. Wir sind uns des Risikos bewusst.“
Mit Nachdruck fuhr Chris fort.
„Wir haben genau überlegt. Wir wollen nicht nach Hause fahren, und Euch Eurem Schicksal überlassen. Über kurz oder lang werdet Ihr hier umkommen. Was hältst Du davon, wenn wir Euch in einem Minibus zum Mekong an die Grenze bringen?“
„Ihr setzt Euer Leben auf’s Spiel.“
„Dort setzen wir bei Nacht über den Fluss. Die Geister, an die Ihr glaubt, werden Euch und uns schützen. Wenn wir Thailand erreicht haben, bringen wir Euch in den Isaan. Dort sprechen viele Leute Eure Sprache. Viele Laoten leben dort illegal. Vielleicht habt Ihr Verwandte dort, bei denen Ihr unterkommen könnt?“
„Dort sind Verwandte von uns, sogar Leute von unserem Stamm. Einige leben dort legal. Aber die meisten Flüchtlinge, die es bis dorthin geschafft haben, hausen in Lagern. Sie dürfen sie nicht verlassen.“
Er schüttelte verzweifelt den Kopf. Dann hellte sich seine Mine auf.
„Einige von uns sind von den Amerikanern, als der Vietnamkrieg verloren war, mitgenommen worden. Sie sind jetzt echte Amerikaner mit Pass.“
„Vielleicht gibt es etwas wie Familienzusammenführung. In Europa findet man das.“
Ler sprang begeistert auf. „Du denkst, wir können nach Amerika?“
„Ich sagte: Vielleicht. Wenn ihr dort enge Verwandte habt.“
„Sonst müssten wir in Thailand in einem Lager bleiben?“
„Ich habe gestern gelesen, dass es an der Grenze zu Burma acht oder zehn Lager mit Burmesen gibt. Da sind 50‘000 Burmesen eingesperrt. Sie dürfen die Lager ebenfalls nicht verlassen.“
Gerhard stand auf und ging zum Wagen. Er kam mit Zigaretten und einer Landkarte zurück.
Er breitete die Karte auf dem Tisch aus und zeigte auf verschiedene Punkte. „Hier sind diese Lager. Die thailändische Regierung erwägt, die Leute aus den Lagern zu entlassen. Man will sie in der Land- und der Fischwirtschaft arbeiten lassen. Unter dem thailändischen Ministerpräsidenten Thaksin wäre es beinahe dazu gekommen. Aber dann kam vor vier Jahren der Putsch. Thaksin ist jetzt im Ausland.“
Gerhard redete sich in Rage.
„Mensch Ler, überleg‘ mal! In Thailand braucht man Arbeitskräfte. Wenn sie den 50‘000 Burmesen erlauben wollen, zu arbeiten, warum sollten sie das den 20‘000 Laoten verbieten. Ihr habt überdies mit den Thailändern aus dem Norden die gleichen Vorfahren.“
„Das stimmt. Aber: Niemand von uns will in ein Lager!“
„Wenn wir drüben sind, fällt uns vielleicht noch Besseres ein. Ich habe Freunde in Maha Sarakham. Das liegt bei Korat, der größten Stadt des Isaan. Sie werden vielleicht auch helfen. Ihr müsst jedenfalls aus dem Busch raus. Hier kommt Ihr langsam – aber sicher – alle um.“
„Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich muss mit dem Ältesten reden. Von ihm hängt jede Entscheidung ab.“
„Gut, rede mit ihm. Aber beeilt Euch bitte. Uns gefällt es von Tag zu Tag weniger in diesem Land. Je mehr man mitbekommt, desto hässlicher wird es. Wir bringen Dich jetzt zurück.“
Ler zog die Jacke von Chris aus.
„Nein, nein.“ Chris weigerte sich. „Behalte die Jacke. Im Hotel habe ich noch eine. Nachts wird es hier kalt. Das haben wir gestern gespürt. Du musst gesund bleiben, wenn ihr fliehen wollt.“
„Danke für Dein Geschenk. Je länger ich über Euren Vorschlag nachdenke, um so besser klingt er. Wir könnten endlich wieder Ruhe und Frieden finden. Vielleicht sogar arbeiten! Es wäre wunderbar. Aber soweit sind wir leider noch nicht. Was wird der Älteste denken? Und die Anderen? Gut wäre es sicher, für uns alle. Wenn ich nachher unserem Führer davon erzähle, werde ich dafür kämpfen. Es geht vor allem um die Zukunft der Kinder! Das müssen, das werden sie einsehen!.“Seine Augen leuchteten hoffnungsfroh.
Sie fuhren zurück.
Als Ler ausstieg, sagte Gerhard: „Können wir uns morgen wieder treffen, am selben Platz wie heute? aber schon um elf Uhr. Macht heute ein großes Festmahl mit den Lebensmitteln, damit Ihr mehr auf die Rippen bekommt. Wir wollen nicht, dass unterwegs jemand von Euch an Unterernährung stirbt. Und wenn Ihr in Thailand seid, gibt es besseres Essen als Wurzeln und Nüsse.“
„Gut.“ Er strahlte. „Dann bis morgen um elf Uhr.“
Er ging gedankenverloren davon.
„Warum schon um elf Uhr morgen früh, statt zwölf Uhr?“ fragte Chris auf der Rückfahrt nach Phonsavan.
„Was ist, wenn die LKW auf dieser Straße auf Routinepatrouille waren? Wenn sie täglich zur selben Zeit hier vorbeikommen? Ich habe keine Lust, den Soldaten noch einmal zu begegnen. Wenn sie uns öfter hier sehen, können sie misstrauisch werden.“
„Verstehe, ganz schön clever. Man merkt doch manchmal, dass Du mit mir verwandt bist!“
Den Rest des Tages schlenderten beide durch Nebenstraßen der trostlosen Stadt. Hier standen nur wenige heruntergekommene Steinhäuser. Von verwaschenen Fassaden, von denen die vergrauten Farben abblätterten oder schon abgewaschen waren, fiel in großen Fladen der Putz ab. Senkrechte und quer verlaufende Risse ließen die Zeiten des Neubaus in weite Vergangenheit rücken.
Die Mehrzahl der Unterkünfte, die phantasielose Menschen aus Holz zusammengezimmert hatten, duckten sich windschief gegen- und auseinander. Vereinzelt dazwischen stehende neuere und alte Automobile konnten den maroden Eindruck der Behausungen nicht vergessen machen.
Windböen, die Strauchbündel und Mülltüten gelegentlich vor Staubwolken her durch schmutzige Straßen trieben, erinnerten an den allgegenwärtigen Sand, der die Landschaft draußen in der Ebene, der Tonkrüge unbarmherzig einem feindlichen Belag überzog.
In den Lücken zwischen den Häusern wartete Müll auf eine Müllabfuhr, die nie kommen würde. Magere Ratten und verwahrloste Hunde durchwühlten die Müllhaufen auf der Suche nach Fressbarem. Lethargischer Zerfall schwebte über diesem Stadtviertel.
Gerhard und Chris hatten einen geöffneten Imbissstand gefunden.
„Durst“ sagte Chris. Ganz schön deprimierend, was?“
„Ähnlich war es in China auf dem Land. Alles war heruntergekommen. Atombomben haben die Chinesen. Aber keinen Pfennig für die armen Leute.“
Eine löchrige Plane, aufgespannt hinter einer roh gezimmerten,schiefen Holzbank, bot teilweisen Schutz gegen Unrat und Staub. Wenige Menschen schlichen mit teilnahmslosen, abweisenden Gesichtern vorbei. Sonst in asiatischen Städten allgegenwärtiges Kinderlachen fehlte. Unter einigen auf Pfählen gebauten Holzhütten schlichen Schweine umher. Sogar deren Quieken klang müde, als warteten sie auf den nahen Tod.
Gerhard und Chris versorgten sich aus einem defektem Kühlschrank mit warmem Bier. Sie legten das Geld dafür auf den Tisch im Innenraum, auf dem der Inhaber döste. Ein müdes Kopfnicken entließ sie.
„Komm trink schneller,“ sagte Gerhard „und dann nix wie weg.“
„Nicht unfreundlich, aber völlig lethargisch, diese Leute,“ konstatierte Chris, als er auf der Straße stand. „Hier könnte ich nicht leben. Was hier fehlt, ist die emsige Geschäftigkeit und das freundliche Lächeln, wie überall in Thailand.“
*****
Am nächsten Morgen machten sich Gerhard und Chris um zehn Uhr auf den Weg. Kein Konvoi, nicht mal ein einzelner Militär LKW war zu sehen.
„Ich bin gespannt, wie sich der Alte entschieden hat. Solch eine Chance wird ihm nie mehr geboten werden.“ Gerhard sagte diese Sätze sehr nachdenklich. „Ob er noch genug Kraft hat, sich für das Leben zu entscheiden?“
Chris blieb stumm.
Am vereinbarten Treffpunkt kamen Ler und der Alte sofort hinter dem nächsten Steinbehälter hervor. Sie nickten zum Gruß und stiegen zu. Sie fuhren zum Rastplatz weiter. Der alte Mann zeigte auf die Bänke.
Als Ler saß, zeigte er auf den Alten. „Er spricht kein englisch, nur etwas französisch von früher. Er ist einer der wenigen, die aus Dièn Bièn Phu zurückgekommen sind.“
Er blickte Gerhard eindringlich an. In scharfem Ton fuhr er fort: „Das weiß niemand. Das darf niemand erfahren. Im Norden machen manchmal Vietnamesen Jagd auf uns. Auch die können und wollen nicht vergessen.“
Chris sah Ler lange an. „Wie steht es bei Euch, wollt Ihr oder wollt Ihr nicht weg?“
Ler räusperte sich und sagte mit fester Stimme: „Versteht bitte Folgendes nicht falsch:“
Er blickte auf den fragil wirkenden alten Mann neben sich. Dessen zerfurchtes Gesicht ließ auf einen Hundertjährigen schließen.
„Unser Ältester will hier bleiben. Er will hier sterben. Er will es aber jedem anderen freistellen, ob er geht oder nicht.“
Seine Stimme klang entschlossen. „Das gilt auch für die Frauen. Ich habe mit allen gesprochen. Alle wollen es wagen, ich auch.“
„Wer wird für den Ältesten sorgen?“
„Er hat gesagt, er spürt, dass er bald sterben wird. Er will sich niemandem in den Weg stellen. Jeder soll das tun, was für ihn am Besten ist. Er will sich auf Wanderschaft begeben.“
„Er will alleine bleiben?“ fragte Gerhard.
„Vielleicht wird er auf andere H’mong stoßen, die ihn aufnehmen. Vielleicht wird es seine letzte Wanderschaft werden, und er wird zu seinen Vorfahren im Nirwana finden. Das ist sein Beschluss, und wir müssen seine Meinung respektieren.“
Am Ende seiner Worte war Ler sehr leise geworden. Man merkte ihm an, dass es ihm schwer gefallen war, zu reden.
Er sah traurig auf den schweigsamen Alten, dessen Blick in die Ferne schweifte. Er atmete hörbar ein, und blickte neugierig Gerhard und Chris an.
„Lasst uns über die Einzelheiten Eures Planes reden.“
„Zuerst müssen wir aus diesem Land hinaus. Wir sollten nach Thailand gehen,“ begann Gerhard.
„Dort bringen wir Euch irgendwo für einige Tage unter. Wir mieten ein Haus, und versorgen Euch. Chris und ich fahren nach Bangkok. Wir versuchen, für Euch in der deutschen Botschaft vorübergehend Asyl zu erhalten.“
„Denkst Du, es wird funktionieren?“
„Wir werden es versuchen. Wir nehmen danach Kontakt zum UNHCR auf. Von dieser Organisation erhaltet Ihr offizielle Flüchtlingsnummern und Ausweise als anerkannte politisch Verfolgte. Von da an dürfen die Thailänder Euch nicht mehr nach Laos zurückschicken. Wir werden versuchen, ein Land zu finden, das Euch aufnimmt. Alles wird gut werden, glaubt es mir.“
„Warum ziehen wir die Angelegenheit nicht doch in Laos durch?“ Chris war hartnäckig. „Hier wäre es viel einfacher. Warum den weiten Weg bis nach Thailand machen? Warum karren wir die Leute nicht einfach nach Vientiane? Dort gibt es auch eine deutsche Botschaft. Warum schalten wir nicht die ein? Wir hätten es viel leichter.“
„Darüber haben wir schon im Hotel gesprochen. Aber es ist gut, wenn Ler es mitbekommt.“
Er wandte sich an den H’mong. „Ler, damit Ihr als politische Flüchtlinge anerkannt werdet, müsst ihr vom UNHCR Flüchtlingspapiere bekommen. Die Laoten lassen keine Mitarbeiter des UNHCR ins Land. Sie haben Angst, dass ihre Verbrechen weltweit bekannt würden. Stell’ Dir vor, Meldungen über ausgelobtes Kopfgeld für tote H’mong oder Fotos von verstümmelten Leichen gehen um die Welt.“
Gerhard schüttelte nachdrücklich den Kopf. „Deshalb müsst Ihr nach Thailand gehen. Dort wird es kompliziert genug werden. Die Thailänder wollten noch vor einem halben Jahr 22 Kinder unter 16 Jahren nach Laos zurückschicken, deren Eltern oder Verwandte als politische Flüchtlinge anerkannt waren. Das wurde erst durch internationalen Protest, der vom UNHCR initiiert wurde, verhindert. Solange Ihr nicht als politische Flüchtlinge anerkannt seid, geltet ihr offiziell als illegale Wirtschaftsflüchtlinge. Verstehst Du Ler? Kannst Du uns folgen?“
„Ich verstehe, was Du meinst“ antwortete der H’mong.
Gerhard fuhr eindringlich fort: „Unser Vorhaben können wir nur in Thailand verwirklichen. Dort könnt Ihr als politische Flüchtlinge anerkannt werden. Dort können wir Öffentlichkeit herstellen. In Bangkok gibt es eine große UNHCR Niederlassung, als Teil des riesigen UN-Komplexes.“
Er wandte sich wieder Chris zu. „Wenn wir die Leute erst mal dort haben, haben wir gewonnen. Die deutsche Botschaft ist nicht weit davon entfernt. Ich war einmal dort. Die Leute waren sehr freundlich.“
Chris wandte sich an Ler. „Wie viele Leute genau seid Ihr nun?“
„Drei Kinder, vier Frauen und vier Männer.“
„Also elf Personen. Die passen bequem in einen Minibus.“
„Wie kommen wir an einen Minibus?“,fragte Gerhard.„Wenn wir Weiße einen Bus mieten, und fahren Asiaten durch die Gegend, würde das auffallen. Es gibt hier auf den Straßen oft Kontrollen.“
Chris schlug vor: „Wir können einen Bus mit Fahrer mieten. Damit fahren wir an die Grenze.“
„Aber wenn wir so verfahren, würde der Fahrer merken, dass es H’mong sind. Er wüsste, dass wir zur Grenze wollen. Er könnte den Schluss ziehen, dass sie fliehen wollen. Er könnte uns an die Polizei verraten.“
„Langsam,.“sagte Ler, „wir haben einen Verwandten in der Stadt, direkt in Phonsavan. Es ist der Neffe von unserem Ältesten. Sein Name ist Lia Thao. Er hat nie für die Amerikaner gearbeitet. Er verbrachte seine Jugend in China, und ist mit einer Chinesin verheiratet.“
„Du denkst, er könnte uns fahren?“ fragte Gerhard ihn.
„Er hat eine kleine Reiseagentur mit zwei Minibussen. Wir haben zwar schon lange keinen Kontakt mehr zu ihm. Aber gegen Geld würde er uns helfen; da bin ich sicher. Er könnte fahren. Er ist verwandt. Das zählt hier mehr als vieles Andere.“
„Gut, dann schreibe uns seine Adresse auf und ein paar Worte an ihn, damit er weiß, worum es geht.“ Gerhard war begeistert.
„Wir werden für Euch alle heute Nachmittag Kleider besorgen, in denen Ihr wie Thailänder ausseht. Wir kaufen keine neuen Kleidungsstücke. Gestern haben wir einen großen Markt gesehen, wo Second- Hand Sachen verkauft werden. Thailändische Touristen gibt es hier etliche. Ihr solltet mit diesen Kleidern nicht auffallen. Natürlich, wenn Polizisten oder Soldaten nach Pässen fragen sollten, haben wir ein Problem.“
„Ja, erinnere Dich mal, Onkel“ mischte Chris sich ein, „wir sind auf der Fahrt hierher dreimal an Polizeikontrollen angehalten worden.“
Gerhard wies den Einwand zurück. „Im Bus waren außer uns und einem anderen Weißen ausschließlich Laoten oder Thailänder. Trotzdem hat der Polizist nur kurz mit dem Fahrer gesprochen und ohne Kontrolle den Bus durch gewunken.“
„Der Polizist wollte Trinkgeld haben. Das ist hier in Laos üblich“ sagte Ler.
„Also Trinkgeld können die Polizisten ruhig haben,“ sagte Gerhard, „dann ist alles soweit klar. Wir sind morgen Mittag wieder hier mit den Kleidern, und informieren euch, ob Euer Verwandter mitspielt. Wenn er mitmacht, sollten wir uns einige Tage später wieder an diesem Rastplatz treffen. Von hier werden wir direkt zur Grenze am Mekong fahren. Wir mieten ein kleines Boot, in das wir alle hineinpassen- und setzen über. Einverstanden?“
„Ja, so könnte es funktionieren.“
Chris und Gerhard standen auf. Die H’mong folgten ihnen zum Wagen. Auf der Rückfahrt frage Gerhard Ler: „Euer Führer will wirklich nicht mit? Es ist schwer zu verstehen.“
„Man kann nicht alles verstehen. Trotzdem muss man vieles akzeptieren. Das zeichnet einen weisen Menschen aus.“
Sie brachten die H’mong unbehelligt vom Parkplatz zum Treffpunkt zurück. Sie verabschiedeten sie, und fuhren zurück nach Phonsavan.
Unterwegs sah Gerhard Chris an und sagte: „Jetzt wird es spannend. Hoffentlich halten Deine Nerven durch.“
„Wer A sagt, muss auch B sagen. Meine Nerven sind besser als Deine. Vielleicht solltest Du vorher eine Apotheke aufsuchen. Es gibt heute sehr gute nerven- und herzstärkende Mittel für ältere Leute. Ich denke da an Knoblauch- oder Ginsengpräparate. Und an Schnaps, in den Schlangen und Skorpione eingelegt sind. Na, Onkel, was hältst Du davon?“
„Ich bin fit. Ich brauche auch kein Viagra. Im Gegensatz zu einem gewissen jungen Mann, dem ich aus Asien schon des öfteren solche Beschleuniger mitbringen musste.“
„Nur für meine Freunde, nur für Freunde.“
*****
In der Stadt angekommen, fanden sie das Reiseunternehmen in einer versteckten Seitenstraße. Der Chef, Herr Lia Thao, ein kleiner, grauhaariger Herr Ende vierzig, musterte sie neugierig. Sein gepflegtes Äußeres und sein grauer, makelloser Anzug mit geschmackvoller Krawatte passten nicht zu der heruntergekommenen Gegend, in der sich sein Büro befand. Ein moderner, kleiner Flachbildschirm stand auf einem riesigen, aufgeräumten Schreibtisch. Sein weltmännischer Habitus stand in seltsamem Gegensatz zu dem vernachlässigten Haus und dem stallähnlichen Hinterzimmer, in dem Herr Lia Thao seine Besucher empfing.
Sie grüßten höflich und stellten sich vor. Gerhard kam sofort zur Sache: „Wir sind hier, weil wir Kontakt zu Ihren Verwandten, diesen H’mong-Leuten haben.“
Lia Thao sah Gerhard erstaunt an. „Augenblick.“ Er stand auf und schloss die Bürotür. „Besser so!“
Gerhard schilderte ihm das Anliegen und übergab ihm das Schreiben von Ler.
„Von denen haben wir lange nichts gehört. Sie sind ganz in der Nähe, sagen Sie? Sie müssen wissen, jeder Kontakt kann für mich und meine Familie gefährlich sein,.“ sagte er leise.„Der Älteste hat nicht nur für die CIA gekämpft, sondern vorher für die Franzosen und danach auch noch für den König. Es kommt sehr selten vor, dass jemand drei Kriege überlebt. Es sind drei schlimme Gründe für die Machthaber, die ganze Gruppe auszumerzen. Es sind schlimme Zeiten. Immer noch, obwohl es schon sehr lange her ist.“
Er schüttelte den Kopf. „Von den alten Kämpfern lebt kaum noch einer, aber die Verwandten und Nachkommen werden verfolgt. “Er schwieg und kratzte sich am Kopf.
Dann fuhr er leise fort: „Wenn ich helfe, riskiere ich dieses Unternehmen, meinen Kopf und das Leben meiner ganzen Familie.“
„Wir würden selbstverständlich für Ihre Dienste bezahlen. Was halten Sie von fünf Millionen Kip?“
„Würden Sie für 700 Dollar ihre Existenz und das Leben Ihrer Familie auf das Spiel setzen?“ Er sah sie ärgerlich an. „Das Geld ist schön. Aber wenn ich es tue, dann tue ich es für die Verwandtschaft. Für die Familie. Lassen Sie mich etwas nachdenken. Wohin genau soll es denn gehen?“
„Zum nächsten Punkt am Mekong, wo er die Grenze zu Thailand bildet.“
Lia Thao stand auf und ging zu einer großen Landkarte an der Wand. Sie gesellten sich neben ihn. Er zeigte mit einem Lineal auf eine Fläche, die von einer dicken,blauen Linie durchtrennt wurde.
„Das wäre die Gegend zwischen Vientiane und Muang Palxxan.“ sagte er nachdenklich und setzte sich wieder. „Kommen Sie bitte später noch einmal wieder. Ich muss darüber nachdenken. Sie können bis 22.00 Uhr kommen. Dann schließen wir. Ich bin die ganze Zeit hier im Office.“
Sie verabschiedeten sich und fuhren zu den Second Hand Geschäften, die sie am Vortag in einer großen Wellblechhalle entdeckt hatten. Auf dem Weg dorthin sagte Gerhard „Mal gespannt, wie dieser Herr Thao sich entscheiden wird. Ob der Mann wohl mitspielt?“
„Ich denke schon. Sie sind verwandt. Für Asiaten ist die Familie heilig. Ein Stamm entspricht einer Großfamilie in Südeuropa. Asiaten würden nie ein Familienmitglied oder einen Stammesangehörigen hängen lassen.“
Sie kauften eine große Menge Kleidungsstücke und Schuhe, sowie viele kleine Utensilien, die nötig waren, allen das Aussehen von zivilisierten Thailändern zu geben. Als sie die Sachen in den Wagen brachten, sagte Gerhard:„Es kann verdammt gefährlich werden, für alle.“
„Trotzdem! Ich bin sicher, dass er mitmachen wird. Wie ist es eigentlich bei Dir? Bist Du Dir über die möglichen Konsequenzen im Klaren? Wenn es schief geht, kann es auch für Dich böse Folgen haben.“
Sie gingen weiter zu einem Gemischtwarenladen auf der anderen Straßenseite. Als sie vor dem Schaufenster standen, sagte Chris:
„Onkel! Hör’ auf mit den Unkenrufen. Wir hängen schon so tief drin. Was soll’s. Zu Hause leben wir in Ruhe und Sicherheit. Wenn ich an die armen Leute hier im Busch denke, wird mir übel. Von Tag zu Tag werden es weniger. Unsere Hilfe hier ist nützlich, oder denkst Du anders?“
„Nein, nein! Nur: es kann ins Auge gehen. Es kann ganz heftig ins Auge gehen. Auch für uns. Vergiss das nicht. Aber ich denke auch, dieses Risiko sollten wir auf uns nehmen. Ich wusste, dass Du so denkst. Ich wollte es nur noch einmal aus Deinem eigenen Mund hören. Also: Augen zu und durch. Es wird vielleicht gefährlich werden, aber...“
„Was aber?“
„Es hört sich seltsam an. Wir versuchen, etwas Sinnvolles für Andere zu tun. Es macht mich glücklich.“
„Das ist gut so. Ein Mann muss tun, was ein Mann tun muss!“
„Denn man los! Aber zuerst in das Geschäft. Wir brauchen noch Nassrasierer, Seife, Nähnadeln und Nähgarne in allen Farben.“
„Warum Nähnadeln und Garne?“ fragte Chris
„Unsere Freunde sind derartig abgemagert, dass die vier Frauen mit dem Kürzen und enger Nähen viel zu tun haben werden.“
Nach den Einkäufen fuhren sie zurück zum Reisebüro .
*****
Herr Lia Thao hatte sie offenbar schon erwartet. Auf dem kleinen Tischchen, vor dem er jetzt saß, dampfte in drei winzigen Tassen grüner, chinesischer Tee. Er bat, Platz zu nehmen
„Darf ich Sie, bevor ich ihnen meine Entscheidung mitteile, etwas fragen?“
„Gerne.“
„Warum wollen Sie Sich überhaupt einmischen?“
Sie sahen sich sprachlos an. Gerhard antwortete: „Diese Frage überrascht uns. Ich denke, Sie kennen die Situation dieser Leute. Wir wollen ihnen helfen. Von Soldaten wurden, kurz bevor wir zum ersten Mal dort waren, vier Leute getötet. Drei Frauen und ein Kind.“
„Waren es uniformierte Soldaten?“
Gerhard schluckte. „Wir haben die Soldaten nicht bei dem Überfall gesehen. Sie hatten die Straße abgesperrt. Diese Toten haben nie etwas mit den Amerikanern oder dem ehemaligen König zu tun gehabt. Sie waren viel zu jung damals, wenn sie überhaupt schon gelebt haben. Es ist ein Verbrechen, was da geschieht.“
Er zeigte auf Chris. „Mein Neffe hier war dabei.“
Chris übernahm das Gespräch. „Ja, ich war dabei. Es war der reinste Horror! Wenn wir ihnen nicht helfen, wer sollte ihnen dann helfen. Aus eigener Kraft können sie dem Elend dort nicht entkommen. Stimmen Sie uns nicht zu, Herr Lia Thao?“
„Diese H’mong haben sich schuldig gemacht!“
„Nicht die Frauen, Kinder und jungen Leute. Sie hätten diese Leute sehen müssen; sie sind völlig unterernährt. Sie haben zum Essen nur Reis, Wurzeln und diese roten Nüsse. Viele sind krank. Sie haben keine Kraft mehr und sind dauernd auf der Flucht. Das ist kein menschenwürdiges Leben. Sie wollen aus dem Busch raus und sicher leben. Die Kinder sollen zur Schule gehen können. Ich denke, das ist wirklich nicht zuviel verlangt.“
„Ich habe mich entschlossen, meinen Leuten und Euch zu helfen. Aber ich kann Euch nur bis zum Fluss bringen. Wie Ihr dann weiterkommt, ist allein Eure Sache. Unterschätzt die thailändischen Grenzkontrollen nicht. Die patrouillieren sogar nachts, und auch auf dem Fluss. Es kann sehr gefährlich werden; auch für Euch als Ausländer.“
„Das ist uns klar.“
„Wie habt Ihr Euch nun genau das Ganze vorgestellt?“
„Können wir morgen früh noch mal vorbei kommen; dann werden wir über Einzelheiten sprechen. Wann öffnen Sie Ihr Reisebüro?“
„Um neun Uhr.“
„Gut, dann sind wir um neun hier, morgen früh.“
Sie verabschiedeten sich, und verließen das Zimmerchen.
*****
Sie gingen ins Hotel zurück. Als sie im leeren Restaurant saßen, fragte Chris:
„Wie wollen wir genau vorgehen?“
Der Kellner brachte die Speisekarte und stellte unaufgefordert zwei Flaschen Bier auf den Tisch.
„Guter Service, Danke.“ Gerhard grinste. „Am besten trennen wir uns. Einer geht nach Thailand und mietet gegenüber von Muang Paxxan möglichst nahe am Fluss ein alleinstehendes Haus an.
„Wer fährt nach Thailand?“,fragte Chris.
„Ist mir egal – würfeln wir?“
„Wir haben keine Würfel.“
„Gut, dann Schere, Stein, Papier. Wer gewinnt, fährt oder fliegt morgen Nacht.“
Gerhard gewann die Tour direkt zurück nach Thailand, und Chris lachte. „Glückspilz! Die Damen dort sind besser.“
Gerhard wurde wieder ernst. „Der, der mit den Leuten kommt, besorgt ein Boot und bei Nacht geht es über den Fluss. Es wird eine kurze Fahrt sein. Die Leute bleiben in diesem Haus in Thailand. Sie sind genügsam. Wir kaufen für sie Nahrungsmittel ein, und fahren nach Bangkok.“
„Die Leute sollen in diesem Haus warten?“
„Richtig. In Bangkok gehen wir zur deutschen Botschaft und zum UN-Gebäude. Dort sehen wir weiter.“
„Wir können auch zur französischen Mission und zur EU Botschaft gehen. Die haben sicherlich eigene Vertretungen in Bangkok.“
„Oder auch zu den Amerikanern. Die haben, als sie sich aus Vietnam verabschiedet haben, etliche H’mong und deren Familien in die USA mitgenommen. Deswegen gibt es auch in den USA einige H’mong Gemeinden. Wenn dort Verwandte leben, können einige vielleicht dorthin.“
Der Kellner kam, um die Bestellungen entgegen zu nehmen.
„Für mich ein Pfeffersteak, und roten Reis, bitte,.“bestellte Chris.
„Haben Sie auch grünen Reis?“ fragte Gerhard den Kellner.
Der schaute ihn überrascht an. „Ja mein Herr, aber Ausländer essen immer weißen Reis.“
„Trotzdem, und auch ein Pfeffersteak. Ich muss testen.“
„Sehr wohl mein Herr, danke.“Der Kellner ging.
Gerhard wandte sich wieder an Chris. „Wenn in den USA Mexikaner eingebürgert werden, die nichts für die Amerikaner getan haben, warum nicht noch ein paar von denen, deren Vorfahren geholfen haben. Sie haben schließlich ihr Leben riskiert. Bei den Franzosen ist es ähnlich. Einige H’mong wurden in französisch Guayana angesiedelt.“
Der Kellner brachte die dampfenden Speisen und zwei weitere Flaschen Bier. Chris nickte dankend und ass zuerst von seinem Reis.
„Also roter Reis schmeckt wie normaler Reis. Und Deiner?“
Gerhard probierte von seinem Reis und wartete etwas mit seiner Antwort. „Ich würde sagen, hmm, hmm, leichtes Waldmeisteraroma.“
Chris machte große Augen. „Lass probieren.“ Er steckte seine Gabel in Gerhard Reis. Er schob die Gabel in den Mund. „Dann schmeckt meiner nach Erdbeeren. Gaukler, Possenreißer! Schabernacktreiber. Du denkst, mit mir kannst Du’s machen. Nur weil ich jung bin. Alter Sack, Prost!“
„Prost.“
„Färben die den Reis?“
„Nein, er wächst so.“
„Einfach so?“
„Einfach so!“
Sie aßen weiter. Das Pfeffersteak schmeckte, wie Pfeffersteaks immer schmecken. Der Kellner räumte das Tischgeschirr ab. Chris sagte: „Vorzüglich, das Bier!“
Der Kellner sah ihn mit einem schiefen Grinsen an. „Danke.“
Als er fort war, nahm Gerhard das Gespräch wieder auf.
„Wenn uns das bei Franzosen und Amerikanern nicht gelingt, versuchen wir das UNHCR dazu zu bewegen, den Leuten Flüchtlingspapiere auszustellen, und eine offizielle Nummer zu verpassen. Die Leute sind damit aus dem Schneider, und dürfen nicht mehr abgeschoben werden.“
„Wenn das nur mal so einfach wäre, wie es klingt!“
Chris bestellte neues Bier.
„Ist Dir klar, dass das alles teuer wird. Ich meine, was Geld angeht?“
„Du, wir geben so viel aus für irgendwelchen Mist. Warum nicht mal Geld für etwas Sinnvolles. Was kann sinnvoller sein, als Leben zu retten.“
„Klingt wirklich toll“ meinte Chris nachdenklich. „ Also ich bin dabei. Fifty-fifty bei den Kosten?“
„Klar, mach dir da keine Sorgen.“
„Nun einige Einzelheiten: Wie kommen wir über den Fluss?“
„Weiß ich noch nicht genau. Im schlimmsten Fall müssen wir ein Boot stehlen. Ich würde es nicht gerne tun. Viele Leute hier sind bettelarm. Aber in diesem Fall heiligt der Zweck die Mittel. Wenn man drüben ist, lässt man es leer mit dem Fluss wegtreiben.“
Beide bestellten nochmals zwei große Biere und stießen auf ihren grandiosen Plan an.
„Wenn alles klappt, wie geplant, werden wir uns in Thailand sehen. In drei Tagen, oder vier. Den genauen Termin machen wir telefonisch aus. Also: schauen wir mal,“ sagte Gerhard. „Morgen wird ein wichtiger Tag werden; da ist es wichtig, früh schlafen zu gehen. Lass uns noch ein Bier nehmen, und dann ab in die Falle!“
*****
Chris schaltete das Licht in seinem Zimmer an. Stickige Hitze schlug ihm entgegen. Die Klimaanlage war ausgefallen. Wieder einmal! Im Zimmer war es wärmer als draußen. Trotzdem pfiff er unter der lauwarmen Dusche ein Lied. Das Wasser brachte keine Abkühlung. Heute konnte ihn nichts ärgerlich machen. Er fühlte sich wohl, war gut gelaunt. Ohne sich abzutrocknen, legte er sich nackt aufs Bett und zündete eine Zigarette an.
Das Handy summte. Auf dem Display stand: ‚Schatzi’. Erfreut drückte er die grüne Taste. Es war Nina, seine Verlobte.
„Na Liebling, wie geht es Dir? Ist das Wetter in Deutschland wieder besser?“
„Nein. Es ist wie immer! Du fehlst mir.“
„Du fehlst mir auch. Du hättest mitfahren sollen! Ich muss Dir was erzählen. Kannst Du Dir vorstellen, wir sind hier in eine Rettungsaktion verwickelt.“
„Was, wo bist Du? Was ist los?“
„Wir sind noch in Laos. Die Ebene der Tonkrüge. Ich habe es Dir im Reiseführer gezeigt. Da, wo die Krüge rumstehen, von denen keiner weiß, warum. Morgen oder Übermorgen geht es zurück nach Thailand. Wir retten eine Gruppe H’Mong. Das ist ein Stamm, der wird verfolgt.“ Er hörte sie schlucken.
„Was soll das? Was sagst Du da?“
„Es sind ganz arme Leute, die im Busch umherirren. Sie werden von Soldaten getötet, wenn...“
Sie fiel ihm ins Wort. „Du spinnst. Du bist wahnsinnig. Was sagt Gerhard dazu? Dass Du Dich mit Streunern einlässt.“
„Gerhard ist dabei.“
„Aber wenn Soldaten hinter ihnen her sind, haben sie bestimmt Dreck am Stecken. Und mit solchen Leuten treibt Ihr Euch herum?“
„Du verstehst das nicht. Es sind arme Leute aus dem Busch, ganze Familien. Die werden hier ausgerottet. Wir sind die einzigen, die Ihnen helfen können. Lies mal im Internet über die H’mong in Laos. Dann wirst Du es verstehen. Du würdest sicher auch helfen.“
„Warum sollte ich Hungerleidern helfen, die ich nicht einmal kenne.“
Sie schrie in den Hörer. „Darauf läuft es doch immer hinaus. Sie wollen immer unser Geld. Und dieser Quatsch wird sicher auch wieder Geld kosten, wie ich Dich kenne.“
„Was regst Du Dich denn auf. Du weißt doch gar nicht, worum es geht.“
Sie unterbrach ihn wieder. „Wenn Du Dich mit Gammlern einlässt, ist es aus zwischen uns. Du vergisst, wer Du bist.“
„Versteh doch bitte, ihnen muss jemand helfen.“
Sie schrie wieder: „Schwachkopf!“
Es knackte in der Leitung. Dann folgte Rauschen. Sie hatte aufgelegt.
Er drückte die Rückruftaste. Biep biep, biep biiep, biep biep. Besetzt.
Er knipste das Licht aus und dachte nach. Er war nicht ärgerlich. Nur enttäuscht, sehr enttäuscht
*****
Am nächsten Morgen trafen sie sich zum Frühstück wieder. Gerhard sah Chris sofort an, dass irgend etwas nicht stimmte.
„Ist noch alles klar bei Dir?“
Chris begann zögernd. „Gestern Abend habe ich mit meiner Freundin telefoniert. Sie hat mir abgeraten, mit diesen Leuten zu gehen. Als ich ihr gesagt habe, dass für sie sonst kein Überleben möglich sei, hat sie gemeint, und das ist wörtlich: „Irgend welchen Dreck werden die sicher am Stecken haben.“ Sie hat dann aufgelegt. Sie kann es einfach nicht verstehen. Na ja, ich denke, was wir da tun, ist absolut richtig und wichtig.“
Nach dem Frühstück gingen sie in das Büro des Herrn Lia Thao. Gerhard erklärte ihm: „Ich will möglichst bald nach Thailand zurück fliegen. Es gibt dort einiges vorzubereiten.“
Lia Thao schaute auf seinen Bildschirm.
„Im Moment ist kein Flugplatz frei. Ich setze Sie gerne auf die Warteliste für die Abendmaschine von Morgen.“
Gerhard war enttäuscht. Es war geplant, dass Chris am nächsten oder übernächsten Tag mit den Leuten losfahren sollte. Gerhard wollte genügend Zeit haben, auf der anderen Seite der Grenze nach einer geeigneten Unterkunft zu suchen.
„Dann müssen sie halt warten. Wir sollten wieder Hähnchen kaufen.”
Auf dem Weg zum Supermarkt kamen sie an einem weiteren Reisebüro vorbei. Im Schaufenster hingen neben Plakaten von Lao Aviation auch solche von Bangkok Airways und Thai Airways. Gerhard betrachtete sie -– ihm kam ein Gedanke.
„Warte einen Augenblick auf mich,“ sagte er zu Chris, und betrat das Büro. Eine ältere Frau erhob sich hinter ihrem Schreibtisch und begrüßte ihn. Er setzte sich.
„Hallo, ich suche einen Flug nach Thailand.“
„Wann soll es denn sein?“
„Sobald es möglich ist. Ich habe in Ihrem Schaufenster gesehen, dass sie Flüge von Thai Airways und Bangkok Airlines anbieten. Fliegen die auch von hier?“
Sie schaute auf ihren Monitor.
„Leider geht es nur mit Lao Aviation von hier.“
„Schade, aber da ist heute alles besetzt. Wie komme ich denn sonst weg von hier?“
Sie legte die Stirn in Falten und schaute wieder auf ihren Monitor.
„In der Abendmaschine sind noch vierzehn Plätze frei.“
„Ich war vorhin in einem anderen Reisebüro. Da waren noch alle Flüge von hier besetzt.“
„Manchmal sind die Computer sehr langsam. Augenblick!“
Sie wählte, lauschte, sprach und sah Gerhard an. „Es sind noch vierzehn Plätze frei. Es hätte mich gewundert. Ganz voll ist die Maschine an einigen Feiertagen und manchmal in der Hochsaison.“
„Gut, dann buche ich bei Ihnen. Ich muss nach Loei in Thailand.“
„Loei. Sie müssen von hier nach Luam Prabang. Dann nach Bangkok; und von dort nach Loei.“
„Wie lange dauert das?“
„Ich hätte da doch noch einen Flug nachmittags. Wenn sie die Maschine am Nachmittag nehmen, können Sie um zehn Uhr heute Abend in Loei sein. Aber warten Sie, ich schau lieber noch mal genau nach.“
Sie bediente die Tastatur.
„Also: um halb fünf heute Nachmittag von hier los nach Luam Prabang, dann von dort über Bangkok nach Loei. Sie kommen in Loei um Viertel vor zehn an.“
„Was kostet der Spaß?“
„Ungefähr 250 Dollar.“
Er winkte Chris herein, und sagte: „Es klappt doch noch heute, alles zusammen: Zweihundertfünfzig Dollar.“
„Dann buche doch gleich. Nur seltsam, dass der Neffe des Ältesten die Plätze nicht gefunden hat. Will der kein Geld verdienen? Aber was soll’s. Falls Du es morgen tatsächlich schaffst, ein Haus zu mieten, kommen wir übermorgen Nacht am Ufer an. In Thailand steckt nach den Krawallen am Flughafen der Tourismus immer noch in der Krise. Da wird leicht etwas Geeignetes zu finden sein. Wir werden telefonieren.“
Gerhard bat, die Flüge zu buchen.
*****
Sie fuhren zum Treffpunkt in der Ebene. Als sie eine halbe Stunde unterwegs waren, kurbelte Chris sein Seitenfenster hoch.
„Mir stinkt’s.“ Chris rümpfte die Nase. „Es kribbelt im Hals. Dieser Geruch! Mach Dein Fenster zu! Faule Eier sind Parfum dagegen“
„Mach’ die Hose zu, das bist Du“ antwortete Gerhard süffisant.
„Immer noch der alte Spruch. Noch so’n Spruch, Kieferbruch. Trotz Geruch.“
„Da vorne ist es neblig.“
„Nebel um halb elf, und die Sonne knallt vom Himmel. Das war noch nie da.“
Gerhard schloss auch seine Scheibe.
„Wahrscheinlich eine brennende Müllhalde. Der Müll von Phonsavan. Sie haben die Stadt gekehrt.“
„Ich dachte eher an Manila.“
Der Qualm wurde dichter. Der Gestank war kaum noch auszuhalten.
Sie erreichten den Treffpunkt. Gerhard öffnete die Wagentür, wollte aussteigen. Fluchend knallte er die Tür wieder zu.
Ein beißender Geruch allüberall. Auf beiden Straßenseiten waberten gelbe Schwaden vorbei. Die Sonne war eine blassgelbe Scheibe geworden. Sie hatte vor dem Qualm kapituliert. Sie war zu schwach, ihn zu durchdringen. Man konnte sie erahnen, nicht sehen.
„Niemand da! Was tun wir jetzt?“ grunzte Chris durch sein Taschentuch.
„Warten. Ich muss gleich kotzen.“
Ler tauchte im Nebel auf. Er materialisierte sich erst zwei Meter vor dem Kühler und kam ans Auto heran. Er hielt sich am Auto fest, atmete schnell und flach.
Sein Gesicht hatte eine ungesunde, grünlich-gelbe Farbe. Er hustete. „Sie waren wieder mit dem Flugzeug da und haben Gift versprüht. Sie vermuten mehrere Gruppen von uns hier in der Gegend. Es wäre wirklich gut, wenn wir bald weg kämen. “Sein Körper verkrampfte sich im Dauerhusten.
Chris öffnete die Fondtür und schrie: „Komm’ schnell ins Auto. Wenn das Giftnebel ist, dann... “Ein Hustenanfall schüttelte ihn. Er hatte zu tief eingeatmet.
Ler fiel in das Husten ein. Mit hochrotem Kopf und vorsichtig atmend begann Chris noch einmal:
„Im Internet hat mein Onkel Maklerfirmen in Loei gefunden und dort angerufen. Es stehen viele Ferienhäuser direkt am Mekong leer. Er wird eines mieten, das groß genug für uns alle ist. Übermorgen früh können wir hier wahrscheinlich weg. Gegen Abend sind wir dann an der Grenze und gehen nachts rüber über den Fluss. Der Onkel fliegt...“ Nach einem neuen Hustenanfall fuhr er fort „fliegt heute Nachmittag nach Thailand. Dort wird er alles Notwendige für uns vorbereiten. Der Neffe von eurem Ältesten spielt mit. Er wird uns bis zum Fluss bringen.“
„Die meisten von uns können nicht schwimmen.“Er unterdrückte einen neuerlichen Anfall.
„Der Onkel wird versuchen, in Thailand ein Boot zu besorgen, das uns abholt. Wir haben Kleider mitgebracht, damit Ihr zivilisiert ausseht. Damit wird Euch jeder auf der Fahrt zum Fluss für Thailänder halten – nur für alle Fälle.“
Sie stiegen widerwillig aus und begannen hastig, die mitgebrachten Plastiktüten mit den Kleidern auszupacken.
Ein Pfiff von Ler ertönte. Drei Gestalten tauchten hustend mit Stofffetzen vor den Gesichtern aus dem giftigen Nebel auf. Ler gab ihnen mit heiserer Stimme kurze Anordnungen.
Sie wankten zum Wagen, ergriffen die Einkaufstüten, und verschwanden wieder im Nebel.
Ler sah Chris an. Er zögerte, wollte etwas sagen, schwieg dann aber. Chris merkte, dass er etwas auf dem Herzen hatte, und sagte:
„Da ist doch etwas, was dir auf der Seele lastet? Los, sprich es aus.“
„Na ja.“ Ler hustete wieder.
Dann nahm er seinen Mut zusammen.
„Unser Ältester hat gesagt, er würde gerne informiert sein, wenn wir alle in Sicherheit sind. Er lässt fragen, ob einer von Euch ihm sein Telefon überlassen kann. Er wird alleine zurückbleiben; aber er wüsste gerne, was aus uns geworden ist.“
Gerhard hustete. „Ich kann mir in Thailand wieder ein Handy kaufen. Das ist kein Problem.“
Er sah Ler an:
„Ich kann es Dir geben. Sag eurem Alten, wir werden ihn aus Thailand anrufen. Vielleicht ist es für Euch ganz gut, ein Handy zu haben. Chris wird mit dem Neffen eures Ältesten übermorgen früh mit dessen Minibus hier herkommen. Chris weiß noch nicht genau, wann sie hier sein werden. Er wird Euch auf diesem Telefon anrufen, wenn sie in der Stadt losfahren. Ihr kommt dann zum Rastplatz und steigt schnell zu. Dann geht es los.“
Ler griff in seine Hosentasche, und krächzte heiser.
„Der Älteste hat kein Geld. Ich soll das Telefon hiermit bezahlen.“
Er drückte ihm zwei kleine Steine in die Hand. An einer Ecke war ein leichter rötlicher Schimmer zu erkennen.
„Steine wie diese haben wir früher oft gesucht und verkauft. In Luam Prabang wird daraus Schmuck gefertigt. Wenn wir in Thailand sind, kannst Du in ein Schmuckgeschäft gehen, und fragen, ob man damit etwas anfangen kann.“
Gerhard gab Chris einen der Steine. Schnaufend überreichte er Ler sein Handy. „Sag dem Ältesten, wenn es klingelt, soll er einfach die grüne Taste drücken. Wir fahren wieder. Vielen Dank für die Steine. Und: Viel Glück.“
Sie bestiegen das Auto. Je mehr sie sich der Stadt näherten, desto klarer wurde die Sicht. Die Sonne schien wie bei der Abfahrt. Sie brannte wieder. Normal. Unbarmherzig normal!
Gerhard schüttelte den Kopf. Er wandte sich an Chris:
„Besorge später ein Nachtglas, damit ihr mich beim Übersetzen über den Fluss auch findet. Und eine Taschenlampe. Ich melde mich dann aus Thailand mit den notwendigen Instruktionen, wie und wo Ihr mich finden werdet! Es wird Zeit, hier weg zu kommen. Für alle “
*****
In Phonsavan angekommen, fuhren sie zu Herrn Lia Thao. Chris fragte ihn sofort: „Können wir uns übermorgen früh auf den Weg machen? Wir sammeln die Leute ein. Dann geht es auf dem kürzesten Weg zur Grenze. Wir haben neue alte Kleidung gekauft. Damit hält sie jeder für Thailänder, für Touristen.“
„Übermorgen schon?“Er zögerte etwas. „Na gut. Bringen Sie das Geld mit. Aber keine Kip, sondern US Dollar.“
Chris fuhr fort. „Übrigens: Der Onkel wird doch noch heute Nachmittag wegfliegen. Ihr Buchungscomputer funktioniert nicht richtig. Wir waren in dem Reisebüro zwei Strassen weiter. Die Dame dort hat viele freie Plätze gefunden, und direkt das Ticket ausgestellt.“
Lia Thao wirkte überrascht, dann verärgert. Doch nach wenigen Sekunden lächelte er wieder. Er war schließlich Asiat.
*****
Sie kehrten ins Hotel zurück. Gerhard packte, und nahm ein Taxi zum Flugplatz von Phonsavan. Als die Maschine abhob, atmete er tief durch.
Die Anschlussflüge erreichte er ohne Probleme. Um zehn Uhr abends verließ er das Flughafengebäude des Regionalflughafens von Loei und nahm ein Taxi zum Loei Town Hotel. Während der Fahrt betrachtete er interessiert das quirlige Leben und verglich diese Kleinstadt mit dem doppelt so großen Phonsavan.
Der Unterschied war auch nachts beeindruckend.
Loei war eine durchschnittliche thailändischen Stadt. Saubere, beleuchtete Straßen führten zu gepflegten Häusern, die keineswegs als groß und luxuriös bezeichnet werden konnten. Doch überall erkannte man Bemühen und Eigeninitiative der Einwohner, ihr Eigentum zu pflegen.
Bei weitem nicht alle Häuser waren aus Stein gebaut. Aber selbst kleine Holzhäuser oder Hütten wirkten gepflegt und sauber. Häuser Straßen und Wege waren mit Blumenpflanzen, Zierbüschen und Sträuchern dekoriert. Wenn kein Platz für einen Garten vorhanden war, griff man auf Pflanzkübel oder Blumentöpfe zurück. Die Straßen waren asphaltiert. Keine Schlaglöcher, kein Staub und kein Müll behinderte den Verkehr.
Er betrat das Mittelklassehotel. Hier war der Unterschied zu Phonsavan besonders frappierend. Das gepflegte Haus war liebevoll ausgestattet. Keine schlafenden, unfreundlichen Rezeptzionisten, Wachleute, oder Bedienstete trübten den Eindruck, willkommen zu sein.
„Ich möchte ein Ferienhaus am Mekong mieten“ erläuterte er dem zuvorkommenden Rezeptzionisten, „können Sie mir helfen?“
„Mein Herr, viele Häuser sind frei. Suchen Sie sich etwas Schönes raus.“
Er zeigte auf einen Ständer mit bunten Reklamebroschüren.
Gerhard suchte sich vier Prospekte verschiedener Unternehmen heraus, die auf die Vermietung von Ferienhäusern am Mekong spezialisiert waren. Er würde morgen früh dort anrufen und ein geeignetes Haus am Fluss suchen.
Da es noch nicht spät war, machte er sich auf zu einem kleinen Spaziergang.
Neben dem Hotel lud ein gepflegter Park Passanten zum Verweilen ein. Selbst um diese vorgerückte Stunde war die Grünanlage noch gut bevölkert. Auf bunten Parkbänken saßen Liebespaare und ältere Herrschaften. Kinder tollten, spielten und lachten an einem alten Springbrunnen, in dessen Mitte sich ein Monument des Königs Rama V. stand. Eine Messingtafel verkündete dem Fremden, dass dieser Park von der Schwester des thailändischen Königs gestiftet war.
Habe ich in Laos je einen Springbrunnen gesehen? Lachende Kinder, scherzende Erwachsene?
Auf einer großen Wiese fand ein Fußballspiel Jugendlicher statt. Große blühende Ligusterhecken wechselten sich mit weißen, rosa und roten Bougainvilleasträuchern ab. Einzelne Palmen, an denen sich Orchideen hoch hangelten, rundeten das Bild eines gepflegten Gartens ab. Er setzte seinen Spaziergang fort.
Nach drei Minuten umfing ihn das In Thailand übliche Nachtleben. Er setzte sich an einen der vielen Imbissstände. Tische und Stühle waren sauber – wieder verglich er alles mit dem maroden Phonsavan. Er bestellte eine Suppe und Mineralwasser. Eine freundliche Bedienung brachte ihm unaufgefordert die englischsprachige Tageszeitung ‚Bangkok Post’.
Er las, dass in der nahegelegenen Stadt Udon Thani ein modernes Krankenhaus und letztes Jahr eine neue Universität vom Königshaus gestiftet wurden. Er hatte früher oft gelesen, dass in Thailand Schulen, Waisenhäuser, Tempel, Klosteranlagen, Universitäten und Krankenhäuser von Mitgliedern der Königsfamilie finanziert und unterhalten wurden.
Laos dagegen, wo er gerade herkam, war vergleichbar mit armen Regionen von China, Burma und Cambodia. Derartige Einrichtungen wurden dort ausschließlich mit Hilfe von Spendengeldern wohltätiger westlicher Hilfsorganisationen oder aus Entwicklungshilfeetats dieser Länder errichtet. Die reichen Familien dieser Länder legten ihr Geld lieber im westlichen Ausland an.
Ab und zu gingen Bettler langsam durch die Tischreihen. Sie schnorrten nicht aufdringlich nach Geld, sondern versuchten aus Papier, Stroh oder anderen billigen Materialien selbst gebastelte Blumen, Tiere oder einfache Spielsachen an den Mann zu bringen. Betteln mit Stil!
Kein Vergleich zu den vielen Bettlern jeden Alters in Laos, die in zerlumpter Kleidung unterernährte, kranke oder verkrüppelte Kinder präsentierten, um Mitleid und Hilfsbereitschaft zu erregen.
Wenn Thailand als Nation der dritten Welt bezeichnet wird, gehört Laos der Fünften an!
Er zahlte und ging ins Hotel zurück.
*****
Am nächsten Morgen mietete sich Gerhard einen Jeep. Er fuhr ins Hotel zurück und telefonierte. Beim zweiten Maklerbüro, das er anrief, sprach man englisch. Er wurde mit einer freundlichen Dame verbunden.
„Ich suche für eine Gruppe von neun Deutschen ein Haus. Die Leute werden in den nächsten Tagen ankommen, um am Mekong an einem abgeschiedenen Platz einen zweiwöchigen Angelurlaub zu verbringen. Wir wollen im Mekong Fische fangen. Er soll ein ertragreiches Angelrevier darstellen.“
„Sie liegen genau richtig. In dem Fluss gibt es die größten Welse der Welt. Auch andere Fischarten findet man im Überfluss. Sie werden nicht enttäuscht sein! Ich hole Sie gerne in ihrem Hotel ab und werde Ihnen entsprechende Objekte vorstellen.“
Wenig später holte ihn die Maklerin im Hotel ab und zeigte ihm ein geeignetes Objekt. Zufrieden bezahlte er die Miete für vier Wochen im Voraus.
Die Dame sagte zu, dass ihm am Nachmittag ein acht Meter langes Boot zum Angeln am Anlegesteg des Hauses übergeben würde.
Er kaufte ein neues Handy, und rief Chris an.
„Ich habe das Haus gefunden. Es ist ideal für unsere Zwecke. Ein acht Meter langes Boot wird heute Nachmittag hingebracht. Damit werde ich die Gegend erkunden. Ihr könnt kommen.“
„Gut, wir werden morgen früh aufbrechen. Am Abend werden wir den Fluss erreichen. Wo genau sollen wir hinkommen? Wo ist der Treffpunkt?“
„Sage dem Herrn Lia Thao, er soll Euch fünf Kilometer nördlich von Muang Palxxan direkt am Flussufer absetzten. Genau dort, am anderen Ufer liegt dieses Haus.“
„Du sorgst für Getränke und Essen?“
„Ich habe einen Jeep gemietet. Morgen früh gehe ich auf Einkaufstour. Ich werde Euch am laotischen Ufer abholen.“
„Gut. Also alles im grünen Bereich?“
„Alles grün!“
*****
Am nächsten Morgen holte Lia Thao Chris am Hotel ab. Nach einer Stunde parkten sie auf dem leeren Waldparkplatz. Es dauerte eine Minute, bis Bewegungen zwischen den Bäumen wahrzunehmen waren.
Fast gleichzeitig rannten die Flüchtlinge auf die geöffnete Schiebetür des Minibusses zu. Die Frauen mit den Kindern nahmen hinten Platz. Es folgten die Männer auf den vorderen Sitzen.
Lia Thao fuhr langsam an. Er streckte Chris die Hand entgegen: „Das Geld bitte.“
Chris zählte 700 US Dollar neben sich auf die Sitzbank. Er legte das Geld zusammen, und reichte es an Lia Thao, der es mit einem Kopfnicken in seine Hosentasche steckte.
Chris sah hinter sich. Er grüßte, und betrachtete die Mitfahrer genauer. Die Frauen hatten sich viel Mühe mit dem Ändern der Kleidung gemacht. Die Männer waren rasiert; die Haare waren geschnitten.
Wenn die Polizei nicht nach Papieren fragt, muss alles in Ordnung gehen. Sie sehen aus wie durchschnittliche thailändische Touristen.
Er sagte: „Also dann: Auf zum Fluss.“ Die Fahrt in die Freiheit begann.
*****
Die Landschaft war gebirgig. Tiefe Täler wechselten sich mit atemberaubenden Berghöhen ab. Die kurvenreiche, enge Straße zwang zu langsamer Fahrt. Oftmals stiegen auf einer Seite der Straße Berge fast senkrecht an. Auf der anderen Straßenseite taten sich tiefe, beinahe senkrechte Schluchten auf.
Chris blickte nach hinten. Er sah freundliche Gesichter. Er entspannte sich, plauderte. „So sind viele Strassen in Südamerika, die durch die Anden führen. Man ist dem Himmel nah. Wenn man nach unten schaut, blickt man in die Hölle. Es kann einem Angst und Bange werden!“
Zwei Stunden nach der Abfahrt hielten sie an einem Militärposten. Keiner der Soldaten wollte seinen schattigen Platz unter einem alten Sonnenschirm verlassen. Unkontrolliert winkte man sie durch.
Nach vier Stunden legten sie an einer Raststätte einen Stopp ein. Alle bis auf Lia Thao stiegen aus. Chris ging in den angeschlossenen Supermarkt und kaufte Bananen, Wasser und Milchgetränke für die Kinder.
Vor ihnen lagen noch etwa 200 Kilometer, also mindestens weitere vier Stunden bergauf und bergab auf der kurvenreichen, gefährlichen Strecke.
*****
Zwei Stunden später kam ein weiterer Kontrollposten in Sicht. Einer von zwei Soldaten näherte sich auf der Fahrerseite dem Bus und sprach mit Lia Thao. Er umrundete das Auto und sah Chris an. „Passports, please.“
Der Soldat blätterte in dem Pass, und steckte ihn in die rechte Hosentasche.
“No, no,“protestierte Chris.
Der Soldat murmelte etwas und ließ seinen Blick wissend über die restlichen Insassen schweifen: „Your Lao travel permit.“
Die hinten sitzenden H’mong sahen sich an.
Der Soldat ließ sein am Trageriemen geschultertes Gewehr zur Seite gleiten und brachte es in Anschlag. Der zweite Posten am Straßenrand stand auf.
Chris drückte den Türöffner blitzschnell nach vorne, und trat mit aller Gewalt von innen gegen die Tür. Sie sprang mit einem Ruck auf. Der obere Fensterrahmen knallte mit voller Wucht dem Soldaten ins Gesicht. Der untere Teil der Tür traf den Uniformierten am Bauch.
Sein Gewehr polterte zu Boden. Der Soldat ging rückwärtstaumelnd in die Knie.
Chris sprang aus dem Bus. Er hob das Gewehr, das neben dem Soldaten am Boden lag, auf und hieb ihm mit Schwung den Schaft auf den Kopf. Der Uniformierte sank mit leisem Stöhnen in sich zusammen.
Lia Thao rief dem zweiten Posten etwas zu. Chris sah ihn durch die Frontscheibe vor dem Bus herbeistürmen. Der Soldat trug sein Gewehr in beiden Händen, den Lauf nach vorne gerichtet.
Chris reagierte blitzschnell. Er zog den Sicherungshebel der Waffe in seinen Händen nach unten und ging in die Hocke. Als der Soldat um die vordere Ecke des Busses stürmte, schoss er auf einen Oberschenkel des Mannes.
Der Getroffene sackte zusammen. Er umklammerte jammernd sein Bein. Sein Gewehr fiel Chris vor die Füße. Der hob es auf und sah zum Fahrer.
Lia Thao war über dem Lenkrad zusammengesunken. Seine Augen blickten ins Leere. Aus seinem Rücken ragte der Griff eines Messers.
Ler schrie auf ihn ein. Sein Gesicht war vor Wut verzerrt. Aus Lia Thao’s Mund tropfte blutiger Schaum. Er war tot. Chris trat an den Fahrersitz.
„Er hat uns verraten.“ In Ler’s Stimme schwang Ekel mit. „Er hat den zweiten Soldaten gewarnt. Bevor er starb, hat er es zugegeben. Man hat ihm Geld versprochen.“
*****
Ungefähr 500 Meter vor dem Bus fuhr ein Militär-LKW aus einem Seitenweg auf die Strasse. Beschleunigend hielt er auf den Bus zu.
„Wir müssen weg,“ schrie Ler.
Chris bückte sich. Er zog seinen Pass aus der Hosentasche des ersten Soldaten, der leise aufstöhnte. Chris reichte beide Gewehre an Ler. Er öffnete die Fahrertür und zog Lia Thao vom Fahrersitz.
Der Verräter fiel zu Boden.
Panisch sprang er auf den Fahrersitz, trat die Kupplung durch und knallte den Rückwärtsgang ein. Er trat das Gaspedal durch, ließ die Kupplung zurückschnellen und drehte wie ein Irrer das Lenkrad bis zum Anschlag nach links.
Der Minibus beschrieb schleudernd einen Viertelkreis rückwärts und rammte hinten in die Böschung.
Chris lenkte nach rechts. Der Bus schlingerte auf die Straße zurück und beschleunigte in die Richtung, aus der sie gekommen waren.
Der LKW war bis auf 200 Meter herangekommen. Er machte eine Vollbremsung vor den beiden Soldaten am Boden. Vier Uniformierte sprangen von der Ladefläche, warfen die beiden Kameraden auf die Pritsche, und kletterten in Windeseile zurück. Der LKW nahm wieder an Fahrt auf.
Ler stieg von hinten auf den Beifahrersitz, eines der Gewehre in der Hand. Der Vorsprung zum LKW vergrößerte sich. Ler sah zurück. Ein weiterer H’mong zog das seitlichen Schiebefenster hinter Chris auf. Er hatte das zweite Gewehr in der Hand.
„Mach’ jetzt langsamer, Chris. Fahr’ in Schlangenlinien. Lass’ sie herankommen.“
„Gut! Zielt genau!“
Chris trat auf die Bremse und wedelte im Zickzack über die schmale Straße. Er beobachtete den näherkommenden LKW durch den Rückspiegel.
Über dem Führerhaus des LKW hatte sich eine Luke geöffnet. Zwei Soldaten legten ein Maschinengewehr in eine Halterung im Dach.
Aus dem Beifahrerfenster schoss der begleitende Offizier mit einer Pistole auf den in Schlangenlinien fahrenden Minibus. Eine Kugel durchschlug das Rückfenster. Es zerbarst in tausend Teile.
„Köpfe einziehen!“ brüllte Chris nach hinten.
Ler und der andere H’mong beugten sich aus ihren Fenstern. Sie visierten den LKW mit ihren Gewehren an.
Ler schrie: „Stopp!“ als der Minibus stand, rief er: „Jetzt!“
Beide H’mong schossen gleichzeitig. Der LKW schlingerte mit zerschossenen Vorderreifen in die rechts ansteigende Böschung. Mit unveränderter Geschwindigkeit raste er wieder auf die Strasse zurück.
Er überquerte sie schleudernd und sauste auf die Leitplanke zu, welche die Strasse vom Abgrund trennte. Er durchbrach sie mit einem dumpfen Knall und verschwand im steil abfallenden Busch.
Die Insassen des Busses stiegen aus. Sie schauten gebannt in die Tiefe. Der Hang fiel zweihundert Meter fast senkrecht abwärts.
Der LKW polterte sich überschlagend den Steilhang hinab. Zweimal prallte er auf Felsen auf und riss grosse Gesteinsbrocken mit sich. Infernaler Lärm begleitete eine abwärts donnernde Steinlawine. Mit einer dumpfen Explosion schlug der LKW in einen schmalen Fluss, der die Talsohle durchschnitt. Um ihn herum prasselten Felsbrocken nieder.
Wütendes Affengeschrei vermischte sich mit dem empörten Kreischen aufflatternder Vögel.
*****
Chris atmete durch.
„Was machen wir jetzt?“ fragte er Ler.
„Muang Palxxan können wir vergessen. Dieser miese Verräter hat sicher preisgegeben, wo wir die Grenze überqueren wollten. Wir sollten es bei Ban Simano versuchen. Das liegt ungefähr zwanzig Kilometer weiter nördlich. Es wird uns zwar zwei oder drei Stunden kosten. Aber wenn wir den Weg von Norden über Vientiane nehmen, ist es sicherer für uns.“
„Ich kenne mich hier nicht aus.“
„Das ist kein großes Problem. Früher war ich hier öfter unterwegs.“
„Schau im Handschuhfach nach, vielleicht ist da eine Karte.“
Ler fand eine Straßenkarte, die er aufmerksam studierte. „Viel verändert hat sich hier nicht. In ungefähr einer Stunde werden wir in Don Noun sein. Wir biegen in Richtung Vientiane ab, und verlassen zehn Kilometer vor der Stadt die A 13 in Richtung Dongphusy und Ban Simano. Dann sind wir am Fluss.“ Er blickte hoch. „Dort kann Dein Onkel uns abholen. Er muss auf dem Fluss zehn Kilometer weiter westlich fahren.“
„Na dann los.“ Chris fuhr vorsichtig an. „Ist Dir klar, dass wir vorhin wahnsinniges Glück hatten. Seit wann wusstest Du, dass Lia Thao uns verraten hat?“
„Es war reiner Zufall. Als ich von der Toilette kam, war er schon zurück. Er telefonierte und sah mich nicht kommen. Ich hörte, wie er sagte: ‚Ja, elf H’mong und ein Weißer.’ Als er mich erblickte, erschrak er und verstummte.“
Chris schüttelte den Kopf. „So ein Schwein!“
„Ich war mir noch nicht sicher. Als der erste Soldat zu Boden ging, hat er den zweiten Soldaten gewarnt. Jetzt war es klar. Bevor ich ihn tötete, habe ich ihn gefragt: ‚Warum?’ Er hat es für Geld getan. Er hat seinen Stamm verraten. Die Geister werden zornig sein. Sehr zornig!“
*****
In einem kleinen Wald hielt Chris an der Straßenseite. „Machen wir eine kurze Pause. Du solltest weiterfahren. Ein Weißer, der einen Bus voller Asiaten fährt, ist auffällig. Wir sollten versuchen, andere Nummernschilder zu bekommen. Vielleicht fahndet man nach uns.“
Die Landschaft wurde eben. Bis zum Horizont erstreckten sich lang gezogene Reisfelder. Rechts und links der Straße standen vereinzelt Häuser.
Chris schaute auf seine Uhr. „Wann kommen wir nach Vientiane?“
„Wir sind in Vientiane. Wenn Du ein Stadtzentrum mit Hochhäusern wie in westlichen Hauptstädten erwartest, wirst Du enttäuscht sein. Im Zentrum gibt es kaum Häuser mit mehr als fünf Stockwerken. Hochhäuser wirst Du vergeblich suchen. Auch mitten in der Stadt haben viele Viertel ihren ländlichen Charakter bewahrt.“
Ler bog an der nächsten Kreuzung in Richtung Dongphusy ab. Rechts sahen sie ein großes Einkaufszentrum.
„Fahr bitte langsam um dieses Gebäude herum. Wir suchen eine Tiefgarage,“ bat ihn Chris.
Auf der Rückseite führte sie eine steile Abfahrt unter die riesige Shopping-Mall. Ein uniformierter Wächter salutierte und reichte durch das offene Fenster ein Parkticket.
Chris dirigierte Ler zu einen ruhigen Parkplatz neben einem anderen Minibus; weit entfernt von Ein- und Ausfahrt.
Chris stieg aus. „Wartet hier. Ich bin gleich zurück.“
Er fuhr mit dem Aufzug nach oben. Zehn Minuten später kam er mit einem Schraubenzieher und einer Zange zurück.
Er schraubte von beiden Minibussen die vorderen und hinteren Nummernschilder ab und vertauschte sie.
Als er das zweite Schild an Lia Thao’s Bus fixiert hatte, hörte er hinter sich das Geräusch von Stiefeln.
Ein Wächter kam auf ihn zu. Er sah in den Bus und betrachtet die zerschossene Heckscheibe. Er stellte sich breitbeinig vor Chris. Mit einem Handzeichen forderte er ihn auf, sich aufzurichten. In barschem Befehlston redet er auf ihn ein und zeigte wütend in Richtung Ausgang.
Chris blickte suchend in Richtung Fahrersitz. Seine Gedanken rasten. Die Fahrertür stand offen. Panik überkam ihn. Ler war verschwunden.
Wo war Ler?
Verzweifelt sah Chris zu dem Wachmann, der ein Sprechfunkgerät in der Hand hielt. Von oben drang Verkehrslärm in die Garage.
Im selben Moment sah er Ler von hinten um den Minibus herum schleichen. Ein gewaltiger Satz vorwärts ließ Ler gegen den Rücken des Wachmannes prallen. Seine Hände umkrallten dessen Hals. Ein scharfer Ruck riss den Kopf nach hinten.
Ler richtete sich auf. Der Wächter lag reglos vor ihm. Er schleifte den schlaffen Körper zur offenen Seitentür des Busses. Chris zitterte und beobachtete den H’mong.
Ler sah ihm in die Augen. „Er hat Dich beobachtet. Er hat Dich angewiesen, mit ihm ins Wachhaus kommen. Er hat Pech gehabt. Es musste sein. Hilf mir, ihn in den Bus zu legen, und dann weg von hier.“
Chris rührte sich nicht von der Stelle. Ler wuchtete den Oberkörper alleine in den Wagen. Von Innen zerrten eifrige Hände den leblosen Körper in den Fußraum vor der ersten Sitzbank.
Ein furchtbarer Hieb mit dem Schaft eines der erbeuteten Gewehre traf den Kopf des Wachmannes. Er wurde mit Tüten und Jacken bedeckt.
Zwei Männer im Bus hielten die erbeuteten Gewehre in der Hand. Die Läufe zeigten auf den Wachmann.
Ler führte Chris, der wie in Trance neben dem Bus stand, zum Beifahrersitz. Er half ihm hinauf, drückte ihn in den Sitz und schloss die Tür. Er umrundete das Fahrzeug, stieg ein und fuhr langsam los. Am Ausgang bezahlte er, fuhr die steile Auffahrt hinauf, und fädelte sich in den fließenden Verkehr ein.
*****
Chris saß schweigend da, den Blick starr nach vorne gerichtet. Von hinten klopfte ihm eine Hand beruhigend auf seine Schulter. Eine zweite Hand kam über die andere Schulter und hielt ihm eine kleine, offene Plastikflasche unter die Nase.
Er erkannte den Geruch. Es war der scharfe Schnaps, den er damals am Feuer getrunken hatte. Zitternd griff seine Hand zu. Er nahm einen tiefen Schluck. Es brannte wie damals.
Er holte tief Luft. Das Leben kam zurück. Er drehte sich nach hinten: freundliche, dankbare Augen ruhten auf ihm. „Danke.“ flüsterte er, „danke!“
Er sah nach draußen. Sie waren wieder auf dem Land. Vereinzelt standen kleine Häuser abseits der Straße. Ler bog ab in einen schmalen, baumbestandenen Seitenweg.
Er versenkte den Körper des toten Wachmannes in einem Wasserkanal am Rande des Weges.
Langsam fuhr er auf die Straße zurück. Die Fahrt ging weiter.
Die ersten Lampen flammten auf. Die Dämmerung senkte sich friedlich über die fruchtbare Ebene. Reisfelder, von schlanken Baumreihen eingefasst, erstreckten sich bis zum Horizont. Enten und Wasserbüffel bevölkerten Felder, die noch unter Wasser standen. Aus anderen Feldern leuchteten hellgrün junge Reißprösslinge in gelb glitzerndem Wasser.