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Die Frau im Schnee
ОглавлениеEr hing mit dem Gesicht fast an der Scheibe.
Im Radio hatten eine Wetterwarnung durchgegeben: „Es ist vereinzelt mit Schneeregen zu rechnen. Fahren Sie bitte langsam. Stellen Sie sich mit Ihrer Fahrweise auf Straßenglätte ein.“
Aber er musste noch heute nach Dudweiler – nur zehn km werden leicht zu schaffen sein. Eine halbe Stunde maximal. Der Kunde wollte die Versicherung abschließen.
Er verringerte die Geschwindigkeit – 15 km zeigte der Tacho an. Er überlegte kurz – sollte er zurückfahren? Nein.
Der Niederschlag war in Schnee übergegangen. Die Dämmerung war der grauen Nacht gewichen.
Wenn es nur nicht anhält, dieses verdammte Wetter.
Seine Augen wurden müde. Er blinzelte in die Nacht, die langsam die Oberhand gewann.
Da sah er sie am Straßenrand stehen. Der rechte Arm war ausgestreckt, die kleine Faust geballt und der Daumen nach oben gestellt.
Normalerweise nahm er keine Tramper mit, aber heute hielt er ausnahmsweise an.
„Ich fahre nach Dudweiler, Sie können ein Stück mitfahren“, sagte er mit fester Stimme.
Sie nickte, stumm, öffnete die Beifahrertür. Er sah sie genauer an. Tränen liefen ihr über die Wangen, aber sie setzte sich schnell auf den Beifahrersitz und wischte sich mit einem Taschentuch energisch die Augen trocken.
Sie drehte sich zum rechten Fenster, sah hinaus.
Er gab Gas, wurde aber sofort wieder langsamer. Die Räder hatten durchgedreht – langsam, langsam. Sonst kommst Du nie an.
Er sah ihr direkt in die Augen, als sie sich ihm zuwandte und mit weinerlicher Stimme sagte „Mein Mann hat mich wieder geschlagen. Ich kann nicht mehr zurück.“
„Ich werde sie bei der Polizei raus lassen“
„Nein, nicht die Polizei. Die bringen mich doch wieder zurück, und dann geht der Mist von vorne los.“
„Aber es wird Nacht – gut, Sie können noch etwas warten, wenn ich meinen Kunden berate. Aber eine Stunde, dann werde ich Sie rauswerfen. Ich muss heim.“
Nach zehn Minuten fuhr er rechts ran und stieg aus. Ein Blick auf die Armbanduhr: halb sieben
„Bis gleich, dann ist Sense, so oder so.“
Der Kunde war nicht zu Hause. Er schellte auch an den beiden anderen Hausklingeln. Nichts. Wie ausgestorben das Haus.
Er kam zum Auto zurück und setzte sich auf den Fahrersitz. „Ich warte jetzt noch eine viertel Stunde. Der Kunde wird sich verspätet haben,. Dann fahre ich Sie zur Polizei. Ich muss nach Hause.“ Seine Stimme klang entschlossen.
Sie schluchzte lauter und schüttelte sich.
Unter Tränen stammelte sie: „Kann ich noch eine Stunde warten – hier im Auto?“
„Es ist zu kalt, sie werden sich erkälten.“
„Das ist egal“, stammelte sie.
Er sagte bestimmt: „Nein, das ist nicht egal.“
Er betonte das „nicht“. Seine Stimme klang gereizt, vielleicht zu gereizt.
Aber das war jetzt auch gleichgültig. „Ich muss nach Hause. Gleich.“
„Und wenn Ich mit Ihnen komme. Ich werde Ihre Frau nicht stören“
„Ich habe keine Frau mehr – ich bin seit zwei Jahren geschieden“
„Oh, das tut mir leid.“
„Das braucht Ihnen nicht leid zu tun. Sie ist weg, weg mit einem anderen.“
„Kann ich nicht doch mit Ihnen kommen, nur für eine Stunde. Vielleicht – vielleicht weiß ich dann, was ich tun soll.“
„Na ja, ist ja auch egal. Wenn Sie unbedingt wollen, können Sie mitfahren.“
Eine halbe Stunde später waren sie vor seinem Haus angekommen.
Der Schnee fiel inzwischen dichter, noch dichter und bildete eine geschlossene Schneedecke. Er hielt langsam an, ließ den Wagen ausrollen.
Beide stiegen vorsichtig aus.
„Ich gehe voran“, murmelte er. Sie nickte, umrundete das Auto und folgte ihm.
Sie betraten das Haus – es war gut beheizt.
Er knipste in Diele und Wohnzimmer das Licht an.
Sie betraten das Wohnzimmer. „Kommen Sie“, sagte er, als er sah dass sie zögerte.
„Hier“ Er ging voran
„Mein Gott, Sie haben ja nasse Haare“ Sein prüfender Blick glitt an ihr herunter.
„Und ihr Kleid ist auch nass.“
Er ging ins Badezimmer und kam mit einem frischen Handtuch zurück.
„Trocknen Sie Ihre Haare – Sie holen sich ja den Tod“.
„Nein, kommen Sie mit ins Badezimmer und ziehen sie sich den Bademantel über. Das ist besser.“
Nach fünf Minuten im Badezimmer erschien sie wieder. In seinem Bademantel.
„Ich habe mein Kleid über den Heizkörper gelegt. Zum Trocknen“
Die Haare standen ihr zu Berge. Offenbar hatte sie sie trocken gerubbelt.
„Sie sind ein guter Mensch“, sagte sie, als sie neben ihm stand. Ein schüchternes Lächeln stand ihr im Gesicht. „Ein guter Mann! Mein Mann schlägt mich immer wieder, besonders wenn er betrunken ist. Und er ist oft betrunken – er ist arbeitslos. Schon seit zwei Jahren. Ich halte das nicht mehr aus, nicht mehr.
Kann ich mich setzen?“
„Bitte, entschuldigen Sie, ja, selbstverständlich“
Als sie saß, musterte er sie verstohlen. Das Gesicht war passabel, nicht ohne Reize. Kurze rehbraune Haare. Dunkelbraune Augen. Ihre Grösse schätzte er auf 1,65. ihr Alter auf etwa dreissig Jahre. So musste jetzt seine Frau wohl ähnlich aussehen, aber sie war weg. Er hatte sie seit zwei Jahren nicht mehr gesehen, seit sie in diese Kleinstadt in Süddeutschland gezogen war. Zu ihrem neuen Freund – oder inzwischen ihrem Mann. Zuzutrauen war es ihr, dass sie inzwischen wiederverheiratet war, ohne ihn verständigt zu haben.
Er setzte sich in den großen Sessel – seinen Lieblingssessel.
„Wollen Sie etwas trinken?“
Sie zögerte.
„Tee, Wasser, Bier, Wein?“
„Wasser“
Sie stand auf, er ebenfalls.
„Bitte bleiben Sie sitzen. Ich hole Wasser. Ist das die Küche?“
Sie zeigte zur Küchentür und sah ihn an. Er nickte. Sie verschwand in der Küche. „Wollen Sie auch was?“, rief sie.
Ja, ein Bier. Ist im Kühlschrank.
Er hörte sie hantieren. Die Kühlschranktür öffnete sich und fiel wieder zu.
Sie kam zurück ins Wohnzimmer und stellte eine Flasche Bier und ein Glas vor ihn auf den großen Tisch. Dann ging sie noch einmal und kam mit einem Glas Wasser zurück. Sie setzte sich und sah zum Boden.
„Sie sind ein guter Mann. Dass ich Sie heute hier überfalle, tut mir leid. Ich konnte nicht mehr zu Hause bleiben. Sehen Sie.“ Sie hob die Haare über dem rechten Auge. Er sah die blutunterlaufene Schwellung. Dick, unübersehbar, sehr dick.
„Wir sollten Sie ins Krankenhaus bringen. Vielleicht ist etwas gebrochen oder Sie haben eine Gehirnerschütterung. Für alle Fälle.“
„Nein, das ist nicht nötig. Danke. Er schlägt mich öfter. Überall hin. Sehen Sie.
Hier und hier und hier.“
Sie zeigte auf mehrere Stellen an den Armen.
„Deshalb kann ich nicht mehr zurück.“
„Es gibt irgendwo ein Haus für misshandelte Frauen. Wenn es zu schneien aufhört, werde ich Sie dorthin bringen, wenn Sie nicht zur Polizei wollen. Das ist die beste Lösung. Oder haben Sie sonst jemanden“
„Ja, Anna, meine beste Freundin. Ich habe auch eine Tante in Frankfurt. Die würde mich auch aufnehmen. Dort könnte ich bleiben, auch länger, wenn es sein müsste.“
Sie schwiegen beide.
Er stand auf und schaute zum Fenster hinaus. Immer mehr Schnee.
„Jetzt fahren zu wollen, wäre Wahnsinn. Ich habe oben ein Gästezimmer, da können Sie über Nacht bleiben, wenn Sie wollen. Bis morgen früh, dann müssen Sie gehen.“
Sie nickte, lächelte wieder: „Das ist sehr, sehr nett von Ihnen. Ich wüsste nicht, was ich sonst machen sollte. Vielen Dank! Mein Name ist übrigens Ilona, Ilona Steinfurt.“
Sie stand auf, ging zu ihm und hielt ihm die Hand entgegen.
Er erhob sich, nahm ihre Hand, schüttelte sie vorsichtig und sagte „Frings, Gerhard Frings, sehr angenehm. Jetzt habe ich aber doch Hunger. Wollen wir etwas essen gehen?“
Sie sah zum Fenster, wollte etwas sagen, aber er schnitt ihr die Worte ab.
„Vier Häuser weiter ist ein Gasthaus. Wenn es auf hat, können wir dort was essen“
Er ging zum Fenster und sah hinaus.
„Bingo, wir haben Glück, es ist offen.“
„Gut, ich schaue nach meinem Kleid – es dürfte inzwischen trocken sein. Haben Sie einen Kamm für mich?“
„Im Badezimmerschränkchen muss einer sein“
„Danke, Sie sind sehr nett, aber das habe ich schon gesagt!“
Sie verschwand für fünf Minuten im Badezimmer. Als sie wieder erschien, sah sie richtig adrett aus.
Er hielt einen Kapuzenanorak in der Hand. „Nehmen Sie den; er ist alt, aber trocken. Können wir jetzt gehen, nicht dass die noch zumachen.“
Nach drei Minuten betraten sie die Gaststube. Zwei Tische waren besetzt.
Es war warm und gemütlich. Sie nahmen Platz
Nach einer umfangreichen Abendmahlzeit bestellte er sich ein Bier und lud sie zu einem Glas Rotwein ein. Dankend lehnte sie ab und bestellte sich auch ein Bier. „Rotwein ist zu stark für mich. Ein gebranntes Kind scheut das Feuer. Mein Mann trinkt immer Rotwein und Schnaps. Dabei rastet er immer öfter aus. Die Ergebnisse sehen sie an meinem Auge und an meinen Armen. Ich halte es nicht länger aus.“
Nach einer Pause fuhr sie fort: „Wäre es zu viel verlangt, wenn ich Sie bitte, mich morgen früh kurz nach Hause zu fahren. Ich müsste ein paar Sachen packen und dann schnell wieder weg. Ich will morgen zu meiner Tante nach Frankfurt. Sie freut sich immer, wenn sie mich sieht.“
Er lehnte sich zurück. „Morgen ist Samstag, da habe ich frei. Also kein Problem.“
„Wenn mein Mann Sie sieht, wird er mich nicht schlagen; Sie sind groß und stark. Dann brauche ich auch keine Angst vor ihm haben. Wenn Sie dabei sind...“ Sie schluchzte wieder, blickte zur Wand.
Er sagte: „Kommen Sie Ilona, wir wollen gehen. Sie machen bald zu hier und für Sie war das sicher ein harter Tag heute. Wir sind inzwischen die letzten Gäste.“
Der Wirt gähnte laut vernehmlich. Gerhard bat um die Rechnung.
Als er bezahlt hatte, standen sie auf. Sie verließen das Lokal.
Zu Hause angekommen, ging Gerhard vor zum Gästezimmer, nachdem er vorher in seinem Schlafzimmer einen neuen Pyjama geholt hatte. Er legte ihn auf das Gästebett und sagte: „Dahinten ist das Gästebad. Können wir uns darauf einigen, dass wir um halb acht aufstehen. Wir trinken dann in Ruhe Kaffee und schauen zu, dass wir gegen halb neun bei Ihnen zu Hause sind.“
Sie nickte wortlos und sagte dann: „Nochmal vielen Dank für alles und...“ Sie sprach nicht weiter, schüttelte den Kopf und zog die Tür zu.
Er legte sich in sein Bett, löschte das Licht und schloss die Augen. Er schlief nicht sofort ein, sondern ließ die heutigen Ereignisse noch einmal vor seinem inneren Auge Revue passieren. Die Frau tat ihm leid. Dann schlief er ein.
*****
Nach einer Stunde wachte er wieder auf. Er musste zur Toilette.
Auf dem Rückweg sah er den schmalen Lichtstreifen unter der Tür des Gästezimmers.
Sie hat vergessen, das Licht auszumachen.
Er ging zur Tür, und klopfte vorsichtig dreimal. Als er keine Antwort hörte, drückte er vorsichtig die Klinke nieder. Er schaute ins Zimmer: sie saß aufrecht im Bett.
„Sie können nicht schlafen. Kann ich verstehen. Aber morgen wird alles gut. Schlafen Sie jetzt.“
Sie schüttelte den Kopf – Tränen standen in ihren Augen.“ Er ist so gemein, so gemein“
Er ging zu ihr und streichelte ihr über den Kopf. „Morgen wird alles gut, Sie werden sehen.“
Statt einer Antwort hob sie ihm die Arme entgegen.“ Kommen Sie zu mir, Gerhard, und halten Sie mich fest, ganz fest!“
Aus dem Streicheln wurden Küsse, Küsse einer tiefen Lust
Gerhard verbrachte diese Nacht bei ihr, eine wunderbare Nacht, bei ihr.
*****
Am nächsten Morgen gegen halb acht standen sie auf. Nach dem Duschen bereitete Gerhard eine große Kanne Kaffee. Er las in der Tageszeitung, als sie in die Küche kam. Sie setzte sich neben ihn und goss Kaffee nach. Als sie sah, dass er ihrem Blick auswich, sagte sie leise: „Das mit heute Nacht braucht Dir nicht peinlich zu sein. Mir ist es auch nicht peinlich, überhaupt nicht peinlich. Mir hat es Spaß gemacht, großen Spaß sogar, nach so langer Zeit. Mein Mann und ich, wir haben schon lange nicht mehr zusammen geschlafen; mindestens ein Jahr. Es geht nicht mehr.“
„Ich verstehe, ja, es war schön, auch für mich. Ich wäre Dir dankbar, wenn wir uns bald auf den Weg machen könnten. Ich habe nachher noch einige Sachen zu erledigen, Sachen, die ich nur samstags erledigen kann.“
„Gut, dann gehen wir bald.“
Er stand auf. „Ich gehe schon vor, das Auto warmlaufen lassen. Die Heizung ist schwach. Dann wird es nachher schneller warm.“
Der Schneefall hatte aufgehört. Gerhard kehrte den Schnee vom Auto, während der Motor lief.
*****
Zehn Minuten später waren sie auf dem Weg zu ihr nach Hause. Es war nicht weit entfernt, aber der Schnee zwang Gerhard immer wieder zur Fahrt im Schritttempo.
„Hier vorne, da ist es“. Sie zeigte auf das nächste Häuschen, klein, aber schmuck. Gerhard stoppte den Wagen direkt vor der Garage.
„Sieht ganz nett aus.“
„Ja, ganz nett, nur nicht mehr lange. Wir können schon seit langem die Raten nicht mehr bezahlen.
Es kamen schon zwei Pfändungsdrohungen der Bank.“
Mit dem Hausschlüssel in der Hand ging sie auf die Haustür zu. Sie sagte zu Gerhard, während sie den Schlüssel im Schloss drehte, über ihre Schulter: „Komm“.
Gerhard folgte ihr ins Haus. Er hörte eine hasserfüllte Stimme.
„Da bist Du ja endlich. Na, hast Du schon einen Freier mitgebracht.“
Auf dem Treppenabsatz oben stand ein Mann, schwankend und undeutlich sprechend.“ Was willst Du hier?“
Er sah Gerhard bösartig an.
„Ihre Frau will ein paar Sachen holen, und dann gleich weg nach Frankfurt.“
„Ha, ha, wenn ich sie lasse.“
„Ihre Frau kann kommen und gehen, wann sie will,“ sagte Gerhard mit fester Stimme.
„So, kann sie das? Wenn ich sie lasse.“ Er schaute Gerhard direkt ins Gesicht.
„Was hast Du überhaupt zu suchen hier?
Wer bist Du?“
„Ich bin ein Bekannter Ihrer Frau. Sie bat mich, mitzukommen. Weil sie Angst vor Ihnen hat.“
„Aha, ein Bekannter also. Und Du denkst, Du kannst sie so einfach mitnehmen?
Einfach so?“
„Wenn Sie Schwierigkeiten machen, werde ich die Polizei rufen.“
Gerhard drehte sich zu Ilona und sagte mit leiser Stimme:
„Musst Du nach oben?“
Sie antwortete verängstigt: „Ja, oben ins Schlafzimmer.“
„Dann komm jetzt. Er wird Dir nichts tun.“
Er ging vor ihr her nach oben. Sie folgte zögernd.
Auf dem oberen Treppenabsatz stellte sich Gerhard neben ihren Mann. Er war etwas kleiner, schwankte und hatte eine starke Fahne, ob von Wein oder Schnaps oder beidem, vermochte Gerhard nicht einzuschätzen. Er roch erbärmlich nach Alkohol. Als die Frau den Treppenabsatz erreicht hatte, machte der Mann einen Schritt auf sie zu. Gerhard griff entschlossen nach seinem Arm, und hielt ihn fest. Er zog ihn zu sich heran, weg von der Frau. Da geschah es. Der Mann stolperte, und versuchte, sich am Geländer festzuhalten. Doch er verlor das Gleichgewicht und torkelte auf die Treppe zu. Er versuchte, wieder am Geländer Halt zu finden, aber er stolperte über seinen rechten Fuß. Er war zu betrunken für gut koordinierte Bewegungen und stürzte kopfüber die Treppe abwärts. Gerhard versuchte noch, ihn am Arm festzuhalten, doch da verlor der Mann endgültig den Halt. Mit einem Fluch ging er zu Boden, und stürzte kopfüber weiter abwärts. Er schlug mit der Stirn auf eine Kante und rutschte rückwärts den Rest der Treppenstufen, sich zweimal überschlagend, hinab. Am Fuß der Treppe blieb er liegen und bewegte sich nicht mehr.
Gerhard eilte die Treppe hinab, um zu helfen. Der Mann lag da, als schliefe er. Ein Zittern lief durch seinen Körper, dann lag er still. Sein Kopf war unnatürlich abgewinkelt, eine Augen geöffnet. Gerhard beugte sich zu ihm herab und suchte am verdrehten Hals seinen Puls zu erfühlen. Doch vergeblich. Er sah nach oben, wo Ilona mit weiten Augen ihn ansah.
„Er hat sich wohl das Genick gebrochen. Wir müssen die Polizei rufen“, sagte Gerhard mit heiserer Stimme.
„Bist Du sicher, dass er tot ist?“, fragte sie mit unsicherer Stimme.
„Ich fürchte, ja. Er ist fünf Meter die Treppe herabgestürzt. Der Kopf ist unnatürlich verdreht, die Augen sind geöffnet. Man spürt keinen Puls mehr. Wir müssen zur Polizei.“
„Nein, warte, nicht die Polizei. Sie werden Dich beschuldigen, dass du ihn mit meiner Hilfe die Treppe hinuntergeworfen geworfen hast.
Nein, nein, ich habe Angst. Lass uns überlegen, was wir tun können, um Probleme mit der Polizei zu vermeiden.“
„Wie meinst Du das?“
„Polizisten suchen immer einen Schuldigen, einen, dem sie schnell was anhängen können, auch wenn der oder die unschuldig ist. Ich habe meine Erfahrungen gemacht und gelernt. Es war schlimm für mich.
Er sah sie fragend und ungläubig an.
„Welche Erfahrungen hast Du gemacht?“
„Schlimme, ganz schlimme“
„Welche schlimmen Erfahrungen hast Du gemacht?“
„Darüber möchte ich nicht reden, jetzt noch nicht. Ich war halt, wie man sagt, am falschen Ort zur falschen Zeit.“
„Was ist da passiert?“
„Darüber möchte ich auch nicht reden, jetzt noch nicht. Vielleicht später einmal, doch, ganz sicher, später einmal.“
„Und jetzt willst Du überlegen, wie wir ‚Problemen‘ mit der Polizei aus dem Weg gehen“
„Es gibt immer einen Weg. Lass uns reden und überlegen.“
„Gut, lass uns reden und überlegen1“
„Aber nicht hier.“ Sie sah zu dem Toten hin.
„Ihm können wir nicht mehr helfen, wenn er tot ist. Und ich habe Angst vor ihm, auch jetzt noch. Können wir wieder zu Dir. Da ist es gemütlicher, viel gemütlicher.“
„Gut, fahren wir wieder zu mir nach Hause, wenn Du willst.“
„Ja, das ist besser. Und hierher wird niemand kommen – es kommt nie jemand hierher. Lass uns bei Dir nachdenken, was wir tun können.“
„Gut“.
*****
Als sie zu Gerhard nach Hause fuhren, taute der Schnee. Die Straßen waren mit dickem Schneematsch bedeckt. Gerhard war in Gedanken versunken.
„Jetzt haben wir uns strafbar gemacht. Wir haben einen Tatort verlassen.“
„Es war nur Notwehr. Du hast ihn nicht bedroht. Er war betrunken und aggressiv, er hat uns bedroht. Er wollte mir wehtun. Du hast es verhindert. Das war Dein Recht.“
*****
Bei Gerhard saßen sie im geräumigem Wohnzimmer.
Er begann das Gespräch. „Wie können wir dem Ärger mit der Polizei aus dem Weg gehen? Was denkst Du? Hast Du eine Idee?“
„Vielleicht ja. „
„Und wie genau willst Du vorgehen?“
„Nun, was wäre, wenn mein Mann verschwinden würde?“
„Wie willst Du ihn verschwinden lassen?“
„Wir können ihn beerdigen.“
„Wir können ihn nicht einfach zu einem Friedhof bringen.“
„Den Friedhof müssen wir vergessen. Wir können ihn in unserem Garten beerdigen.“
„Wie meinst Du das?“
„Zu unserem Haus gehört ein Garten. Er ist groß, ungefähr eintausend Quadratmeter groß. Wenn wir ihn dort beerdigen, wird er nie gefunden werden.“
„Und wenn die Polizei ihn sucht?“
„Ich kann zur Polizei gehen, und ihn als vermisst melden. Sie werden einen Ordner anlegen und die Vermisstenanzeige abheften. Es verschwinden immer wieder mal spurlos irgendwelche Leute. Sie werden denken: Ein Arbeitsloser mit Schulden weniger. Er wollte immer wieder nach Neuseeland oder sonst wohin auswandern. Wenn ich das zu Protokoll gebe, wird schnell Gras über die Sache wachsen. Er wird verschwunden bleiben, glaub es mir! Im letzten Sommer hat mein Mann Kies und Zement kommen lassen, um einen Weg durch den Garten zu betonieren. Er wurde nie fertig damit.
Wenn wir ihn dort beerdigen, und dann dort den Weg fertig betonieren, wird er nie gefunden werden. Und wir werden nie Ärger mit der Polizei bekommen. Irgendwann wird seine Akte offiziell geschlossen werden, und wir werden zusammenziehen. Was denkst Du darüber?“
„Es klingt gut, aber lass mich darüber nachdenken. Ich werde Dich jetzt nach Hause bringen, und Dich später anrufen. Nach Frankfurt zu Deiner Tante willst Du jetzt wohl nicht mehr?“
„Nein, das ist jetzt überflüssig. Er schlägt mich jetzt nicht mehr. Er hat seine Rechnung bekommen, und ich habe meine Ruhe vor ihm. Wenn wir nachher bei mir zu Hause sind, kannst Du mir noch helfen, ihn zunächst in den Keller zu bringen und ihn dort zu verstecken, bis wir ihn beerdigen können?“
„Langsam, langsam, ich habe gesagt, ich will nachdenken. Gut. In den Keller bringen können wir ihn. Aber dann will ich in Ruhe nachdenken. Versteh mich bitte! Ich werde Dich dann anrufen, wenn ich weiß, was ich tun werde.“
„Gut, gut“
*****
Er verbrachte später mehrere Stunden mit dem Abwägen von Für und Wider ihres Planes. Schließlich rief er bei ihr an und teilte ihr seinen Entschluss mit.
„Ich bin einverstanden. Denkst Du, dass wir ungestört sind, wenn wir es wie besprochen erledigen?“
„Das nächste Nachbarhaus ist durch einen kleinen Wald von unserem getrennt; man kann nicht sehen, was in den benachbarten Gärten passiert. Außerdem – das Wetter ist so schlecht bei diesem Schneeregen, der in Regen übergeht, dass sich niemand freiwillig im Freien aufhält. Wir werden völlig ungestört sein.“
*****
Eine halbe Stunde später war er wieder bei ihr.
„Zeigst Du mir den Platz, wo wir ihn – hm – beerdigen können?“
„Komm mit, ich gehe vor.“
Durch den Keller gingen sie nach hinten in den Garten.
Ein unangenehmer Wind peitschte ihnen Regenböen, vermischt mit einzelnen Schneeflocken und Hagelkörnern entgegen. Es war tatsächlich ein Wetter, bei dem jedes Lebewesen einen trocknen, geschützten Platz suchte.
Man hielt sich nur im Freien auf, wenn es unbedingt sein musste.
Gegen dieses nasse, unwirtliche Inferno gingen sie im Garten bis zum Ende des betonierten Weges.
Danach begann eine weite unbefestigte Strecke, die sich in einem kleinen Platz mit Dornengestrüpp verlor.
„Dieser Platz ist für unser Vorhaben bestens geeignet. Da neben dem fertiggestellten Weg liegt der Kies, den mein Mann letzten Sommer hat kommen lassen. In diesem trockenen Verschlag liegen noch mehrere Sack Zement und drei Stahlmatten, die man in den Beton einlegen kann. Wenn wir ein Loch ausheben, ihn da beerdigen und eine Schicht Beton auftragen, kann man ihn nie mehr finden, nie mehr. Aber nun wollen wir ins Haus zurück, es ist sehr ungemütlich hier draußen.“
So schnell es ging, den vielfältigen Regenpfützen ausweichend, eilten sie zurück in den ebenerdigen, trockenen Keller.
*****
In einem Nebenkeller standen neben der Wasseruhr eine Spitzhacke, ein Spaten und zwei große Schaufeln; genau das Werkzeug, das sie benötigten.
„Wir wollen anfangen, solange das Wetter so schön schlecht ist, und sich niemand freiwillig im Freien aufhält. Die Wahrscheinlichkeit, jetzt gestört zu werden, geht gegen Null. Also packen wir‘s an“, meinte Gerhard.
In der nächsten Stunde hoben sie ein Loch aus, in den sie den Körper gut hineinlegten. Als sie ihn in dem Loch untergebracht und mit einer Schicht Erde bedeckt hatten, vermischte Gerhard Kies, Zement und Wasser zu einem Brei, den sie dann auf die Baustahlmatte gossen, die sie vorher auf die Erde gelegt hatten
Als sie das Gemisch festgestampft und geglättet hatten, zogen die beiden eine große Plastikplane über die Grabstelle.
„Nun kann durch den Regen der Zement nicht mehr ausgewaschen werden. Wenn der Beton angezogen hat, entfernen wir die Plane wieder und lassen den Beton in Ruhe fest werden. Dann hat Dein Mann seine ewige Ruhe für immer gefunden.“
*****
Zwei Tage später fuhr Gerhard mit Ilona zum nächsten Polizeirevier, um Ilonas Mann als vermisst zu melden. Der Polizeibeamte, der die Anzeige aufnahm, beruhigte Ilona nach Kräften.
„Er wird sicher bald wieder auftauchen. Wir müssen abwarten – vielleicht schreibt er ihnen bald einen Brief aus Neuseeland oder von sonst irgendwo und wird Sie auffordern, nachzukommen. Seien Sie geduldig. Gewöhnlich melden sich vermisste Personen nach wenigen Tagen zurück. Sie werden sehen, alles wird sich aufklären.“
*****
Als sie nach Hause zurückkehrten, öffnete Ilona eine Flasche Wein.
„Zur Feier des Tages. Dass es so einfach würde – wer hätte das denken können.
Nun können wir uns ganz auf uns zwei konzentrieren. Auf jeden Fall danke ich Dir nochmal sehr. Jetzt bin ich frei, zu tun, was ich will. Ich liebe Dich, ich werde Dich immer lieben. Ohne Deine Hilfe wäre ich verloren gewesen.“
„Es lief in der Tat besser, als wir voraussehen konnten. Er hat seine Rechnung bekommen, für alles, was er Dir angetan hat.“
Dann küssten und liebten sie sich heftig, wie sie sich noch nie geliebt hatten.
*****
Am nächsten Tag kam Ilona sehr ernst zu ihm. „Ich habe hier einen Brief von der Bank. Sie drohen mit einer Zwangsversteigerung des Hauses. Kannst Du nicht mit etwas Geld aushelfen, damit wir den Zwangsverkauf abwenden können. Ich werde versuchen, Arbeit zu finden. Zur Abwendung einer Versteigerung sind zunächst zwanzigtausend Euro fällig. Du hast doch Geld gespart. Dir fiele es nicht sonderlich schwer. Wenn es zur Zwangsversteigerung kommt, haben wir mehr verloren, als wir bis jetzt gespart haben.“
Gerhard musste nolens volens zustimmen. Besonders beunruhigte ihn dabei der Gedanke, ein neuer Eigner könnte das Grab im Garten entdecken. Die Konsequenzen für Ilona und ihn waren nicht vorstellbar. Mit seiner reinen Weste wäre es für immer vorbei. Vielleicht würde es sogar zu einer Mordanklage kommen. Ob Ilona im Ernstfall zu ihm stünde, konnte er nicht ahnen. Dafür kannte er sie zu wenig und nicht lange genug.
Von da an schlief Gerhard sehr schlecht. Nach drei Tagen bezahlte Gerhard die geforderte Summe.
Ilona bemühte sich um Arbeit, fand aber nichts, was ihr Spaß gemacht hätte.
Um als Putzfrau zu arbeiten, war sie zu anspruchsvoll. Für eine anspruchsvollere Stelle war sie von ihrer Ausbildung her nicht genügend qualifiziert.
*****
Von da an war Gerhard immer öfter bei Ilona.
Der Frühling kam – zögerlich zuerst – dann aber mit aller Kraft.
Eines Samstagmittags saßen sie im Garten. Die Sonne schien mit der Wärme eines Frühsommers, sodass die Natur schon mit aller Kraft zum Leben erwacht war.
Ilona druckste etwas herum, dann platzte sie los:
„Ich bekam wieder einen Brief von unserer Bank. Vielleicht kannst du Dir vorstellen, was sie wollen. Sie wollen wieder neues Geld. Kannst Du noch einmal bezahlen. Sobald ich Arbeit habe, werde ich das Geld an Dich zurückzahlen. Am Montag werde ich wieder versuchen, Arbeit zu finden. Ich könnte es in einer großen Stadt versuchen, aber das würdest Du sicher nicht wollen. Wir wollen doch zusammenbleiben, Du und ich.“
Gerhard schwankte in seiner Meinung hin und her.
Einerseits liebte er sie sehr, aber andererseits missbilligte er ihre Haltung, was Arbeit anlangte. Seiner Meinung nach war eine Beschäftigung auch als Putzfrau eine ehrenwerte Tätigkeit. Er wusste aber auch, dass eine solche Arbeit für Ilona kaum in Frage käme, aber wenn sie nichts anderes finden würde, warum sollte sie nicht als Putzfrau arbeiten, um wenigstens etwas zur Abzahlung des Hauses beitragen.
„Du kannst nicht ernsthaft wollen“, fing sie wieder an,“ dass ich für andere Leute den Dreck wegmache. Das ist entwürdigend und erniedrigend für mich. Kannst Du das nicht verstehen? Ich denke, Du liebst mich.“
„Ich liebe Dich auch, ganz tief und fest, aber ich denke, Du könntest auch etwas zur Abzahlung des Hauses etwas beitragen.“
„Ich glaube, Du liebst mich nicht, jedenfalls nichts so, wie ich Dich liebe.“
Gerhard bezahlte wieder und hoffte sehr, danach von weiteren Geldforderungen verschont zu bleiben. Jedenfalls bis zum Hochsommer hatte er Ruhe vor neuen Forderungen durch Ilona.
Dann kam es zum Eklat.
Sie saßen an einem warmen Sommerabend im Garten neben dem betonierten Gartenweg. Im gesamten Garten blühten im sommerlichen Überfluss Sträucher und Blumen.
Ilona hatte plötzlich einen Brief in ihren Händen.
„Es ist wieder die Bank. Sie stellen den gesamten Restbetrag der Hausschulden fällig. Es sind achtzigtausend Euro fällig in einer Woche. Wenn wir nicht bis dahin bezahlt haben, werden sie die Zwangsversteigerung veranlassen.“
Gerhard ließ sich das Schreiben geben und las es aufmerksam durch.
„Was ist aus den beiden Beträgen geworden, die ich Dir schon gegeben habe? Sie sind hier nicht erwähnt.“
„Ach Du Dummerchen. Mein Mann hat mich immer so knappgehalten. Nie war genug Geld da.
Dank Deiner Großzügigkeit ging es mir besser, sehr viel besser.“
„Ich habe mich zwar manchmal gewundert, warum Du immer wieder neue Kleider getragen hast.“
„Aber ich wollte schön sein, schön für Dich. Du fandst die Kleider auch schön. Eine moderne Frau braucht heute neue Kleider, modische Accessoires und viele Kleinigkeiten. Ich habe mich chic gemacht für Dich, nur um Dir zu gefallen. Dir haben meine Sachen auch immer gefallen. Ich habe es nur für Dich gemacht, nur für Dich. Ich habe mich für Dich geschmückt, damit Du stolz sein kannst auf mich.“
„Aber ich wollte nie, dass Du das Geld verprasst. Ich habe für mein Geld hart gearbeitet und war immer sparsam.“
„Deshalb war ich auch so stolz auf Dich. Du warst nie so geizig wie mein Mann. Du warst großzügig, dafür habe ich Dich auch geliebt. Du warst besser, viel besser zu mir als mein Mann.
Wenn Du nicht mehr zahlen willst, must Du hier ausziehen. Dann mag ich Dich nicht mehr um mich haben. Wenn dann ein neuer Hauseigentümer meinen Mann findet oder besser die Überreste meines Mannes, und zur Polizei geht, muss ich die Wahrheit sagen. Du weißt, ich kann nicht lügen! Ich werde sagen müssen, dass Du ihn die Treppe hinuntergeworfen hast. Dabei starb er, oder stimmt das nicht? Du hast ihn auf dem Gewissen. Es ist schlimm, sehr schlimm, dass wir so weit gekommen sind.“
Sie schluchzte hemmungslos vor sich hin.
Er breitete seine Arme aus und zog sie tröstend an sich. Er streichelte ihr hübsches Gesicht.
Beruhigend murmelte er: „Wir werden einen Weg finden, vertraue mir. Lass mich nur nachdenken, etwas nachdenken.“
Er dachte nach, drei Tage lang. Dann stand sein Plan fest.
*****
Einen Tag später begann er, seine persönlichen Sachen zusammen zu räumen. Als sie schimpfend die Treppe heraufkam, wartete er, bis sie alle Treppenstufen in dem schmalen, engen Treppenhaus genommen hatte.
Oben angekommen, fauchte sie ihn an: „Zum Dank für meine Liebe willst Du Dich jetzt aus dem Staub machen! Aber so leicht werde ich es Dir nicht machen.“
Sie ergriff ihn am Arm und schüttelte ihn zornerfüllt. Darauf hatte er gewartet. Er schlug ihr mit dem Bügeleisen mit aller Gewalt an den Kopf. Dann gab er der torkelnden Frau einen heftigen Stoß mit seinem Ellenbogen, so dass sie rückwärts die Treppe hinab stürzte. Auf ihrem Weg abwärts überschlug sie sich dreimal und blieb reglos auf dem unteren Treppenabsatz liegen. Als sie sich noch einmal rührte, wickelte er sie sicherheitshalber in eine stabile Folie ein.
*****
Sie fand ihre letzte Ruhestätte in der folgenden Nacht im spätsommerlichen Garten neben ihrem leider zu früh verstorbenen Mann.